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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 04:53:25 -0700 |
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ERSTER BAND*** + + + + + + Nach Amerika! + Ein Volksbuch + + Erster Band + von + Friedrich Gerstäcker. +Illustrirt von Theodor Hosemann. +Leipzig, Hermann Costenoble, Verlagsbuchhandlung +Berlin, Rudolph Gaertner, Amelang’sche Sort-Buchhandlung + +1855 + + + + + + [image] + + + + + + + NACH AMERIKA! + + +Wie man ein Bild, aus einem Werk heraus, vorn auf den Umschlag bringt, den +Beschauer dadurch gewissermaßen in den Charakter des Ganzen einzuweihen, +so will auch ich hier den Anfang des einen Capitels, aus der Mitte des +Bandes heraus, zum Vorwort wählen, den Leser gleich von vorn herein mit +dem bekannt zu machen, was ich ihm biete. + +»Nach Amerika!« — Leser, erinnerst Du Dich noch der Märchen in »Tausend +und eine Nacht«, wo das kleine Wörtchen »Sesam« dem, der es weiß, die +Thore zu ungezählten Schätzen öffnet? hast Du von den Zaubersprüchen +gehört, die vor alten Zeiten weise Männer gekannt, Geister heraufzurufen +aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu +machen? — Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe schlugen, wie sich die +Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner +zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkühne Menschenkind das sie +gesprochen, bebte zurück vor der furchtbaren Gewalt die es +heraufbeschworen. + +_Die_ Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht +gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das +rechte Wort vergeben sie zu rufen — aber ein anderes dafür gefunden das, +kaum minder stark, mit _einem_ Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, +den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und +Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reißt, in dem es bis dahin mit +seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten. + +»Nach Amerika,« leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten +schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen sollte, seinen +Muth stählen — »nach Amerika,« flüstert der Verzweifelte der hier am Rand +des Verderbens dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde — +»nach Amerika,« sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher +Kraft, und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der +Verhältnisse angekämpft, der um sein »tägliches Brod« mit blutigem Schweiß +gebeten — und es nicht erhalten, der keine Hülfe für sich und die Seinen +hier im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln _will_, nicht stehlen +_kann_ — »nach Amerika« lacht der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, +frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt +vor dem Arm des beleidigten Rechts — »nach Amerika,« jubelt der Idealist, +der wirklichen Welt zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über dem +Ocean drüben ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht — »nach Amerika« und mit dem einen Wort liegt hinter +ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, Wirken, Schaffen — liegen +die Bande die Blut oder Freundschaft hier geknüpft, liegen die Hoffnungen +die sie für hier gehegt, die Sorgen die sie gedrückt — _»nach Amerika!«_ + +So gährt und keimt der Saame um uns her — hier noch als leiser, kaum +verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft +und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und +Kasten. Der Bauer draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain, der +ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so schwer +geärgert, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit +über dem Meer drüben, in dem fetten, herrlichen Land; — der Handwerker in +seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft +setzt, mit Neuerungen und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen +Kunden die ihm bis dahin noch geblieben in _seine_ Thür zu locken; der +Künstler in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, der über einer +freieren Entwickelung brütet, und von einem Lande schwärmt wo +Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Hände binden; — der Kaufmann hinter +seinem Pult, der Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern +zieht, und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von einem neuen, +andern Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefüllten +Waarenhäusern träumt; in Tausenden von ihnen drängt’s und treibt’s und +quält’s, und wenn sie auch noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte +frühere Ruhe wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke fort — ein +stiller aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über das ferne Land +wird gelesen und überdacht, neue Arzenei, neues Gift bringend für den +Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und wie weit herum um ihr Ziel, daß man +die Absicht nicht errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem +Ding — nach Leuten die vordem »hinüber« gezogen und denen es gut gegangen +— nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk — für Andere natürlich, +nicht für sich etwa — sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen +will hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wünschen +daß es dem wohl geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich selber auf. + +So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem +nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den _salto mortale_ gethan, +und Alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und theuer war — aus +dem, aus jenem Grund — und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, +von denen wir im Leben nie geglaubt daß _sie_ je an Amerika gedacht, wie +sie mit Weib und Kind und Hab und Gut hinüberziehn. + +Und dort? — + +— Die vorliegenden Blätter sollen dem Leser ein Bild geben von dem Leben +und Treiben solcher Leute. Hier aus unserer Mitte heraus, aus den +verschiedenartigsten Verhältnissen und Sphären, aus allen Schichten der +menschlichen Gesellschaft sehen wir sie ziehen — Gute und Böse, den +Leichtsinnigen und den Spekulanten, den Bauer und Handwerker, den +Gelehrten und den Arbeiter, den rechtschaffenen Bürger und den heimlichen +Verbrecher, Alle dem _einen_ Ziel entgegenstrebend. Und _Alle_ vereinigt +sie das Schiff; der eine kleine Bau, der hunderte von Menschen auf seinem +schwanken Kiel hinüberträgt, dem fernen Welttheil zu; oh was für +Hoffnungen, was für Pläne und Träume birgt er in seinem Schooß. Aber die +Auswanderer liegen die langen Wochen, ja Monate, verpuppten Raupen gleich, +im engen Haus, still und gedrängt beisammen; Jeder mit dem alten Leben +abgeschlossen hinter sich, mit dem neuen noch nicht begonnen, in einem +wunderlichen unnatürlichen Zustand, ungeduldiger Ruhe, bis der Anker in +die Tiefe rollt, und die ausgeschobene schmale Planke der bunten Schaar +von Tag- und Nachtfaltern den Weg in’s Freie öffnet. + +Hinaus flattern sie da nach allen Seiten, wie eine Hand voll Spreu, vom +Winde fort geführt; die Einen selbstbewußt und keck dem fremden, +unbekannten Leben in die Arme springend, die Anderen scheu und zaghaft bei +jedem Schritte fast moralische Selbstschüsse und Fußangeln fürchtend; Alle +aber entschlossen, die meisten sogar gezwungen, dem neuen Vaterlande die, +im alten aufgegebene Existenz abzuringen, Jeder in seiner Art, auf seine +Weise. + +Dort nun sehen wir sie schaffen und wirken in Gutem und Bösen, die Einen +mit ihren kühnsten Hoffnungen erfüllt, Andere, zerknirscht und zertreten, +die Stunde verwünschend, die den Gedanken an Auswanderung gebar — sehn wie +sich die Wildniß lichtet, wie Farmen und Städte entstehn, und sich das +deutsche Element ausbreitet nach allen Seiten, und folgen den einzelnen +Bekannten und Freunden, die wir zu Hause schon, oder auf der Fahrt erst +lieb gewonnen, oder für die wir uns interessiren, auf ihren verschiedenen, +oft wunderlichen Bahnen. + +Manchen alten Reisegefährten führ ich dabei dem Leser vor, und hoffe ihn +nicht zu langweilen, den weiten Weg; schlafen wir dann auch manchmal +draußen im Freien, oder in niederer Blockhütte auf dünnem »Quilt«, müssen +wir auch eine Zeit lang mit Maisbrod und Wildpret, oder gar mit Speck und +Syrup verlieb nehmen, wie es der Farmer am Ohio liebt, wir lernen doch das +Land kennen, mit seinen guten und schlechten Eigenschaften, seinen +Vortheilen und Mängeln, seinen Bürgern und Einwanderern, seinen inneren +Verhältnissen, seinem Leben und seiner Lebenskraft, und bin ich im Stande +ihn auch nur einen Blick in jene ferne, von Tausenden so heiß ersehnte +Welt, wie ich sie selbst gefunden, thun zu lassen, so hab ich meinen Zweck +mit diesem Buch erreicht. + +_Rosenau_ bei Coburg im September 1854. + + Friedrich Gerstäcker. + + + + + + INHALT DES ERSTEN BANDES. + + +Das Dollinger’sche Haus +Der rothe Drachen +Der Diebstahl +Franz Loßenwerder +Die Auswanderungs-Agentur +Die Weberfamilie +Nach Amerika +Der Tanz im rothen Drachen +Rüstungen +Die beiden Familien + + + + + + Capitel 1. + + + DAS DOLLINGER’SCHE HAUS. + + +Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger zu Heilingen — einer nicht +unbedeutenden Stadt Deutschlands — hatte am Sonntag Mittag, ein kleines +Familienfest die Glieder des Hauses um den Speisetisch versammelt, und +diesen heute in außergewöhnlicher Weise mit Blumen geschmückt, und +delicaten Speisen und Weinen gedeckt. Es war der Geburtstag der zweiten +Tochter des Hauses, der liebenswürdigen Clara und nur ihr erklärter +Bräutigam, ein junger deutscher, in New-Orleans ansässiger Kaufmann, als +Gast der Familie zugezogen worden. + +Am oberen Ende des Tisches, um dem Leser die Personen gleich in +Lebensgröße vorzuführen, saß Vater Dollinger, ein etwas wohlbeleibter aber +behäbiger, stattlicher Mann, mit klaren, blauen, unendlich gutmüthigen +Augen und schneeweißen Locken und Augenbrauen, die aber dem edel +geschnittenen Gesicht gar gut und ehrwürdig standen. Ihm zur Rechten saß +seine Frau, allem Anschein nach etwa funfzehn oder sechzehn Jahre jünger +wie er selber, und durch ihr volles, dunkelbraunes Haar vielleicht auch +noch sogar jünger aussehend, als sie wirklich war. Sie ebenfalls, mit +ihrer stattlichen Gestalt, hatte einen leichten Anflug zu Corpulenz, aber +das etwas ausgeschnittene Kleid, wie die schwere goldene Kette, Broche und +Ohrringe, die sie fast etwas zu reichlich schmückten, paßten nicht ganz zu +dem sonst so freundlichen, matronenhaften Aeußern. + +Clara neben ihr, war das veredelte Bild der Eltern; die lieben treublauen +Augen schauten gar so vertrauungs- und unschuldsvoll hinein in die Welt, +an deren Schwelle sie stand, und die ihr, wie ein eben geöffnetes, +prachtvoll gebundenes Buch auf den ersten, flüchtig durchblätterten +Seiten, nur freundliche Blumen und ihr zulächelnde Gestalten zeigte. Kein +Schmerz hatte diese engelsanften Züge noch je durchzuckt, keine Thräne +wirklichen Schmerzes den reinen Blick getrübt, und die ganze zarte, +sinnige Gestalt glich der eben entkeimenden Frühlingsblüthe im sonnigen +Wald, die dem jungen Frühlingstag in Glück und Unschuld die schwellenden +Lippen zum Kusse bietet, und in der blitzenden Thauperle ihres Kelchs, den +reinen Aether über sich, nur schöner, nur glühender zurückspiegelt. + +Ihre um nur wenige Jahre ältere Schwester, Sophie, die an des Vaters Seite +saß, ähnelte der Schwester in mancher Hinsicht an Gestalt, aber das +einfach kindliche, was Clärchen jenen unendlichen Reiz verlieh, fehlte +ihr. Ihre Gestalt war voller, majestätischer, aber auch ihr Blick mehr +kalt und stolz; »ich bin des reichen Dollingers Kind« lag klar und +deutlich in den scharf zusammengezogenen Mundwinkeln, in dem fest und +entschieden, blitzenden Auge, und auch ihre Kleidung, ihr Schmuck war, +wenn nicht reicher, doch jedenfalls mehr in’s Auge springend, Bewunderung +fordernd. + +Zwischen Beiden saß Clara’s Bräutigam, ein junger, bildhübscher Mann in +moderner, fast für einen Mann etwas zu gewählter und sorgfältig geordneter +Kleidung; er trug das Haar in natürlichen dunkelbraunen Locken und das +Gesicht glatt rasirt, bis auf einen kleinen, aufmerksam gekräußten, und +nur bis zur halben Backe reichenden Backenbart, an den Fingern aber mehre +sehr kostbare Diamant-Ringe, eine Brillant-Tuchnadel von prachtvollem +Feuer, und eine schwere goldene, ebenfalls mit kleinen Edelsteinen +besetzte Uhrkette. + +Die Bekanntschaft Clara’s und ihrer Eltern hatte er dabei auf eine etwas +romantische Weise, und zwar gleich als ihr Lebensretter oder doch Befreier +aus einer nicht unbedeutenden Gefahr gemacht. Herr und Frau Dollinger +waren nämlich mit ihren beiden Töchtern im vorigen Herbst auf einer +Rheinreise bei Rüdesheim aus- und zu dem kleinen Waldtempel oben über +Asmannshausen hinaufgestiegen, um sich von dort nach dem Rheinstein +übersetzen zu lassen; die Mutter hatte aber durch das nicht gewohnte +Bergsteigen heftige Kopfschmerzen bekommen oder, was wahrscheinlicher ist, +ennuyirte sich am Land und wünschte an Bord des Dampfers zurückzukehren, +und als sie gerade mit dem Kahn über den Rhein fuhren, kam ein Dampfboot +stromab, und hielt auf ihr Winken, sie an Bord zu nehmen. Herr und Frau +Dollinger, mit Sophie, von den Kahnführern unterstützt, hatten auch schon +glücklich die Treppe und das Deck erreicht, und dicht hinter ihnen folgte +Clara, als diese sich plötzlich erinnerte, ihre Geldtasche im Kahn +vergessen zu haben, und anstatt diese sich heraufreichen zu lassen, selber +wieder zurücksprang sie zu holen. Durch das Hineinspringen fing aber der +schmale Kahn an zu schwanken, während sie, die vergessene kleine Tasche +aufhebend, das Gleichgewicht verlor und, mit dem Kopf voran, in den Rhein +stürzte. Unglücklicher Weise waren gerade in dem nämlichen Augenblick die +Kahnleute an Deck des Dampfers gestiegen, den Koffer eines Passagiers, der +mit an Land fahren wollte, in ihren Kahn zu heben, und wenn sie jetzt +auch, auf das Geschrei an Bord, rasch in diesen zurücksprangen, trieb doch +Clara schon hinter dem Dampfboot aus, als der junge, eben von Amerika +zurückgekehrte Mann, der dem ganzen Vorfall vom Deck des Dampfers +zugesehn, mit keckem Muth ins Wasser sprang und die Jungfrau doch +wenigstens so lange an der Oberfläche unterstützte, bis das Boot herbeikam +sie beide aufzunehmen. + +Das Weitere nahm einen ziemlich einfachen Verlauf, Joseph Henkel, wie der +junge Mann hieß, gewann sich in den nächsten Wochen, die er in der +Gesellschaft der ihm zu großen Dank verpachteten Familie zubrachte, die +Achtung des Vaters und die Liebe von Mutter und Tochter, und als er zuerst +bei der Mutter um die Hand der Tochter anhielt, sagten Beide nicht nein. +Allerdings wollte der Vater erst, wenn auch nicht gerade Schwierigkeiten +machen, doch etwas Genaueres über die Existenzmittel eines Mannes +erfahren, dem er das Glück und Leben eines lieben Kindes anvertrauen +sollte. Henkel selber bot ihm dazu die Hand und gab ihm Adressen an +verschiedene Häuser in New-Orleans, die ihm über seine dortige Stellung +genaue Auskunft geben konnten. + +Nach seinem Vermögen mochte der alte Dollinger, wenn auch Kaufmann, nicht +so genau forschen; er war selber reich genug, einen _reichen_ +Schwiegersohn entbehren zu können, und etwas Vermögen mußte der junge Mann +haben, dafür bürgte sein ganzes Auftreten, bürgte besonders in den Augen +seiner Frau der reiche und wirklich kostbare Schmuck, den er trug. Joseph +Henkel war aber auch außerdem ein interessanter und sehr gescheidter Mann, +der Manches in der Welt schon gesehen und erlebt, und das Gesehene und +Erlebte mit lebendigen Farben und Worten zu schildern wußte. Er hatte die +ganzen Vereinigten Staaten von Nord nach Süd und von Ost nach West +durchstreift, und dort theils seinen Geschäften gelebt, theils gejagt, +sogar ein kleines Dampfschiff auf dem Arkansas laufen gehabt, mit den +Indianern Handel zu treiben, und ihnen die Produkte des Ostens gegen ihre +eigenen Fabrikate und den Gewinn ihrer Jagden einzutauschen. Er war auch +einmal von jenen wilden trotzigen Stämmen, die uns Cooper so herrlich und +unübertroffen beschrieben, gefangen genommen und zum Opfertod verdammt, +und damals wirklich nur durch ein halbes Wunder gerettet worden, und Clara +hatte eine ganze Nacht nicht schlafen können, nur in der Angst und Unruhe +um die entsetzliche Gefahr, der sich der tollkühne Mensch damals schon +ausgesetzt. + +Der junge Mann schien aber zwischen jenen wilden Stämmen den Umgang mit +civilisirten Menschen keineswegs verlernt zu haben, und besaß ganz +besonders ein fast wunderbares Geschick, sich seiner Umgebung +anzuschmiegen, und sich in ihre Charaktere ordentlich hineinzuleben. Als +ein tüchtiger und raffinirter Kaufmann, der vorzüglich eine vortreffliche +statistische Kenntniß der Union besaß, gewann er sich dabei, und gleich +von allem Anfang an, die Achtung des alten Dollinger. Der Frau aber hatte +er leicht ihre kleinen, oft liebenswürdigen Schwachheiten abgelauscht, und +wußte ihnen auf so geschickte Art zu begegnen, daß Frau Dollinger, mit der +Rettung des geliebten Kindes im Hintergrund, schon nach sehr kurzer Zeit +ganz entzückt von ihm war, und sein Lob dem Gatten unaufhörlich redete. +Auch mit der älteren Schwester, Sophie, wußte sich Henkel bald auf guten +Fuß zu stellen; er hatte bei ihr das leichteste Spiel, denn ihre Schwächen +lagen offen zu Tag, denen aber schmeichelte er mit solcher +Liebenswürdigkeit, daß ihm Clara, die es fühlte wie er dabei aus sich +herausging und etwas annahm was ihm nicht natürlich war, oder doch +jedenfalls dem Mann, den sie liebte, nicht natürlich sein _sollte_, +dennoch nicht böse darüber werden konnte. + +Desto freier, offener und natürlicher war er dafür gegen sie selber; er +las, sang und spielte Pianoforte mit ihr, lehrte sie eine Menge kleiner +reizender, schottischer und irischer Lieder, oder plauderte mit ihr leicht +und sorglos Stunden lang in den Tag hinein, und konnte oft so herzlich +dabei lachen, daß es Einem ordentlich gut that, ihm zuzuhören. Selbst +Sophie entsagte dann nicht selten ihrem sonst etwas mehr abgeschlossenen, +fast steifen Wesen und kam zu ihnen, Theil an ihrer Fröhlichkeit zu +nehmen. + +Nur in den letzten Tagen war der junge »Amerikaner« wie er im Hause +gewöhnlich scherzhaft hieß, oder der »Delaware« wie ihn Sophie, wenn sie +manchmal bei recht guter Laune war, nannte, auffällig niedergeschlagen +gewesen; er hatte Briefe von Amerika bekommen, wie er sagte, und ein sehr +lieber Freund von ihm war dort schwer erkrankt, auch ein Schiff das ihm +gehörte, und das nicht versichert worden, so lange ausgeblieben, daß sein +Compagnon fast den Untergang desselben befürchte. Der alte Herr Dollinger +tröstete ihn deshalb, und er schien sich auch darüber hinwegzusetzen, die +sonst so blühende Farbe seiner Wangen wollte aber doch nicht sogleich +wieder dorthin zurückkehren, und das Auge hatte etwas Unsicheres, +Unstätes, ihm sonst gar nicht Eigenes bekommen. + +Nur heute, zu dem Fest der holden Jungfrau, die er bald die seine zu +nennen hoffte, hatte er all die trüben Gedanken, welcher Art sie auch +gewesen, und woher sie stammten, von sich abgeschüttelt, und war ganz +wieder der frohe glückliche Mann, wie ihn Clara kennen — _lieben_ gelernt. +Auf seinen Wunsch nur, womit Frau Dollinger eigentlich nicht ganz +einverstanden gewesen, war auch heute keine größere Gesellschaft geladen +worden, sondern die kleine Familie speiste ganz »unter sich« in dem +festlich mit Blumen und Guirlanden geschmückten Zimmer des jungen +liebenswürdigen Geburtstagkindes. Frau Dollinger hatte sich eigentlich +schon länger auf eine zu diesem Zweck einzuladende, größere Gesellschaft +gefreut. Herr Dollinger selber hielt aber nicht viel von solchen Fêten; +dafür jedoch bedung sie sich aus, daß sie wenigstens den Nachmittag +spatzieren fahren wollten, wobei sie der junge Henkel gewöhnlich zu Pferde +begleitete. + +Etwas that aber der alte Herr Dollinger gern, und zwar ein Glas Champagner +trinken, und der zweite Stöpsel war eben lustig hinausgeknallt, der +Gesundheit des »jungen Brautpaares« zu Ehren, als die Thür aufging und +Loßenwerder, ein Comptoirdiener des Hauses, mit einem kleinen Paket in’s +Zimmer trat. + +Loßenwerder war schon seit elf oder zwölf Jahren im Haus, und seinem +Aeußern nach eben keine angenehme Persönlichkeit; er hinkte auf dem linken +Bein, das er als Kind einmal gebrochen, war überhaupt häßlicher und +magerer Natur, und schielte auf dem rechten Auge, wodurch sein sonst +gerade nicht unangenehmes Gesicht einen etwas falschen Ausdruck bekam. Das +Störendste aber an dem ganzen Menschen war sein Stottern, wegen dem man +sich auf ein längeres Gespräch gar nicht mit ihm einlassen konnte, und kam +er einmal in Affekt, konnte er kein Wort mehr herausbringen. Frau +Dollinger sowohl wie Sophie konnten ihn auch nicht leiden, ja die letztere +behauptete sogar er verstelle sich und sie habe ihn schon ganz ordentlich, +wenigstens zehntausend Mal besser sprechen hören, als er es jedesmal +affektire, wenn er zu ihnen in die Wohnung komme; Clara aber hatte Mitleid +mit dem armen Menschen, den sie seines Unglücks wegen innig bedauerte, +schenkte ihm oft eine Kleinigkeit und spottete nie über ihn, während Herr +Dollinger selber, ihn als einen brauchbaren und treuen Diener, der noch +außerdem eine vortreffliche Hand schrieb, kannte und sehr zufrieden mit +ihm war, ihm auch jedes nur mögliche Vertrauen bewieß. + +»Hallo, Loßenwerder, was bringst Du mir da in’s Haus?« rief ihm sein +Principal jetzt halb lachend, halb erstaunt entgegen, als der kleine Mann +das Zimmer betrat und schüchtern an der Thüre stehen blieb — »ist das für +mich oder meine Tochter?« + +»Gewiß für mich, Väterchen,« rief Clara, rasch von ihrem Sitze +aufspringend — »siehst Du, der Onkel hat mich doch nicht ganz vergessen +mit meinem Fest, und mir Gruß und Geschenk geschickt.« + +»Hehehe — mö — mö — möchten es sich wo — wo — wo — wo — wohl wü — n — +nschen Fräulein« lachte aber der Stotternde, indem er Herrn Dollinger +zuwinkte, daß das Paket für ihn sei — »ka — ka — ka — kann ich mir de — de +— de — de — denken — Go — go — gold und Ba — ba — ba — ba — bank — no — +noten.« Er zog dabei einen Brief aus der Tasche, den er dem Herrn übergab. + +»Hm, hm, hm« sagte aber dieser kopfschüttelnd, »und das bringst Du mir +jetzt in’s Haus — gerade wo ich ausfahren will — warum hast Du es denn +nicht dem Cassirer gegeben?« + +»Ni — ni — nirgends zu fi — fi — fi — finden« stotterte Loßenwerder. + +Herr Dollinger warf den Kopf, den Brief flüchtig durchfliegend, herüber +und hinüber, sagte dann aber, aufstehend und das Papier vor sich +hinlegend: + +»Ja, da läßt sich denn weiter Nichts ändern; gieb mir das Paket +Loßenwerder, und sieh dann zu, daß Du Herrn Reibich findest. Ich lasse ihn +bitten um sieben oder halb acht Uhr heute Abend auf einen Augenblick zu +mir zu kommen — verstanden?« + +»Ja — ja — jawohl He — he — he — herr Do — do — do — Do — « + +»Schon gut« lachte Herr Dollinger, ihm zuwinkend, »und hier, Loßenwerder, +magst Du auch einmal ein Glas auf das Wohl meiner Tochter trinken. +Fräulein Clara’s Geburtstag ist heute — hier Clara, reich es dem jungen +Herrn.« Er füllte dabei ein Wasserglas bis zum Rande voll von dem +funkelnden, schäumenden Naß, und während Clara mit freundlichem Lächeln +dem armen Teufel das Glas credenzte, nahm Herr Dollinger das Paket mit +Geld, ging zu dem nahen Secretair, in dem der Schlüssel stak, öffnete ihn, +legte das Geld hinein, zog dann den Schlüssel ab und sagte, diesen der +Tochter überreichend: + +»So Kinder, heute müßt Ihr einmal auf ein paar Stunden mein Cassirer sein, +bis der andere aufgefunden werden kann.« + +Clara nickte dem Vater freundlich zu, und Loßenwerder, der das volle Glas +in der Hand hielt und auf einmal ganz blutroth im Gesicht geworden war, +hob es empor und rief stotternd: + +»Fr — re, re, re, re, re, räu — le — le — lein Cla — ra — ra — ra — ra — +aus ga — ga — ganzem He — he — he — he — he — he — her — ze — ze — zen.« + +Als ob er aber mit den Worten in der Kehle Luft gemacht, setzte er das +Glas an, und der Wein verschwand wie durch Zauberei. + +»Alle Wetter« lachte Herr Dollinger, der sich gerade nach ihm umdrehte, +»Loßenwerder hat einen vortrefflichen Zug — nun? — hat’s geschmeckt?« + +»Gu — gut Herr Do — do — do — do — do.« + +»Genug, genug« winkte ihm der Principal wieder ab — »also bestell mir das +ordentlich.« + +Loßenwerder, der Art entlassen, und vielleicht froh aus einer Umgebung zu +kommen, in der er sich nicht heimisch fühlen konnte, setzte das Glas auf +einen Seitentisch ab, machte eine etwas linkische Verbeugung, und wohl +wissend daß er zu einem ordentlichen Danke doch keine Zeit mehr übrig +hatte, empfahl er sich ohne weiter auch nur einen Versuch zu mündlichem +Abschied zu machen. + +»Eine unangenehme Persönlichkeit« sagte Frau Dollinger zu ihrem +Schwiegersohn _in spe_, als der Mann noch die Thür nicht einmal ordentlich +hinter sich geschlossen hatte; »ich kann mir nicht helfen, auf mich macht +der Mensch immer einen fatalen Eindruck.« + +»Wie — wie befehlen Sie meine Gnädige?« sagte der junge Henkel etwas +zerstreut; Sophie bog sich in diesem Augenblick zu ihm nieder und +flüsterte ihm ein paar Worte zu — + +»Er kann ja doch Nichts für seine Gebrechen« nahm Clara aber die Antwort +auf, »und thut gewiß Alles in seinen Kräften sie eben durch gutes Betragen +vergessen zu machen.« + +»Papa, ich würde das Geld auch nicht so offen in dem Secretair da liegen +lassen« sagte Sophie. + +»Nicht so offen? — ich habe ja zugeschlossen — « + +»Nun, es ist immer nicht gerade gut, wenn die Dienstleute wissen wo man +Geld liegen hat« stimmte die Mutter bei. + +»Dienstleute?« meinte Herr Dollinger — es war ja Niemand von ihnen im +Zimmer — « + +»Doch Loßenwerder?« + +»Bah« lachte der Kaufmann, mit dem Kopf schüttelnd. + +»Ist es denn viel?« frug seine Frau. + +»Nun, der Mühe werth wär’s immer« sagte Herr Dollinger, »fünf Tausend +Thaler etwa — es soll aber auch nicht über Nacht da liegen bleiben, und +Loßenwerder hat mir auf heute Abend den Cassirer zu bestellen, das Geld an +sicheren Ort zu legen, bis ich morgen darüber verfügt habe.« + +»Der Loßenwerder verwandte keinen Blick von dem Geld, so lang er im Zimmer +war« sagte die Mutter, mit dem Finger vor sich hindrohend. + +»Lieber Gott, Mütterchen, Du weißt ja aber doch daß er schielt« +vertheidigte ihn lachend Clara — »eben so fest und unverwandt hat er mich +indessen mit dem andern Auge angesehen; seine Schuld ist’s nicht daß er +zwei Stellen auf einmal im Auge behalten muß.« + +»Laßt mir den armen Teufel zufrieden« sagte aber auch Herr Dollinger — +»der ist mir nützlicher wie zwei von meinen anderen Leuten; mehr zum +Nutzen wie Staat freilich, aber Staat will er auch nicht machen. Jetzt +übrigens Kinder wird es Zeit daß wir uns rüsten, und Henkel, Sie müssen +noch Ihr Pferd holen lassen.« + +»Ich habe es schon, in der Voraussetzung daß wir bei dem schönen Wetter +doch wohl eine kleine Parthie machen würden, hierher bestellt,« erwiederte +rasch der junge Mann — wünschen Sie den Wagen jetzt?« + +»Ich glaube ja, je eher, desto besser; die Tage sind kurz und wenn wir +noch eine Stunde oder zwei fahren wollen, dürfen wir nicht mehr viel +länger warten.« + +»Aber Ihr Mädchen möchtet Euch ein wenig warm einpacken« sagte jetzt die +Mutter, alles Andere in dem Gedanken an ihre Toilette vergessend — »zum +still im Wagen Sitzen paßt ein Sommerkleid noch nicht und heute Abend wird +es kühl werden.« + +»Und nicht so lange machen,« mahnte der Vater, der sich sein Glas noch +einmal voll schenkte und leerte; »der Wagen wird im Augenblick da sein.« + +Der Wagen fuhr auch wirklich kaum zehn Minuten später vor, Herr Dollinger, +der nun seinen Hut und Stock aufgenommen, ging, seine Handschuh anziehend, +im Hofe auf und nieder, und endlich erschienen, diesmal in wirklich sehr +kurzer Zeit, die Damen, ihre Sitze einzunehmen. + +»Nun, wo ist Henkel?« sagte Herr Dollinger, sich nach seinem zukünftigen +Schwiegersohne umschauend, »ich habe sein Pferd auch noch nicht gesehen; +jetzt wird uns der warten lassen.« + +Die Familie hatte indessen im Wagen Platz genommen, und der alte Herr +schaute etwas ungeduldig zum Schlag hinaus, als der junge Henkel zum Thor, +aber ohne Pferd, hereinkam. + +»Nun? und Sie sitzen noch nicht im Sattel?« rief er ihm schon von weitem +entgegen — »das ist eine schöne Geschichte; jetzt dürfen wir den Frauen +nie im Leben wieder vorwerfen, daß sie uns warten lassen.« + +»Ich muß tausend Mal um Entschuldigung bitten,« sagte der junge Mann, zum +Wagen hinantretend, »aber mein Stallmeister hat mich sitzen lassen. Wenn +Sie mir erlauben schicke ich einen der Leute danach, oder gehe selber, es +ist nicht weit von hier. Aber thun Sie mir die Liebe und fahren Sie +langsam voraus, ich hole Sie in Zeit von zehn Minuten ein.« + +»Wir können ja hier warten,« sagte die Mutter. + +»Ja, wenn die Pferde stehen wollten,« brummte Herr Dollinger — »zieh nicht +so fest in die Zügel Johann, das Handpferd kann das nicht vertragen und +wird nur noch immer unruhiger — wir wollen langsam vorausfahren — machen +Sie aber daß Sie nachkommen; auf dem Balkon vom rothen Drachen trinken wir +Kaffee, dort ist eine wundervolle Aussicht — der Stalljunge mag +hinüberlaufen und Ihnen das Pferd holen.« + +Die Pferde zogen in diesem Augenblick an, Henkel mußte aus dem Weg +springen und verbeugte sich leicht gegen die Damen, von denen ihm Clara +freundlich lächelnd zunickte. + +Eine starke Viertelstunde später sprengte der junge »Amerikaner,« seinem +Thiere die Sporen gebend, daß es Funken und Kies hintenaus stob, über das +Pflaster, zum Entsetzen der Fußgänger dahin, dem Wagen nach, den er nur +erst eine kurze Strecke vor dem bezeichneten Platz wieder einholte. Im +Stall wollte Niemand etwas davon gewußt haben, daß er sein Pferd bestellt +gehabt — Einer schob die Vergessenheit natürlich auf den Andern, und +Dollinger’s Stallknecht mußte die Leute sogar erst zusammensuchen, bis er +das Pferd bekam, deshalb hatte es so lange gedauert. Als er mit demselben +zurückkehrte, ging der junge Mann in dem kleinen, dicht am Haus liegenden +Garten auf und ab, sprang aber dann, dem Burschen ein Trinkgeld zuwerfend, +und dessen Entschuldigung nur halb hörend, rasch in den Sattel und flog, +wie vorher erwähnt, in vollem Carrière die Straße nieder. + +Er hatte den Hof kaum verlassen, als Loßenwerder, einen großen, +wunderschön blühenden Monatsrosenstock unter dem Arm, vorsichtig und wie +scheu, daß ihn Niemand gewahre, über den Hof und in die Hinterthür des +Hauses schlich, und sich leise und geräuschlos die Treppe damit +hinaufstahl. Er blieb etwa zehn Minuten im Haus und wollte dann aus +derselben Thür wieder über den Hof zurück, als der Stallknecht aus der +Futterkammer kam. Unschlüssig blieb der kleine Mann eine kurze Zeit hinter +der Thür stehen, und schlich sich dann, als der Bursche den Platz nicht +verlassen wollte, vorn zur Hausthür hinaus auf die Straße, den Weg nach +seiner Wohnung einschlagend. + + + + + + Capitel 2. + + + DER ROTHE DRACHEN. + + +Der »rothe Drachen«, ein Wirthshaus, das wegen seines vortrefflichen +Bieres, wie sonst mancher schätzenswerthen Eigenschaften einen sehr guten +Namen hatte, lag etwa eine halbe Stunde von Heilingen, an der großen +Landstraße, die gen Norden führte. Ein freundlicher Thalgrund umschloß +Haus und Garten und die dunklen, den Gipfel des nächsten Hanges krönenden +Nadelhölzer hoben nur noch mehr das freundliche Grün der jungen Birken und +Weißeichen hervor, die sich über die niedere Abdachung erstreckten, und +bis scharf hinan an den hocheingefriedigten und sorgfältig in Ordnung +gehaltenen Frucht-, Gemüse- und Blumengarten des Hauses selber lehnten. + +Es war ein warmer, sonniger Frühlingsnachmittag; der Bach, der am Hause +dicht vorbeirieselte, plätscherte und schäumte in frischem jugendlichen +Uebermuth, des Eises Hülle, die ihn so lange gefangen gehalten oder doch +fest und ängstlich eingeklemmt, nun endlich einmal enthoben zu sein, und +die Vögel zwitscherten so froh und munter in den Zweigen der alten +knorrigen Linde, die unfern der Thüre stand, und flatterten und suchten +herüber und hinüber, aus den blühenden Obstbäumen fort über den Hof und +von dem Hof wieder fort in dicht versteckten Ast und Zweig hinein, mit +einem gefundenen Strohhalm oder einer erbeuteten Feder im Schnabel, daß +Einem das Herz ordentlich aufging über das rege glückliche Leben. Und wie +blau spannte sich der Himmel über die blühende, knospende Welt, wie leicht +und licht zogen weiße duftige Wolken, Schwänen gleich, durch den Aether +hin, farbige, flüchtige Schatten werfend über Wiesen und Feld und die +weite Thalesflucht, die sich dem Auge in die Ferne öffnete und dem +leuchtenden Blick neue Schätze bot, wohin er fiel. + +Ein Frühling in Deutschland — ein Frühling im _Vaterland_; oh wie sich das +Herz da mit der wirbelnden, schmetternden Lerche hebt und jubelnd, +jauchzend gen Himmel steigt; zwinge die Thräne da nicht zurück, die sich +Dir, dem Glücklichen, in’s Auge drängt — in ihrem Blitzen preisest Du den +Vater droben, wie es die jubelnde Lerche dort thut, die mit zitterndem +Flügelschlag über den grünen Matten schwebt; — wie das raschelnde +flüsternde Blatt im Wald, wie der schwankende, thaugeschmückte Halm und +die knospende, duftende Blüthe im Thal. Ein Frühling im Vaterland — oh wie +schön, wie jung und frisch die Welt da um uns liegt in ihrem bräutlichen +Glanz, voll neuer Hoffnungen in jedem jungen Keim, und wie sich das Herz +der schönen Blume gleich zusammenzog, als der Herbststurm über die Haide +fuhr, mit rauher Hand den Blattschmuck von den Bäumen riß und zu Boden +warf und Schnee und Eis vor sich hin jagte über die erstarrende Flur, so +öffnet es sich jetzt mit vollem Athemzug wieder den balsamischen +Frühlingsgruß, und vorbei, vergessen liegt vergangenes Leid — wie der +verwehte Sturm selber keine Spur mehr hinterließ und die schönsten Blumen +jetzt gerade an den Stellen blühen, wo er am tollsten, rasendsten getobt. + +Ein warmer erquickender Regen war die letzten Tage gefallen, und so gut er +dem Land gethan, hatte er doch die Bewohner des nahen Städtchens in ihre +Häuser und Straßen gebannt gehalten, von wo aus sie sehnsüchtig die nahen +grünenden Berge theils, theils die dunklen Wolken betrachteten, die nicht +nachlassen wollten Segen auf die Fluren niederzuträufeln. Heute aber hatte +sich das geändert; voll und warm glühte die Sonne am Himmelszelt und +hinaus strömten sie in jubelnden Schaaren, hinaus in’s Freie. Der »rothe +Drachen« vor allen anderen Plätzen, der so reizend an der Oeffnung des +Thales lag und die Aussicht bot in das darunter liegende freie Land, hatte +dabei sein reichlich Theil erhalten der fröhlichen Schaar, daß die Wirthin +mit ihren Kellnern und Mägden nicht Hände genug hatte zu schaffen und +herzurichten, und die Tische und Bänke im Garten draußen fast alle besetzt +waren rund herum von Schmausenden. + +Der »rothe Drachen« sollte übrigens, wie die Sage ging, seinen Namen von +einem wirklichen Drachen bekommen haben, der einmal vor vielen hundert +Jahren in der Schlucht weiter oben, die auch noch ebenfalls nach ihm die +Drachenschlucht hieß, gehaust und viele Menschen und Rinder verschlungen +hatte. Der Wirth des »rothen Drachen« nun, Thuegut Lobsich, dessen +Voreltern schon diesen Platz gehalten, behauptete dabei, Einer seiner +»Ahnen« habe den Drachen im Einzelkampf erlegt — (die Gäste meinten, mit +schlechtem Bier vergiftet) und dafür von dem damals regierenden Fürsten +Platz und Wirtschaft als Gerechtsame, mit dem Schild als Wahrzeichen, +erhalten. + +Wie dem auch sei, Thuegut Lobsich that wirklich gut auf dem Platz, der ihm +vortreffliche Nahrung bot, und befand sich so wohl, wie sich nur ein Wirth +in einer gut gelegenen Wirthschaft befinden kann. Seine Frau war aber +dabei der Nerv des Ganzen, in Küche und Stall, in Keller und Haus, und +während sich Vater Lobsich, wie er sich gern nennen ließ, obgleich er noch +jung und rüstig war, am Liebsten zu seinen Gästen irgendwo an einen Tisch +drückte und »das Bier controllirte«, wie er sagte, daß ihm die Burschen +kein Saures brachten und die Gäste verjagten, arbeitete die Frau im +Schweiße ihres Angesichts vor dem Heerd, die bestellten Portionen +herzurichten und zu gleicher Zeit auch den Verkauf von Kaffee, Thee, Milch +und Kuchen zu überwachen. Dabei führte sie die Kasse und rechnete mit +Kellnern und Mädchen ab, und wehe denen, die eine halbe Portion Kaffee +oder Kuchen vergessen, ein nichtbezahltes Glas nicht aufnotirt oder einem +schlechten Kunden noch einmal gegen den direkt gegebenen Befehl geborgt +hatten. + +Böse Zungen meinten dabei nicht selten, Frau Lobsich sei der »einzige Mann +im Hause« und Thuegut dürfe nur tanzen, wenn sie nicht daheim wäre; böse +Zungen erwähnten dann aber nicht dabei, daß sie wirklich allein das +Hauswesen in Zucht und Ordnung hielt, und so scharf und heftig sie draußen +in Küche und Wirtschaft, wo sie fremde Leute doch auch eigentlich nur zu +sehen bekamen, sein konnte, und so große Ursache sie dabei oft hatte +ärgerlich zu sein, und die Ursache dann auch für vollkommen genügend +hielt, es wirklich zu werden, so still und freundlich konnte sie sich +betragen, wenn sie allein mit ihrem Manne war, und so gern gab sie ihm in +Allem nach, was nicht eben zu Ruin und Schaden trieb. Salome Lobsich war +das Muster einer Hausfrau, und was ebensoviel sagen will, eine gute Gattin +dabei — ob ihr Mann dasselbe auch von sich sagen konnte, stand auf einem +anderen Blatt. + +Heute hatte sich übrigens eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft in dem gar +so freundlich gelegenen Garten des rothen Drachen eingefunden, und dicht +vor der Thür desselben, unter der alten breitschattigen Linde, die ihre +Arme so weit nach rechts und links hinüberstreckte, daß man sie schon +hatte stützen müssen, nur den Weg zu ihr und den Platz darunter frei zu +behalten, saß Lobsich selber mit einem kleinen Kreis guter Bekannten, +d. h. alter Kunden und quasi Stammgäste von ihm, denn er selber kam selten +irgend wo anders hin, und wer also sein Bekannter _bleiben_ wollte, mußte +ihn eben besuchen. + +Zu diesen gehörte besonders Jacob Kellmann, ein Kürschner und Pelzhändler +aus Heilingen, dann der Aktuar Ledermann von dort, eine lange hagere, +etwas ungeschickte Gestalt, mit aber nicht unangenehmen, gutmüthigen +Gesichtszügen, und der Apotheker aus Heilingen, Schollfeld mit Namen, die +es gewöhnlich so einzurichten wußten, daß sie an einen Tisch mit einander +zu sitzen kamen. Lobsich nahm ebenfalls am Liebsten zwischen dieser +kleinen Gesellschaft Platz, und nur dann und wann, besonders wenn er die +Stimme seiner Frau irgendwo hörte, stand er auf und ging einmal durch den +Garten und die Reihen seiner Gäste, zu sehn ob Alle ordentlich bedient +würden, und keine Klagen einliefen gegen unaufmerksame Kellner, die er in +dem Fall auch wohl gleich an Ort und Stelle mit einem Knuff oder einer +Ohrfeige abstrafte, als warnendes Beispiel. Er mußte an irgend Jemand +seinen Aerger auslassen, daß er nicht bei seinem Biere konnte sitzen +bleiben. + +»Ist doch ein prachtvolles Wetter heute,« sagte Kellmann, der eben einen +tüchtigen Zug aus seinem Glase gethan, und nun mit vollem zufriedenen +Blick über das freundliche Bild hinaus schaute, das sich, von der warmen +Nachmittagssonne beschienen, in all seinem blitzenden Glanz und +Farbenschimmer vor ihnen aufrollte »und es wächst und gedeiht Alles +draußen so schön und steht so prächtig — merkwürdig dabei, daß Alles so +theuer bleibt, und die Preise, statt herunter zu gehen, immer nur steigen +und steigen.« + +»Ja das weiß Gott,« seufzte der Aktuar, dem der Gedanke selbst den +Geschmack am Bier wieder zu verderben schien, denn er setzte das schon zum +Mund gehobene Glas unberührt vor sich nieder — »und wenn das noch eine +Weile so fort geht, können wir alle mit einander verhungern oder +davonlaufen.« + +»Nun Ihr habt gut reden,« sagte Kellmann, »Ihr bekommt vom Staat Euer +Gewisses und könnt Euch genau danach einrichten — Euer Geld muß Euch +werden, wenn der erste jedes Monats kommt, unsereins hängt aber allein von +den Zeiten ab, und wenn die Lebensmittel knapp werden, kauft Niemand einen +Pelz. Holz will auch sein und daran kann sich nachher die ganze Familie +wärmen.« + +»Ihr redet wie Ihr’s versteht,« brummte der Aktuar, — »unser Gewisses +bekommen wir, das ist wahr, aber nur deshalb, damit wir gewisses Elend vor +den Augen haben. Ich habe fünfhundert Thaler Gehalt, und Frau und Kind und +Dienstmädchen zu ernähren, und soll anständig dabei gekleidet gehn, denn +vor zehn und zwanzig Jahren hatte ein Aktuar in meiner Stellung auch nicht +mehr, und machte das Alles möglich, ja befand sich wohl dabei. Jetzt aber +wird Brod, Butter, Fleisch, Holz, Wohnung, kurz Alles was wir nun einmal +zum Leben brauchen, gesteigert von Tag zu Tag, aber meine fünfhundert +Thaler _bleiben_; vor zehn Jahren kaufte ich zwanzig Pfund Brod für +dasselbe Geld, für das ich jetzt nicht zehn bekomme — aber _meine_ +fünfhundert Thaler _bleiben_. Auch mein Hausherr verlangt höheren Zins — +schon voriges Jahr bin ich höher gegangen, um nicht gesteigert zu werden, +d. h. für denselben Preis aus der zweiten in die dritte Etage gezogen, +aber dies Jahr muß ich ganz hinaus, denn er will wieder zehn Thaler mehr +haben und ich kann’s ihm nicht geben. Ihr Leute habt Euch gut in die +Zeiten schicken, denn wenn das Brod theuer wird, schlagt Ihr desto mehr +auf Euere Waare, der kleine Beamte aber, der Staatsdiener um geringen +Lohn, das ist das geplagte, gefährdete Geschöpf, und jede neue Taxe macht +ihm keine neue Berechnung, sondern schnallt ihm nur den Leibriemen um ein +Loch enger, daß er weniger ißt, bis er in’s _letzte_ Loch geworfen wird, +zum ersten Mal von seinen irdischen Strapatzen, ohne Furcht vor rasch +abgelaufenen Ferien, wirklich ungestört auszuruhen.« + +»Ach geht mit Eueren erbärmlichen Lamentationen an solch freundlichem +Tag,« fiel ihm der Wirth hier in die Rede, der sich erst vor ein paar +Augenblicken wieder mit zum Tisch gesetzt und schon eine ganze Weile +ungeduldig mit dem Kopf geschüttelt hatte. »Das Reden macht’s nicht besser +und Stöhnen und Seufzen hilft auch Nichts — Kopf oben, das ist die +Hauptsache; das andere macht sich von selber — aber hallo« — unterbrach er +sich plötzlich, von seinem Sitze aufstehend und die Straße +hinunterzeigend, die in das weite Thal führte — »was kommt dort für ein +Trupp den Weg entlang?« — und in der That wurde dort oben ein ganzer Zug +Männer, Frauen und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspännigen +Wägelchen sichtbar. + +»Das sind Auswanderer!« rief Jacob Kellmann, von seinem Stuhl aufspringend +und dem Zug entgegenschauend — »seht nur ein Mensch an, wieder ein ganzer +Schwarm aus dem Hessischen; Heiland der Welt, da muß doch endlich einmal +Platz werden.« + +»Na nu ist wieder der Frieden beim Henker,« rief aber der Apotheker +mürrisch — »hier Lobsich setzt Euch auf Eueren Stuhl und trinkt Euer Bier +aus, und Ihr Kellmann, laßt das Volk da draußen laufen, wohin sie wollen — +unzufriedene Bande, die es ist und die es nirgends gut genug kriegen kann, +wo ihr nicht das Confekt auf goldenen Tellern präsentirt wird. Na kommt +nur hinüber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr sticht — Euch werden sie +schon noch das Fell über die Ohren ziehn, daß Ihr am hellen lichten Tag +die Sterne zu sehn bekommt.« + +»Nein was für ein Zug!« rief aber Kellmann, die langsam näher kommende +Schaar mit unverkennbarem Interesse betrachtend; »die armen Teufel.« + +»Hört Kellmann,« rief aber Schollfeld ärgerlich, »tretet mir da ein wenig +aus dem Weg, daß ich auch was sehen kann, und setzt Euch wieder, ich +dächte doch wahrhaftig, Auswanderer hier an der Straße wären nichts so +besonders Neues, daß Ihr Maul und Nase aufsperrt und thut, als ob Euch so +etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen wäre.« + +Schollfeld war übrigens nicht umsonst so mürrisch; er hatte einen Zorn auf +Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung als eine indirekte +Beleidigung gegen den Staat, gewissermaßen als eine Grobheit, die man ihm +geradezu unter die Nase sage — : »ich mag nicht mehr in Dir leben und +weiß einen Platz, wo’s besser ist.« Das _dachten_ sich nämlich die +»Tölpel«, wie er sie nannte, aber Sie _wußten_ es nicht — gar Nichts +wußten sie und liefen blind und toll in die Welt hinein. Der Staat hätte +auch eigentlich den Skandal gar nicht dulden sollen; hunderte von +Menschen, reine Deserteure aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei +vorbei, Anderen noch obendrein ein böses Beispiel gebend, und er begriff +die Regierung nicht, wie sie dem Volke nur noch einen Paß gestatten +konnte. + +Der Zug war indessen näher gekommen und Lobsich rasch in das Haus gegangen +Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen Trupps gewöhnlich eine Menge +junge Burschen befanden, die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst +hatten; um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und den Hals +trocken machte. + + [Capitel 2] + +Die ersten Wägen passirten still vorbei; die Führer warfen einen langen, +vielleicht sehnsüchtigen Blick nach den behaglich hinter ihren Tischen +sitzenden Gästen und dem kühlen funkelnden Bier hinüber, aber hielten +nicht an, sich längere Rast dafür auf den Abend versprechend. Nur von den +Fußgängern blieben mehre Trupps unfern der Linde, unter der unsere kleine +Gesellschaft saß, und nicht weit von der Gartenthüre stehn, und während +ein paar der Männer dem Kellner winkten, ihnen Bier herauszubringen, als +ob sie sich scheuten in ihrer bestaubten schmuzigen Kleidung, mit der +schweißbedeckten Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen +herübersehenden Gruppen hineinzugehn, hielt ein Trupp Frauen ebenfalls +dort. Angezogen von der plötzlichen weiten und freien Aussicht, die ihnen +hier nach unten zu das Thal öffnete, durch das sie gekommen, blieben sie +erfreut und überrascht stehn und schauten dabei auf das reizende Bild hin, +das wie mit einem Schlage so vor ihnen in’s Leben sprang. + +»Heiland der Welt, Lisbeth,« rief ein junges, sechzehnjähriges Mädchen +der, vielleicht zwei Jahr älteren Schwester zu — »dort drüben liegt +Holstetten, und von da ist’s nur noch neun Stunden zu Haus — dahinter kann +ich den weißen Weg durch’s schwarze Nadelholz sehn, der hinüberführt nach +Krisheim.« + +»Ja Marie,« antwortete das Mädchen, und während sie sprach, liefen ihr die +großen hellen Zähren an den bleichen Wangen nieder, »gleich hinter dem +Berg dort muß die Windmühle liegen, und dann kommt Bachstetten und +nachher« — sie konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll und +sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren Schmerz sah, +noch schwerer machen. Aber zurückdämmen ließ sich das auch nicht, die +Wunde war noch zu frisch und blutete zu stark, und beide Mädchen standen +wenige Minuten still und weinend da, die schönen thränenüberströmten Züge +den ihr nächsten Menschen ab- und der verlassenen Heimath, die sie wohl +nie im Leben wieder schauen sollten, zugekehrt. + +»Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich hält und pflegt, wie sie +es versprochen,« brach die Jüngste endlich wieder mit leiser kaum hörbarer +Stimme das Schweigen. + +»Sie hat’s ja versprochen,« flüsterte fast eben so leise die Schwester +zurück, »aber — — — — so lieb wird sie’s doch nicht haben wie wir.« + +»Komm Lisbeth,« sagte die Jüngere wieder und ergriff, ohne sie aber dabei +anzusehn, der Schwester Hand — »wir wollen gehn — die Wagen sind schon ein +Stück voraus.« + +Beide Mädchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen Heimath zu +und schritten dann schweigend Hand in Hand den Weg entlang, der nach und +durch Heilingen führte, ihre weite, unbekannte Bahn. + +»He Marie, Lisbeth!« rief sie der Vater an, der eben an der Thür des +Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner erhalten hatte — »wollt Ihr +einmal trinken Kinder?« + +»Ich danke Vater,« sagte Marie zurück, ohne sich umzusehn oder stehn zu +bleiben, »wir sind nicht durstig.« + +»Woher des Wegs Ihr Leute?« wandte sich jetzt Kellmann, der trotz +Schollfeld’s ärgerlichen Worten zu dem Alten getreten war, an diesen. + +»Aus Hessen,« sagte der Mann ruhig und that einen langen durstigen Zug aus +dem, mit dem trefflichen Bier gefüllten, schäumenden Glas. + +»Und wohin?« + +»Nach Amerika.« + +»Hm — ist ein weiter Weg — ist Euch wohl schlecht gegangen hier im Lande?« +sagte Kellmann, die kräftige und doch gramgebeugte Gestalt des alten +Landmanns teilnehmend betrachtend. + +Der Bauer, dessen Blick auch an dem fernen Punkt indeß gehangen, wo seine +frühere Heimath lag, ließ das Auge einen Moment wie mißtrauisch über den +Frager gleiten und erwiederte dann leise und kopfschüttelnd: + +»Schlecht? — lieber Gott wie man’s nimmt; man soll g’rad nicht klagen; der +liebe Gott hat geholfen und wird weiter helfen.« + +»Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben holen die in +Amerika herumfliegen?« mischte sich hier der Apotheker in’s Gespräch, der +nicht umhin konnte dem »Auswanderer«, wie er sich ausdrückte, »einen Hieb +zu versetzen« — »habt Ihr auch Messer und Gabeln mit?« + +Der Bauer sah den kleinen, spöttisch lächelnden Mann einen Augenblick +ruhig von der Seite an, zahlte dann dem neben ihm stehenden Kellner, dem +er das Glas zurückgab, sein Bier, und ohne irgend etwas auf die Frage zu +erwiedern, oder ärgerlich darüber zu scheinen, ja als ob er sie nicht +gehört hätte, wandte er sich und folgte mit einem »grüß Euch Gott Ihr +Herren«, seinen vorangegangenen Töchtern. + +»Holzkopf,« brummte der Apotheker, nur noch mehr gereizt über diese +anscheinende Misachtung, hinter ihm drein — »dem Volk ist zu wohl hier,« +setzte er dann, mit einem kräftigen Zug aus seinem Glase hinzu — »der Art +Leute fühlen sich nicht behaglich, wenn sie nicht baumfest unter dem +Daumen gehalten werden.« + +»Guten Abend miteinander,« sagte in diesem Augenblick ein Anderer der +Auswanderer, der, mit einem kurzen Pfeifenstummel in der Hand zu dem Tisch +trat, auf dem in einem schützenden Kelchglas ein Licht mit darum +gesteckten Fidibus zum Anzünden der Cigarren stand — »wenn’s erlaubt ist, +möchte ich mir wohl einmal eine Pfeife bei Euch anbrennen.« + +»Mit Vergnügen,« sagte Ledermann, ihm einen Fidibus anzündend und +hinreichend. + +»Danke schön,« nickte der Mann, das Feuer benutzend und den blauen Qualm +in schnellen kurzen Zügen ausblasend. — + +»Und wo geht die Reise hin?« frug Ledermann dem Rauchenden. + +»Da hinüber,« sagte dieser; immer noch scharf ziehend, indeß er mit dem +linken, zurückgebogenen Daumen über die linke Achsel wieß — »übers große +Wasser.« — + +»Habt Ihr dort schon einen Platz?« frug der Aktuar. + +»Ja,« sagte der Mann freundlich — »mein Bruder hat mir geschrieben aus dem +Wiskonsin heraus; da soll’s gut sein.« + +»Und geht Ihr Alle dorthin?« frug ihn Kellmann. + +»Die meisten von uns, ja; eine Parthie will aber auch hinüber in’s +Missuri; da ist’s wärmer.« + +»Es sind wohl lauter Landleute hier miteinander?« + +»Ja meistens — ein Schneider ist dabei, und der Schmied aus dem Dorfe und +der Herr Pastor ist schon voraus.« + +»Der Pastor geht auch mit?« frug Kellmann schnell. + +»Ahem,« nickte der Mann, »der ist aber mit der Post gefahren, aber er hat +gesagt er wollte sehn daß wir Alle auf ein Schiff kämen. Danke schön Ihr +Herren, adje.« + +»Glückliche Reise,« rief ihm Kellmann nach. + +»Danke,« nickte der Mann noch einmal zurück, »könnens brauchen,« und +schloß sich den übrigen wieder an, von denen die letzten gerade die Thür +des Wirthshauses passirten. + +Es waren ärmliche, viele von ihnen kränklich oder wenigstens bleich +aussehende Gestalten, in die Bauerntracht ihrer Gegend gekleidet; die +meisten Frauen mit Kindern auf dem Arm, Manche sogar deren an der Brust, +und ein Bündel dazu auf dem Rücken, die im Schweiß ihres Angesichts, wie +sie bis jetzt gelebt, mühsam der fernen ersehnten Heimath +entgegenstrebten. Hie und da waren auch ein paar kräftige junge Burschen +von zwölf bis vierzehn Jahren vor ein kleines leichtes Handwägelchen +gespannt, darauf gepackte Betten, Kleidungsstücke und Lebensmittel die +weite Straße entlang zu ziehen. — Die Leute hatten kein Geld übrig, denn +das wenige, was sie zur Reise aufgespart, mußten sie für das Schiff +aufheben, und ein paar Thaler sollten doch auch noch wenigstens, wenn das +irgend anging, übrig bleiben, damit sie nur die ersten Tage in Amerika, +ehe sie Arbeit bekämen, vor Sorge geschützt wären. Den glänzenden +Schilderungen die ihnen von dem neuen Lande ihrer Hoffnungen gemacht +waren, trauten die armen Frauen am wenigsten in ihrem vollen Umfange; von +Jugend auf, wie ihnen nur eben die Kräfte wurden ihre jüngeren Geschwister +in der Welt herumzuschleppen, hatten sie arbeiten, hart arbeiten müssen, +und viel anders würde es auch wohl nicht da drüben sein. Der Sorgen waren +hier nur gar so viele angewachsen, mit jedem Jahre mehr, wie sie sich auch +plagten und quälten, und schlechter _konnte_ es dort drüben nicht sein. +Das war für jetzt der einzige Trost den sie mit sich trugen die lange, +heiße Straße entlang mit einer kleinen Hoffnung möglicher Besserung +vielleicht, und sie drückten dann die Kinder nur fester an ihr Herz und +küßten sie, und flüsterten ihnen leise und heimlich zu daß sie nicht mehr +schreien sollten, denn sie gingen nach _Amerika_, und da würde schon Alles +gut werden, wie ihnen der Vater gesagt. + +Die Männer und Burschen zogen der fernen Welt aber schon mit mehr +Vertrauen entgegen; das Bewußtsein der eigenen Fähigkeit und Kraft hob sie +dabei auch über Manches hinweg das die abhängigen Frauen schwerer zu Boden +drückte. Wer bei einer langen Wanderung voran geht, und für den Weg zu +_denken_ hat, wird nie so müde als der, der ihm folgt, nur für sich denken +läßt, und hinter drein zieht. Viele von den Männern trugen auch +Jagdtaschen und Gewehre auf dem Rücken, Büchsen und Schrotflinten — was +sollte es »da drüben« nicht Alles zu schießen geben; — Manche auch +nachgemachte bunte Blumensträuße auf dem Hut. Einzelne, aus Baiern und +Thüringen, die sich ihnen angeschlossen, hatten sogar ein paar kleine +gefärbte Maraboutfedern mit ihren Landesfarben, blau und weiß, und grün +und weiß in ihrem Hutband stecken; die Meisten aber schienen keine solche +Erinnerung an die Heimath mitnehmen zu wollen, in das neue Vaterland. + +Die Leute gingen vorüber, und die Gäste hatten ihnen schweigend +nachgeschaut, so lange fast, bis sie die nächste Biegung der Straße ihren +Blicken entzog. Auch Lobsich war wieder vor die Thür seines Gartens +getreten, und sich jetzt kopfschüttelnd zurück zu seinem Tische wendend, +brummte er vor sich hin. + +»S’ist mir doch was Unbedeutendes« — es war dieses eine seiner stehenden +Redensarten, die in der That unbegrenztes Erstaunen ausdrücken sollte — +»was die Leute dieß Frühjahr wieder an zu ziehen fangen; Tag für Tag geht +das so fort; Trupp nach Trupp kommt über die Berge herüber, mit Sack und +Pack, mit Weib und Kind — und Alles fort, Alles fort, und man merkt nicht +einmal von _wo_ sie fort sind.« + +»Doch, doch,« sagte Kellmann, die Augenbrauen in die Höhe ziehend und mit +dem Kopf nickend, »doch, doch Lobsich; ob man’s wohl merkt? — geht einmal +da über die Berge hinüber und seht Euch in den Dörfern um; da steht +manches alte halbzerfallene _leere_ Haus, an das irgend eine Familie da +drüben noch mit Schmerzen zurückdenkt, und in das Niemand anderes mehr +Lust hat einzuziehen, weil er noch eine Menge _bessere_, ebenfalls leer, +in demselben Dorfe findet. Es ist immer ein trauriger Anblick solch ein +leeres Haus, und ich seh’s nicht gern.« + +»Und was für _Geld_ tragen sie außer Land,« fiel der Apotheker hier ein, +der indeß, sich zu zerstreuen, im Heilinger Tageblatt gelesen hatte, jetzt +aber nicht umhin konnte auch noch ein Wort mit drein zu werfen — »was sie +nicht mit hinübernehmen können, lassen sie wenigstens in den Seestädten, +und zu uns kommt Nichts mehr davon zurück. Wenn ich nur das erst einmal +erlebe, daß die Leute zu ihrem Glück förmlich _gezwungen_, und nicht mehr +aus dem Land hinausgelassen werden; geht das aber so fort, so werden sie +so lange auswandern, bis uns hier weiter gar Nichts übrig bleibt als +mitzugehen, wenn wir nicht eben allein sitzen wollen in dem verödeten +Land, unseren Acker selber zu bauen. Hol sie der Teufel, wofür hat sie +denn eigentlich der liebe Gott in die Welt gesetzt und ihnen den Holzkopf +gegeben, der sie zu allem Anderen untauglich macht. Ackern und Düngen +müssen sie drüben doch auch, und weshalb können sie das nicht eben so gut +_hier_? — Nein Gott bewahre, die paar Thaler die sie sich _hier_ erspart +haben, müssen erst wieder verschleppt und hinausgeworfen werden an +Experimente und reinen Uebermuth, und nachher sitzen sie erst recht da; +dort drüben _können_ sie Nichts mehr sparen, und _müssen_ schon drüben +bleiben, wenn sie auch wieder herüber möchten. Die Paar die sich doch noch +ein paar Thaler zusammenscharren, die kommen nachher schnell genug wieder +zurück, aber es sind nur wenige, und die anderen armen Teufel haben die +Brücke muthwillig hinter sich abgebrochen, und sitzen nun auf der +wohlriechenden Haide ohne Unterfutter. Jesus Maria und Joseph, es muß ein +ordentlicher Jammer drüben sein.« + +»Na, _so_ arg nun denn doch wohl noch nicht, Schollfeld,« sagte Kellmann +kopfschüttelnd, »man hört doch nun auch so Manches von da drüben was nicht +gar so schlecht klingt, und wo sich’s schon aushalten ließe, wenn man — +wenn man eben einmal einen solchen verzweifelten Schritt absolut thun +müßte oder wollte.« + +»Nicht so arg?« rief aber Schollfeld, der hier sein Steckenpferd ritt, und +sich selten eine Gelegenheit entgehen ließ auf Amerika zu schimpfen — +»nicht so arg? da, hier lesen Sie einmal das Tageblatt, was der wackere +Dr. Hayde darüber schreibt; das ist ein Mann, der hat Haare auf den Zähnen +und muß die Sache verstehn, denn er ist Einer von den Wenigen die drüben +gewesen und glücklich wiedergekommen sind. Er bringt kaum eine Nummer in +der er nicht ein oder den anderen Hieb auf die Verhältnisse Ihres +»glücklichen Amerika« hat — das muß ja ein wahres Raubnest sein, lesen Sie +nur einmal.« + +»Hören Sie lieber Schollfeld, ich will Ihnen einmal ’was sagen,« +erwiederte ihm Kellmann ruhig, »dieser Dr. Hayde, der Ihnen die schönen +Artikel schreibt ist, der Meinung aller ordentlichen Kerle in Heilingen +nach, das wenigste zu sagen eine kleine geschwollene Giftkröte, ein +weggelaufener Advokat, den die Verhältnisse aus Deutschland vertrieben, +und den in Amerika Niemand mit seinen Talenten haben mochte. Zu faul zum +arbeiten, und nicht im Stande etwas Anderes zu thun, wurde er dort +wahrscheinlich vom Schicksal hin- und hergestoßen, und wie ein aus einer +Thür geworfener Mops, stellt er sich jetzt draußen hin, wo sich Niemand +die Mühe giebt ihn zu stören, und schimpft und klefft. Ich will Amerika +eben nicht in allem vertheidigen, aber was _der_ gerade darüber sagt würde +mich auch nicht bestimmen. Wie ein Dreckkäfer schleppt er sich nur mit +größter Mühe kleine Stückchen Koth herbei, und rollt sie zusammen eine +Kugel zu machen in die er sein Ei legt — pfui über den Burschen.« + +»Na jetzt freut mich aber mein Leben,« rief Herr Schollfeld erstaunt aus — +»erst schimpfen Sie selber auf Amerika, und nun auf einmal soll der arme +Doktor die ganze Schuld tragen.« + +»Ich _schimpfe_ nicht auf Amerika,« sagte Kellmann ruhig, »ich kann nur +nicht leiden wenn man es auf Kosten unseres eigenen Vaterlandes +herausstreicht, und gegen alle seine Nachtheile blind ist. Es wäre +allerdings noch viel gefährlicher sich die Lichtseiten alle zu bunt +auszumalen; die armen Leute die nachher hinübergehn und es anders finden, +sind dann zu sehr enttäuscht, und fallen gewöhnlich, wie mir gesagt ist, +aus einem Extrem in’s Andere — aber so taugt’s auch Nichts.« + +»Guten Abend selbander,« sagte in dem Augenblick eine andere Stimme dicht +hinter ihnen, und als sie sich danach umschauten, stand ein alter +Bekannter von ihnen, Mathes Vogel, ein reicher junger Bauer aus dem +nächsten Dorf, an ihrem Tisch und streckte ihnen freundlich die Hand +entgegen. + +»Hallo Mathes, wie geht’s?« rief Kellmann die gebotene herzlich schüttelnd +— »Wetter noch einmal Mann, wo habt Ihr jetzt gerade in der Saatzeit +gesteckt, daß Ihr in der Welt herumreist wie ein Baron, der seine Güter +verpachtet hat? Ihr seid verreist gewesen.« + +»Ja Herr Kellmann, in Bremen.« + +»Wo seid Ihr gewesen?« frug Schollfeld erstaunt. + +»In Bremen, Herr Schollfeld!« rief der junge Bauer, gegen diesen gewandt, +»oben in der Hafenstadt.« + +»Guten Abend Mathes,« kam hier der Wirth dazwischen, der den alten Kunden +ebenfalls begrüßte — »lange nicht gesehn, recht groß geworden mein Junge; +hast Du Durst?« + +»Merkwürdigen,« sagte der Bauer lächelnd. + +»Na warte, den wollen wir begießen,« schmunzelte aber Lobsich, rasch in +den Garten zurückgehend, »der soll mir nicht umsonst in den rothen Drachen +gefallen sein.« + +»Aber was hat Euch nach Bremen geführt?« wiederholte Kellmann, fast etwas +mißtrauisch gemacht durch das wunderliche halb verlegene Benehmen des +jungen Burschen. + +»Ja Herr Kellmann,« sagte der reiche Bauerssohn, wirklich jetzt verlegen +seinen Hut um den Zeigefinger der linken Hand drehend — »das hat — das hat +so seine eigene Bewandtniß — Ich bin — ich bin zu einem Entschluß +gekommen — ich will — ich will auswandern.« + +»Was will er?« schrie Schollfeld, der die Worte nicht ganz verstanden, den +ungefähren Sinn aber etwa errathen hatte. Jedenfalls schöpfte er Verdacht +und ehe Kellmann nur im Stande war ein Wort darauf zu erwiedern rief er +nochmals laut: »wo will er hin?« + +»Nach Amerika,« sagte aber der junge Mann entschlossen und wollte noch +etwas hinzusetzen, aber der Apotheker schlug dermaßen auf den Tisch, und +fing so an zu schimpfen und zu fluchen, Niemand wußte eigentlich auf was +und gegen wen, daß Mathes gar nicht gleich wieder zu Worte kommen konnte, +und vielleicht auch eben nicht böse darüber war. + +»Hallo, wer ist todt?« rief aber in dem Augenblick Lobsich, der mit dem +bestellten Bier für einen seiner besten Kunden selber ankam — »daß Dich +die Milz sticht, was ist denn dem Apotheker eigentlich in die Krone +gefahren?« + +»Dem Apotheker Nichts,« nahm aber Kellmann kopfschüttelnd das Wort, »doch +hier dem Dings da, dem Mathes — was meint Ihr, Lobsich was er vor hat?« + +»_Heirathen_?« sagte dieser, und ein breites vergnügtes Schmunzeln über +den so richtig und schnell gerathenen Vorsatz zog sich über sein dickes +gutmüthiges Gesicht. + +»Heirathen!« schrie aber der Apotheker dazwischen, indem er sich seinen +Hut in die Stirn drückte und seinen Rock anfing zuzuknöpfen — »heirathen? +— ja prost die Mahlzeit; _auswandern_ will der Kerl, wie ein blindes Pferd +das durch die Stallwand bricht, in einen Teich zu fallen.« + +»_Auswandern_?« schrie aber auch jetzt Lobsich in unbegrenztestem +Erstaunen — »na das ist mir aber doch wahrhaftig was Unbedeutendes.« + +»Oh hol Euch der Teufel mit Eurer albernen Redensart!« rief aber der nun +einmal ärgerliche Apotheker, und nahm seinen Stock unter den Arm — sein +stetes Zeichen daß er fertig zum Gehen sei — »was Unbedeutendes; ja wohl, +wenn der Raptus erst einmal in _solche_ Köpfe und Geldbeutel fährt, +nachher werden wir sehn was wir hier anrichten. Ich will mir aber mein +Abendbrod nicht verderben — gute Nacht Ihr Herren.« + +»Halt Schollfeld!« rief aber Kellmann, ihn am Arm fassend und +zurückhaltend — »brennt mir nicht durch, ich gehe auch gleich mit und +wollte nur erst hören, was Mathes den Gedanken in den Kopf gesetzt hat. +Hol’s der Henker, er macht sich entweder einen Spaß mit uns, oder es ist +nur so eine Idee von ihm, die wir ihm wieder ausreden können.« + +»Wenn ich das wüßte blieb ich die ganze Nacht hier,« sagte Schollfeld, +seinen Stock wieder auf den Tisch legend und zu dem verlassenen Stuhl +zurückgehend. »Mensch, Mathes, seid Ihr denn rein vom Teufel besessen, +oder habt Ihr nur heute, in irgend einer Kneipe, ein wenig des Guten zu +viel gethan, daß Ihr so tolles Zeug zusammenfaselt.« + +Mathes blieb aber bei allen diesen Ausbrüchen des Erstaunens, die erste +Erklärung nur einmal überstanden, vollkommen ruhig, und zog nur, statt +jeder weiteren Antwort, einen Brief aus seiner Brusttasche, den er langsam +auffaltete und vor sich legte, als ob er ihn vorlesen wollte. + +»Nun was soll’s mit dem Wisch?« rief aber der Apotheker ärgerlich, »Ihr +habt Euere Seele doch noch nicht dem Gott sei bei uns verkauft?« + +»So schlimm noch nicht,« lachte der junge Bursch, »das hier ist nur ein +Brief von Caspar Lauber, den Sie ja Alle kennen und der vor etwa sieben +Jahren nach Wisconsin auswanderte.« + +»Der was that?« rief der Apotheker, die Augen zusammenkneifend und das +linke Ohr zu ihm hindrehend — »nuschelt nicht so in den Bart, daß Euch ein +Christenmensch noch verstehen kann ehe Ihr unter die Heiden geht.« + +»Der nach Wisconsin auswanderte,« sagte der junge Bauer lächelnd — »er +hatte mir damals versprochen zu schreiben wie es ihm ginge, schlecht oder +gut; — wenn schlecht, wollte ich ihm helfen, wenn gut, vielleicht +nachkommen. Aber er schrieb nicht Jahr nach Jahr, und da er überhaupt +Nichts von sich hören ließ, glaubte ich schon er sei da drüben gestorben +oder untergegangen in dem weiten Reich, bis ich vor vier Wochen etwa einen +Brief von ihm erhielt und seit der Zeit habe ich keine Ruhe gehabt bis zu +dem heutigen Tag.« + +»Nun ja natürlich,« brummte der Apotheker. + +»Aber so laßt ihn doch nur reden,« rief jetzt auch ärgerlich der Actuar +dazwischen, »Ihr raisonnirt nur in einem fort und glaubt nachher, wenn Ihr +recht geschrieen habt, Ihr hättet recht.« + +»So lest den Brief einmal!« sagte Kellmann, die Arme auf den Tisch +stützend, »nachher wissen wir ja gleich woran wir sind.« + +»Aber erst muß ich noch Bier haben,« rief Schollfeld dazwischen, »ich mag +die Lügen wenigstens nicht trocken mit anhören.« + +Lobsich winkte einem der nächsten Kellner, die indeß leer gewordenen +Gläser wieder zu füllen, denn der Brief interessirte ihn selber zu sehr, +den Tisch jetzt zu verlassen, und Mathes sagte wie entschuldigend: + +»Der Brief ist sehr kurz, aber es steht Alles darin was ich zu wissen +verlangte, und er lautet: + +»Lieber Mathes — ich habe bis jetzt mein Versprechen nicht gehalten, Dir +zu schreiben, weil es mir sehr schlecht gegangen ist.« + +»Na ja,« fiel ihm hier der Apotheker in das Wort — »und nun müßt Ihr Hals +über Kopf machen daß Ihr auch hinüber kommt.« + +Kellmann wollte dem ewigen Einredner etwas erwiedern, aber Mathes fuhr, +lächelnd die Hand gegen ihn aufhebend, wieder laut fort: + +»Ich wollte aber nicht gern, daß mich Jemand Anders unterstützen sollte, +weil das hier im Lande eine Schande ist; ich wollte mir selber helfen, und +habe mir kümmerlich, aber ehrlich und fleißig durchgeholfen. Jetzt habe +ich eine kleine Farm von achtzig Acker, und vier und zwanzig Stück +Rindvieh, und dreißig Schweine und zwei Pferde und es geht mir gut. Ich +habe hart arbeiten müssen, aber ich komme durch. Wenn Du mit Geld hier +herüber kommst und willst mich aufsuchen, daß ich Dir mit Rath und That an +die Hand gehen kann, dann brauchst Du keine Angst zu haben, daß Du nicht +durchkommst. Wenn Du eine Frau hast, bringe sie mit; Kinder sind ein Segen +hier, kein Fluch wie für manchen armen Mann in Deutschland. Wer arbeiten +will kommt fort, wer faul ist geht zu Grunde. Es grüßt Dich zehntausend +Mal Dein Caspar Lauber — Lauber’s Farm bei Milwaukie, Wisconsin.« + +»Und auf den Brief wollt Ihr auswandern?« rief aber auch Kellmann jetzt +erstaunt — »Mathes, ist Euch denn das Auswanderungsfieber so plötzlich in +die Glieder geschlagen, daß Ihr die Seekrankheit für das einzige Mittel +haltet die es curiren könnte?« + +Mathes schüttelte aber gar ernsthaft mit dem Kopf, faltete den Brief +zusammen, den er zurück in seine Tasche schob, und sagte mit fester und +entschlossener Stimme: + +»Lange im Sinn hab’ ich’s schon gehabt, aber der Brief hat es zuletzt zum +Ausbruch gebracht.« + +»Aber Mathes, Ihr vor allen Anderen habt doch Euer Auskommen hier im +Land,« rief jetzt auch Lobsich, während der Apotheker das ihm eben +gebrachte Glas auf einen Zug hinuntergoß, wie um seinen Ingrimm damit +nieder zu spülen — »wenn Ihr nach Amerika auswandern wollt, wer soll denn +noch da bleiben?« + +»Ich _bliebe_ auch,« sagte Mathes rasch und mit vor innerer Bewegung fast +erstickter Stimme, »ich bliebe auch, wenn mich mein Vater ließe, aber — +der will nicht in die Heirath willigen mit Roßner’s Käthchen, des Häuslers +Tochter aus Rodnach; hier hält er mich dabei unter dem Daumen mit seinem +Gut und Geld, und das Mädchen stirbt mir indessen in Arbeit und Gram; dort +drüben aber ist ein Platz, wo fleißige Menschen auch durchkommen können +mit Gottes Hülfe _ohne_ Geld, _ohne_ Ansehn. Der Lauber hatte gar Nichts +wie er hinüberging; nicht das Hemd auf seinem Rücken war sein, und ich +weiß daß er nicht einen rothen Pfennig mit in das fremde Land gebracht +hat. Aus dem ist jetzt ein rechtschaffener Farmer geworden, mit eigenem +Land, Haus und Vieh, und was der kann — schwere Noth noch einmal — das +kann ich auch. Ich gehe hinüber, nehme das Käthchen mit — Geld zur +Ueberfahrt krieg ich schon, und wenn ich meine beiden Schimmel um den +halben Werth verkaufen sollte, und dort hilft der liebe Gott schon weiter. +Verhungern werden wir nicht, und ich brauche mir hier nicht mehr unter die +Nase reiben zu lassen, »das sollst Du thun und das nicht, und _die_ sollst +Du heirathen, die Du nicht magst und willst, und die Dich lieb hat und +Dich glücklich machen kann, der sollst Du das Herz brechen — weil ihr eben +nur der volle Geldsack fehlt.« + +»Unsinn!« sagte der Apotheker, jetzt wieder und zwar im Ernste aufstehend +— »wenn Jemand einmal rein verrückt geworden ist, läßt sich auch nicht +mehr mit ihm streiten. Gehn Sie mit Kellmann?« + +»Ja, gleich,« erwiederte der Gefragte — »weiß denn aber schon Euer Vater +um den Plan, Mathes?« + +»Heute hab’ ich’s ihm gesagt,« erwiederte der Gefragte leise — »aber er +glaubt es noch nicht.« + +»Und ist es denn schon wirklich so fest bestimmt?« sagte Kellmann +theilnehmend. + +»Meine Passage in Bremen für mich und — meine _Frau_ ist schon bezahlt,« +rief der junge Bursch da entschlossen — »den funfzehnten geht das Schiff +ab, und ich habe nur noch eben Zeit das Nothwendigste in Ordnung zu +bringen.« + +»Ja da kömmt freilich jeder gute Rath zu spät,« sagte Kellmann, jetzt +ebenfalls aufstehend und seinen Hut ergreifend, »wenn der Sprung erst +einmal geschehen ist, braucht man nicht mehr über das Springen zu streiten +und ich wünsche Euch das Beste in Euerer neuen Heimath.« + +»Ich weiß es, ich weiß es,« sagte Mathes gerührt — »aber vielleicht seh +ich Sie selber noch einmal auf freiem Boden drüben, mit Axt oder Pflug in +der Hand, wie ein wackerer, richtiger Farmer.« + +»Wen — mich?« rief aber Kellmann ordentlich erschreckt aus — »ich nach dem +vermaledeiten Lande, daß alle unsere besten Bürger frißt? Nein Mathes, für +dies Leben nicht — aber wann geht Ihr fort? vielleicht läßt Euer Vater +doch noch mit sich reden, und lenkt ein wenn er sieht daß es Euch wirklich +Ernst ist.« + +Mathes schüttelte mit dem Kopf und der Actuar rief: + +»Ein Bauer und einlenken, Kellmann? — da kennt Ihr unseren deutschen Bauer +nicht; worauf der einmal seinen Dickkopf gesetzt hat, da muß er durch, und +wenn’s nicht geht, so zerhaut er sich eben den Schädel, aber er läßt nicht +nach. Der alte Vogel und nachgeben; Du lieber Gott, wenn er den eigenen +Sohn mit einem einzigen Wort vom Verderben retten könnte — er spräch es +nicht.« + +»Na, da kann ich wohl auch meine Bude hier bald zuschließen und mitgehn,« +sagte Lobsich, sich den Kopf kratzend — »Schwerebrett das ist mir — hm — +hm — ist mir doch was Unbedeutendes, das — das Amerika.« + +»Und was sagt denn das Käthchen dazu?« frug Kellmann jetzt den Mathes, +während die Uebrigen schon aufgestanden waren und sich zum fortgehn +gerüstet hatten. + +»Die weint und will nicht mit,« sagte Mathes leise — »aber sie wird schon +gehen.« + +»Sie will nicht mit?« + +»Sie meint, es bräche meinem Vater das Herz.« + +»Das Herz brechen? — dem alten Vogel?« lachte aber dieser verächtlich — +»na Gott sei Dank, die hat einen guten Begriff von ihm — als ob dem etwas +das Herz brechen könnte.« + +»Nun, es frägt sich nur jetzt wem sie es lieber bricht,« meinte der +Actuar, »dem Alten, wenn sie geht, oder dem Jungen, wenn sie bleibt — die +Wahl wird ihr nicht schwer werden. Aber Schollfeld, Ihr seid ja auf einmal +so still geworden?« + +»Ach laßt mich zufrieden,« brummte dieser ärgerlich — »weiß es Gott, man +möchte am Ende selber mit hinüberlaufen, nur Nichts mehr von dem +verwünschten Auswandern reden zu hören.« + +»Hahahaha!« rief da Kellmann, »Schollfeld bekömmt auch überseeische +Ideen.« + +»Ueberseeische — hätte bald was gesagt,« knurrte dieser aber, auf der +Straße hingehend, ohne weder Mathes noch Lobsich gute Nacht zu sagen. + +Die Uebrigen wechselten noch kurzen Gruß mit ihren Bekannten dort, +zündeten sich frische Cigarren an, und schlenderten langsam, den +freundlichen Abend so viel als möglich zu genießen, die Straße hinab, der +eigenen Heimath zu. + + + + + + Capitel 3. + + + DER DIEBSTAHL. + + +Zehn Minuten mochten sie so etwa schweigend nebeneinander hergegangen +sein, als hinter ihnen auf der Straße eine Equipage und klappernde +Hufschläge gehört wurden, die sie rasch einholten und an ihnen +vorbeirauschten, eine dicke Staubwolke dabei über den Weg wälzend. Es war +die Familie Dollinger mit dem, neben dem Wagen hin galoppirenden Fremden, +dem Bräutigam der Tochter. + +»Die kommen schneller von der Stelle als die armen Auswanderer vorhin,« +sagte Kellmann, als sie vorbei waren — »Wetter noch einmal, es ist doch +ein anderes Ding so ein paar flüchtige Rappen vor sich zu haben, und wie +im Flug durch die Welt zu jagen, als mit einem schweren Packen auf dem +Rücken und wunden Füßen vielleicht, mühselig die staubige Straße entlang +zu keuchen.« + +»Ja, die Gaben sind ungleich vertheilt in der Welt,« seufzte der Actuar, +»was der Eine haben möchte, _hat_ der Andere schon, und das ist auch wohl +das ganze Geheimniß der socialen Frage, läßt sich aber nun einmal nicht +ändern, und wir dürfen vielleicht den Kopf darüber schütteln, und wünschen +daß es anders wäre, aber weiter eben Nichts.« + +»Der auf dem Pferd, war der Dings da von Amerika,« sagte der Apotheker +jetzt, »der das schmählige Geld hat und des reichen Dollingers Tochter +noch dazu heirathet. Soll mir noch einmal einer sagen daß Eisen der +stärkste Magnet sei; Gold ist’s, und wo das liegt zieht es anderes hin. + +»Und wie steht’s mit Actien?« lachte Kellmann. + +»Bah — bleibt immer dasselbe,« brummte der Apotheker, »das Gold steckt +darin, und kann durch einen sehr einfachen chemischen Proceß leicht +herausgezogen werden — wenn man sie hat.« + +»Es wundert mich übrigens daß der alte Dollinger sein Kind über das große +Wasser hinüberziehen läßt,« meinte der Actuar — »dem hätte es doch auch +hier im Lande nicht an einer eben so guten Parthie gefehlt.« + +»Liebe,« meinte Kellmann achselzuckend — »Liebe ist blind sagt ein altes +Sprichwort; dagegen lassen sich eben keine Gründe anbringen. Wär’s +übrigens auch nicht wegen dem großen Wasser, der Bursche gefällt mir +außerdem nicht, und ich möchte ihm meine Tochter nicht geben und wenn er +bis über die Ohren in Golde stäcke. Er hat ein verschlossenes, +hochfährtiges Wesen, behandelt den gemeinen Mann wie einen Hund, und +spricht von Allem was wir hier haben, unseren Einrichtungen, unseren +Gesetzen, unseren Vergnügungen selber, ja unserem Klima und Land, das doch +zum Henker auch _sein_ Vaterland ist, mit der größten Verachtung. Amerika, +und immer wieder Amerika, hinten und vorn; ei Blitz und Hagel, ich will +gar nicht leugnen daß es manche gute Seiten haben mag, das Amerika, wenn +ich sie auch gerade nicht einsehen kann, aber so viel besser wie unser +Deutschland ist es doch auch nicht drüben, und wenn’s so einem Burschen da +einmal zufällig geglückt ist, sollt’ er nicht als Lockvogel sich hier +mitten zwischen uns hineinsetzen, anderen vernünftigen Leuten +unglückselige Ideeen in den Kopf zu pflanzen. + +»Wenn sich andere vernünftige Leute solche Ideeen einpflanzen _lassen_, +geschieht’s ihnen ganz recht,« sagte der Apotheker — »man braucht nicht zu +glauben was jeder dahergelaufene Lump eben sagt.« + +»Nun _ganz_ ohne kann’s aber auch nicht sein,« meinte Kellmann +kopfschüttelnd, »und ich — ich halt’ es immer für gefährlich. S’ist +merkwürdig, wie rasch sich das mit der Hochzeit gemacht hat.« + +»Nun, wer sich die Braut gleich fix und fertig aus dem Wasser zieht hat +leicht freien,« sagte der Actuar — »Glück muß der Mensch haben, dann geht +Alles wie am Schnürchen; wer aber _das_ nicht hat, der mag sein Lebtag +fischen und fängt doch Nichts — am wenigsten aber solch einen Goldfisch. + +»Wo stammt er denn eigentlich her?« frug der Apotheker jetzt, wie sie +wieder eine Weile schweigend neben einander hingegangen waren, »man hört +doch sonst eigentlich gar Nichts von ihm, und er kommt auch mit keinem +Menschen weiter zusammen — stolzer aufgeblasener Bursche der.« + +»Gott weiß es,« sagte der Actuar; »er ist, glaub’ ich, mit einem +holländischen Schiff herübergekommen, und hatte einen Paß von Amsterdam.« + +»Und der Paß lautete nach Heilingen?« + +»Nun nicht gerade nach Heilingen, aber doch nach der Residenz, und wie +sich die Sache dann hier mit der Dollingerschen Familie gestaltete, nun +lieber Gott, da drückte der Stadtrath das eine, und die Stadtverordneten +drückten das andere Auge zu, und man sah nicht so genau nach den Papieren. +Ueberdieß verzehrte er ja hier viel Geld; wär’ es ein armer Teufel +gewesen, hätten wir ihn wahrscheinlich schon bald wieder über die Grenze +gehabt. + +»Hm, ja, glaub’s,« sagte Kellmann mit dem Kopfe nickend, »s’ist in +Heilingen eben nicht anders wie — wie anderswo — warum auch?« + +Das Gespräch drehte sich von da ab, auf die städtischen Einrichtungen, +deren wärmster Vertheidiger der Apotheker war, und über die sich der +Actuar natürlich nur sehr vorsichtig ausließ, während sie Kellmann um so +unnachsichtiger angriff; kam dann auf die Saat und die Preise, und wieder +mit einem Seitensprung auf die jetzige Politik unseres lieben deutschen +Reiches, bis sie das Thor und zwar gerade mit Sonnenuntergang erreichten, +wo Jeder seinen Weg ging, die eigene Heimath aufzusuchen. + +Der Actuar Ledermann besonders, der an dem entgegengesetzten Ende der +Stadt wohnte, beeilte seine Schritte, noch vor einbrechender Dunkelheit +seine Wohnung zu erreichen; das Gerücht ging nämlich in der Stadt, daß ihn +seine Ehehälfte bei solchen Gelegenheiten oft allerdings sehr unfreundlich +empfange, und ihm einmal sogar schon einige sonst sehr nützliche, bei +_der_ Gelegenheit aber nichts weniger als passende häusliche Geräthe +entgegen und vor die Füße geworfen habe. Thatsache war, daß »Madame« oder +Frau Actuar Ledermann, was auch ihres Gemahls Thätigkeit und Ansehn +außerhalb seiner eigenen vier Pfählen sein mochte, _innerhalb_ derselben +jedenfalls das Commando, und nicht immer mit Mäßigung führte, und der +Actuar suchte den Hausfrieden wenigstens soviel als möglich zu erhalten +und jeden Anlaß, zu irgend einer Störung desselben, zu vermeiden. + +Mit solchen Gedanken vielleicht im Kopf, wollte Ledermann eben vom +Marktplatz aus in die Straße einbiegen, an deren äußersten Ende seine +eigene, sehr bescheidene Wohnung stand, als er seinen Titel genannt und +sich selber gerufen hörte. + +»Herr Actuar — Herr Actuar Ledermann.« + +Er drehte sich rasch um und sah einen Gerichtsdiener eilig auf sich +zukommen, der, die Mütze abnehmend, vor ihm stehen blieb und ihm meldete, +daß er eben abgeschickt worden ihn zu holen oder aufzusuchen, da ein +Einbruch geschehen sei, über den an Ort und Stelle Protokoll aufgenommen +werden solle. + +»Protokoll aufnehmen?« sagte Actuar Ledermann, keineswegs angenehm +überrascht; »ja was hab ich denn heute damit zu thun, wo ist mein +_College_?« + +»Herr Actuar Beller sind unwohl geworden, heute Nachmittag,« berichtete +der Polizeidiener, »und mußten zu Hause gehn; ich bin eben abgeschickt zu +sehn, welchen von den andern Herren ich zuerst treffen könnte.« + +»Hm — ist sehr amüsant,« brummte Ledermann vor sich hin — »kommt mir +gerade apropos. Bei wem ist es denn?« + +»Bei Herrn Dollinger.« + +»Was? — bei Kaufmann Dollinger?« rief der Actuar rasch und erstaunt — »am +hellen Tag, während er ausgefahren war?« + +»Er ist, wenn ich nicht irre, eben zu Hause gekommen,« berichtete der +Mann, und hat glaub’ ich sein Pult geöffnet, und eine bedeutende Summe +Geldes entwendet gefunden.« + +»Hm, hm, hm,« sagte der Actuar kopfschüttelnd und seinen Rock dabei, den +er der Bequemlichkeit wegen aufgelassen hatte, zuknöpfend, »es wird immer +besser hier bei uns. Am hellen lichten Tage. Aber die ganze Stadt steckt +auch voll fremden Volkes, das sich natürlich keine Gelegenheit +entschlüpfen läßt Reisegeld zu bekommen.« + +»Es muß doch wohl Jemand gewesen sein der mit dem Hause genau bekannt +war,« sagte der Polizeidiener — »nach dem wenigstens, was ich bis jetzt +von den Dienstleuten darüber gehört habe, kann’s nicht gut anders sein.« + +»Nun wir werden ja sehn; da muß ich aber erst — « + +»Wenn sich der Herr Actuar nur eben an Ort und Stelle bemühen wollen,« +sagte jedoch der Diener des Gerichts, »alles Nöthige ist schon dorthin +geschafft und ich war eben nur fortgelaufen, einen der Herren zu suchen.« + +Der Actuar, dem Dienste natürlich Folge leistend, seufzte tief auf und +schritt, im Geist wahrscheinlich des Empfangs gedenkend, der seiner +harrte, wenn seine Frau auf ihn mit dem Abendessen warten mußte, rasch die +»Poststraße« hinaufbiegend, dem gar nicht weit entfernten Dollinger’schen +Hause zu, dort den Thatbestand in Augenschein und zu Protokoll zu nehmen, +etwaige Spuren des Uebelthäters zu entdecken und zu verfolgen, und die +Leute im Hause nach möglichem Verdachte zu inquiriren. + + * * * * * + +Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger, in dem Alles sonst so still und +ruhig und wie am Schnürchen zuging, wo Jeder seine angemessene und fest +bestimmte Beschäftigung hatte, genau wußte was ihm oblag, und das that, +ohne eben viel Lärm darum zu machen, lief und rannte und sprach heute +alles durcheinander, und sämmtliche Bande der Ordnung schienen gelöst. + +Frau Dollinger vor allen Dingen lag in Krämpfen in ihrem Boudoir, und +beanspruchte die Hülfe ihrer beiden Töchter und der weiblichen Dienstboten +im Haus, ihren Zustand zu bewachen; Herr Dollinger selber war in seinem +Zimmer des obern Stocks, und ging dort mit raschen Schritten und auf den +Rücken gekreuzten Armen auf und ab, während dem jungen Henkel indessen die +Bewachung des Platzes selber übertragen war, und die andern Dienstboten, +mit einem nicht unbedeutenden Theil der Nachbarschaft und deren +Verwandten, in den verschiedenen Winkeln und Ecken des Hauses herumstanden +und kopfschüttelnd, die Hände ein über das andere Mal in Verwunderung +zusammenschlugen. Die verschiedenartigsten Vermuthungen und Beweise wurden +da laut, und die Orte und Stellungen oder Beschäftigungen jedes Einzelnen +auf das Genaueste und Peinlichste angegeben, wo und wie sich Jeder gerade +in der Zeit etwa befunden haben mochte, als die entsetzliche, verruchte +That geschehen und vollbracht sein mußte. + +Dem Actuar, mit dem ihm folgenden Gerichtsdiener wurde übrigens willig und +dienstfertig Platz gemacht; Alle wollten aber hinter drein, und die Frauen +besonders gaben dabei durch die entschiedensten Ausrufe — »Ne Du meine +Güte« und »Ne so was« ihre vollkommenste Misbilligung des Geschehenen zu +erkennen. Nichts desto weniger wurde auch selbst ihnen die Thüre vor der +Nase zugemacht, und Einer der Bedienten bekam strenge Ordre die Hausflur +zu räumen, und Niemand mehr, so lange die Untersuchung dauere, die Treppe +hinaufzulassen, ausgenommen, es wisse Jemand noch um den Diebstahl, und +könne irgend einen Fingerzeig geben den Dieben auf die Spur zu kommen; +solche Zeugen sollten nachher vernommen werden. + +Oben an der Treppe empfing sie Herr Henkel, um sie gleich zu dem Ort, wo +der Diebstahl verübt worden, hinzuführen; einer der Leute war indessen +abgeschickt Hrn. Dollinger selber zu rufen, und dieser erschien jetzt, den +Actuar freundlich grüßend. + +Es war indessen schon ziemlich dunkel, und im Zimmer Licht angezündet +worden. + +»Ich bedaure sehr, Herr Dollinger,« sagte der Actuar, »daß, wie ich gehört +habe, eine so fatale Sache mich hier in Ihr Haus geführt haben muß.« + +»Ja allerdings,« erwiederte der alte Herr, »ist es sehr unangenehm; +weniger des Verlustes wegen, der sich allenfalls ertragen ließ, als wegen +dem Bewußtsein getäuschten Vertrauens, mit selbst keinem gewissen +Anhaltspunkt auf Verdacht. Ich wollte gern das Doppelte verloren haben, +wenn es hätte können auf andere Weise geschehn.« + +»Das Ganze ist übrigens mit einer raffinirten Geschicklichkeit +ausgeführt,« fiel Henkel hier ein, »und der Thäter, wer auch immer, +jedenfalls ein höchst gefährliches Subject, von dem ich nur hoffen will +daß wir ihm auf die Spur kommen.« + +»Dürfte ich Sie bitten mir den Platz zu zeigen?« + +»Treten Sie hier in das Zimmer meiner Töchter; dort der Secretair ist +erbrochen.« + +»Hm — mit einem breiten meißelartigen Instrument,« sagte der Actuar nach +kurzer Besichtigung der offenen, arg beschädigten Mahagoniplatte — »und +die Thür ebenfalls eingebrochen?« + +»Nein — die Thür ist unbeschädigt und muß jedenfalls mit einem +Nachschlüssel geöffnet sein.« + +»Und was vermissen Sie in dem Secretair?« + +»Eine Summe Geldes, die ich erst vor wenigen Stunden, und im Beisein +meiner Familie und eines zuverlässigen Comptoirdieners, im Paket wie ich +sie von der Post erhalten, hier eingeschlossen hatte, und von der der Dieb +auf eine mir unbegreifliche Weise muß Kenntniß bekommen haben.« + +»Wer ist dieser Comptoirdiener?« + +»Oh, Loßenwerder; Sie kennen ihn ja wohl?« + +»Loßenwerder,« sagte der Actuar nachdenkend — »ist wohl schon eine ganze +Weile in Ihrem Geschäft?« + +»Schon zwölf Jahr; mit keinem Schatten irgend eines Verdachts; ich nahm +ihn als einen ganz jungen Burschen in mein Haus; er muß aber gegen irgend +Jemand davon gesprochen haben.« + +»Hm, hm, wollen ihn uns doch einmal nachher besehn; also hier hinein +hatten Sie das Geld gelegt?« + +»Es ist ein Secretair, den meine Töchter gemeinschaftlich benutzen, und zu +dem jede von ihnen ihren Schlüssel hat. Bitte lieber Henkel, lassen Sie +doch einmal Sophie oder Clara einen Augenblick zu uns herüber rufen.« + +»Ich habe schon das Mädchen geschickt, eine der jungen Damen ersuchen zu +lassen,« entgegnete der junge Henkel, der indessen im Zimmer umhergegangen +war, und sich überall umgesehen hatte, ob nicht vielleicht doch der Dieb +irgend eine Spur, irgend ein Zeichen hinterlassen habe, an das man sich +später einmal halten könne. — + +»Und vermissen Sie weiter Nichts als das Geld?« frug der Actuar. + +»Auch ein Schmuck meiner ältesten Tochter scheint mit geraubt zu sein,« +sagte Herr Dollinger — »aber da kommt Clara, die Ihnen das Nähere davon +selber angeben wird.« + +Clara betrat in diesem Augenblick das Gemach; sie sah todtenbleich und +angegriffen aus, und Henkel eilte ihr entgegen sie zu unterstützen. + +»Clara, mein liebes armes Kind,« sagte Herr Dollinger, auf sie zugehend +und die Hand nach ihr ausstreckend, »fehlt Dir etwas? — Der Schreck hat +Dich wohl so angegriffen. Mach Dir doch nur keine Sorge, mein Herz; +vielleicht bekommen wir Alles wieder und wenn nicht — nun ein _Unglück_ +ist es dann auch nicht; wenn Ihr mir nur Alle gesund bleibt, können wir +die paar tausend Thaler schon verschmerzen.« + +»Es ist nicht der Verlust, lieber Vater,« sagte aber das junge Mädchen, +sich gewaltsam zusammennehmend, und des Vaters Hand ergreifend — »nur die +Ueberraschung, der Schreck wahrscheinlich, und das — das Unheimliche +dabei, als ich mein Zimmer vorhin betrat, und die Spuren des verübten +Verbrechens entdeckte. Ich fürchtete die entsetzlichen Menschen noch +irgend wo zu sehn, die vielleicht hinter einer Gardine stehen, unter einem +der Divans liegen, hinter einem Ofen lauern konnten und, wenn entdeckt, zu +verzweifelter Gegenwehr getrieben mich anfallen würden, und all solch +kindische Gedanken mehr. Dort der auf den Tisch geworfene Regenschirm +dabei, die hinuntergeworfene Stickerei von dem Secretair selber, am +meisten aber der Tabaksgeruch im Zimmer und die verlöschte, angerauchte +Cigarre dort auf dem Fensterbret, erfüllten mir das Herz mit einem +unbeschreiblichen Grausen.« + +»Eine Cigarre?« sagte Ledermann, sich vergebens nach dem bezeichneten +Gegenstand umschauend — »wo lag sie?« + +»Dort im Fenster, als ich zurückkam.« + +»Die alte angerauchte Cigarre?« sagte Henkel rasch — »die hab’ ich zum +Fenster hinausgeworfen; ich glaubte Einer der Dienerschaft hätte sie in +der Aufregung mit hereingebracht und dort abgelegt — sie muß unten auf der +Straße liegen.« + +»Bitte schicken Sie doch einmal einen Burschen danach, daß er sie +heraufholt,« sagte der Actuar; »man darf auch das Unbedeutendste nicht +unbeachtet lassen, und wir wollen indessen die vermißten Gegenstände +aufnehmen. Das Geld? — « + +»Davon giebt Ihnen dieser Brief das genaue Verzeichniß,« sagte Herr +Dollinger, »aber ich fürchte fast daß wir durch das Geld selber nicht auf +die Spur kommen werden, indem das Paket fast nur Gold und kleinere +Banknoten enthielt, die leicht umzusetzen und schwer zu controliren sind. +Eher hoffe ich durch den Schmuck den Dieb verrathen zu sehn, da einige +sehr auffällige Stücke, wie ich höre, dabei gewesen sind.« + +»Dürfte ich Sie um eine genaue Angabe derselben, heute Abend noch, wenn +irgend möglich _schriftlich_ bitten?« erwiderte, nach einigem Besinnen, +der Actuar, »diese Einzelheiten würden mich jetzt zu lange aufhalten.« + +»Kannst Du das geben, Clara? + +»Bis auf die kleinste Nadel hinunter,« sagte das junge Mädchen rasch, +»besonders auffällig war eine kleine, rundum mit Brillanten besetzte +Broche, ein Erbstück unserer Großmutter, und ausgezeichnet vor jedem +andern Schmuck, den ich noch in meinem ganzen Leben gesehen, durch einen, +in der Mitte gefaßten, genau dreieckigen, hellblauen und wundervollen +Turquis. Mein Schmuck lag gleich dicht dahinter, den aber muß der Dieb in +der Eile übersehen haben; er ist unangerührt geblieben.« + +»Das ist allerdings glücklich,« sagte der Actuar, »wäre wohl auch des +Mitnehmens werth gewesen. Lag gleich dabei?« + +»Hier in dem rothen Kästchen.« + +»Aber das ist auch geöffnet worden.« + +»Das? — nein, das hab ich wohl selbst geöffnet, nachzusehen, ob auch Alles +darin sei, und nicht wieder ordentlich geschlossen. Die Haken waren +allerdings auf, wenn ich mich nicht ganz irre, aber der Dieb hat +keinenfalls eine Ahnung gehabt, welchen Werth das kleine unscheinbare +Kästchen enthalte, oder es stände jetzt nicht mehr da.« + +»Sehr wahrscheinlich, hm — aber Sie vergeben wohl nicht, mein Fräulein, +alle diese Einzelheiten besonders zu notiren; wer weiß ob sie nicht noch +einmal wichtig werden. Ah, da kommt auch Herr Henkel wieder; haben Sie die +Cigarre gefunden?« + +»Gott weiß wo sie ist;« lachte dieser, »irgend Jemand muß es doch noch der +Mühe werth gehalten haben sie aufzuheben, und in einer Pfeife vielleicht +zu verrauchen — ich bin selber hinunter gegangen, kann sie aber nirgends +mehr entdecken. Uebrigens ist es auch fast dunkel geworden, und ich werde +morgen ganz früh nachsuchen lassen. Der Stummel wird Ihnen freilich nicht +viel helfen.« + +»Man weiß nicht,« sagte der Actuar kopfschüttelnd, »je nach der Güte des +Tabaks ließ sich vielleicht auf die Schicht der menschlichen Gesellschaft +schließen, in der sich unser heimlicher Besuch herumtriebe. Aber das ist +allerdings Nebensache; wo also ist der Dieb hereingekommen? — hier durch +diese Thür?« + +»Doch wohl vom Garten her durch das Fenster Euers Schlafzimmers,« sagte +Herr Dollinger, »denn durch das Haus würde er es sich am hellen Tage im +Leben nicht getraut haben.« + +»Aber ich möchte meine Seligkeit zum Pfande setzen daß ich den Schlüssel, +der nach unserer Schlafkammer führt, ehe wir fortgingen, herumgedreht und +stecken gelassen hätte, so daß von innen ein Oeffnen unmöglich war.« + +»Und war die Thür noch verschlossen wie wir zurückkamen?« + +»Nein, nur in’s Schloß gedrückt, aber der Schlüssel stak darin.« + +»Hm, hm, hm — dann ist der Bursche dort wahrscheinlich hinaus« — sagte der +Actuar — »zur Thür hier hereingekommen und dort zur Nothröhre hinaus — hm, +muß aber genau mit der Gelegenheit bekannt sein. Mein lieber Herr +Dollinger, wir werden Ihre Leute doch ein wenig scharf in’s Gebet nehmen +müssen, denn ein ganz Fremder, kann sich die Zeit nicht so abgepaßt +haben.« + +»Wo kommt der Blumenstock her?« sagte da plötzlich Clara rasch und +erstaunt, auf einen sehr schönen Rosenstock deutend, der in ihrem Fenster, +zunächst der Thüre stand — »wer hat den jetzt hier heraufgestellt?« + +»So lange wir hier sind Niemand« — rief Henkel — »war er vorher nicht da?« + +»Nicht heute Mittag, das weiß ich gewiß; aber vielleicht hat ihn eins der +Dienstleute mir heimlich hier hereingesetzt.« + +»Heimlich? — so?« sagte der Actuar, »den freundlichen Geber wollen wir +also vor allen Dingen einmal herauszubekommen suchen.« + +»Es ist heute mein Geburtstag,« sagte Clara leise und erröthend.« + +»Oh?« meinte Herr Ledermann mit einem freundlichen Lächeln, »da thut es +mir freilich leid, meine ganz ergebensten Gratulationen zu keiner +angenehmeren Zeit vorbringen zu können — will eben nicht passen bei einer +solchen Untersuchung, kann es aber doch auch nicht geradezu +hinunterschlucken — ich gratulire eben nicht zur Untersuchung.« + +»Es muß gewiß ein gesegnetes Land sein,« sagte Henkel mit einem leisen, +halb boshaften Lächeln, »wo die Polizei sogar witzig sein kann.« + +»Hm,« meinte der lange Aktuar, sich nach dem Sprecher umdrehend, »die +Polizei macht eben keinen Anspruch darauf, und ist das meistens +Privateigenthum. Aber wir wollen die Zeit nicht mit Allotrien vergeuden; +ist nicht herauszubekommen wer den Blumenstock hier, während Ihrer +Abwesenheit in das Zimmer gesetzt hat?« + +»Jedenfalls müssen die Dienstboten darum wissen,« sagte der junge Henkel, +»und es wird das Beste sein sie einzeln darum zu befragen.« + +»Allerdings; — Einzelverhör hat überhaupt viele Vortheile, bitte schicken +Sie einmal die Leute herauf, daß man vor allen Dingen ihre Gesichter zu +sehen bekommt.« + +»Aber nicht hier, Väterchen, nicht wahr nicht hier in meiner Stube?« bat +Clara — »ich würde den fatalen Gedanken im Leben nicht wieder los.« + +»Wir wollen hinuntergehn in das untere Zimmer,« sagte Herr Dollinger, +freundlich dem Wunsch der Tochter nachgebend, »es läßt sich das dort eben +so gut abmachen als hier.« + +»Manchmal ist der Platz des Verbrechens selber der geeignetste,« warf der +Actuar ein, »aber wie Sie wünschen — nur um eines möchte ich Sie noch +vorher bitten, daß ich mir einmal die Stelle oder das Fenster ansehn darf, +durch das sich Ihrer Vermuthung nach, der oder die Diebe entfernt haben +könnten.« + +»In unserem Schlafzimmer?« + +»Doch durch diese Thür?« + +»Lieber Henkel, Sie sind wohl indessen so freundlich, meine Leute unten +zusammenzurufen; wir kommen gleich hinunter. Sie werden heut viel +belästigt.« + +»Aber ich bitte Sie, bester Herr Dollinger,« sagte der junge Mann, rasch +seinen Hut aufgreifend, »wenn ich Ihnen nur darin von irgend einem +wirklichen Nutzen sein könnte. Lieber erlauben Sie mir vielleicht mit +Ihnen einer möglichen Spur zu folgen, denn meine Augen sind darin +vielleicht schärfer als manche andere.« + +»Es wird in der Dunkelheit nicht eben mehr viel zu spüren geben,« meinte +indeß der Actuar; »das werden wir uns müssen auf morgen früh aufsparen — +also jetzt noch das Fenster, wenn ich bitten darf — ich möchte mir nur die +Gelegenheit einmal von oben besehn.« + +Clara selber öffnete die Thür und führte dem Actuar mit ihrem Vater in das +kleine freundliche Gemach, dessen beide, schon von Blätter schießenden +Weinranken überzogene Fenster, auf den Garten hinaussahen. Das eine +Fenster war allerdings geöffnet gewesen, aber der Rankenwuchs so dicht +zusammengezogen, daß sich ein Körper kaum hätte hindurchzwingen können. +Die Höhe nach dem Garten hinunter, und gerade unter dem Fenster sollte ein +kleiner Rasenplatz sein, war eben nicht beträchtlich, vielleicht zehn oder +zwölf Fuß, und unten umgab niederer aber ziemlich dichter Hollunder den +Rasen. Im Zimmer selber ließ sich aber nicht das mindeste erkennen, das +einen solchen Verdacht unterstützt hätte; das Einzige was dafür sprach, +war die aufgeschlossene Thür. + +Zu der Unterstube des Hauses waren indessen die Dienstleute versammelt +worden, streng examinirt zu werden. Der Hausmagd vor allen andern lag die +Pflicht ob, die Etage, wenn sie nach unten in die Küche ging, in +Abwesenheit der Herrschaft verschlossen zu halten. Diese aber behauptete +steif und fest, und weinte dabei und rief Gott und alle Heiligen zu Zeugen +an, daß sie die Vorsaalthür auch ordentlich, »zweimal herum« abgeschlossen +und den Schlüssel zu sich gesteckt hätte, und Niemanden in der weiten +Gotteswelt gesehen habe, der das Haus in der Zeit betreten haben könne. +Trotzdem aber sei die Vorsaalthür, als sie wieder nach oben gekommen +offen, wenigstens aufgeschlossen, wenn auch zugeklinkt gewesen, und sie +hätte selber im Anfang nicht begreifen können wie das möglich wäre, aber +auch nicht weiter darüber nachgedacht, und es ihrer eigenen +Unaufmerksamkeit zugeschoben. Nach der Abfahrt der Herrschaft sei sie aber +nur eine ganz ganz kurze Zeit unten geblieben um — sie wollte erst nicht +mit der Sprache heraus, aber der Herr Actuar drängte gar so sehr — um den +jungen Herrn Henkel fortreiten zu sehn. Nachher mochte sie vielleicht noch +zehn Minuten der Köchin geholfen haben, und war dann nicht wieder von dem +Vorsaal oben fortgekommen, auf dessen Balkon sie gesessen und genäht +hatte. In der Zeit habe Niemand mehr den Vorsaal oder des Fräuleins Zimmer +betreten, darauf wolle sie das heilige Abendmahl nehmen, und der Diebstahl +müsse jedenfalls in den paar Minuten, die zwischen dem Fortreiten des +jungen Herrn und ihrem eigenen Wiederhinaufgehn nach oben gelegen hätten, +verübt sein — anders war es nicht möglich. + +»Wer aber hatte den Blumenstock in des Fräuleins Zimmer gestellt?« + +»Einen Blumenstock? — während die Herrschaft fort war?« + +»Allerdings, eine Monatsrose — in das Fenster nächst der Thür.« + +»Der das gethan hat, müsse damit zum Fenster, oder in derselben Zeit mit +einem Nachschlüssel zur Thür hereingekommen sein, als der Diebstahl verübt +worden, denn sie hätte keine Seele im Haus gesehn. + +Die Dienstboten hatten indessen mit einander geflüstert, als der Actuar +das Wort nahm und mit langsam bedächtiger, aber ziemlich ernster Stimme +sagte: + +»Hört einmal Leute, ich will Euch etwas sagen; Ihr habt Euch da gut +unschuldig stellen, als ob Ihr eben erst auf die Welt gekommen wärt, damit +dringt Ihr aber nicht durch. Das Geld ist fort — Ihr seid die Einzigen die +unter der Zeit im Haus waren, und Euere Pflicht wäre es gewesen — + +»Aber Herr Actuarius« — + +»Ruhe da, wenn ich Euch etwas mitzutheilen habe — und Euere Pflicht wäre +es gewesen, sag’ ich, aufzupassen, daß niemand Fremdes den Platz betrat, +der Euch anvertraut war, und für den Ihr also auch in der Zeit zu stehn +hattet. Jemand ist aber in der Zeit da gewesen, und hat etwas gebracht und +etwas geholt, und man wird sich jetzt an _Euch_ halten müssen, bis der +Jemand ausfindig gemacht ist. Was giebt’s da hinten — was ist gekommen?« + +»Dullmanns Rieke von über dem Weg drüben,« sagte die Köchin jetzt, gegen +den Actuar vortretend, »will den Loßenwerder haben heimlich aus dem Haus +schleichen sehn. Da _haben_ Sie einen; _uns_ brauchen Sie so etwas nicht +unter die Nase zu reiben, Herr Actuar — wir sind ehrliche Dienstboten die +sich ihr bischen Brot sauer genug im Schweiße ihres Angesichts — « + +»Ach halt’ sie das Maul,« fiel ihr aber der Actuar etwas unsanft in die +Rede — »_wer_ ist im Haus gewesen, Loßenwerder? — und heimlich +hinausgeschlichen? — wer hat ihn gesehn?« + +»Hier die Rieke von Dullmann’s — « + +»Wann war das?« fragte der Actuar das jetzt vorgeschobene Mädchen, das +feuerroth wurde und ihren einen Schürzenzipfel anfing wie einen Plumpsack +zusammenzudrehen. Erst ganz kurze Zeit vorher hatte sie einer ihrer +Freundinnen im Dollinger’schen Haus, und gewiß nicht in der Absicht die +Mittheilung gemacht, gleich damit, ohne weitere Warnung, vor die Polizei +gezogen zu werden. + +»Nun Mamsell — wie hieß sie? — Rieke? — Wann haben Sie Loßenwerder aus dem +Haus kommen sehn, und ist er ruhig hinausgegangen oder _geschlichen_?« + +»Wenn Loßenwerder im Haus war,« sagte Herr Dollinger ruhig, »so wird er +auch ordentlich hinaus_gegangen_ und nicht geschlichen sein; der wäre der +Letzte dem ich so etwas zutrauen möchte.« + +»Die Rieke behauptet,« fiel aber hier die Köchin in dem Bewußtsein +unrechtlich gekränkten Ehrgefühls rasch ein, »daß sie gar nicht auf ihn +geachtet haben würde, wenn er sich nicht so schnell und heimlich, und +dicht unter den Fenstern, am Hause hingedrückt hätte. Wer kein böses +Gewissen hat, kann gerade und offen gehen.« + +»Sie sind aber gar nicht gefragt, zum Henker noch einmal,« rief der Actuar +jetzt ungeduldig werdend — »wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, lasse ich Sie +so lange hinausführen, bis wir Sie wieder brauchen. Hier Mamsell Rieke; +wenn Sie sich die Schürze abgedreht haben, dann sein Sie so gut und sagen +Sie uns einmal wo und wie Sie den Herrn Loßenwerder gesehen haben.« + +»Ich — ich weiß nicht gewiß« — stammelte das Mädchen verlegen — »aber — +aber Loßenwerder kam — bald nachher wie die Herrschaft fortgefahren war — +« + +»Wie lange nachher?« frug der Actuar. + +»Etwa eine halbe Stunde denk’ ich — vielleicht nicht so lange — kam er +viel rascher als es sonst seine Art ist, denn er geht gewöhnlich immer +sehr langsam — kam er — kam er aus der Thür heraus, die er geschwind +hinter sich zuzog — und dann — « + +»Und dann?« — + +Und dann hielt er den Kopf nieder, als ob er nicht wollte daß ihn Jemand, +der vielleicht von oben heruntersähe, erkennen möchte — hielt er den Kopf +nieder und drückte sich — drückte sich dicht am Haus hin, so schnell er +konnte die Straße hinunter, und um die Ecke.« + +»Und nachher?« frug der Actuar. + +»Nu, um die Ecke kann sie doch nicht sehn,« sagte die Köchin. + +»Ob Sie still sein wird,« sagte Herr Ledermann jetzt aber wirklich böse +gemacht — »Wenzel, wenn mir die Person da jetzt noch einmal das — noch +einmal den Mund aufthut, dann wissen Sie was Sie zu thun haben.« + +»Sehr wohl, Herr Actuar,« sagte der Gerichtsdiener — + +»Und sind Sie dann nachher nicht herübergekommen und haben das den Leuten +im Hause gesagt, was Sie gesehn?« frug der Actuar. + +»Ich habe ja aber Nichts gesehen,« sagte die Rieke. + +»Sie haben doch den Loßenwerder gesehn« — + +»Ja aber der geht doch so oft in das Haus hier herein, und kommt nachher +immer wieder heraus.« + +Der Actuar warf sich ungeduldig herüber und hinüber und sagte endlich +mürrisch: + +»Unsinn — baarer Unsinn — aber hatte er denn irgend etwas in der Hand? — +_trug_ er etwas?« + +»_Trug_? — ja — ja sehn Sie Herr Actuar — das kann ich Sie nicht sagen — +das weiß ich nicht — « + +»Nun Sie werden doch gesehen haben, ob er irgend ein schweres Paket in der +Hand hatte oder nicht.« + +»Ja sehn Sie, das weiß ich Sie wahrhaftig nicht, aber ich glaube es fast,« +sagte das Mädchen, »denn ich habe den Herrn Loßenwerder eigentlich noch +gar nicht anders gesehn, als daß er irgend ’was getragen hätte; und wenn’s +nur ein paar Briefe gewesen wären, oder ein Regenschirm.« + +»Lieber Herr Actuar, ich glaube Sie sind da auf einer falschen Fährte,« +sagte Herr Dollinger jetzt — »man kann einem Menschen allerdings nicht +in’s Herz sehen, aber für den Loßenwerder möchte ich fast selber +einstehen.« + +»Mein bester Herr Dollinger,« sagte aber der Actuar kopfschüttelnd, »es +ist das mit den Untersuchungen eine wunderliche Sache, und Leute auf die +man am allerwenigsten gedacht, von denen man nie das geringste Unrechte +vermuthet hatte, kommen da oft in den sonderbarsten Verwickelungen vor und +— sind schuldig. Ich selber kenne Loßenwerder als einen ordentlichen +braven Menschen, und will zu Gott hoffen, daß unser ganzer Verdacht +unbegründet ist; das heimliche Schleichen aus dem Haus aber, und daß ihn +Niemand sonst im Haus gesehen hat macht ihn verdächtig. Meine Pflicht ist +es wenigstens ihn selbst deshalb zu vernehmen und ich werde jedenfalls +noch heute Abend nach ihm schicken müssen — unsere Eisenbahnverbindungen +sind jetzt zu schnell, und man darf keiner Menschenseele mehr zwölf +Stunden Vorsprung lassen, wenn man nicht oft das leere Nachsehn haben +will.« + +»Passen Sie auf,« sagte Herr Dollinger, »der Loßenwerder wird den +Blumenstock zum Geburtstag Clara’s oben hinaufgetragen haben, und zum Dank +dafür kommt der arme Teufel jetzt noch in den Verdacht des fatalen +Diebstahls.« + +»Wie aber ist er ohne Nachschlüssel in die verschlossene Thür gekommen,« +warf der Actuar ein — + +»Hm — « sagte Herr Dollinger, »das weiß ich freilich nicht — nun fragen +Sie ihn selber, das wird jedenfalls der kürzeste Weg sein.« + +»Um das Verzeichniß der gestohlenen Gegenstände dürfte ich Sie dann +vielleicht nachher noch bitten.« + +»Meine Tochter wird es gerade jetzt eben schreiben,« sagte Herr Dollinger, +»wenn Sie nur noch kurze Zeit warten wollen.« + +»Dann dürfte ich Sie wohl bitten, es mir gleich in meine Wohnung zu +schicken,« meinte der Actuar nach kurzer Ueberlegung, »ich muß vor allen +Dingen erst in meine Wohnung und werde dann von da gleich noch einmal in’s +Bureau gehen. Wo ist denn der Loßenwerder wohl am leichtesten zu finden?« + +»Ich habe eben nach seinem Hause geschickt,« sagte Herr Dollinger, »aber +dort ist er nicht. Paul, der Bursche, behauptet, er ginge manchmal, aber +selten, in eine Bierstube an der Ecke der Rößnitzer und Hertzergasse, aber +dort war er auch nicht; es ist übrigens an beiden Orten bestellt, ihn +gleich, so wie Jemand seiner ansichtig wird, hierherzuschicken.« + +»Sehr wohl,« sagte der Actuar, seine Papiere zusammenpackend, und sie dem +Gerichtsdiener übergebend; nach kurzer Begrüßung wollte er sich dann eben +entfernen, als er noch einmal in der Thür stehen blieb und, sich scharf +auf dem Absatz herumdrehend, fragte: + +»A prospos — _raucht_ Loßenwerder?« + +»Soviel ich weiß _nicht_,« sagte Herr Dollinger. + +»Doch ja, manchmal,« sagte Einer der Leute — Sonntags nach Tisch z. B. +regelmäßig eine Cigarre.« + +»Hm, so?« sagte der Actuar und verließ dann rasch das Zimmer und Haus. + +Er hatte übrigens auch alle Ursache sich zu beeilen, denn daheim wartete +ein mit jeder Minute drohender aufsteigendes Unwetter auf ihn, das er mit +einer Art von verzweifelten Hoffnung immer noch mit den, dem +Gerichtsdiener wieder zu dem Zweck abgenommenen, und geschäftsmäßig unter +den Arm geklemmten Streifen Akten abzuleiten gedachte. Jedenfalls mußte +ihm der Vorfall im Dollinger’schen Haus, der so viel von seiner Zeit in +Anspruch genommen, entschuldigen. Frau Actuar Ledermann aber hatte sich +schon den ganzen Nachmittag über, mit immer wachsender Ungeduld, +vorgenommen gehabt mit ihrem Gatten gegen Abend einen der vor der Stadt +gelegenen Gärten, wo Concert sein sollte, zu besuchen und die Parthie war +ihr jetzt — was halfen alle Gründe dagegen — zu Wasser geworden; es +verstand sich von selbst daß Actuar Ledermann die Schuld, und deshalb auch +die Folgen trug. + +Frau Actuar Ledermann hatte sich übrigens vor einigen Tagen, wo sie trotz +dem nassen Wetter und allen Vorstellungen ihres Mannes spatzieren gegangen +war, furchtbar erkältet, und brachte keinen lauten Ton über die Lippen. +Das aber, und daß sie ihren gerechtfertigten Ingrimm nicht mit der vollen +Kraft ihrer Stimme hinaus_gießen_ konnte über den Gatten, wie sie es — und +er auch — gewohnt war, sondern alles das was sie ihm zu sagen hatte — und +sie hatte ihm viel zu sagen — heraus_flüstern_ mußte, reizte ihren Zorn +nur noch immer mehr. + +»Aber liebes Kind, ich versichere Dich,« sagte der Actuar in einem +vergeblichen Versuch den aufsteigenden Sturm zu beschwichtigen, »daß ich +mich über anderthalb Stunden bei dem verwünschten Diebstahl im +Dollinger’schen Hause aufgehalten habe und — « + +»Und ich versichere Dich,« zischte sie, mit einem Gesicht, dem die +Anstrengung die es sie kostete die Worte hörbar zu machen, einen noch viel +unfreundlicheren, ja sogar boshaften Ausdruck gab — »daß ich Dich vor +anderthalb Stunden schon gerade so erwartet habe wie jetzt, und seit drei +Stunden vollkommen angezogen dasitze und auf Dich passe.« + +»Aber Du _bist_ ja gar nicht angezogen, beste Therese.« + +»Weil ich mich wieder ausgezogen habe,« rief die Frau — »glaubst Du ich +soll mir ein Beispiel an einem liederlichen Menschen nehmen, und bei Nacht +und Nebel noch draußen herumstreichen, wie Leute die das Licht zu scheuen +haben? — Und dann mit meinem Katharr — daß ich mir den Tag über im warmen +Sonnenschein ein wenig Bewegung machte, das fällt Dir nicht ein; aber +Nachts, wenn der schädliche Thau niederfällt, der für mich gerade Gift +wäre, da möchtest Du mich jetzt wohl noch hinausschleppen nicht wahr? +damit ich nur recht schnell unter die Erde käme — o ich armes +unglückseliges Weib — « + +»Aber Therese Du bist unbillig, ich habe Dir doch angeboten heute +Nachmittag mit mir nach dem rothen Drachen hinauszugehn — « + +»Weil Du wußtest daß das nichtsnutzige Geschöpf von einer Wäscherin mir +mein Kleid nicht vor vier Uhr bringen würde,« zischte die Frau. + +»Aber Du hast ja noch andere — « + +»Am Sonntag zum Skandal der andern Menschen mit einer solchen _Fahne_ zu +einem anständigen Vergnügungsort hinausziehn, nicht wahr? — _Dir_ läge +natürlich Nichts daran was die Leute über Deine Frau sagten; aber Du bist +auch an anderen Orten lieber wie zu Hause, und statt Deiner Frau einmal +ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten, und nachher mit ihr zusammen +auszugehen, mußt Du natürlich g’rad in’s Wirthshaus laufen, und ein +Bischen vor Mitternacht dann wieder zu Hause kommen.« + +»Liebes Kind, es ist halb neun Uhr jetzt« — sagte der Actuar ruhig, »dann +aber Therese,« fuhr er nach kleinem Zögern, mit einer fast gewaltsamen +Anstrengung etwas herauszubringen, das er auf dem Herzen hatte, fort — +»bist Du theilweise mit selbst Schuld daran, _daß_ ich mir eben außer dem +Hause mein Vergnügen suchen _muß_.« + +»Ich?« wollte die Frau erstaunt rufen, der etwas zu hoch eingesetzte Ton +blieb aber total aus, und Ledermann sah nur, mit der entsprechenden +Gesticulation, das zum Höchsten erstaunte Gesicht der Gattin. Dadurch aber +vielleicht, und durch die ungewöhnliche, freilich erzwungene Stille, etwas +muthiger gemacht, fuhr er entschlossen fort: + +»Ja liebes Kind, Du; denn anstatt Deinem Mann, wenn er von seinen +Berufsgeschäften ermüdet zu Hause kommt den Aufenthalt daheim zu einem +freundlichen zu machen, in dem er gerne bleibt, läßt Dich Dein +unglückseliges, heftiges Temperament nicht ruhen noch rasten, sondern Du +mußt irgend eine Gelegenheit vom Zaune brechen mit mir zu zanken. Gebricht +es Dir aber vollkommen an Stoff, was jedoch nur in höchst seltenen Fällen +zu sein scheint, so bist Du mürrisch und verschlossen, machst ihm ein +finsteres, verdrießliches Gesicht, und sprichst kein Wort.« + +Sprachlos nur vor Zorn und Staunen über die unerhörte, bodenlose +Frechheit, hatte die Frau indessen dem heute so redseligen Gatten (der +aber nicht dabei zu ihr aufzuschauen wagte, sondern bald die rechte, bald +die linke Ecke der Stube mit den Augen suchte) angesehn. Es war eine +allerdings noch jugendliche schlanke, aber eher magere als volle Gestalt, +die Frau Actuar Ledermann, mit etwas vorstehenden, wenigstens stark +markirten Backenknochen und durchdringend scharfen, wenn auch kleinen +lichtgrauen Augen, die Lippen schmal und um den Mund in vielen kleinen +Fältchen, zusammengezogen, das Kinn jedoch etwas zurückstehend, was ihr +ein besonderes, und nicht eben angenehmes Profil gab. Auch in ihrem Anzug +ließ sie sich zuviel gehn; der Zauber reinlicher Kleidung fehlte ihr, der +selbst der ärmlichsten Tracht etwas Nettes, Freundliches giebt; die Krause +die das oben am Hals dicht anschließende Kleid einfaßte, war schon mehrere +Tage getragen und verdrückt, ebenso zeigten die Manschetten Spuren +längeren Dienstes, und die Haube saß ihr verschoben und zu viel +zurückgedrängt auf dem, nicht überreich mit Haaren bedeckten Scheitel. +Frau Actuar Ledermann war nicht hübsch, und der Affect der ihre Züge in +diesem Augenblick mehr entstellte als belebte, nahm ihnen leider auch die +letzte Spur sanfter Weiblichkeit, die sonst doch wohl noch hie und da +darin verborgen lag. Der bis jetzt mehr durch Erstaunen als Mäßigung +niedergekämpfte Zorn gewann aber auch endlich die Oberhand, und während +die Anstrengung, sich bei ihrer Heiserkeit gehört zu machen, ihr Antlitz +fast dunkel färbte, keuchte sie, die Arme in die Seite gestemmt, den +Oberkörper gegen den überrascht einen Schritt zurückweichenden Gatten +vorgebeugt: + +»Spreche kein Wort, _heh_? sagt der Herr? — prahlt da, »wenn er von +Berufsgeschäften nach Hause kommt« — spreche kein Wort? — sitzt in der +Kneipe den ganzen gesegneten Nachmittag — im rothen Drachen und das nennt +er Berufsgeschäfte; vertrinkt das Geld das wir hier zum nothwendigsten +Leben brauchten, und wirft mir jetzt meine Heiserkeit vor, die mir der +Himmel geschickt hat, oder mein böses Glück, dem ich auch einen solchen +Mann verdanke — daß ich kein Wort spreche und verdrießlich bin. Ich soll +wohl _tanzen_? eh? — wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist vor Jammer +und Elend daheim, und wenn ich den ganzen Tag da sitze, und brüte und +denke wie wir auskommen wollen mit den paar Groschen, die zum Sterben und +Verhungern zu viel, zum Leben aber zu wenig sind. Dann soll ich nachher, +wenn der gestrenge Herr sein Gesicht zeigt, lachen und vergnügt und lustig +sein, nur damit der Haustyrann sich nicht unbehaglich fühlt in _seinen_ +vier Wänden.« + +Heftiger Husten unterbrach hier die Zornesrede der Frau, der die übermäßig +angestrengte Luftröhre den Dienst versagte, und der Actuar Ledermann nahm +still und schweigend, den Moment benutzend, ein Licht von dem kleinen +Seitenschrank, zündete es an der Lampe an, und verließ kopfschüttelnd und +seufzend das Gemach, sich auf sein eigenes kleines Stübchen zurückzuziehn. + + + + + + Capitel 4. + + + FRANZ LOSSENWERDER. + + +In Heilingen, in der Glockenstraße, stand ein vortreffliches Weinhaus, in +dem die wohlhabenderen Bürger Abends gewöhnlich zusammenkamen und ihr +Fläschchen, aus denen auch oft zwei und drei wurden, tranken. Das Lokal +war ziemlich gemütlich, und dem Zweck entsprechend, in eine Menge kleiner +Zimmerchen abgetheilt, die theils durch wirkliche Thüren und Verschläge, +theils durch Vorhänge von einander getrennt lagen, einzelnen +Gesellschaften zu gestatten eben einzeln zu bleiben, und ihr Glas, +ungestört von dem Nachbar, zu trinken. + +Das Haus hieß »der Pechkranz« nach einer alten Sage, die der Wirth sehr +gern mit der Heilinger Chronik belegte, und die noch in dem +dreißigjährigen Kriege spielte; ein, über der Eingangsthür in neuerer Zeit +erst aus Stein gehauener Bachus, hielt auch in der einen Hand einen +Tyrsusstab, und in der anderen einen Pechkranz, in höchst wunderlicher +Weise Sage und Geschäft mit einander vereinigend. Die Allegorie war aber +gar nicht so übel angebracht, und hätte sich auch schon ohne Tilly recht +leidlich und genügend erklären lassen, denn Bachus hatte hier schon in der +That in manchen Kopf seinen Pechkranz hineingeworfen, daß es lichterloh +zum Dache hinausbrannte, ohne weiter eben größeren Schaden anzurichten, +als der alte Pechkranz in damaliger Zeit angerichtet haben sollte. + +Der Wirth war übrigens nicht in Heilingen geboren und erzogen, sondern ein +Rheinländer, der sich hier erst vor einigen Jahren niedergelassen, und +durch gute Getränke auch bald gute und schlechte Kunden genug bekommen +hatte. Seine Preise waren allerdings ein wenig theuer, »aber,« sagten die +Heilinger, »wer einmal Wein trinkt, dem darf es auch nicht auf einen +Groschen dabei ankommen, wenn er nur ächt und rein ist,« und Wirth und +Gäste befanden sich wohl dabei. + +Es war am Abend des nämlichen Tages, an welchem ich meine Erzählung +begann, als die Gäste, die den Tag über meist auf Spaziergängen im Freien +gewesen waren, anfingen einzutreffen, und die Kellner geschäftig herüber +und hinüber sprangen, Wein und Speisen den Hungrigen und Durstigen zu +bringen. Die kleinen Räumlichkeiten füllten sich nach und nach, und selbst +in dem großen Mittelsaal, der ungefähr das Centrum des Ganzen bildete, +hatten sich schon hie und da einzelne Gruppen gebildet, oder auch einzelne +Gäste saßen in irgend einer Ecke, ihre Flasche Wein vor sich, und auf +eigene Hand, in ungeselliger Gemüthlosigkeit, langsam Glas nach Glas zu +leeren. Es ist das aber nicht die rechte Art; zu einer schönen Landschaft +und einer guten Flasche Wein gehören mindestens zwei Personen, um Beides +recht und ordentlich zu genießen, die eine sich _darüber_, die andere sich +_dabei_ auszusprechen; wenn man allein ist, geht mehr als der halbe Genuß +von Beiden verloren. Es giebt allerdings Menschen, die sich zufriedener +fühlen wenn sie Alles allein genießen können, aber denen geh’ aus dem Weg; +es sind Hypochonder oder Schlimmere, und der einzige Dank, den Du ihnen +schuldig bist ist dafür, daß sie sich eben auch von Dir zurückziehn. Nur +wer Niemanden hat an den er sich anschließen darf, wer allein und +freundlos in der Welt dasteht und das Leid das ihn drückt, allein tragen, +die wenigen frohen Momente seines Lebens allein genießen muß, den bedauere +und hilf ihm, wenn Du kannst, denn er ist der Unglücklichste von Allen. + +Es mochte neun Uhr Abends sein, als ein Bekannter von uns, der +Kürschnermeister Kellmann, die Weinstube betrat und, sich überall +umschauend, ob er nicht irgend einen Freund träfe zu dem er sich setzen +könnte, in einer der Ecken eine bekannte Gestalt entdeckte. Aber er sah +erst ein paar Secunden wirklich aufmerksam dorthin, ehe er seinen Augen +traute, und sagte dann, auf Jenen losgehend und neben dem Tisch stehen +bleibend: + +»Hallo, _Loßenwerder_? Ihr hier im Pechkranz? na da möchte man doch, wie +die Schwaben sagen, den Ofen einschlagen. Alle Wetter Mann und vor einer +Flasche Rüdesheimer; nun das laß ich gelten und es freut mich wahrhaftig, +daß Ihr endlich einmal aufthaut und unter Menschen kommt. Aber was ist +denn heute los bei Euch? denn einen ganz besonderen Grund muß doch die +Festlichkeit haben.« + +»Ha — ha — ha — hat sie auch He — he — he — he — herr Ke — ke — ke — +kellmann,« sagte der kleine Mann verlegen lächelnd und sich etwas +schüchtern dabei umschauend, denn es schien ihm nicht angenehm, die +Aufmerksamkeit der übrigen Gäste so direkt auf sich gelenkt zu sehn. + +»Jetzt kann ich aber auch den Leuten widersprechen,« sagte Kellmann, +seinen Hut und Stock an einen der nächsten Haken hängend und sich neben +ihn setzend, »wenn sie behaupten Ihr tränkt nur Wasser, und Sonntags +höchstens einmal ein Glas Dünnbier — ich kriege Leibschneiden, wenn ich +nur an das Zeug denke — und sonst lebtet, als ob Ihr die Woche mit einem +halben Thaler auskommen müßtet. Alle Wetter Mann, das ist recht, daß Ihr +Euch auch manchmal ein Glas Rheinwein gönnt; das hält Leib und Seele +zusammen, und stärkt die Nerven und Muskeln mehr wie Rindfleisch. Würde +mir schwer ankommen, wenn ich unseren vaterländischen Wein entbehren +müßte,« setzte er mit einem halbunterdrückten Seufzer hinzu. + +»Ha — ha — ha — haben Sie a — a — a — auch wohl ni — ni — nicht nö — nö — +nö — nö — nö — nöthig, be — be — be — bester He — he — he — he — he — he.« + +»Ih nun wer weiß was Einem noch Alles bevorsteht,« unterbrach ihn Kellmann +— »hier Kellner — mir auch eine Flasche von dem Rüdesheimer; der Duft hat +mir Appetit gemacht.« + +»Hallo Loßenwerder bei einer Flasche Rüdesheimer,« rief aber jetzt noch +eine andere Stimme aus dem nächsten Stübchen, wo ein paar junge Kaufleute +bei ihrem Glase zusammensaßen — »da müssen wir auch dabei sein; +Loßenwerder hat vielleicht heute seinen splendiden Tag und traktirt — +haben Sie was in der Lotterie gewonnen?« + +Die jungen Leute, die Kellmann und Loßenwerder begrüßten, kamen mit ihrer +Flasche heraus, und setzten sich an denselben Tisch, mit dem immer +verlegener werdenden kleinen Mann anstoßend und trinkend. Denen gesellten +sich aber noch bald darauf Andre zu; Loßenwerder war in der ganzen Stadt +bekannt und oft auch, seiner körperlichen Mängel wegen, zum Besten +gehalten. Vertheidigen konnte er sich aber schon seines Stotterns wegen +nicht, was den Gegnern gleich nur noch mehr Anlaß und Stoff gegeben hätte; +so wurde denn diese freilich gezwungene Zurückhaltung endlich für +Gutmütigkeit ausgelegt, mit der er sich Scherz und Stichelrede ruhig +gefallen ließ, und was die schärfste Erwiderung nicht vermocht, erreichte +er unfreiwillig dadurch, daß man es endlich müde wurde, den sich nicht +Verteidigenden zum Besten zu haben, und ihn eben zufrieden ließ. Aber in +des Verwachsenen Betragen änderte das Nichts; abgestoßen und verhöhnt — in +nur sehr wenigen Ausnahmen — von Allen, mit denen er in Berührung kam, zog +er sich mehr und mehr in sich selbst zurück, ging, außer den nöthigen +Geschäftswegen und außer der Geschäftszeit, fast nirgends hin, und lebte +so einfach, ja fast dürftig, wie nur ein Mensch leben kann, der eben _nur_ +Geld ausgiebt, um zu existiren. In einem Weinkeller hatte ihn aber noch +Niemand gesehn, und die Gäste dort, die überdies keinen weiteren Zweck da +hatten als sich zu amüsiren, glaubten das einmal einen Abend mit dem +kleinen »Stotterberg«, wie er spottweis, seines Stotterns und Höckers +wegen genannt wurde, am Besten thun zu können. + +Im Anfang wollte sich Loßenwerder aber auf Nichts einlassen, ja machte +sogar zwei oder drei, wenn gleich vergebliche Versuche, sich zu entfernen, +denn von allen Seiten wurde er gehalten, und Jeder wollte und mußte mit +ihm trinken. Nach und nach aber fing er an aufzuthauen; der ungewohnte +kräftige Wein mochte ihm das Blut leichter und rascher durch die Adern +jagen. Nun sollte er erzählen, aber das ging nicht, sein Stottern wurde, +mit der schwereren Zunge, kaum verständlich, bis Einer, im Spott eben, auf +den Gedanken kam, ihn zum Singen aufzufordern. Loßenwerder weigerte sich +erst ganz verschämt; das aber kam den Anderen zu komisch vor, und mit +Lachen und Toben, während ein paar schon Champagner bestellten, den Genuß +würdig zu feiern, räusperte sich Loßenwerder plötzlich und stieg, von dem +Wein erregt, und jetzt unter dem lauten Jubel der ihn umdrängenden Gäste, +auf einen Stuhl. + + [Capitel 4] + +Was aber, wie sich die Uebrigen gedacht, Spott und Scherz hatte werden +sollen, das erstarb in athemlosem Schweigen, nur von leisen Ausrufungen +des Staunens und der Bewunderung unterbrochen, als der kleine verkrüppelte +Mensch, mit einer hellen, glockenreinen Stimme, und Tönen, die zum +innersten Herzen drangen, erst noch scheu, dann aber immer +zuversichtlicher werdend, und wie von dem Inhalt des Liedes mit +fortgerissen, dieses also begann: + + »Ich habe schon zu oft geschaut + In Deiner Augen Glanz, Du Holde, + Auf meine Kraft zu fest vertraut, + Viel mehr, als ich vertrauen sollte. + + Doch nein, für Dich Geliebte sind + Des Lebens schönste, reinste Blüthen, + Von keinem Schmerz getrübt, bestimmt, + Und was könnt’ ich dafür Dir bieten? + + Nichts — gar Nichts, als ein treues Herz; + Doch nimmer sollst Du es erfahren — + Ich kann, wie früher, meinen Schmerz + In tiefer, innerer Brust bewahren. + + Sei glücklich! — wenn auch ohne mich, + Ich will Dich lieben, aber schweigen + Und mein Gebet nur soll für Dich + Empor, zum Thron des Höchsten steigen. + + Wenn dann mein Herz im Grabe liegt, + Und austräumt seine stillen Leiden, + Dann soll der Geist zum Himmel nicht + Entfliehn, und zu der Seel’gen Freuden. — + + Ein schön’res Loos werd’ ihm zu Theil, + Umschwebend Dich in trüben Tagen, + Soll er, zu Deinem Schutz und Heil, + Selbst seiner Seligkeit entsagen.« + +Loßenwerder war ganz gerührt geworden beim Schluß des Liedes, und die +Thränen standen ihm in den Augen; während sein wirklich häßliches Gesicht +durch den Schmerz aber eher einen komischen als ernsten Ausdruck bekam, +jubelte die Schaar jetzt um ihn her, die wirklich erst wieder Athem und +Laut gewann, als der wundersame Zauber dieser Stimme von ihnen genommen +war. + +»Bravo — bravo Loßenwerder — bravo dacapo! Donnerwetter Mann, Ihr habt ja +eine Stimme wie eine Nachtigall, und stottert nicht die Probe dabei — wie +am Schnürchen geht das!« + +»Es ist erstaunlich!« rief Kellmann, vor lauter Verwunderung über das eben +Gehörte wirklich fast sprachlos. + +»Nun aber auch trinken — hier Loßenwerder — hier,« riefen sie, ihm das +Glas bis zum Rand mit dem schäumenden Trank füllend, »und dann noch ein +Lied; bei Gott, das zuckt und prickelt Einem ordentlich durch die Adern, +und klingt wie Glockenton so rein und voll; Loßenwerder wo habt Ihr das +Singen gelernt?« + +»Vo — vo — vo — vo — vo — von mi — mi — mir se — se — se — se — selb — +bber,« stotterte der kleine Mann, kaum im Stande jetzt mit immer schwerer +werdender Zunge nur die paar Worte vorzubringen, während ihm im Gesang die +Strophen wie der Lerche das schmetternde Lied; aus der Kehle wirbelten. + +»Und da hat bis jetzt noch gar kein Mensch etwas davon erfahren,« rief +Kellmann wieder — »behält die liebe Gottesgabe da ebenfalls für sich +allein, kommt nirgends hin, spricht mit Niemand, trinkt und singt mit +Niemand, und hat eine Stimme in der Luftröhre sitzen, die Einer, wer es +darauf anzulegen verstände, in reines Gold verwandeln könnte.« + +Von allen Seiten tranken sie jetzt dem kleinen Mann zu, und überschütteten +ihn mit Lob und Jubel, und dieser schwamm wirklich in einem wahren Meer +von Wonne. So wohl war ihm auch noch nie geworden — Niemand hatte sich bis +jetzt um ihn bekümmert, Jeder ihn verspottet und verhöhnt, und zum ersten +Mal, vielleicht seit langen, langen Jahren, fühlte er sich unter Menschen +einem Menschen gleich, wußte sich nicht mehr verachtet und unter die Füße +getreten, und sah freundliche Augen um sich her, die ihn wie ihres +Gleichen anschauten. + +Dem löste sich auch endlich seine Zunge, oder wenigstens sein guter Wille +zu reden, so weit, daß er beginnen wollte Geschichten zu erzählen. Das +ging aber unter keiner Bedingung; beim Singen ja, aber beim Sprechen +brachte er kein Wort mehr über die Lippen, und selbst das Singen versagte +ihm zuletzt den Dienst; die Augenlider wurden ihm schwer, er fing an zu +lallen, und war eben zurück auf seinen Stuhl und dem Schlaf in die Arme +gesunken, als die Thür aufging und zwei Gerichtsdiener in’s Zimmer traten. +Es war etwa elf Uhr Abends und die meisten Gäste, mit Ausnahme des einen +Tisches, hatten das Haus schon verlassen. + +»Hallo was ist das?« sagte Herr Kellmann, der die beiden Leute zuerst +bemerkte, »das ist wunderlicher Besuch — es wird doch nicht etwa eine +Polizeistunde eingeführt in Heilingen?« + +Aber auch der Wirth war die »Diener der Gerechtigkeit«, wie sie meist +etwas poetisch genannt werden, gewahr geworden und ging auf sie zu, sich +zu erkundigen was sie hierher geführt. + +»Ein kleiner buckliger Mann soll hier heute Abend bei Ihnen sein,« sagte +der Erste — »er ist aus dem Dollingerschen Geschäft.« + +»Dort sitzt er in der Ecke,« sagte der Wirth vom Pechkranz nach +Loßenwerder hinüberzeigend, »hat er etwas verbrochen?« + +»Ich weiß nicht,« erwiederte der Zweite ziemlich kurz — »wir sollen ihn +abholen.« — + +»Wird schwer sein,« meinte der Wirth — »sie haben ihm heute Abend hier +ordentlich zugetrunken, und der Wein hat jetzt das Uebergewicht — wenn er +aufsteht kippt er wieder um.« + +»Hm — da wird wohl auch nicht viel mit Fragen aus ihm herauszubringen +sein, Meier; was meinst Du, nehmen wir ihn mit?« + +»Ich denke das Beste wird sein wir führen ihn zu Haus, und Einer bleibt +bei ihm bis er morgen früh wieder zu Verstande kommt; jetzt ist doch +Nichts mit ihm anzufangen.« + +»Aber um Gottes Willen was ist denn vorgefallen?« frug Kellmann bestürzt; +»der arme Teufel hat doch nicht etwa irgend ’was verbrochen?« + +»Noch ist nichts Gewisses bekannt,« erwiederte der erste Polizeidiener, +»nur bei Dollinger’s ist heute Nachmittag eingebrochen, und die +Untersuchung muß jetzt erst ergeben, wer schuldig sei.« + +»Bei Dollinger’s eingebrochen?« riefen Mehrere, »heute Abend?« + +»Nein heute am hellen Tag,« sagte der Mann. + +»Alle Wetter das muß dann gewesen sein während sie nach dem rothen Drachen +gefahren waren,« sagte Kellmann rasch — »sie kamen an uns vorbei mit dem +jungen Henkel.« + +»In der Zeit war’s,« bestätigte der Polizeidiener, »denn wie sie zu Hause +kamen, wurde es entdeckt — hier da Loßenwerder — Sie da — wachen Sie auf.« + +»Ja wenn Sie den stoßen wollen bis er munter wird,« lachte Einer der +jungen Leute, »da haben Sie Arbeit.« + +»Sie — Loßenwerder — hören Sie?« + +»Ja — ja« — stammelte der von dem ungewohnten Weine, von dem er eigentlich +gar nicht so sehr viel getrunken, Betäubte — »me — me — me — mehr We — we +— wein; ich za — za — za — zahle A — a — a — a — a — alles!« + +»So?« sagte der Polizeidiener ruhig — »nun für heute möcht’ es doch wohl +genug sein; komm, faß ihn da drüben unter den Arm, er wohnt ja auch nicht +so sehr weit von hier — wo ist sein Hut?« + +»Hier — armer Teufel, das wird ein böses Erwachen werden.« + +»Wie man sich bettet so schläft man,« sagte der zweite Polizeidiener, und +den Betrunkenen in die Höhe richtend, der dabei unverständliche Sachen +stammelte und sogar einen total misglückenden Versuch machte wieder zu +singen, führten sie ihn hinaus und seiner Wohnung zu, indeß die Gäste noch +das »für und wider« der Schuld des Mannes, von dem sie nie etwas Uebles +gehört bei einer anderen Flasche besprachen. + +Und es _war_ ein böses Erwachen für den Mann; von dem Weindunst betäubt +schlief er, wie ein Todter, bis zum lichten Tag, und als er die Augen +aufschlug und ihm der Kopf schmerzte zum Zerspringen, fiel sein erster +Blick auf den ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gehenden +Polizeidiener, den er einen Moment bestürzt anstarrte, und dann die Augen +wieder schloß, wie vor einem unangenehmen Traumbild. + +»Nun Loßenwerder, ausgeschlafen?« sagte der Mann aber, froh endlich einmal +zu einem Resultat zu kommen — »das hat lange gedauert — kommen Sie, stehn +Sie auf und ziehn Sie sich an.« + +Die Stimme war _kein_ Traum, und der kleine Mann richtete sich erschreckt +von seinem Bett, auf dem er noch mit den Kleidern vom vorigen Abend lag, +empor. Wo war er? — wie war er hierher gekommen? er drückte sich mit +beiden Händen die Stirn und der klare Angstschweiß brach ihm aus über den +ganzen Körper; er _wußte_ nicht mehr was gestern Alles geschehn, und die +unheimliche finstere Gestalt vor ihm füllte sein Herz mit einer wilden +Ahnung von Unheil, die alles Blut dorthin in jähem Strom zurücktrieb. + +Wie ein Schlag da hinein traf ihn die Nachricht von dem entdecktem +Diebstahl, das Gefühl, daß der Verdacht auf ihm laste, und die nächste +Stunde — während ein anderer Polizeibeamter bei ihm visitirte und man +nichts weiter, als in einem Winkel seines kleinen Schreibtisches, unter +dreifachem Schloß, ein Päckchen mit 200 Thalern in fünf und zwanzig Thaler +Cassenanweisungen, wie noch einige Goldstücke fand, wie seine Abführung +dann nach dem Dollingerschen Hause, da Herr Dollinger gebeten hatte den +Mann, an dessen Schuld er nicht glauben wollte, erst einmal an Ort und +Stelle selber zu befragen — lag wie ein Alp auf seiner Seele, unter dessen +Last er auch kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, ja nicht einmal +eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten vermochte. + +In dem Dollingerschen Hause angekommen, wurde er gleich in Herrn +Dollinger’s Zimmer hinaufgeführt, und der alte Herr ging, als Loßenwerder +die Stube betrat, mit auf dem Rücken gekreuzten Händen in seinem Zimmer +auf und ab. Der junge Henkel saß in der einen Ecke des Sophas, das rechte +Knie über das linke geschlagen, mit einem Buch in der Hand, über das hin +er aufmerksam den Gefangenen betrachtete. + +Loßenwerder war bleich wie ein Todter — jeder Blutstropfen hatte sein +Antlitz verlassen, und bei dem Versuch den er zum Reden machte, kam kein +Laut über seine Lippen. + +»Loßenwerder,« sagte Herr Dollinger endlich, nach einer kleinen Weile vor +ihm stehen bleibend und ihn ernst, ja traurig betrachtend — »ein böser +Mensch ist gestern, während unserer Abwesenheit, in unser Haus geschlichen +und hat, außer einigen Juwelen, auch noch das Geld entwendet, das Du mir +gestern Mittag gebracht und das ich, wie Du weißt, in den Secretair dort +schloß. Warst Du während unserer Abwesenheit wieder im Haus und in dem +Zimmer meiner Töchter?« + +»He — he — he — he — he — he — he — rr Do — Do — Do — Do.« + +»Schon gut Loßenwerder, Du bist jetzt aufgeregt und das Sprechen wird Dir +schwer; beschränke Dich auf ein einfaches ja und nein.« + +»Ja — a — !« + +»In dem Zimmer meiner Töchter?« + +»J — a — a — a aber — i — i — i — i — ich wo — wo — wollte« — + +»Sie haben einen Blumentopf dort hineingesetzt?« sagte Herr Henkel jetzt +ruhig. + +Das Blut stieg dem kleinen Mann rasch bis in die Schläfe hinauf, aber der +nächste Moment ließ sein Antlitz wieder so weiß als vorher; er nickte nur, +zur Betätigung des eben Gesagten, mit dem Kopf. + +»Loßenwerder,« sagte der Herr Dollinger mit leiser, bewegter Stimme und +dicht zu dem kleinen Mann hinantretend, wobei er die Hand auf dessen +Schulter legte, »Loßenwerder, noch gestern würde ich eben so leicht +geglaubt haben, daß eines von meinen eigenen Kindern eines schlechten, +unrechtlichen Streiches fähig wäre, bis mich leider die immer deutlicher +sprechenden Thatsachen in meinem Glauben an Dich _wankend_ gemacht haben.« + +»He — he — he — he — he — herr Do — Do — Do — Do — — Dollinger« — + +»Ich will Dir klar und einfach unseren ganzen Verdacht vorlegen,« sagte da +der alte Herr, dem Angeklagten jedes unnütze Wort zu ersparen — »gestern, +während unserer Abwesenheit, ist der Secretair meiner Töchter erbrochen +und das Dir bekannte Geld entwendet worden — drüben über der Straße hat +Dich ein Mädchen gesehn, wie Du heimlich aus dem Hause geschlichen bist. +Ebenso bestätigt Wilhelm, der Stalljunge, Dich gesehn zu haben, wie Du +hättest das Haus durch die nach dem Hofe zu führende Thür verlassen +wollen, bei seinem Anblick aber, was selbst dem Jungen aufgefallen ist, +zurückgefahren, und dann auch nicht über den Hof gekommen wärst. Das +Stubenmädchen, die keine Ahnung davon haben konnte daß Geld in dem +Secretair lag, ist bereit den schwersten Eid abzulegen, daß sie, wenige +Minuten später, nachdem man Dich hatte aus dem Hause schleichen sehen, die +Vorsaalthür nicht mehr aus den Augen gelassen, und gewiß wäre, daß Niemand +die Schwelle mehr überschritten habe, bis sie den zurückkehrenden Wagen in +den Hof einfahren gehört. Heimlich bist Du im Haus gerade in der Zeit, in +welcher das Geld entwendet wurde, gewesen, und die gestrige Ausschweifung, +die man an Dir nicht gewöhnt ist, wie die bei Dir gefundene Summe, lassen +allerdings das Schlimmste fürchten. Loßenwerder — ich brauche Dir nicht zu +sagen, wie weh — wie weh mir das gerade von _Dir_ thut, und ich wollte die +doppelte Summe, so bedeutend sie ist, gern verschmerzen, wenn es _nicht_ +geschehen wäre. Mache aber jetzt Deinen Fehler, wenigstens so weit das +noch in Deinen Kräften steht, wieder gut; gestehe was Du mit dem übrigen +Gelde gemacht, wo Du es verborgen hast, und ich selber will dann auch +Alles thun was in meinen Kräften steht, Deine Strafe zu erleichtern. Ein +anderer Welttheil mag Dir nachher in späterer Zeit Gelegenheit geben +Deinen Fehltritt zu bereuen, und das wieder zu werden, für was ich Dich, +selbst bis diesen Morgen noch, gehalten habe.« + +Loßenwerder hatte während dieser Auseinandersetzung wie aus Stein gehauen +vor seinem Prinzipale gestanden, nur das Zittern seiner Glieder verrieth +daß er lebe; jetzt aber brach er in die Knie, und zum ersten Mal +vielleicht mit dem vollen Bewußtsein der gegen ihn erhobenen Anklage — +oder auch von Schuld und Angst zu Boden gedrückt, denn wer konnte in den +stieren, überdies nicht geraden Augen und in den todtenbleichen, mit +großen Schweißperlen bedeckten Zügen das richtige lesen — umfaßte er die +Knie des alten Herrn und bat mit wild stotternder Stimme, aus der dieser +nur mit äußerster Anstrengung einen Sinn herausfinden mußte — ihn nicht +unglücklich zu machen — Nichts so Schreckliches von ihm zu denken. + +»Ein aufrichtiges Geständniß, Loßenwerder,« entgegnete darauf Herr +Dollinger, »ist das Einzige, was Deine Schuld jetzt noch in etwas +erleichtern kann. Das Gericht wird einen unbewachten Augenblick, dem die +Reue auf dem Fuße folgt, nicht so schwer strafen, wie den hartnäckigen +Uebelthäter. + +»A — a — a — a — a — aber ich bi — bi — bin ni — ni — ni — nicht schu — +schu — schu — schuldig,« — stotterte der Unglückliche — »ich we — we — we +— we — weiß vo — vo — vo — von Ni — ni — ni — nichts — « + +»Du weißt von Nichts, Loßenwerder?« sagte Herr Dollinger leise mit dem +Kopf schüttelnd — »und woher ist das Geld das man bei Dir gefunden, woher +die Fünfundzwanzig Thaler-Note, die Du locker in der Tasche getragen, und +die Dir der Polizeidiener gestern Abend noch herausgenommen hat?« + +»Ge — spa — pa — pa — pa — partes Geld — e — e — e — e — e — ehrlich ge — +ge — gespartes G — g — g — geld!« stammelte der arme Teufel. + +Herr Henkel stand jetzt auf und ging langsam auf Herr Dollinger zu, dem er +ein paar Worte in’s Ohr flüsterte und dann, während dieser leise und +traurig mit dem Kopf nickte, das Zimmer verließ. Loßenwerder aber, der ihm +ängstlich mit den Augen folgte und vielleicht in einer unbestimmten Ahnung +fühlte daß man ihn fortführen — in ein Gefängniß bringen werde, ergriff +wieder und jetzt aber wie in Todesangst des alten Mannes Hand, und bat ihn +um Gottes — um seiner Seligkeit willen, soweit es ihm die, jetzt in der +Aufregung nur noch mehr fehlende Sprache immer gestattete, daß er ihm nur +das nicht anthun — daß er ihn in kein Gefängniß möge führen lassen. Herr +Dollinger erklärte aber natürlich darin Nichts thun zu können, denn wenn +er Nichts gestehen wolle oder zu gestehen habe, so müsse allerdings das +Gericht, bei so stark vorliegendem Verdacht, die Untersuchung aufnehmen, +wonach sich bald seine Schuld oder Unschuld herausstellen würde. + +»Hab’ ich aber einmal erst auf solchen Verdacht gesessen,« stotterte der +Unglückliche, »so bin ich gebrandmarkt mein Lebelang« — + +Herr Dollinger zuckte die Achseln, und die Thür öffnete sich in diesem +Augenblick, den einen Polizeidiener zeigend, der Loßenwerder leise auf die +Achsel klopfte und freundlich sagte: + +»Wenn’s gefällig wäre.« + +Loßenwerder zuckte zusammen als ob er einen Schlag bekommen, und wandte +sich noch einmal, wie Hülfe suchend, an Herrn Dollinger, aber ein Blick +auf diesen überzeugte ihn, daß er schon nicht mehr helfen könne, wo das +Gericht die Sache in die Hand genommen, und sein Gesicht in den Händen +bergend, folgte er dem Gerichtsdiener fast willenlos hinaus. + +Gerade als er durch die Thür schritt begegnete ihm, noch auf der Schwelle, +Frau Dollinger, und rasch bei Seite tretend, als ob sie selbst durch seine +Berührung angesteckt zu werden fürchte, warf sie ihm einen zornigen, +verächtlichen Blick zu und ging an ihm vorüber. + +Loßenwerder seufzte tief auf, sagte aber kein Wort, denn wie er den Kopf +hob, sah er am andern Ende des Vorsaals Clara mit dem jungen Henkel in +eifrigem Gespräch, und auch dort mußte er vorbei. Das war zu viel und wie +unschlüssig blieb er stehn und sah sich um, als ob er einen Weg zur Flucht +suche. + +»Na kommen Sie, Loßenwerder, machen Sie keine Dummheiten,« sagte aber, ihm +ermunternd auf die Schulter klopfend, der Polizeidiener — »es ist Alles +ein Uebergang, wie der Fuchs sagte, als sie ihm das Fell über die Ohren +zogen.« + +Loßenwerder nahm sich zusammen und schritt festen Trittes an dem jungen +Mädchen vorüber, das ihn mitleidig betrachtete. + +»Etwas über zweihundert Thaler hat man schon bei ihm gefunden,« flüsterte +der junge Henkel ihr leise zu — »ich hoffe daß Vater Dollinger das andere +auch noch wieder bekommen soll.« + +»Ach Loßenwerder, warum habt Ihr das gethan?« sagte Clara, leise und +mitleidig den Gefangenen ansehend, als er an ihr vorüberging. + +»U — u — u — und Si — si — si — si — sie g — g — g — glau — ben d — d — +das a — a — a — a — auch?« rief Loßenwerder und die großen hellen Thränen +standen ihm dabei in den Augen, aber der Polizeidiener hatte sich schon +länger mit ihm aufgehalten, als er meinte verantworten zu dürfen, nahm ihn +leise an der Hand und führte ihn die Treppe hinunter. Loßenwerder folgte +ihm wie in einem Traum. + +Das Polizeigebäude war nur höchstens fünfhundert Schritt von dort +entfernt, und stand an der andern Seite einer kleinen steinernen Brücke +die über den, mitten durch die Stadt und häufig überbrückten kleinen Fluß +führte. Als sie hinunter auf die Straße kamen, ließ der Polizeidiener +seinen Gefangenen los, kein Aufsehn zu erregen, und flüsterte ihm zu nur +ruhig neben ihm hinzugehn. Loßenwerder verstand ihn wohl gar nicht, denn +er sah verstört zu ihm auf, und dann um sich her, und fand die Augen der +Vorübergehenden alle neugierig auf sich geheftet; sich aber doch, wenn +auch nur dunkel, des Zwanges bewußt der auf ihm lag, nahm er sein +Taschentuch heraus, trocknete sich die feuchte Stirn damit ab, und ging +mit krampfhaft zusammenengebissenen Zähnen neben seinem Wächter her. So +erreichten sie die Brücke, wo vier oder fünf Jungen standen, die neugierig +die Ankommenden betrachteten; Loßenwerder’s Blick schweifte über sie hin, +aber er sah sie nicht, bis er dicht bei ihnen war und einer derselben +spottend rief: + +»Hoho, hoho — Stotterberg hat gestohlen, Stotterberg hat gestohlen!« + +Die Anderen stimmten lachend mit in den Ruf ein, und der Polizeidiener +drehte sich ärgerlich und drohend gegen die Buben um, die scheu +auseinander stoben; Loßenwerder aber fuhr sich mit beiden Händen +krampfhaft gegen die Stirn — »hat gestohlen!« schrie er dabei, ohne zu +stottern, mit gellendem wilden Schrei, und ehe sein Wächter es verhindern +konnte, ja nur eine Ahnung davon hatte, warf er sich mit einem +verzweifelten Sprung, über die niedere Ballustrade hin in den unten +vorbeilaufenden Strom. Noch über dem Geländer erfaßte ihn der +Polizeidiener an einem Rockzipfel, das Gewicht des niederfallenden Körpers +war aber zu groß, als daß er es mit einer Hand hätte aufhalten können, ja +er mußte sogar loslassen, nicht selber das Gleichgewicht zu verlieren, und +der Unglückliche schlug gleich darauf auf das Wasser, unter dessen +Oberfläche er im nächsten Augenblick verschwand. + +Der Fluß war indeß hier weder breit noch tief, und auf der ziemlich +belebten Straße fanden sich gleich mehre Leute, die unterhalb der Brücke +in’s Wasser sprangen, das ihnen etwa bis unter die Arme reichte, den +niedertreibenden Körper aufzufangen. Sie hatten ihn auch bald erreicht und +gefaßt, und von kräftigen Armen wurde derselbe an die Oberfläche gehoben +und zum Ufer gezogen. Wenn ihm jedoch auch das Wasser selber noch nichts +geschadet hatte, war der Unglückliche doch durch den Sturz, in dem er +wahrscheinlich durch das Zurückhalten seines Rockes gegen einen der +Brückenpfeiler geworfen worden, schwer am Kopf verletzt — die Wunde +blutete stark, und die Männer trugen den Bewußtlosen zuerst auf die +Polizei, und von dort, auf den Ausspruch eines rasch herbeigerufenen +Arztes, in die Charité. + + + + + + Capitel 5. + + + DIE AUSWANDERUNGS-AGENTUR. + + +Am Marktplatz zu Heilingen, und an der Ecke eines kleinen, auf diesen +auslaufenden Gäßchens, stand ein ziemlich großes, grün gemaltes und gewiß +sehr altes Erkerhaus, dessen Giebel und Stützbalken geschnitzt, und mit +wunderlichen Köpfen und Gesichtern verziert, und braun angestrichen waren, +und sich so weit dabei nach vorn überneigten, daß es ordentlich aussah, +als ob der ganze Bau mit dem spitzen, wettergrauen Dach nächstens einmal +ohne weitere Meldung nach vorn über, und gerade mitten zwischen die Töpfer +und Fleischer hineinspringen würde, die an Markttagen dort unten ihre +Waare feil hielten. + +Nichtsdestoweniger wurde es noch immer, bis fast unter das Dach hinauf +bewohnt, und der untere Theil desselben ganz besonders zu kleinen +Waarenständen und Läden benutzt. Die Ecke desselben nun, hatte seit langen +Jahren ein Kaufmann oder Krämer in Besitz, der sich zu seinen +Materialwaaren, Kaffee, Zucker, Tabak, Lichten, Grütze &c. auch noch in +der letzten Zeit die Agentur mehrer Bremer und Hamburger Schiffsmakler zu +verschaffen gewußt, und damit bald in einer Zeit, wo die Auswanderungslust +so überhand nahm, solch brillante Geschäfte machte, daß er die +Materialwaarenhandlung seiner Frau, wie seinem ältesten Sohn übertrug, und +für sich selber nur ein kleines Stübchen, ebenfalls nach dem Markt hinaus, +behielt, über dessen Thüre ein riesiges, sehr buntgemaltes Schild jetzt +prangte. Dies Schild verdient übrigens mit einigen Worten beschrieben zu +werden, da die Heilinger in den ersten Tagen — als es eben erst +aufgehangen worden — in wirklichen Schaaren davor stehen blieben und es +anstaunten. + +Es war ein breites, länglich viereckiges Gemälde, ein großes, dreimastiges +Schiff vorstellend, wie es sich unter vollen Segeln der fremden, ersehnten +Küste näherte. Die See selber war hellgrün gemalt, mit einer Unmasse von +sichtbar darin herumschwimmenden Fischen, die den Beschauer wirklich etwas +besorgt um die Sicherheit des Fahrzeugs selber machen konnten. Dessen +wackerer Kiel schäumte aber mitten hindurch, und der, dem Anschein nach +vollkommen runde, nur nach hinten zu etwas länglich auslaufende Rumpf, +preßte eine große grün und weiß gestreifte Welle vorne auf, die sich wie +eine breite Falte quer vor seinen Bug legte. Die Segel standen dazu fast +ein wenig zu sackartig, und nur an den vier Zipfeln festgehalten, stramm +und steif von den Raaen ab, und die langen blutrothen Wimpel mit roth und +weißer Bremer Flagge hinten an der Gaffel, strömten und flatterten lustig +nach hinten aus, wahrscheinlich den raschen Durchgang des Schiffes durch +das Wasser anzuzeigen, das derart, durch den Wind getrieben, selbst diesen +überflügelte. Ueber Deck war aber auch die Mannschaft, und Kopf an Kopf +eine volle Reihe bunter Passagiere sichtbar, mit sehr dicken rothen +Gesichtern, die Gesundheit an Bord des Schiffes bestätigend, und mit sehr +hellgelben und sehr breiträndigen, rothbebänderten Strohhüten auf, während +hinten auf Deck der Capitain des Schiffes mit einem dreieckigen Hut, wie +einem Fernglas in der einen und einem Dreizack in der andern Hand stand. +Was der Maler mit dem Dreizack andeuten wollte weiß nur er und Gott; er +müßte denn gemeint haben daß der Capitain, wie früher Neptun, das Meer +beherrsche. Uebrigens war es auch möglich daß er fischen wolle, und sich +mit dem Fernrohr nur eben den stärksten und fettesten der ihn reichlich +umschwimmenden Fische ausgesucht habe. + +Den Hintergrund dieses prachtvollen Seestücks bildete ein schmaler +Streifen mit einzelnen Palmen bedeckter Küste, an der eine Anzahl +pechschwarzer, nackter Männer standen, die nur einen gelb und blauen +Schurz um die Hüfte und einen grünen Busch in der Hand trugen. — Diese +sahen übrigens gerade so aus, als ob sie die Ankunft des Schiffes schon +sehnsüchtig und vielleicht sehr lange Zeit erhofft hätten, und nun die +Zeit nicht erwarten könnten daß die Fremden an Land stiegen, damit sie +geschwind für sie arbeiten, und ihnen den Boden urbar machen dürften. + +Neben dem Bild, und zu beiden Seiten der Thür, wie sogar noch an dem +innern Theile des Fensterschalters, hingen lange Listen der verschiedenen +anzupreisenden Plätze für Auswanderung. Obenan New-York, Philadelphia und +Boston, dann Quebeck und New-Orleans, Galveston; in Brasilien, Rio de +Janeiro und Rio Grande; in Australien Adelaide, dann Chile, Valdivia und +Valparaiso, und Buenos Ayres mit einer Menge neu entdeckter verschiedener +Kolonien und Ansiedlungen, wohin überall die besten kupferfesten Schiffe +A¹, in unglaublich kurzer Zeit und mit Allem versehen ausliefen, was dem +glücklichen Passagier das Leben an Bord eines solchen Schiffes nur in der +That zu einer Vergnügungsfahrt machen müsse und würde. + +Weigel, wie der Eigentümer dieser »ausländischen Versorgungsanstalt« (ein +Spottname den die Heilinger der Weigelschen Agentur gaben) hieß, war ein +dicker, vollgenährt und blühend aussehender Mann, ungefähr sechs bis +achtunddreißig Jahr alt, mit ein wenig fest umgeschnürter Cravatte, was +seinen Augen etwas Stieres gab, und sonst einem leisen Anflug von Grau in +den sonst braunen, widerspenstigen Haaren. Die Augen waren groß, blau und +ziemlich ausdruckslos; ein fast mitleidiges Lächeln aber, das oft, und +besonders dann wenn er irgend Jemandes Meinung bestritt, um seine +Mundwinkel spielte, gab dem Ausdruck seiner Züge jene scheinbare +Ueberlegenheit, die sich zuversichtliche Menschen oft über Andere, wenn +mann es ihnen gestattet, anzumaßen wissen. Ganz vorzüglich wußte er diese +Miene anzunehmen, wenn er über Amerika, oder irgend einen überseeischen +Fleck Landes sprach, über dem für ihn ein gewisser heiliger und +unantastbarer Zauber schwamm, und Jemand dann irgend einen Zweifel gegen +das Gesagte zu hegen wagte. Er schwärmte besonders für Amerika, und es gab +deshalb auch, seiner Aussage nach, keinen größeren Lügner in der Stadt, +als den Redacteur des Tageblatts, den Advokaten und Doctor Hayde in +Heilingen. Dieser und er waren denn auch, wie das sich leicht denken läßt, +grimme und erbitterte Feinde und Gegner, woselbst sich nur irgend eine +Gelegenheit dazu fand. + +Weigel bekam, wie das gewöhnlich bei den Agenturen der Schiffsbeförderung +üblich und der Fall ist, für jede Person die er einem Bremer oder +Hamburger Rheder sicher an Bord lieferte, einen Thaler, kurzweg genannt +»für den Kopf« und er theilte deshalb die Leute — seine Mitbürger sowohl +wie sämmtliche übrige Bewohner Deutschland’s, in solche ein »die Energie +hatten,« d. h. zu ihm kamen und sich bei ihm einen »Platz nach Amerika« +besorgen ließen, wo sie nachher drüben selber sehn konnten wie sie fertig +wurden, und in solche, die »im alten Schlendrian hinkrochen, und hier +lieber verfaulten, ehe sie einen männlichen entscheidenden Schritt thaten, +ihrer Existenz auf die Beine zu helfen.« Jeder der hier blieb betrog ihn +aber wissentlich und mit kaltem Blut um seinen, ihm in ehrlichem Verdienst +zustehenden Thaler, und es verstand sich von selbst, daß er vor einem +solchen Menschen keine Achtung haben konnte. + +Er selber kannte die Verhältnisse Amerika’s nur aus Büchern die das Land +lobten, denn andere las er gar nicht, und bekam er sie einmal zufällig in +die Hand, so warf er sie auch gewiß mit einem Kernfluch über den +»nichtswürdigen Literaten, der wieder einmal einen ganzen Band voll Lügen +zusammengeschmiert« in die Ecke. Sein größter Aerger war aber jedenfalls — +und so regelmäßig wie die Uhr Morgens acht schlug — das Tageblatt, das er +der häufigen Annoncen wegen halten _mußte_, und das ebenso regelmäßig +kleine gehässige und schmutzige Artikel gegen Amerika wie überhaupt gegen +Alles brachte, was sich frei und selbstständig bewegte. + +Zehnmal hatte er sich schon vorgenommen den »kleinen erbärmlichen Doctor« +zu prügeln, und sehr vielen Leuten würde er dadurch ein großes Vergnügen +bereitet haben; aber er unterließ es doch jedesmal auch wieder, wenn sich +ihm gleich oft genug die Gelegenheit dazu bot; Beide mußten jedenfalls +schon einmal früher etwas mit einander gehabt haben, vielleicht mehr von +einander wissen als Beiden zuträglich war, und ein solcher Bruch wäre da +nicht räthlich gewesen. + +Sonst lebte Weigel still, und anscheinend als ein vollkommen guter und +achtbarer Bürger, vor sich hin, aber im Stillen wirkte und wühlte er +seinem Ziel entgegen, und richtete in der That viel Unheil an. Seine +Beschreibungen Amerika’s, die er sich selber in kleinen Brochüren aus +anderen Büchern zusammentrug, und um ein Billiges verkaufte, waren ein +langsames Gift, das er in manche friedliche und glückliche Familie warf, +ein Saatkorn das dort wucherte und Wurzel schlug, und während es die Leser +anreizte nur gleich ohne weiteres ihr Bündel zu schnüren und jenen +herrlichen Länderstrichen zuzueilen, wo von da an ihr Leben nur einem +murmelnden Bache gleichen würde, der zwischen Blumen dahin fließt, füllte +er ihre Köpfe mit falschen Ideen und Begriffen von dem Land, das ihre neue +Heimath werden sollte, und machte viele, viele Menschen unglücklich. In +der neuen Heimath dann angekommen, die ihnen, mit mäßigen Ansprüchen, +wirklich Manches geboten haben würde was ihre Lage, im Vergleich mit dem +alten Vaterland gebessert haben könnte, fanden sie sich jetzt plötzlich in +all den wilden extravaganten Ideen, die sie durch solche Lectüre +eingesogen, enttäuscht, fanden die Hoffnungen nicht realisirt, die man +ihnen gemacht, hielten sich für schlecht behandelt und unglücklich, und +verfielen nun oft in das Extrem trostloser und eben so unbegründeter +Verzweiflung, wobei sie den Mann verwünschten, der sie hierverlockt, und +sie verleitet hatte, Heimath und eigenen Heerd zu verlassen, einem Phantom +zu folgen. Weigel aber hatte seinen Thaler für den richtig abgelieferten +»Kopf« bekommen, und dachte schon gar nicht mehr an die früher +Beförderten, die seiner Meinung nach jetzt in einem Meer von Behagen +schwammen und »unter Palmen wandelten.« + +Herr Weigel war allein in seinem kleinen Bureau, einem niederen, etwas +dumpfen und nicht überhellen Stübchen, dessen eines breites Fenster mit +durch Zeit und Rauch arg mitgenommenen Gardinen verziert war, während die +Wände durch Karten und statistische Tabellen-Anzeigen von Schiffen und +Gasthäusern, Plänen von neuangelegten Städten oder zu verkaufenden Farmen +fast völlig bedeckt hingen. Er saß an einem hohen, ziemlich breiten Pult, +das einen mächtigen Kamm von Gefachen und Schiebladen trug und las, mit +einer Tasse Kaffee neben sich, eben seinen täglichen Aerger, das +Tageblatt, als es an die Thür klopfte, und auf sein lautes »Herein« ein +junger, sehr anständig, aber trotzdem etwas ärmlich gekleideter Mann das +Zimmer betrat. + +»Herr Weigel?« sagte der Fremde mit einer leichten Verbeugung. + +»Bitte — ja wohl,« sagte Herr Weigel, seine Brille rasch in die Höhe +schiebend und auf seinem Drehstuhl herumfahrend, seinen Besuch besser in’s +Auge zu fassen — »womit kann ich Ihnen dienen?« + +»Sie befördern Passagiere nach Amerika?« + +»Nach Amerika? — denke so, hehehe,« lachte Herr Weigel, sich vergnügt die +Händ reibend, »habe schon ganze Colonien hinüber geschafft, Männer und +Frauen, Weiber und Kinder; sitzen jetzt drüben in der Wolle und schreiben +einen Brief über den andern an mich, wie gut es ihnen geht — da nur den +einen hier, den ich vor ein paar Tagen bekommen habe — der Mann ist blos +mit zwei tausend Dollarn hinübergegangen und hat schon eine eigene Farm, +achtzig Acker Land, vierundzwanzig Stück Rindvieh, einige sechzig +Schweine, fünf Pferde und will jetzt eine Schäferei anlegen — schreibt an +mich ich soll ihm einen Schäfer hinüber schicken, aber einen der die Sache +aus dem Grund versteht, kommt ihm auf ein paar Dollar Lohn nicht dabei an +— bitte lesen Sie einmal den Brief.« + +»Sie sind sehr freundlich Herr Weigel,« sagte der junge Fremde mit einem +verlegenen wie schmerzhaften Zug um den Mund — »aber der Brief würde +gerade nicht maßgebend für mich sein, da ich mich gegenwärtig nicht in den +Verhältnissen befinde, gleich einen Platz zu _kaufen_. Sind die +Passagierpreise jetzt theuer?« + +»Theuer? spottbillig,« lachte Herr Weigel, den Brief offen wieder zurück +auf sein Pult, und seine Brille darauf legend, ihn zu weiterem Gebrauch +bereit zu haben; »spottbillig sag’ ich Ihnen, man könnte wahrhaftig auf +dem festen Land nicht einmal dafür leben — _so_ nicht; und unter uns — ich +weiß wahrhaftig nicht wie die Leute dabei auskommen, aber es muß eben die +rasende _Menge_ von Passagieren machen, die sie jetzt wöchentlich, ja fast +täglich hinüber spediren. Es ist fabelhaft was jetzt für Menschen +auswandern; auf einmal werden sie Alle gescheidt, und merken endlich was +sie hier haben, und was sie dort erwartet — ist doch ein famoses Land, das +Amerika.« + +Und wie viel beträgt die Passage nach dem _nächsten_ Hafen der Vereinigten +Staaten, wenn ich fragen darf, für — für eine erwachsene Person und ein +Kind?« + +»_Nächsten_ Hafen? — hehehe, fürchten sich wohl vor der Seekrankheit? +lieber Gott, daran gewöhnt man sich bald; ist auch gar nicht so arg wie’s +eigentlich gemacht wird. Der Mensch, der Doctor Hayde hier im Tageblatt, +hat neulich einen Artikel über die Seekrankheit gebracht den er +wahrscheinlich auch selber geschrieben, und wonach Einem gleich ach und +weh zu Muthe werden müßte; der ist aber nur dazu bezweckt den Leuten das +Auswandern zu verleiden. Sie möchten sie gern hier behalten, damit sie sie +nur recht ordentlich plagen und schinden können, weiter Nichts; davor +braucht sich kein Mensch zu fürchten.« + +»Sie wollten mir aber den _Preis_ der Passage nennen.« + +»Den Preis? — ja so — warten Sie einmal« — sein Blick fiel auf die +Glacéhandschuhe und die schneeweiße Wäsche des Fremden, dessen etwas +abgetragene Kleider er in dem halbdunklen Raum nicht so leicht erkennen +konnte, oder auch übersah — »der Preis — Dampfschiff oder Segelschiff?« + +»Segelschiff.« + +»Segelschiff — wird — sein — Preis in erster Cajüte vier und achtzig +Thaler Gold.« + +»Und die — die billigeren Plätze?« + +»Billigeren Plätze — zweite Cajüte oder Steerage fünfundsechzig Thaler +Gold — « + +»Und Zwischendeck?« sagte der Fremde leise und verlegen. + +»Zwischendeck würde ich Ihnen nicht rathen,« meinte Herr Weigel, seine +Brille jetzt abwischend und wieder aufsetzend; »besonders wenn man eine +Frau und ein Kind bei sich hat und es nur irgend ermachen kann, sollte man +nie Zwischendeck gehn, man ruinirt sich’s und den Seinigen an der +Gesundheit herunter, was die paar Thaler mehr kosten.« + +»Aber Sie können mir wohl den Preis des Zwischendecks sagen?« + +»Ja wohl, mit dem größten Vergnügen — Zwischendeck nach New-York kostet — +warten Sie einmal, ich habe ja hier die letzten Briefe von meinen Häusern. +Zwischendeck nach New-York kostet vierundvierzig Thaler Gold.« + +»Vierundvierzig Thaler?« + +»Ja es ist seit ein paar Tagen erst wieder um vier Thaler aufgeschlagen, +weil die Leute eben nicht Schiffe genug anschaffen können für die +Auswanderer. Ist fabelhaft was besonders dieses Jahr für Leute +übersiedeln. Soll ich Sie vielleicht einschreiben? es trifft sich jetzt +gerade glücklich, denn am 15ten geht ein ganz vortreffliches Schiff ab, +die _Diana_, Dreimaster, gut gekupfert, mit allen nur möglichen +Bequemlichkeiten versehn und einem Capitain, ich sage Ihnen ein wahrer +Schentelmann, wie er sich gerade nicht immer auf den Schiffen findet.« + +»Ich danke Ihnen für jetzt noch bestens, lieber Herr Weigel,« sagte der +junge Mann — »ich muß doch nun erst mit meiner Frau Rücksprache über dieß +nehmen, denn erst seit gestern ist mir die Idee überhaupt gekommen +auszuwandern; aber — noch eine Bitte hätte ich an Sie,« und er drehte +dabei den Hut den er in der Hand hielt, fast wie verlegen zwischen den +Fingern — « + +»Ja? womit könnte ich Ihnen dienen?« frug Herr Weigel. + +»Könnten Sie mir wohl sagen, ob die Capitaine der Segelschiffe — ich habe +einmal irgendwo gelesen daß das manchmal geschähe — auch Leute — +Passagiere mitnähmen, die unterwegs ihre Passage — abarbeiten dürften und +also — auch keine Ueberfahrt zu bezahlen brauchten?« + +»Keine Passage zahlen?« sagte Herr Weigel, die Lippen vordrückend und die +Augenbrauen in die Höhe ziehend, während er langsam und halb lächelnd mit +dem Kopfe schüttelte — »keine Passage bezahlen? — ne lieber Herr — ja so +wie heißen Sie denn gleich — « + +»Eltrich,« sagte der junge Mann etwas zögernd — + +»So? — ne mein lieber Herr Eltrich, davon steht Nichts in unseren +Verzeichnissen und Contracten; im Gegentheil, _da_ kommen wir zusammen; +das ist der Hauptpunkt, der Nervum Rehrum, der die ganze Geschichte +eigentlich zusammenhält, Amerika und Europa und die umliegenden +Dorfschaften, heh, heh, heh.« + +»Aber wenn nun irgend ein armer Teufel,« fuhr der Fremde etwas lauter, +fast wie ängstlich fort — »irgend ein armer Teufel sein ganzes Hoffen eben +auf eine Reise nach Amerika gesetzt hätte, und bestimmt wüßte daß er dort, +wenn auch nicht gerade sein Glück machen, doch sein Auskommen finden +würde? — « + +»Nun dann soll er gehn — um Gottes Willen gehn, und am 15ten dieses wird +wieder das neue, kupferfeste — ja so, aber er muß bezahlen,« unterbrach er +sich rasch als ihm einfiel von was sie vor erst wenigen Secunden +gesprochen, »er muß bezahlen, sonst nimmt ihn kein Capitain der Welt mit +über See.« + +»Und Sie glauben nicht daß da jemals eine Ausnahme stattfinden dürfte?« +sagte Herr Eltrich — »es werden doch Leute auf See gebraucht zu den +nothwendigsten sowohl, wie den geringeren Arbeiten, und die Capitaine +müssen gewiß dafür _bezahlen_. Wenn sich also nun Jemand erböte alle diese +Verrichtungen ganz _umsonst_, nur um Passage und die einfachste +Matrosenkost zu machen, sollte das nicht möglich sein zu erlangen?« + +»Lieber Herr,« sagte der Herr Weigel, dem es jetzt so vorkommen mochte als +ob er mit dem Fremden da kein besonders großes Geschäft machen würde, und +der anfing ungeduldig zu werden, »zu den Arbeiten an Bord eines Schiffes +werden _Matrosen_ gebraucht, und wer kein Matrose ist, kann die auch nicht +verrichten. Das ist keine kleine Kunst, lieber Herr Schelbig, in den Tauen +den ganzen Tag herumzuklettern und zwischen den Segeln, wenn das Schiff +bald so herüberschlenkert und bald so« — und er begleitete dabei seine +Erklärung mit einer entsprechenden Bewegung der vor sich gerade +aufgehaltenen Hand — »da müssen die Leute fest stehen können wie die +Mauern, sonst kann man sie nicht gebrauchen.« + +»Aber glauben Sie nicht, wenn man einmal an einen Capitain schriebe, ob er +sich doch nicht am Ende bewegen ließ; oder« — setzte er rasch hinzu, wie +von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, »wenn man sich nun verbindlich +machte die Passage nach einer bestimmten Zeit in Amerika nachzuzahlen — +sie dort abzuverdienen?« + +»Ja da könnte Jeder kommen,« sagte Herr Weigel kopfschüttelnd, »wenn die +Leute erst einmal drüben sind, thun sie was sie wollen. Das ist ein freies +Land da drüben, Herr Wellrich, und da könnte man nachher jedem Einzelnen +nachlaufen, und sehen daß man sein Geld wieder kriegte. Ne, damit ist’s +faul, und ich nun einmal vor allen Dingen, möchte mich nicht auf solch +eine Quängelei einlassen; daran hat man keine Freude, und das ist auch +kein rundes Geschäft.« + +»Es ist nur ein armer Verwandter, der sich auf solche Weise gern +forthelfen würde,« sagte Herr Eltrich erröthend — »er ist sehr fleißig und +würde arbeiten wie ein Sclave, die Zeit über.« + +»Ja das glaub’ ich,« meinte Herr Weigel gleichgültig — »versprechen thun +die Art Herren gewöhnlich Alles was man von ihnen haben will.« + +»Könnten Sie mir denn vielleicht die Adresse irgend eines Schiffes oder +Rheders geben, der bald ein Schiff hinüberschickt,« sagte der junge +Fremde, sich schon wieder zum Gehen rüstend — »wenn ich vielleicht selber +einmal dorthin schriebe, um Sie nicht weiter mit der Sache zu belästigen.« + +»Ja, schreiben können Sie,« sagte Herr Weigel, »hehehe; aber Sie werden +keine Antwort bekommen; darauf können Sie sich verlassen. Die Leute da +haben mehr zu thun, als sich eines Passagiers wegen, für den sie noch +umsonst die Kost hergeben müßten, in eine Correspondenz einzulassen; kann +ich ihnen auch gar nicht so sehr verdenken.« + +»Und die Adresse?« + +»Die Adresse? — da, hier liegt die neueste Auswanderer-Zeitung; wenn Sie +wollen, können Sie sich da ein oder zwei Adressen herausschreiben. Da +hinten, auf der letzten Seite stehen sie.« + +Herr Weigel sah nach der Uhr, drehte sich wieder auf seinem Drehstuhl, der +beim Aufschrauben etwas quietschte, herum, schob das Tageblatt zur Seite +und rückte sich einen Bogen Papier zurecht, als ob er irgend einen +nothwendigen Brief zu schreiben hätte. + +Wieder klopfte es da an die Thür, und dießmal, ohne ein ermunterndes +»Herein« zu erwarten, öffnete sie sich, und drei Bauern, denen die großen +silbernen Knöpfe auf Weste und Rock und das feine Tuch der letzteren, die +jedoch ganz nach ihrem alten bäurischen Schnitt gemacht waren, etwas +ungemein solides gaben, traten, die Hüte erst unter der Thür und schon im +Zimmer abziehend, herein, und grüßten die beiden Leute die sie hier +beisammen fanden, mit einem herzlichen »Guten Morgen miteinander.« + +Das waren die Leute die Herr Weigel gern kommen sah, die wußten weßhalb +sie die eine Hand immer in der Tasche trugen, denn sie hatten dort etwas +zu verlieren, und waren nicht selten dabei die Vorboten eines größern +Trupps, oft einer ganzen »Schiffsladung voll« die aus ein und derselben +Gegend auswandern wollte, und ein paar der Angesehensten indeß +vorausgeschickt hatte, Platz für sie zu bestellen. Wie der Blitz war er +denn auch von seinem Stuhle herunter, schüttelte ihnen nacheinander die +Hand, und frug sie wie es ihnen ginge und was sie hier zu ihm geführt. + +»Seid Ihr der Mensch der die Leute nach Amerika schickt?« sagte da der +Eine von ihnen, eine breitkräftige, sonngebräunte Gestalt mit vollkommen +lichtblonden Haaren und Augenbrauen, aber dabei gutmüthigen vollen und +frischen Zügen, dem das Ganze übrigens etwas fremd und unheimlich +vorkommen mochte, denn er warf den Blick während er sprach wie scheu von +einer der Schiffszeichnungen zur anderen, und schien sich ordentlich dazu +zwingen zu müssen das zu sagen, was er eben hier zu sagen hatte. + +»Nun nach Amerika _schicken_ thu’ ich sie gerade nicht,« lächelte Herr +Weigel, die Anderen dabei ansehend, und etwas verlegen über die vielleicht +ein wenig plumpe Anrede. + +»Nicht?« sagte der Bauer rasch und erstaunt — »aber hier hängen doch all +die vielen Schiffe.« + +»Nun ja, ich besorge den Leuten Schiffsgelegenheit die hinüber _wollen_,« +sagte Herr Weigel, jetzt geradezu herauslachend, weil er glaubte daß sich +der Mann mit ihm einen Scherz gemacht, auf den er natürlich einzugehen +wünschte.« + +»Ja aber wir _wollen_ eigentlich noch nicht hinüber,« sagte der zweite von +den Bauern, seinen Hut auf seinen langen Stock stellend, und sich dabei +verlegen hinter den Ohren kratzend — »wir wollten uns nur erst einmal hier +erkundigen ob denn das auch wirklich da drüben so ist, wie es jetzt immer +in den Auswanderungszeitungen steht, und ob man blos hinüberzugehn und +zuzulangen braucht, wenn man eine gut eingerichtete Farm mit ein paar +hundert Morgen Land haben will.« + +»Ja wenn man Geld hat,« lachte Herr Weigel. + +»I nu — Geld hätten wir,« sagte der Bauer, und sah seine Nachbarn an. + +»Ich bin Ihnen sehr dankbar,« unterbrach den Sprecher hier der junge Mann, +der indessen die Zeitung nachgesehn, und sich Einzelnes daraus notirt +hatte. »Bitte,« sagte Herr Weigel, und nahm ihm das Blatt, ohne sich +weiter um ihn zu bekümmern, aus der Hand, und wandte sich wieder zu den +Bauern, als der junge Fremde sich mit einem artigen: + +»Guten Morgen meine Herren« empfahl. + +»Adje Herr — Herr Schnellig,« rief der Agent ziemlich laut hinter ihm her, +ohne sich weiter nach ihm umzudrehen, während die Bauern freundlich den +Gruß in ihrer Art erwiederten. + +»Wer war der junge Herr?« frug der erste Sprecher aber, als er die Thür +rasch hinter sich in’s Schloß gedrückt. + +»Ach, ein armer Teufel, der gern mit umsonst nach Amerika hinüber möchte,« +sagte Herr Weigel — »er thut zwar als wär’ es nur für einen armen +Verwandten, aber, hehehe, derlei Ausreden kennen wir schon — kommen alle +Wochen vor.« + +»Umsonst mit nach Amerika?« sagte der erste Sprecher verwundert, »_der_ +sieht doch nicht aus als ob er etwas umsonst haben wollte, der ging ja +_so_ fein gekleidet; Donnerwetter — mit Handschuhen und allem — « + +»Ja auswendig sind die Leute in der Stadt meist alle schwarz und sauber +angestrichen,« lachte Herr Weigel, »aber inwendig, in den Taschen, da +hapert’s nachher. Wer aber ein Bischen Uebung darin hat, kann auch schon +oben auf erkennen, ob der Lack ächt, oder blos nachgemacht ist, hehehe.« + +»Bei dem war er wohl nachgemacht?« sagte der zweite Bauer, dem Anschein +nach gerade nicht unzufrieden damit, daß der »glatte Stadtmensch« nicht so +viel galt wie sie, und daß der Auswanderungsmann das sogleich durchschaut +hatte. Herr Weigel nickte, seine Zeit war ihm aber kostbarer, als sie noch +länger an Jemanden zu verschwenden, bei dem er doch voraussah, daß er von +ihm keinen Nutzen haben würde, und er suchte das Gespräch wieder dem mehr +praktischen Anliegen der drei Bauern zuzulenken. + +»Also Sie wollten mitsammen nach Amerika gehn und sich eine ordentliche +Farm, gleich mit Land, Vieh, Häusern und was dazu gehört, ankaufen heh? — +’wär keine so schlechte Idee.« + +»Ja erst möchten wir aber einmal wissen wie die Sache steht;« sagte der +Erste wieder, der Menzel hieß, »wenn man über einen Zaun springen will, +ist es viel vernünftiger daß man erst einmal hinüber guckt was drüben ist, +und wenn man das nicht kann, daß man Jemanden fragt der es genau weiß. +Sind denn die Farmen da drüben wirklich so billig? — ist das wahr, daß man +dort noch gutes frisches Land für ein und einen Viertel Thaler kaufen +kann?« + +»Thaler? — nein,« sagte Herr Weigel, »_Dollar_.« »Ja nun, das ist aber +auch nicht viel mehr,« meinte der Zweite, Müller. + +»Nun ein Dollar ist ungefähr ein Speciesthaler,« sagte Herr Weigel — +»lassen Sie mich einmal sehn — die stehn jetzt — stehn jetzt 1 Thlr. 12½ +Silber- oder Neugroschen.« + +»Nu ja,« sagte Menzel wieder, »das ist aber immer kein Geld — und für +tausend Dollar kauft man da eine fix und fertig eingerichtete Farm, wie +sie’s glaub’ ich nennen? mit Allem was dazu gehört?« + +»Ich habe hier gerade,« sagte Herr Weigel in seinen Papieren suchend, »ein +paar Anerbietungen von höchst achtbaren Leuten — wirklichen Amerikanern — +die mir Farmen zu höchst mäßigen Bedingungen offeriren. — Die Leute wissen +da drüben daß hier Viele zu mir kommen und sich nach solchen Plätzen +erkundigen, und wenn sie dann ’was Gutes haben, schicken sie’s mir. — Wo +hab’ ich denn die verwünschten Pläne jetzt hingelegt — ah, hier ist der +eine — sehn Sie, Gebäude und Alles sind darauf angegeben — und der andere +kann nun auch nicht weit sein; ich habe sie erst vorgestern meinem Bruder +gezeigt, der gar nicht übel Lust hatte eine davon für sich zu kaufen — da +ist er.« + +Die drei Bauern drängten sich um den kleinen Tisch herum auf dem Herr +Weigel die Pläne jetzt ausbreitete, und suchten sich in den kreuz und quer +laufenden Strichen zu orientiren, wie der Platz eigentlich liege, und was +darauf stände. + +»Ja aber wo ist denn das nun eigentlich, und wie sieht’s dort aus?« sagte +Menzel endlich, nach einigen vergeblichen Versuchen deshalb — »aus der +Geschichte hier wird man nicht klug.« + +»Ja sehn Sie,« sagte Weigel, mit seinem Finger den Plan erklärend, und den +angegebenen Zahlen folgend, »das hier, Nr. 1 ist das Wohnhaus, ein +Doppelgebäude, der Zeichnung nach mit einer offenen Veranda dazwischen, +des warmen Klima’s wegen, denn drum herum stehen »Baumwollenbäume« +angegeben; Nr. 2 da ist ein anderes Gebäude, bis jetzt zu Negerwohnungen +benutzt, denn der bisherige Besitzer scheint Sclaven gehalten zu haben; +Nr. 3 ist eine Scheune; Nr. 4 ist ein Rauchhaus, die Leute verschicken von +dort aus viel getrocknetes Fleisch; Nr. 5 ist, wie es scheint, ein +Waschhaus, und Nr. 6 ein anderes Wohnhaus, was dem ersten gegenübersteht, +und wahrscheinlich den ganzen Hofraum, da die Front nach dem Flusse zu +liegt, abschließt. + +»Und welcher Fluß ist das?« + +»Der Missouri, einer der größten Ströme Amerika’s, über eine englische +Meile breit, und viel hundert Meilen hinauf schiffbar; alle Wetter meine +Herren, von den dortigen Strömen können wir uns hier gar keinen Begriff +machen.« + +»Hm — und wieviel Land gehört dazu?« + +»Dazu gehört ein »Died« von 40 Acker, was früher als Congreßland gekauft +und schon bezahlt ist, und natürlich mit übernommen wird, und um den Platz +herum kann noch so viel Congreßland dazu genommen werden, wie man haben +will — nur die vierzig Acker, von denen aber ein Theil schon urbar gemacht +ist, müssen natürlich höher bezahlt werden.« + +»Und was soll die ganze Geschichte kosten?« frug Müller. — Der dritte, +dessen Name Brauhede war, hatte noch kein einziges Wort zu der ganzen +Verhandlung gesagt. + +»Die ganze Geschichte,« erwiederte Weigel, sich das Kinn streichend, »wie +ich sie Ihnen hier gleich an Ort und Stelle überlassen kann, mit Häusern +und Grundstück und dazu noch einem kleinen Viehstand von vielleicht +einigen achtzig Stück Rindvieh, und fünfundfunfzig oder sechzig Schweinen, +würde — etwa — ein tausend und einige sechzig spanische Dollar betragen — +« + +»Und das wäre nach unserem Geld?« sagte Menzel, Müller dabei heimlich +unter dem Tisch anstoßend — « + +»Nach unserem Geld?« wiederholte Herr Weigel, mit einem Stück dort +liegender Kreide die Summen rasch auf dem Tisch selber aufaddirend — +»würde es in einer runden Zahl etwa 1000 — 400 — eine Kleinigkeit über +1400 Thlr. Preuß. Courant betragen.« + +»Wieviel Stück Rindvieh?« sagte Müller. + +»Einige achtzig Stück sind angegeben,« sagte Weigel, »und müssen auch +überliefert werden; aber gewöhnlich sind es noch mehr, denn das Vieh läuft +draußen im Freien herum und bekommt Kälber und man weiß es oft nicht +einmal — die Kälber werden überhaupt nie mitgezählt.« + +»Und die Passage hinüber kostet?« frug Menzel — + +»Zwischendeck oder Cajüte?« + +»Zwischendeck — immer wo’s am Billigten ist,« lachte Menzel, und strich +sich wohlgefällig über die silbernen Knöpfe. + +»Ja, kann mir’s denken,« rief Herr Weigel, auf den Scherz eingehend, und +ihn leise gegen den Arm von sich stoßend — »Sie sehn mir auch gerade aus, +als ob’s Ihnen auf ein paar Thaler ankäme.« + +»Ja, wo man’s kann muß man’s zusammennehmen,« betheuerte aber auch Müller +— »also wieviel kostet’s im Zwischendeck à Person?« + +»Vierundvierzig Thaler für die Person — Kinder zahlen die Hälfte.« + +»Aber ganz kleine Kinder?« sagte Müller. + +»Nun Säuglinge gehen ein,« lachte Herr Weigel, »das ist die Beilage, die +doch auch nur vom Schiff aus indirecte Nahrung bekommen.« + +»Leichten Zwieback?« frug Menzel. + +»Ja wohl,« sagte Herr Weigel, etwas verlegen lächelnd, da er nicht wußte +ob der Bauer das im Spaß oder Ernst gemeint — »wie viel Personen sind Sie +denn aber wohl etwa?« + +»Nu, so eine sechzig möchten wir immer zusammen herausbekommen,« meinte +Müller — + +»Aber Alle auf ein Schiff müßtet Ihr uns bringen,« sagte Menzel. + +»Nun das versteht sich von selbst,« rief Herr Weigel, und ein famoses +Schiff geht gerade den funfzehnten ab — ich glaube das beste, das von +Bremen und Hamburg überhaupt läuft — die Diana.« + +»Ne das wär’ uns noch zu früh — « + +»Am ersten nächsten Monats geht ein noch besseres,« sagte Herr Weigel — +»wenigstens geräumiger und ein besserer Segler.« + +»Ne das wär’ uns auch noch zu früh,« sagte Menzel. + +»Gut, dann träfen Sie es gerade ausgezeichnet mit dem Meteor,« versicherte +Herr Weigel, keineswegs außer Fassung gebracht; »ich wollte Ihnen den im +Anfang nicht anbieten, weil ich fürchtete daß Sie früher zu reisen +wünschten, wenn Sie aber _so_ lange Zeit haben, dann kann ich Ihnen +allerdings die vorzüglichste Reisegelegenheit bieten, die sich nur +überhaupt denken läßt.« + +»So — na das paßte schon besser — « sagte Müller — »wie hieß das Schiff +gleich?« + +»Meteor.« + +»Hm — werd’ es mir merken — aber nicht wahr, beim _Dutzend_ kriegen wir +die Passage doch auch was billiger.« + +»Ne, das geht nicht,« lachte aber Herr Weigel da gerade heraus; »es ist ja +nicht so, daß ein Schiff nur eben so viel Menschen an Bord nehmen kann wie +darauf Platz haben, sondern es muß auch genug Raum, und über und über +genug Essen und Trinken für sie dabei sein, wenn einmal die Reise, in +einem unglücklichen Fall länger dauerte als gewöhnlich. So ein Schiff hat +deshalb auch nur eine bestimmte Zahl von Auswanderern, die es an Bord +nehmen kann, und nach Amerikanischen Gesetzen nehmen _darf_, und auf die +ist Alles mit Kosten und Preis ausgerechnet, auf’s tz. Die kleinen Kinder +werden eingegeben, aber die großen müßen bezahlen. Und wie war’s mit der +Farm?« + +»Wo ist denn der andere Platz — zu dem da der lange Zettel gehört?« sagte +Menzel, der sich diesen indessen genau betrachtet, und nach allen Ecken +herum und herumgedreht hatte, ohne, wie er meinte, einen Handgriff dran +bekommen zu können. + +»Der hier? der ist in Wisconsin; auch ein guter Platz, aber kein so großer +Strom dabei,« sagte Herr Weigel — »ist aber auch billiger. Dort kann ich +Ihnen eine Farm, allerdings nur mit einigen vierzig Kühen, für etwa +siebenhundertundfunfzehn Dollar überlassen, und dann habe ich noch fünf +andere von sechs, acht, elf, neun und ich glaube zwölfhundert Dollar — die +letztere ist aber eine wirkliche Musterwirthschaft mit importirtem +Schweizervieh, und Backsteingebäuden, und einer prachtvollen Lage Milch +und Butter in die nicht zu entfernte Stadt zu bringen; wird Ihnen aber +auch freilich wohl zu theuer sein?« + +»Zu theuer? — warum?« sagte Menzel — »wenn man sich einmal etwas kauft, +soll man sich auch gleich ’was ordentliches anschaffen. Ich habe mir +übrigens die Sache immer viel schwieriger vorgestellt mit dem Ankaufen, +und gedacht, daß man da erst lange in der Welt umher fahren und sein Geld +verreisen müßte. Wenn man das gleich hier an Ort und Stelle abmachen kann, +ist das ja weit bequemer.« + +»Auf eins möchte ich Sie übrigens noch aufmerksam machen, meine Herren, +was Sie ja nicht versäumen dürfen,« sagte Herr Weigel — »nämlich sich hier +gleich Ihre Billets zur Weiterfahrt in’s Innere, wohin Sie auch immer +wollen, zu lösen. + +»Von Neu-York aus?« sagte Menzel verwundert. + +»Ja wohl von Neu-York oder Philadelphia oder wohin Ihr Reiseziel liegt.« + +»Ja aber kann man denn die _hier_ bekommen?« frug Müller. + +»Gewiß kann man das,« lächelte Herr Weigel, »und das ist gerade der +ungeheure Vortheil unserer jetzigen Verbindung, die den Auswanderer von +der Thür seiner alten Heimath fort, vor die seiner neuen setzt, ohne daß +er ein einziges Mal in die Tasche zu greifen und mehr zu bezahlen braucht, +als was er gleich von allem Anfang entrichtet hat. Das eben macht auch das +Reisen jetzt so billig, daß man mit _einem_ Blick im Stande ist sämmtliche +Kosten zu übersehn; die Extra-Ausgaben fallen ganz weg.« + +»Das wäre freilich ein Glück,« sagte Müller, von dem erst vor einigen +Monaten ein Bruder »hinüber« gegangen war — »die Extra-Ausgaben fressen +sonst das meiste Geld.« + +»Ob sie’s fressen, bester Herr, ob sie’s fressen,« sagte Herr Weigel, sich +wieder vergnügt die Hände reibend. + +»Und wo kann man die Billete also bekommen?« frug Menzel. + +»Bei mir hier, versteht sich,« sagte Herr Weigel — »alle bei mir.« + +»Und die gelten dann drüben?« + +»Nun versteht sich doch von selbst,« lachte der freundliche Agent, »ich +würde sie ja Ihnen doch sonst nicht verkaufen. Sehn Sie, wenn die +Deutschen hinüber kommen, dann sprechen sie gewöhnlich noch kein Englisch +— oder haben Sie das etwa schon gelernt?« + +»Ne — « + +»Nun sehn Sie, und dann werden sie dort von ihren Landsleuten — denn der +Amerikaner ist nicht halb so schlimm — die sich das richtig zu Nutze zu +machen wissen, tüchtig über’s Ohr gehauen, und müssen gewöhnlich gerade +noch einmal so viel bezahlen, als die Sachen eigentlich kosten. + +»Aber es soll doch eine »Deutsche Gesellschaft« drüben in Neu-York sein,« +sagte jetzt Brauhede, der zum ersten Mal bei der ganzen Verhandlung den +Mund aufthat — »die sich eben der Deutschen annimmt und Nichts dafür +verlangt.« + +»Leben wollen wir _Alle_,« sagte Herr Weigel achselzuckend — »umsonst ist +der Tod, und daß die Leute, wenn sie ihre Zeit darauf verwenden für die +Deutschen zu sorgen, auch etwas dafür nehmen werden, läßt sich wohl an den +fünf Fingern abzählen. Neu-York ist aber ein theures Pflaster, die Leute +_brauchen_ dort mehr wie wir hier, und wer es daher _billiger_ thun kann +ist auch wieder leicht einzusehn. Ich will mich auch keineswegs empfehlen; +lieber Gott es giebt noch eine Menge Leute in Deutschland, die sich +demselben schwierigen und undankbaren Geschäft unterzogen haben wie ich, +und die es sich vielleicht eben so sauer werden lassen gerade und ehrlich +durch die Welt zu kommen; aber Einen der es besser _meint_ dabei, werden +Sie wohl schwerlich finden, und ich überrede gewiß Niemanden nach Amerika +auszuwandern. Jeder Mensch muß seinen freien Willen haben, und auch am +Besten selber wissen was ihm gut ist.« + +»Ne gewiß,« sagte Menzel — »da habt Ihr ganz recht, das ist auch mein +Grundsatz; aber das mit dem Amerika leuchtet mir auch ein, und umsonst +thut da gewiß Niemand etwas — das sind verflixte Kerle da, hab’ ich mir +sagen lassen, besonders die Deutschen, und wo die nicht wollen gucken sie +nicht ’raus.« + +»Also die Billete kann man hier bei Euch kriegen?« sagte Müller. + +»Wohin Sie wollen, und ich stehe Ihnen dafür daß sie nicht allein ächt +sind, sondern daß die hier in Deutschland gelösten Plätze auch noch den +Vorrang haben vor allen in Amerika genommenen, wenn einmal Eisenbahn oder +Dampfboote zu sehr besetzt sein sollten. Es ist ja hier gerade so mit der +Post, wo Die, die sich zuerst, und auf der längsten Station haben +einschreiben lassen, den Vorrang behalten müssen vor denen die nachher +kommen. + +»Ahem, das ist klar,« sagte Menzel; »na also da dächt’ ich ließen wir uns +gleich einmal Plätze belegen und gäben das D’raufgeld, damit wir die Sache +richtig hätten, und nachher können wir ja einmal über die Farmen sprechen; +ich habe verwünschte Lust.« + +»Du, das hat noch Zeit,« sagte aber jetzt Brauhede wieder, Menzel am Rocke +zupfend; »erst müssen wir es uns doch einmal mit den Anderen zu Hause +überlegen.« + +»Wenn aber nachher die Plätze auf dem ganz guten Schiffe fort sind,« sagte +Müller mit einem sehr bedenklichen Gesicht. + +»Ja, _stehen_ kann ich Ihnen _nicht_ dafür,« versicherte Herr Weigel die +Achseln zuckend, daß sie beinah seine Ohrläppchen berührten. + +»Na mein’twegen,« sagte Brauhede, der allerdings auch in der Absicht +hierher gekommen war, ihre Passage fest zu accordiren, jetzt aber, da es +dazu kam Geld zu zahlen, nur ungern damit herausrückte — »aber von wegen +der Farm müssen wir noch erst mit den Anderen sprechen, und eine Farm +kriegen wir auch noch immer.« + +»Ja aber was für eine,« sagte Herr Weigel. + +Brauhede blieb übrigens bei seiner Meinung, und Menzel bestand jetzt nur +wenigstens darauf die beiden Pläne einmal mitzunehmen, damit sie sich zu +Hause ordentlich hinein denken könnten. Wenn auch Herr Weigel sie im +Anfang nicht außer Händen geben mochte, ja sogar versicherte er habe nicht +übel Lust die eine Farm für sich selber auf Spekulation zu kaufen, ließ er +sich doch zuletzt überreden ihnen, aber allerdings nur auf zwei Tage, die +Pläne zu überlassen, und dann das Weitere über den Ankauf mit einer +zweiten Deputation der Gesellschaft zu besprechen. + +Menzel bezahlte dann das Aufgeld auf ihre Passage im _Meteor_ für +siebenundfunfzig Personen und dreizehn Kinder, die sämmtlich aus _einer_ +Ortschaft auswandern wollten, und nahm dann auch noch, nach einer kurzen +Berathung mit den beiden anderen, die nöthigen Billete auf der Eisenbahn +von Neu-York aus, oder machte wenigstens eine Anzahlung darauf, daß sie +ihnen der Agent aufbewahrte, da dieser sie versicherte er sei nur noch im +Besitz einer sehr kleinen Anzahl, und wisse nicht, wann er gleich wieder +andere bekommen würde, während die Anfrage darnach sehr stark wäre. + +Außerdem kauften sie sich auch noch ein halbes Dutzend kleine Brochüren, +die Herr Weigel, wie er sagte, gerade frisch aus der Druckerei als etwas +_ganz Neues_ bekommen hatte — ein Datum stand nicht darauf — und die drei +Männer verließen dann wieder, von dem schmunzelnden Agenten bis an die auf +den Markt führende Thür begleitet, das Haus. + +»Höre Du,« sagte aber Brauhede als sie wieder vor dem Haus und auf der +Straße waren, und langsam über den Markt weggingen, »mit dem Landkaufen +wollen wir uns doch lieber hier noch nicht einlassen, das ist eine +wunderliche Geschichte und will mir nicht recht in den Kopf.« + +»Nicht in den Kopf?« rief aber Menzel — »und warum nicht? — der Mann +bekommt alle Tage Briefe aus Amerika, warum soll der nicht wissen was dort +zu verkaufen ist?« + +»Wenn’s aber so gut und billig wäre, brauchten sie’s doch nicht hier +herüberzuschicken,« meinte Brauhede kopfschüttelnd. + +»Das ist Alles was Du davon verstehst,« sagte Müller, »Amerikaner könnten +sie gewiß genug zu Käufern kriegen, aber deutsche Bauern wollen sie, die +ihnen zeigen wie man das Land behandeln muß, und darum schicken sie +herüber — die sind froh drüben, wenn unsereins hinüber kommt. + +»Nun, mag sein,« brummte Brauhede — »aber sicher ist doch sicher, und wenn +ich mein Geld hier weggegeben habe, und kann das Land was mein sein soll +nachher nicht finden, wie’s dem Niklas seinem Bruder gegangen ist, nachher +wäre die Geschichte aber faul.« + +»Dem Niklas sein Bruder war aber auch ein Esel,« sagte der Andere, »der +sich hier Land von einem herumziehenden Vagabunden gekauft; da sollt’ er +nachher wohl suchen. Aber _der_ Mann hier ist in der Stadt ansässig und +hat ein Geschäft; was der verkauft das muß gut sein, sonst wär’ er ja gar +nicht sicher daß man ihn einmal deshalb beim Kragen kriegte.« + +»Ja krieg’ ihn einmal wenn Du drüben in Amerika bist,« sagte Brauhede +ruhig — »das ist ein verwünscht weiter und umständlicher Weg und — wenn +man sich einmal hat anführen lassen, will man auch nicht gern noch dazu +ausgelacht werden.« + +»Papperlapapp!« sagte Menzel — »dafür hat Jeder seine Augen daß er sie +offen hält, und ehe ich ihm mein gutes Geld gebe, werd’ ich mich schon +sicher stellen daß er mir Nichts aufbindet.« + +Und die Männer schritten, Jeder von jetzt an mit seinen eigenen Gedanken +über die nahe Auswanderung beschäftigt, langsam die Straße hinunter, +während in seinem kleinen Bureau, vergnügt die Hände zusammenreibend, Herr +Weigel auf und ab spazieren ging, und sich im Geist die nächst zu +ziehenden Summen zusammenaddirte, die er in kurzer Zeit, nach eifriger +Aussaat, einzuerndten hoffte. Die Geschäfte gingen vortrefflich; Lust zur +Auswanderung hatte in der That ein Drittel der sämmtlichen Bevölkerung, +und es bedurfte nur manchmal wirklich einer leisen Anregung, die Leute zu +etwas zu bewegen, zu dem sie schon halb und halb selber entschlossen +gewesen waren. + +Herr Weigel war sehr guter Laune; er legte jetzt die Hände auf den Rücken +und summte ein leises Lied vor sich hin, seinen Marsch dabei fortsetzend. +Aber er sang falsch; er hatte keine Idee von irgend einer Melodie; doch +das schadete nichts, er _meinte_ wenigstens eine, und da er selber nicht +hörte was er sang, genügte es ihm vollkommen. + +Die Thür ging jetzt auf und der Tischler oder Schreiner kam herein, irgend +etwas an dem Pult auszubessern — er hatte zweimal angeklopft ohne daß der +vergnügte Agent darauf geantwortet hätte. + +»Guten Morgen Herr Weigel.« + +»Ah guten Morgen Meister — nun kommen Sie endlich? ich hatte schon ein +paar Mal nach Ihnen hinübergeschickt — « + +»Ja lieber Gott Herr Weigel, ich war gerade drüben beim Herrn Geheimen +Rath Bärlich beschäftigt — die Leute sind so eigen wenn man von der Arbeit +fort geht — « + +»Sehn Sie, hier das Bein möcht’ ich gemacht haben; der Tisch wackelt da +immer, und wenn man etwas darunter legt, verschiebt sich das doch jedesmal +wieder. Können Sie es mir wohl bis heute Nachmittag in Ordnung bringen?« + +»Ja gewiß,« sagte der Mann, »das ist ja nur eine Kleinigkeit.« + +»Und wie ist es mit den Auswandererkisten die ich bestellt habe? — werden +die bis heute Abend fertig? + +»Ja wohl Herr Weigel; sechs habe ich schon in das Gasthaus »Stadt +Breslau,« wie Sie mir sagten, abgeliefert.« + +»Nun das ist gut, denn der ganze Zug wird noch heute Vormittag ankommen, +und will morgen früh wieder fort — es sind doch noch keine Auswanderer +heute Morgen hier eingetroffen? — « + +»Nicht daß ich gesehen hätte — aber gestern Abend zogen Viele durch.« + +»Ja ich weiß — von Hessen herüber — die armen Teufel; denen wird’s einmal +wohl drüben werden. Nun wie gehn denn bei Ihnen die Geschäfte jetzt?« + +»Ih nu gut, Herr Weigel, ich kann gerade nicht klagen; das Brod wird +freilich immer theuerer, aber man schlägt sich so durch — Kinder haben wir +nicht, und was verdient wird reicht eben ordentlich aus.« + +»Ich begreife nicht,« sagte Herr Weigel da kopfschüttelnd vor dem Mann, +der seine Mütze eben wieder aufgegriffen hatte und sich zum Fortgehen +anschickte, stehen bleibend — »wie Ihr Leute Euch hier vom Morgen bis +Abend plagt und schindet, eben nur das liebe Brod zu verdienen, wo Ihr in +ein paar Wochen drüben sein könntet und so viel Dollare für Euere Arbeit +bekämt, wie hier Groschen. + +»Drüben, wo?« + +»Nun in Amerika — « + +»Hm, ja,« sagte der Mann, sich nachdenkend das Kinn streichend, und einen +leichten Seufzer unterdrückend — »gedacht hab’ ich auch schon ein paar Mal +daran, aber — das geht nicht gut und — es ist auch so eine unsichere Sache +mit da drüben. Hier weiß ich einmal was ich habe und daß ich auskomme, und +wie mir’s da drüben geht weiß ich _nicht_.« + +»Aber Freund,« rief Herr Weigel verwundert — »ein Mann der fleißig +arbeitet bringt es dort immer zu was. Wetter noch einmal, Meister, Amerika +ist gerade der Platz für Euch, wo Ihr Euch rühren und ausbreiten könntet — +wenn Ihr dort wäret, ein geschickter Arbeiter wie Ihr! in fünf Jahren +hättet Ihr zwanzig Gesellen.« + +»Meister Leupold nickte langsam mit dem Kopf, und sah ein paar Secunden +still vor sich nieder, als ob das Bild mit der großen Werkstätte und dem +regen Treiben sich vor seinem inneren Geist eben auszubreiten beginne, +dann aber sagte er, jetzt herzhaft aufseufzend — « + +»Und es geht doch nicht, Herr Weigel — ich habe die alte Mutter zu Hause, +die ich unmöglich hier allein zurück lassen könnte — « + +»Hierlassen? das fehlte auch noch,« rief der Agent — »die nehmt Ihr mit, +Mann — könnt Ihr der denn eine größere Freude machen, als wenn sie noch +vor ihrem Ende sähe wie wohl es Euch geht auf der Welt, und wie sich Euer +Zustand mit jeder Woche, mit jedem Tage fast bessert? — Muß sie hier nicht +in Sorge und Kummer leben daß Ihr einmal krank werdet und Nichts verdienen +könnt, und wie sieht’s dann aus?« + +»Wenn ich aber nun dort drüben krank werde?« sagte der Meister leise. + +»Wenn das nur nicht gleich die ersten Monate geschieht und für ein Unglück +kann Niemand« — warf dagegen Herr Weigel ein, »so könnt Ihr Euch auch +schon so viel gespart haben, das eine Weile mit ruhig anzusehn; und wenn +Ihr nicht krank werdet, seid Ihr in ein paar Jahren ein wohlhabender +Mann.« + +»Es ist eine verwünschte Geschichte mit dem Amerika,« seufzte der Mann +wieder, sich hinter dem Ohr kratzend — »man hört so viel davon, und sieht +eine solche Masse Menschen hinüberziehen, die alle voller Hoffnung sind +daß es ihnen gut geht — und möchte am Ende ebenfalls gern mit — wenn man +nur erst so einmal hinübergucken könnte wie es eigentlich aussieht.« + +»Dazu ist es ein Bischen zu weit,« meinte Herr Weigel. + +»Ja nun eben,« sagte der Tischler — »und so auf’s gerathewohl — « + +»Das könnt Ihr aber nicht auf’s gerathewohl nennen, wo wir alle Tage +Briefe von drüben herüber bekommen, von denen einer immer besser lautet +als der andere. Da — hier liegt gleich einer, der letzte den ich bekommen +habe, wo ein Deutscher, den ich selber hinüberbefördert, und dem es jetzt +ausgezeichnet gut geht, an mich schreibt, und ein oder zwei gute gelernte +Schaafknechte haben will; lesen Sie einmal den Brief.« + +Leupold legte seine Mütze wieder hin, nahm den Brief und las ihn +aufmerksam durch; er nickte dabei mehrmals mit dem Kopf, und sah dann +wieder zu dem Agenten auf, der ihn indessen mit einem triumphirenden +Lächeln betrachtet hatte. + +»Nun?« frug der Letztere, als Jener das Schreiben beendet und wieder +zusammenfaltete — »wie klingt das?« + +»_Sehr_ gut« sagte Leupold leise, »aber — es hilft mir doch Nichts. Wenn +ich jetzt mein kleines Häuschen, das ich mir mit Mühe und Noth +zusammengespart und aufgebaut, auch verkaufen wollte; fände ich erstlich +keinen Käufer, und dann bekäm ich auch das nicht dafür wieder, was es mich +selber gekostet; wie gesagt, der Sperling in der Hand ist doch wohl besser +wie die Taube auf dem Dache.« + +»Bah, Taube,« sagte Herr Weigel mürrisch — »wenn die Taube auf dem Dach +eben so fest und sicher sitzen bleibt bis man sie holen kann, wie Amerika +ruhig liegt, und auf die wartet die hinüber kommen, so ist sie mir lieber +wie ein erbärmlicher Sperling, zum Sterben zu viel, und zum Leben zu +wenig; aber — überlegt’s Euch — ah da kommt der Briefträger — ’was für +mich?« + +»Nun guten Morgen Herr Weigel,« sagte der Tischler und wollte sich eben +entfernen, während der Briefträger dem Agenten mehrere für ihn gekommene +Briefe überreichte. + +»Siebzehn Silbergroschen drei Pfennige« sagte er dabei. + +»_Siebzehn_ Silbergroschen?« rief Herr Weigel verwundert — »aha da ist ein +Amerikaner dabei — halt, wartet noch einmal einen Augenblick Leupold« — da +ist vielleicht gleich noch was für uns, und was ganz Neues — wollen gleich +einmal sehn was die Leute schreiben. Wahrscheinlich wieder von Jemand den +ich hinüber befördert habe, und der sich jetzt bedankt — das kostet aber +viel Geld — « + +»Apropos Neues,« sagte Leupold, während der Agent den Briefträger bezahlt +hatte und seine Papierscheere vom Tisch nahm, den Amerikanischen Brief +aufzuschneiden — »haben Sie schon gehört daß gestern Nachmittag bei Herrn +Dollinger eingebrochen und für sieben tausend Thaler Gold und Juwelen +gestohlen sind?« + +»Alle Wetter,« rief Herr Weigel, mit der zum Schnitt ausgehaltenen Scheere +in der Hand — »gestern Nachmittag?« + +»Am hellen Tage,« bestätigte Leupold. + +»Und weiß man nicht wer der Thäter ist?« + +»Sie haben den einen Comptoirdiener in Verdacht und auch schon +eingezogen,« sagte der Tischler. + +»Gewiß den Loßenwerder,« rief Weigel. + +»Ich glaube so heißt er — er ist ein wenig verwachsen — « + +»Und schielt — derselbe, ich habe den Burschen von jeher nicht leiden +können; hat mir auch schon ein paar Mal Kunden abspenstig gemacht, aus +reinem Brodneid; ich wüßte wenigstens sonst nicht weshalb, und habe ihn +dabei stark in Verdacht, daß er selber damit umgeht eine Agentur für +Auswanderer zu errichten. Da könnte Jeder hergelaufen kommen, ohne Briefe, +ohne Connexionen und ohne Kenntniß vom Land — schickte nachher die Leute +in’s Blaue hinein, daß sie dort säßen und nicht wüßten wo aus noch ein. Na +nun, wird ihm das Handwerk wohl gelegt werden; ich gönne nicht gern einem +Menschen etwas Uebles, aber bei dem freut mich’s daß sie’s wenigstens +herausbekommen haben, und er seine Schurkerei nicht mehr heimlich +forttreiben darf. Ist denn das Geld schon wieder gefunden?« + +»So viel ich weiß nicht, einige hundert Thaler ausgenommen, von denen aber +der Mann betheuert daß er sie sich gespart hätte; es ist übrigens Manches +dabei zusammengekommen was ihn verdächtig macht; das Nähere weiß ich +freilich nicht.« + +»Hm, hm, hm,« sagte Herr Weigel, kopfschüttelnd den Brief, den er noch +immer in der Hand hielt, anschneidend — »böse Geschichten — böse +Geschichten, was man nicht Alles hört auf der Welt. — Nun wollen wir also +einmal sehen was der Herr da aus Amerika schreibt — hm — Washington +County, Tennessee den siebenten Januar 18 — alle Wetter der Brief ist +lange unterwegs gewesen — Herrn F. G. Weigel in Heilingen, Hauptagent der +Central-Auswanderungs- und Colonisations-Gesellschaft in Deutschland — +ahem — Sie nichtsw — hm — Sie haben — hm — vor allen Dingen — hm — hm — +hm — hm« — Herrn Weigels Gesicht verlängerte sich immer mehr, je weiter er +in seiner, wie es schien nicht eben angenehmen Lectüre vorrückte, aber er +brach mit dem Lautlesen des Inhalts, dessen Einleitung unerwarteter Weise +höchst derber Art war, schon gleich nach den ersten Sylben ab, und +murmelte, das Ganze nur flüchtig überfliegend, blos einzelne +unzusammenhängende Worte, aus denen Leupold Nichts herausfinden konnte, +vor sich hin. + +»Nun, was schreiben sie?« sagte dieser endlich lächelnd; er wäre schon +lange gegangen, wenn ihn Weigel nicht eben zurückgehalten hätte — »gute +Neuigkeiten?« + +»Bah!« sagte Herr Weigel, den Brief zurück auf seinen Schreibtisch werfend +— »Jemand der seine Geschwister will hinübergeschickt haben und mich +ersucht das Geld für ihn auszulegen. Da müßt’ ich schöne Capitale +herumstehn haben, wenn ich allen Leuten umsonst wollte die Familie +nachschicken. Nachher sitzt der mitten im Land drin, und ich kann ihn dann +suchen.« + +»Ne, das ist ein Bischen viel verlangt,« sagte der Meister, wieder nach +der Klinke greifend — und dießmal hielt ihn Herr Weigel nicht zurück — +»aber nun leben Sie auch recht wohl, und verlaßen Sie sich darauf ich +besorge Ihnen das heute noch.« + +»Sein Sie so gut,« sagte der Agent — er war auf einmal ganz einsylbig +geworden, und Meister Leupold verließ mit nochmaligem Gruß das Zimmer, in +dem jetzt Herr Weigel mit in die Tasche geschobenen Händen, aber +keineswegs mehr so guter Laune als vorher, raschen, heftigen Schrittes auf +und ab ging. + +»Und vierzehn Groschen bezahlt für den Wisch — es ist eine Frechheit +wahrhaftig, die in’s Bodenlose geht. Lumpengesindel! glaubt die gebratenen +Tauben sollen ihm da in’s Maul fliegen, so bald sie’s nur aufsperren.« Und +wieder riß er den Brief vom Pult, rückte sich die Brille zurecht, und las +mit halblauter, aber heftiger Stimme den Inhalt noch einmal, und zwar +aufmerksamer durch als vorher. + +»Sie nichtswürdiger Hallunke« — wenn ich Dich nur hier hätte mein Bursche, +dafür solltest Du mir brummen — »schändlich betrogen und angeführt« — wozu +hat Dir denn der liebe Gott die großen Glotzaugen gegeben, wenn Du sie +nicht aufsperren willst — »Land eine Wüste« — na versteht sich, ein +Gewächshaus hab’ ich ihm nicht verkauft — »Hälfte gar nicht zu bekommen« — +Holzkopf — »kein Mensch wollte die Billete nehmen« — bah, geschieht Dir +recht — »Wohngebäude zu schlecht für einen Hund« — für Dich noch immer +viel zu gut, mein Schatz — »wenn Sie nur einmal herüber kämen, Sie +miserabeler« — bah« — unterbrach sich Herr Weigel in dieser nichts weniger +als schmeichelhaften Lectüre, indem er den Brief in zwei Hälften riß, und +sich dann ein Streichhölzchen mit einem Gewaltstrich an der Thür +entzündete »so viel für den Wisch!« und das Papier anbrennend, warf er das +auflodernde in den Ofen, und schloß die Klappe so heftig er konnte. + +Allerdings wollte er sich nun über den Brief hinwegsetzen, aber geärgert +hatte er sich doch, und Rock und Stiefeln anziehend drückte er sich seinen +Hut in die Stirn, griff seinen Stock aus der Ecke, und verließ sein +Bureau, das er sorgfältig hinter sich abschloß, und eine kleine Pappe +mitten an die Thür hing, auf der die Worte standen. + +»Kommt um elf Uhr wieder.« + + + + + + Capitel 6. + + + DIE WEBERFAMILIE. + + +Nicht weit von Heilingen, und in Hörweite der Domglocke selbst, in +ziemlich bergigem, aber unendlich malerischem Land, lag ein kleines armes +Dorf, dessen Bewohner, da ihre Felder gerade nicht zu den besten gehörten, +sich kümmerlich, aber meist ehrlich, mit verschiedenen Handwerken und +Gewerben, mit Holzschnitzen wie auch hie und da mit dem Webstuhl, +ernährten. Das Dorf hieß eigentlich »Zur Stelle«, welchen Namen aber die +Bewohner im Laufe der Zeit, und mit Hülfe ihres Dialekts, zu dem von +_Zurschtel_ umgearbeitet hatten, und mochte etwa dreißig Häuser und +Hütten, mit der doppelten Anzahl von Familien, wie der sechsfachen von +Kindern zählen. Es ist eine wunderliche Thatsache, daß man in den +ärmlichsten Distrikten stets die meisten Kinder findet. + +Mitten im Dorf lag eins der besseren Häuser; es war weiß getüncht, und +hinter den sauber gehaltenen Fenstern hingen weiße, reinliche Gardinen. +Vor dem Hause, über dessen Thüre ein frommer Spruch mit rothen und grünen +Buchstaben angeschrieben war, stand ein Brunnen- und Röhrtrog, und ein +kleiner Koven an der Seite desselben, zeigte in der nach außen befestigten +Klappe des Futterkastens dann und wann den schmuzigen Rüssel eines seine +Kartoffelschalen kauenden Schweines. Auch ein ordentlich gehaltenes Staket +umgab das Haus wie den kleinen Hofraum, und die Wohnung stach sehr zu +ihrem Vortheil gegen manche der Nachbarhäuser ab. + +Im Inneren selber sah es ebenfalls sehr reinlich, aber nichtsdestoweniger +sehr ärmlich aus. In der einen Ecke stand ein großer, viereckiger, sauber +gescheuerter Tisch aus Tannenholz, an zweien der Wände waren Bänke aus dem +nämlichen Material befestigt, und um den großen viereckigen Kachelofen, +der fast den achten Theil der Stube einnahm, hingen verschiedene +Kochgeräthschaften, während auf darüber angebrachten Regalen die braunen +Kaffeekannen und geblümten Tassen gewissermaßen mit als Zierrath zur Schau +ausstanden. Die dritte Ecke füllte der Webstuhl des Mannes aus, und dem +gegenüber stand eine riesengroße, braunangestrichene Kommode, mit +Messinghenkeln und Griffen und fünf Schiebladen, die, mit wirklich +rührender Eitelkeit als eine Art von Nipptisch benutzt, zwei mit bunten +Blumen bemalte Henkelgläser, eine vergoldete Tasse mit der Aufschrift »der +guten Mutter« — ein Geschenk aus früherer Zeit — und ein gelb irdenes aber +allerdings sehr wenig benutztes Dintenfaß trug, während dahinter, in zwei +ordinairen Stangengläsern, in dem einen Schilfblüthenbüschel, und in dem +anderen große stattliche Aehren von Roggen, Waizen, Gerste und Hafer +standen, zur Erinnerung an eine frühere segensreiche Erndte. + +Die Bewohner der kleinen Stube paßten genau in ihre Umgebung; es war eine, +nicht mehr ganz junge aber doch rüstige Frau, in die nicht unschöne +Bauertracht der dortigen Gegend gekleidet, die an ihrem Spinnrad saß und +eifrig das Rädchen schnurren ließ, während die rechte Hand manchmal eine +neben ihr stehende Wiege berührte, den darin ruhenden kleinen Säugling, +der immer wieder die großen dunklen Augen zu ihr aufschlug, endlich in +Schlaf zu bringen. Sie war reinlich, aber in die gröbsten Stoffe +gekleidet, ebenso der Bube von etwa vier Jahren, der ihr zu Füßen mit +einer kleinen Mulde auf dem über die Diele gestreuten Sand »Schiff« +spielte. + +Außerdem war noch eine vierte Person im Zimmer, die alte Mutter der Frau, +eine Greisin von nahe an siebzig Jahren, die auch noch ihr Spinnrad +drehte, sich aber mit dem hinter den noch warmen Ofen gesetzt hatte, weil +ihr das heutige naßkalte, unfreundliche Wetter fröstelnd durch die alten +Glieder zog. Es war eine gutmüthige, aber mürrische alte Frau, selten +zufrieden mit dem was sich ihr gerade bot, und unermüdlich darin, sich und +ihren Kindern die Last vorzuwerfen die sie ihnen mache, und den lieben +Gott täglich zu bitten daß er sie doch bald zu sich nähme. Nur eine +kleine, ganz kurze Frist erbat sie sich immer noch — dann wollte sie gerne +sterben. Erst; wie das Aelteste geboren war, wollte sie das noch gerne +laufen sehn; dann hätte sie gern erlebt wie es zum ersten Mal in die +Schule ging; dann war es Frühjahr geworden und sie hoffte nur noch einmal +neue Kartoffeln zu essen, zu Jacobi aber wollte sie noch einmal von dem +Pflaumenbaum die Früchte kosten, den ihr »Seliger« noch gepflanzt. Wie der +Herbst kam wünschte sie im Frühjahr begraben zu werden, und die knospenden +Maiblumen weckten den Wunsch nach den Astern, ihrer Lieblingsblume, von +denen sie sich eigenhändig ein schmales Beet in den kleinen Garten dicht +am Hause gepflanzt. So lebt und webt die Hoffnung in unseren Herzen mit +immer neuer, nie sterbender Kraft, und je älter wir werden, desto mehr +lernen wir die schöne Erde lieb gewinnen, desto mehr klammern wir uns an +sie, und wollen uns gar nicht mehr von ihr trennen. + +Der Tag neigte sich dem Abend zu; der Mann war in die Stadt gegangen seine +Steuern zu zahlen, und Manches einzukaufen was sie nothwendig im Hause +brauchten — zum Ersatz dafür hatte er das zweite Schwein, das sie bis +dahin gehalten, hineingetrieben, und der Erlös sollte seine Ausgaben +bestreiten. + +Der Regen wurde jetzt wieder heftiger, die großen schweren Tropfen +schlugen gegen das Fenster, und das Kind wurde vollständig munter und fing +an zu schreien. Die Mutter schob ihr Spinnrad zurück, nahm das Kleine aus +der Wiege, und ging damit trällernd im Zimmer auf und ab. Die Alte spann +indeß ruhig weiter, und suchte mit zitternder leiser Stimme ein +geistliches Lied zu singen, und mit dem Rad trat sie den Takt dazu. Sonst +sprach keine ein Wort. + +Endlich wurde die Hausthür geöffnet, Jemand kam von draußen herein, und +strich sich die Füße auf den Steinen und der Strohdecke ab, und sie hörten +gleich darauf wie der zurückkehrende Vater und Gatte seinen großen +rothblauwollenen Schirm auf die Steine stieß, das Wasser so viel wie +möglich davon abzuschütteln, und den Mantel auszog und über den großen +Schleifstein hing der draußen im Flur stand, wie er das gewöhnlich that. +Die Frau öffnete rasch die Thür den Mann zu begrüßen, der den Hut abnahm, +sich die nassen Haare aus der Stirn strich, und das Kind küßte, das sie +ihm entgegenhielt. + +»Jesus ist das ein Wetter, Gottlieb,« sagte sie dabei, als sie ihm den Hut +aus der Hand nahm und neben den Ofen an den Nagel hing, »komm nur herein, +daß Du ’was Trockenes auf den Leib bekommst; wo hast Du denn den Jungen? — +ist er nicht bei Dir?« setzte sie, fast ängstlich, hinzu. + +»Er ist draußen bei Lehmann’s hineingegangen, denen wir ein paar Sachen +aus der Stadt mitgebracht,« sagte der Mann — »wird wohl gleich kommen — +wie geht’s Frau? — wie geht’s Mutter? — ha, das regnet einmal heute was +vom Himmel herunter will; was nur d’raus werden soll wenn das Wetter so +fort bleibt. Ein paar gute trockene Tage haben wir gehabt, und jetzt +wieder Guß auf Guß — Guß auf Guß, als ob sie uns unsere paar Stücken Feld +noch hinunter in die Wiesen waschen wollten. Von dem einen Acker ist die +Saat schon halb fortgespült — wenn dasmal das Korn misräth, weiß ich nicht +wo der arme Mann das Brod hernehmen soll.« + +»Klag nicht, Gottlieb,« sagte aber die Frau freundlich — »es geht noch +Vielen schlechter wie uns, und was sollen da die _ganz_ armen Leute sagen. +Lieber Gott, es ist viel Noth in der Welt, und wer heut zu Tage eben sein +Auskommen und ein Dach über dem Kopf hat und gesund ist, sollte sich nicht +versündigen.« + +Sie hatte dabei das Kind auf die Erde gesetzt, holte den Topf aus der +Röhre, in der, trotz der vorgerückten Jahreszeit, noch ein Feuer brannte, +der alten, fröstelnden Mutter wegen, und goß den darin heiß gehaltenen +Kaffee — sie nannten das braune Getränk von gebrannten gelben Rüben und +Gerste wenigstens so — in die eine braune Kanne, damit sich der Mann, der +den ganzen Tag draußen im Regen herumgezogen war, daran erquicken könne. +Zugleich auch deckte sie ein weißes Tuch über den Tisch, auf den sie noch +Butter und Brod stellte, die versäumte Mittagsmahlzeit wenigstens in etwas +nachzuholen. Der Mann setzte sich an den Tisch, schenkte sich eine Tasse +Kaffee ein, in den ihm die Frau die Milch goß, und schnitt sich ein großes +Stück Brod ab, das er mit Butter bestrich und verzehrte. Er sprach kein +Wort dabei, und beendete still seine Mahlzeit, schob dann die Tasse und +den Butterteller zurück, nahm das Kleinste, das die Mutter zu ihm auf die +Erde gesetzt hatte, herauf auf sein linkes Knie, blieb, den rechten +Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf gegen die Wand gelehnt, +regungslos sitzen, und schaute still und schweigend nach dem Fenster +hinüber, an das die Regentropfen immer noch, vom Wind draußen gepeitscht, +hohl und heftig anschlugen. + +Die Frau hatte ihn eine ganze Zeit lang mit scheuem Blick betrachtet; es +war irgend etwas vorgefallen, aber sie wagte nicht zu fragen, denn +Gottlieb, so seelensgut er auch sonst sein mochte, hatte doch auch seine +»verdrießlichen Stunden« und war dann, wenn gestört, oft rauh und +unfreundlich; aber eine eigene Angst überkam sie plötzlich. Ihr ältester +Sohn — der Hans — war nicht mit zu Hause gekommen — konnte dem — heiliger +Gott, wie ein Stich traf es sie in’s Herz und sie sprang erschreckt von +ihrem Stuhl auf und auf den Mann zu. + +»Gottlieb — um aller Heiligen Willen wo ist der Hans? — es ist — es ist +ihm doch nicht etwa ein Unglück geschehn?« + +»Der Hans?« sagte der Mann aber ruhig und sah erstaunt zu ihr auf, »was +fällt Dir denn ein? was soll denn dem Hans zugestoßen sein? ich habe Dir +ja gesagt daß er bei Lehmann’s etwas abgegeben hat, und dort +wahrscheinlich das Wetter abwarten wird.« + +»Ich weiß nicht,« sagte die Frau, der dadurch allerdings eine Centnerlast +von der Seele gewälzt wurde — »aber Du bist so sonderbar heut Abend, so +still und ernst, und da schlugs mir wie ein Schreck in die Glieder, über +den Hans. Ist etwas vorgefallen Gottlieb? — « + +Gottlieb schüttelte den Kopf langsam und sagte. — »Nicht daß ich wüßte — +nichts Besonderes wenigstens, oder nichts Anderes, als was jetzt alle Tage +vorfällt — Geld zahlen.« + +»War es denn so viel?« sagte die Frau leise und schüchtern. + +Der Mann schwieg einen Augenblick und sah still vor sich nieder; endlich +erwiederte er seufzend: + +»Das Schwein ist d’rauf gegangen, und vier Thaler Siebzehn Groschen sind +immer noch mit Gerichtskosten und der alten Proceßgeschichte mit der +Brückenplanke, mit der ich eigentlich gar Nichts mehr zu thun hatte, +stehen geblieben, und ich muß sie bis zum ersten Juli nachzahlen, unter +Androhung von Pfändung.« + +»Nun lieber Gott,« sagte die Frau tröstend — »wenn das das Schlimmste ist, +läßt sich’s noch ertragen; da verkaufen wir eben das andere Schwein und +behelfen uns so. Wie wenig Leute im Dorf haben überhaupt eins zu +schlachten, und leben doch; warum sollen wir nicht eben so gut ohne eins +leben können als die.« + +»Ja,« sagte der Mann leise und still vor sich hin brütend — »verkaufen und +immer nur verkaufen, ein Stück nach dem anderen, und während wo anders die +Leute mit jedem Jahr ihr kleines Besitzthum vergrößern, und für ihre +Kinder etwas zurücklegen können, sieht man es hier mehr und mehr +zusammenschmelzen, unter Müh und Plack das ganze Jahr lang.« + +»Aber kannst Du’s ändern?« sagte die Frau leise und fuhr, wie der Mann +schwieg und mit der Faust die Stirn stützend vor sich nieder starrte, +schüchtern fort — »arbeitest Du nicht von früh bis spät fleißig und +unverdrossen? gönnst Du Dir eine Zeit der Ruhe, wo Dich irgend eine +nöthige Beschäftigung ruft, und haben wir uns etwa das Geringste +vorzuwerfen?« + +»Nein,« sagte der Mann, während er die Hand auf den Tisch sinken ließ und +die Frau voll und fest ansah — »nein, aber das ist es ja eben, was mir am +Leben frißt. Wir können nicht mehr arbeiten, nicht mehr verdienen wie wir +jetzt thun, und jetzt sind wir noch jung und kräftig, unsere Kinder noch +klein und gesund, und dennoch geht es mit jedem Jahr zurück, wird es mit +jedem Jahr schlechter und schlimmer. Wie nun soll das werden, wenn uns +erst einmal Krankheit heimsuchte, wenn die Kinder heranwachsen und mehr +brauchen, wenn wir selber älter werden und nicht mehr so zugreifen können +wie jetzt? — Schon jetzt können wir uns nicht mehr in der theueren Zeit +oben halten — das eine Schwein ist verkauft, das andere wird noch fort +müssen; unser Acker ist kleiner geworden in den letzten zehn Jahren, +unsere Bedürfnisse aber sind gewachsen — wie soll das enden?« + +»Aber Gottlieb,« sagte die Frau freundlich — »wie kommen Dir jetzt doch +nur solche Grillen? haben Dir die paar Thaler Steuern den Kopf verdreht? +Mann, Mann, Du bist doch sonst so ruhig, und hast immer vertrauungsvoll in +die Zukunft gesehn, wie sind Dir auf einmal solche schwarze Gedanken durch +den Sinn gefahren?« + +Die alte Mutter hatte, schon so lange wie die Beiden mit einander +gesprochen, ihr Spinnrad ruhen lassen, und dem Gespräch aufmerksam +zugehört; dabei schüttelte sie fortwährend mit dem Kopf, und sagte endlich +mit ihrer schrillen, scharf klingenden Stimme: + +»Ja wohl, ja wohl — das Geld wird rar und das Brod theuer, und mehr Mäuler +kommen — mehr Mäuler sind da zum Verzehren, wie zum Verdienen. Schlagt +mich todt; schlagt mich todt daß ich weg komme aus dem Weg und Euch Platz +mache — schlagt mich todt.« + +»Mutter,« bat die Frau, in Todesangst daß sie dem Manne mit solcher Rede +wehe thun würde, denn _er_ gerade hatte sie immer auf das Freundlichste +behandelt, und Alles gethan was in seinen Kräften stand, ihr jede +Erleichterung, die ihr Alter bedurfte, zu verschaffen — »wie dürft Ihr nur +so etwas reden; versündigt Ihr Euch denn nicht?« + +»Wir haben noch genug für uns Alle Mutter,« sagte aber der Mann +freundlich, der ihre Launen kannte und der alten Frau nicht wehe thun +mochte — »nur für spätere Zeit ist mir bange; Sie aber wären die Letzte +die darunter leiden sollte. Wir werden Alle alt, und wenn wir unsere +Schuldigkeit in unserer Jugend gethan, wie Sie, dann ist es nicht mehr wie +Pflicht und Schuldigkeit der Jüngeren für ihre Eltern zu sorgen — wenn sie +nicht auch einmal wieder von ihren Kindern wollen verlassen werden.« + +Die Alte war wieder still geworden, sah noch eine Zeit lang vor sich +nieder, und begann dann auf’s Neue ihre Arbeit, aber die Frau fuhr fort +und sagte, fast mit einem leisen Vorwurf im Ton zu ihrem Mann. + +»Siehst Du Gottlieb, das hast Du nun davon mit Deinen trüben und traurigen +Ideen; Du machst Dir und mir und der Mutter nur das Herz schwer, und +nützest und hilfst doch Nichts. Der liebe Herr Gott da oben wird’s schon +machen und lenken; Er hat die Welt so viele Jahrhunderte hindurch in ihrer +Bahn gehalten, und die Menschen darauf geschirmt und gepflegt, wie unser +Herr Pastor sagt, Er wird’s auch schon weiter thun, und wir dürfen uns +eigentlich gar nicht sorgen und kümmern um den »nächsten Tag.« + +»Doch, doch Frau,« sagte aber der Mann, aufstehend und jetzt, die Hände in +den Hosentaschen, in der Stube auf und ab gehend — »doch Frau, der Mann +_muß_, denn wenn er’s _nicht_ thäte, wär er ein schlechter Hausvater, und +ihm allein fielen dann all die schweren Folgen zur Last, die daraus +entständen. Ich kann Dir das nicht so mit Worten deutlich machen, wie +mir’s neulich der Schulmeister, mit dem ich darüber sprach, erklärte, aber +der meinte es wäre etwa so wie wenn Einer im Wasser wäre. Da sei es auch +nicht genug daß man sich oben hielte an der Luft, und im Kreis herum +schwämme eben nur nicht zu ertrinken, das thäte nicht einmal ein +unvernünftiges Stück Vieh; nein des Menschen, des verständigen Menschen +Pflicht sei es sich schon im Wasser nach dem festen Lande umzusehn, ob man +das nirgends erreichen könne, denn zuletzt würde man da im Wasser, man +möchte noch so tapfer schwimmen, doch müde, und ließen erst einmal die +Kräfte nach, dann hülfe auch zuletzt das Schwimmen Nichts mehr, und man +sänke eben langsam zu Boden.« + +»Ich verstehe nicht recht was Du damit meinst,« sagte die Frau, »aber Du +siehst mich so sonderbar dabei an — hast Du noch ’was anderes dahinter?« + +»Nein und Ja,« sagte der Mann nach kleiner Pause, indem er sich mit dem +Rücken an den Ofen lehnte, und langsam dazu mit dem Kopfe nickte, +»eigentlich nicht, denn Gott da oben weiß daß es wahr ist, und weiß wie, +und ob’s einmal enden kann; aber dann — dann hab’ ich allerdings noch was +dahinter, denn ich meine — ich meine — « er schwieg und es war +augenscheinlich, er hatte etwas auf dem Herzen, das er sich scheue so mit +blanken klaren Worten heraus zu sagen, die Frau aber, die eben damit +beschäftigt war das Geschirr hinaus zu räumen, setzte die Kanne wieder auf +den Tisch, sah den Mann erstaunt an, ging dann langsam zu ihm an den Ofen +und sagte leise, vor ihm stehen bleibend: + +»Geh her, Gottlieb — Du hast ’was, was Dich drückt und willst nicht mit +der Sprache heraus — es ist irgend noch etwas vorgefallen in der Stadt, +was Du nicht sagen magst. Du darfst doch nicht _sitzen_?« + +»_Sitzen_? — weshalb?« lächelte der Mann kopfschüttelnd — »ich habe nie +etwas Böses gethan.« + +»Nun was ist’s denn, so sprich doch nur, denn Du ängstigst mich ja mehr +mit Deinem Schweigen, als wenn Du mir das Schlimmste gleich vornheraus +erzählst — dem Hans fehlt doch Nichts?« + +»Was soll dem Hans fehlen, närrische Frau — wenn’s aufhört zu gießen wird +er schon kommen.« + +»Und was ist’s denn? — gelt, Du sagst mir’s?« + +»Ich muß Dir’s wohl sagen;« seufzte der Mann, »nun sieh Hanne, ich meine — +ich habe so darüber nachgedacht, daß es jetzt hier in Deutschland immer +schlechter wird mit uns — und daß wir’s zu Nichts mehr bringen können, +trotz aller Arbeit, trotz allem Fleiß, und daß jetzt — daß jetzt doch so +viele Menschen hinüber ziehen — « + +»Hinüber ziehen?« frug die Frau erstaunt, fast erschreckt, und legte die +Hand fest auf’s Herz, als ob sie die aufsteigende Angst und Ahnung über +etwas Großes, Schreckliches da hinunter und zurückdrücken wolle, eh sie zu +Tage käme — »wo hinüber Gottlieb?« + +»Nach Amerika;« sagte der Mann leise — so leise daß sie das Wort wohl +nicht einmal verstand, und nur an der Bewegung der Lippen es sah und +errieth. Wie ein Schlag aber traf sie die Wirklichkeit ihres Verdachts, +und ohne ein Wort zu erwiedern, ohne eine Sylbe weiter zu sagen, setzte +sie sich auf den, dicht am Ofen stehenden Stuhl, deckte ihr Gesicht mit +der Schürze zu und saß eine lange, lange Weile still und regungslos. Auch +der Mann wagte nicht zu sprechen — er hatte den Gedanken wohl schon eine +Zeit lang mit sich herumgetragen, aber sich immer davor gefürchtet ihm +Worte zu geben, sogar gegen sich selbst, wie viel weniger denn gegen die +Frau. Jetzt war es heraus, und er betrachtete nur scheu die Wirkung die er +hervorgebracht. + +Auch die alte Mutter saß, mit der Hand auf dem Rad das sie im Drehen +aufgehalten, und horchte nach den Beiden hinüber, was sie mitsammen +hatten, und wie die so still waren und kein Wort mehr sprachen, mochte es +ihr auch unheimlich vorkommen und sie sagte laut und mürrisch: + +»Nun Gottlieb was giebt’s — was hast wieder Du mit der Hanne — was habt +Ihr denn daß Ihr so still und heimlich thut — macht Einem nicht auch noch +Angst unnützer Weise — was ist nun wieder los?« + +»Ja Mutter,« sagte der Mann jetzt, der sich gewaltsam Muth faßte über das, +was nun doch nicht länger mehr verschwiegen bleiben konnte und besprochen +werden _mußte_, auch laut zu reden, daß er’s vom Herzen herunter bekam — +»es geht mit uns hier den Krebsgang, und ich habe eben zu Hannen gesagt +daß uns zuletzt nichts anderes übrig bleiben würde als — als es eben auch +wie andere zu machen, und — « + +»Und? — und was zu machen?« frug die alte Frau gespannt — + +»Als _auszuwandern_,« sagte der Mann mit einem plötzlichen Ruck und +seufzte dann tief auf, als ob er selber froh wäre es los zu sein. + +»Herr Du meine Güte!« rief die alte Frau, ließ die Hände erschreckt in den +Schooß sinken und lehnte sich in ihren Stuhl zurück, während ihr alle +Glieder am Leibe flogen — »Herr Du meine Güte!« wiederholte sie noch +einmal, und die Finger falteten sich unwillkürlich zusammen, so hatte sie +der Schreck getroffen. + +»Auswandern,« sagte aber auch jetzt Gottliebs Frau mit tonloser Stimme, +und ließ die Schürze vom Gesicht herunterfallen — »auswandern, das ist ein +schweres — schweres Wort Gottlieb — hast Du Dir das auch recht — recht +reiflich überlegt?« + +»Tag und Nacht die ganze letzte Woche hindurch,« rief aber der Mann, der +jetzt, da das Eis einmal gebrochen war, wieder Leben und Wärme gewann. +»Wie ein Mühlstein hat’s mir auf der Seele gelegen, und ich habe lange und +tapfer dagegen angekämpft, aber es wäre das Beste für uns, was wir auf der +weiten Gotteswelt thun könnten; und wenn auch nicht einmal für uns, wenn +wir selber auch schwere und bittere Zeiten durchzumachen hätten, doch für +die Kinder, die einmal den Segen erndten, den wir mit unserem Schweiß, +unseren Thränen gesäet.« + +»Auswandern? ja,« sagte aber jetzt die Großmutter, mit dem Kopfe nickend +und schüttelnd, als ob sie den schrecklichen Gedanken wieder von sich +abwerfen wollte — »ja wohin es euch lüstet, aber erst wenn ich todt bin. +Die paar Tage müßt Ihr noch hier bleiben die ich noch zu leben habe, oder +sonst schlagt mich todt, werft mich in’s Wasser, oder schlagt mich mit dem +Beil auf den Kopf daß ich fortkomme, und hier auf dem Kirchhof unter der +alten Linde liegen kann, wo der Leberecht liegt. In der Welt könnt Ihr +mich doch nicht mehr umherschleppen, und nutz bin ich auch Nichts mehr, +wie das mit zu verzehren was andere verdienen. Wenn Ihr jetzt fort wollt +schlagt mich vorher todt.« + +»Ach Mutter wenn Sie nur nicht gar so häßlich reden wollten,« sagte die +Frau traurig, während der Mann wieder zum Tisch ging, sich dort auf den +Stuhl setzte, und den Kopf in die Hand stützte — »Sie sind noch wohl und +rüstig und werden, will’s Gott, noch manches Jahr leben und sich Ihrer +Kinder freuen. Wo die dann hin ziehen und sich ihr Brod suchen müssen, da +gehören Sie auch hin, und was die verdienen, das haben Sie auch verdient +mit Mühe und Noth und banger Sorge schon vor langen Jahren, wie wir noch +klein und unbehülflich waren, wie unsere Kinder jetzt.« + +»Wozu mich mitnehmen,« sagte aber die Frau, störrisch dabei mit dem +Oberkörper herüber und hinüber schwankend, »unterwegs müßtet Ihr mich doch +aus dem großen Schiff hinaus in’s Wasser werfen, die Fische zu füttern. +Bleibe im Lande und nähre Dich redlich, das ist _mein_ Spruch und meines +Leberecht Spruch von alter Zeit her gewesen, und wir haben uns wohl dabei +befunden, aber das junge Volk jetzt will immer alles anders haben, will +oben zur Decke ’naus und fliegen und schwimmen, anstatt hübsch auf der +Erde und im alten Gleis zu bleiben. Warum ist’s denn früher gegangen? — +nein Gott bewahre, jetzt soll Alles mit Eisenbahnen und Dampf gehen und +keine Geduld, keine Ausdauer mehr; nur fort, immer gleich fort, in die +Welt hinein und mit dem Kopf gegen die Wand — schlagt mich todt, dann seid +Ihr mich los und könnt hingehn wohin Ihr wollt.« + +Und die alte Mutter stand auf, rückte ihr Spinnrad bei Seite, und +humpelte, noch immer vor sich hin murmelnd und grollend, aus der Stube +hinaus. + +»Sie meint es nicht so bös, Gottlieb,« sagte die Frau zu dem Mann tretend +und ihre Hand auf seine Schulter legend, »es ist eine alte Frau die an +ihrer Heimath mit ganzem Herzen hängt und sich vor der Reise fürchtet.« + +»Und Du nicht, Hanne?« rief der Mann sich rasch nach ihr umdrehend, und +ihre Hand ergreifend — »Du nicht? Du würdest Dich dazu entschließen können +unsere Heimath hier, unser Häuschen, unser Feld zu verlassen, und mit mir +und den Kindern über das weite Meer zu fahren, in eine fremde Welt?« + +Die Frau schwieg und ihre Hand zitterte in der des Mannes — endlich sagte +sie leise — »So weit fort? — und muß es denn sein, ist es denn gar nicht +möglich mehr, daß wir hier gut und ehrlich durchkommen durch die Welt, +wenn wir uns auch ein Bischen knapper einrichten wie bisher? Ach Gottlieb, +es ist gar hart so von zu Hause fortzugehn, die Thür zuzuschließen und zu +denken daß man nun nie und nimmer wieder dahin zurückkommt — « + +Der Mann nickte traurig mit dem Kopf und sagte endlich: + +»Du hast recht Hanne; es ist ein schwerer, recht schwerer Schritt, und man +sollte ihn sich wohl vorher überlegen ehe man ihn thut, denn zurück kann +man nicht wieder, wenn man nicht wenigstens Alles opfern will, was Einem +bis dahin noch zu eigen gehört hat. Thun wir aber recht nur allein an uns +zu denken? — Sieh, wir schleppen uns vielleicht noch wenn auch kümmerlich, +doch ehrlich, durch, bis wir einmal sterben, und wenn es auch hart ist, +daß es Einem nachher im Alter schlechter gehn soll wie in der Jugend, +brauchten wir doch gerade keine Furcht zu haben daß wir verhungerten; aber +die Kinder — die Kinder — was wird aus denen? Unser kleines Grundstück ist +die Jahre über kleiner und kleiner geworden; mit dem Geschäft geht’s auch +kümmerlicher wie bisher — neue, geschicktere Arbeiter, junge Burschen die +noch keine Familie haben und weniger brauchen, sitzen in den Dörfern +herum, und die Fabriken und Maschinen geben uns ohnedies den Todesstoß. +Stahl und Holz braucht Nichts zu essen und arbeitet unermüdet Tag und +Nacht durch, und die Räder und Walzen und Hämmer klopfen und drehen und +schwingen ununterbrochen fort gegen den Schweiß des armen Arbeiters der +darüber zu Grunde geht. Ich murre auch nicht darüber, es muß wohl schon so +recht sein, denn Gott hat’s den Menschen selber gelehrt und die Welt muß +vorwärts gehn — wir älteren Leute können uns aber eben nicht mehr darein +schicken, können nichts Anderes mehr ergreifen, und wieder von vorne +anfangen, wenigstens hier im Lande nicht wo Einem die Hände nach allen +Seiten hin gebunden sind, und darum ist mir der Gedanke gekommen +auszuwandern. Da drüben über dem Weltmeere hat der liebe Herr Gott noch +einen großen gewaltigen Fleck Erde liegen, für uns arme Leute bestimmt, +den Maschinen und Räderwerken zu entgehn; dort haben wir Platz uns zu +bewegen, und wer nur da ordentlich arbeiten will hat nicht allein zu +leben, sondern kann auch vielleicht für sich und die Kinder was vorwärts +bringen und braucht sich nicht mehr vor der Zukunft zu fürchten und vor +Hunger und Noth. Wenn wir nicht auswandern, was bleibt unsern Kindern da +einmal anders übrig, als in Dienst zu gehn und sich bei fremden Leuten +doch herumzuschlagen ihr Lebelang.« + +»Und die Mutter?« sagte die Frau, sich ängstlich nach der Thüre umsehend — +»was würde aus der alten Frau auf dem Meere?« + +»Was aus so vielen alten Frauen da wird, liebes Herz,« sagte aber der +Mann, augenscheinlich mit froherem, freudigeren Herzen, als er bei dem +eigenen Weib nicht den Widerstand fand, den er vielleicht gefürchtet — +»sie gewöhnen sich an das neue Leben, sobald sie das alte nicht mehr um +sich sehen, und die Seeluft soll kräftigen und stärken.« + +»Aber sie wird nicht mit uns wollen.« + +»Sie wird ihre Kinder nicht verlassen,« tröstete sie der Mann, »und ohne +sie dürften wir ja auch gar nicht fort.« + +Die Frau reichte ihm schweigend die Hand, die er herzlich drückte, und +wandte sich dann, und wollte eben das Zimmer verlassen, als draußen Jemand +die Thür aufriß und in das Haus trat. Das Unwetter hatte jetzt seinen +höchsten Grad erreicht, und der Regen schlug in ordentlichen Güssen gegen +die Fenster an, während der Wind die Wipfel der Bäume herüber und hinüber +schüttelte und die Blüthen von den Zweigen riß mit rauher Hand. + + [Capitel 6] + +»Schönen Gruß mit einander,« sagte dabei eine rauhe Stimme, während die +Stubenthür halb geöffnet wurde — »darf man hinein kommen?« + +»Gott grüß Euch,« sagte die Frau — »kommt nur herein, bei dem Wetter ist’s +bös draußen sein — es tobt ja, als ob der letzte Tag hereinbrechen +sollte.« + +Der Fremde hing seinen Hut und Mantel draußen ab und trat mit nochmaligem +Gruß in die Stube. + +»Gott grüß Euch,« sagte auch Gottlieb — »da, nehmt Euch einen Stuhl und +setzt Euch zum Ofen; es ist heut unfreundlich draußen, und man kann ein +Bischen Feuer brauchen.« + +»Sauwetter verdammtes,« fluchte der Mann, als er der Einladung Folge +geleitet und sich die nassen Haare aus der Stirne strich — »ich wollte +erst sehen daß ich die Schenke erreichte; hier um die Ecke herum kam der +Wind aber so gepfiffen daß er mich bald von den Füßen hob, und es war +gerade als ob sie Einem von da oben einen Eimer voll Wasser nach dem +andern entgegen gossen. Schönes Wetter für Enten, aber für keine +Menschen.« + +Es war eine rauhe, kräftige Gestalt, der Mann, mit krausem dicken +schwarzen Bart und ein paar tiefliegenden unstäten Augen, in einen groben +braunen Tuchrock gekleidet, wie ihn die Fleischer nicht selten auf dem +Lande tragen. Die ebenfalls braunen Hosen hatte er dabei heraufgekrempelt, +bis fast unter das Knie, mit seinen derben Wasserstiefeln besser durch +alle Pfützen und Schlammwege hindurch zu können; die aus ungeborenem +Kalbfell gemachte Weste war ihm bis an den Hals hinauf zugeknöpft, und +eine lange silberne Kette, an der die in der Westentasche steckende Uhr +befindlich war, hing ihm darüber hin. + +»Ihr seid wohl weit von hier zu Haus?« frug Gottlieb nach einer längeren +Pause, in der er den Mann und dessen Aeußeres flüchtig nur betrachtet +hatte — »hab’ Euch wenigstens noch nicht hier bei uns gesehen.« + +»Zehn Stunden etwa,« sagte der Fremde, seine Pfeife jetzt aus der +Brusttasche seines Rockes nehmend und mit Stahl und Schwamm, den er bei +sich führte, entzündend — »wie weit ist’s noch bis Heilingen.« + +»Eine tüchtige Stunde — wenn der Weg jetzt nicht so schrecklich wäre, +könnte man’s recht bequem in kürzerer Zeit gehn.« + +»Hm — ist noch verdammt weit, puh wie das draußen stürmt; und die +Pflaumenblüthen pflückt’s beim Armvoll herunter — Pflaumenmuß wird theuer +werden nächsten Herbst.« + +»Das weiß Gott,« sagte Gottlieb — »es wird Alles theuer, immer mehr jedes +Jahr, langsam aber Sicher.« + +»Bah, es geschieht denen recht die hier bleiben, wenn sie nicht hier +bleiben müssen; ’s giebt Plätze die besser sind.« + +»Wollt Ihr auch auswandern?« sagte Gottlieb rasch. + +»Auswandern? — nach Amerika? — hm — ich weiß noch nicht,« brummte der +Fremde, sich den Bart streichend — »es wäre aber möglich daß sie Einen +noch dazu trieben. Sind das Euere Kinder?« + +»Ja. — « + +»Habt Ihr noch mehr?« + +»Noch einen Jungen von elf und ein halb Jahr.« + +»Und Ihr seid ein Weber?« sagte der Fremde mit einem Blick auf den +Webstuhl — »auch schwere Zeiten für derlei Arbeit, mit einer Familie +durchzukommen.« + +»Ja wohl, schwere Zeiten,« seufzte Gottlieb, als in diesem Augenblick die +Thür draußen wieder aufging und die Mutter laut ausrief: — + +»Der Hans, lieber Himmel kommt der in dem Wetter.« + +Es war Hans, der älteste Sohn des Webers, durch und durch naß, aber mit +frischem gesunden Gesicht und rothen Backen, auf denen das Regenwasser in +großen Perlen stand. + +»Guten Tag mit einander,« sagte er, als er in’s Zimmer trat und die +triefende Mütze vom Kopf riß — »guten Tag Mutter.« + +»Guten Tag Hans, aber wo um Gottes Willen kommst Du in dem Regen her; +warum hast Du das Wetter nicht bei Lehmann’s abgewartet?« + +»Es wurde mir zu spät Mutter und ich war hungrig geworden; habe auch noch +heute Abend dem Vater etwas zu helfen.« + +»Ein derber Junge,« sagte der Fremde, der sich den Knaben indeß mit +finsterem Blick betrachtet hatte — »kann wohl schon ordentlich mit +arbeiten.« + +»Ach ja, er packt tüchtig mit zu,« sagte der Vater — »lieber Gott in +jetziger Zeit muß Alles mit Brod verdienen helfen.« + +»Die Kinder fressen Einen arm,« sagte der Fremde. + +»Habt Ihr Kinder?« frug Gottlieb. + +»Ich? — hm, ja,« sagte der Fremde nach einer Pause — »könnte noch Jemandem +abgeben davon.« + +»Ich möchte keins hergeben,« sagte die Frau rasch, und küßte das Jüngste, +das sie eben wieder aufgenommen hatte um es zu füttern, »Kinder sind ein +Segen Gottes.« + +»Ja — so sprechen die Leute wenigstens,« sagte der Fremde trocken, »aber +ich glaube es läßt nach mit Regnen; ich werde die Schenke wohl jetzt +erreichen können.« + +»Wollt Ihr nicht vielleicht erst eine heiße Tasse Kaffee trinken?« frug +die Frau, das Kind auf dem linken Arm, zum Ofen gehend, die dort +warmgestellte Kanne wieder vorzuholen. + +»Danke, danke,« sagte aber der Fremde abwehrend — »kann das warme Zeug +nicht vertragen; ein Glas Branntwein ist mir lieber.« + +»Das thut mir leid,« sagte der Mann, »den kann ich Euch nicht anbieten; +ich habe keinen im Hause.« + +»Thut auch Nichts,« lachte der Fremde; »so lange halt ich’s schon noch +aus. Sind doch hülflose Dinger so junge Menschen, ehe sie die Kinderschuh +ausgetreten haben,« setzte er dann hinzu, als das Jüngste das Mäulchen +nach dem schon einmal gereichten Löffel vorstreckte — »was machte nun so +ein jung Ding, wenn man es hinsetzte und sich selber überließe.« + +»Ach Du lieber Gott,« sagte die Frau bedauernd — »so ein armer Wurm müßte +ja elendiglich umkommen.« + +»Bis den Nachbarn das Geschrei zu arg würde und sie kämen und es +fütterten,« lachte der Andere. + +»Dafür haben die Kinder Eltern,« sagte die Frau, das kleine, die Aermchen +zu ihr ausstreckende Mädchen liebkosend und küssend, »die sorgen schon +dafür daß kein Nachbar danach zu sehen braucht.« + +»Wenn die aber einmal plötzlich stürben, wie dann?« frug der Fremde, mit +einem Seitenblick auf die Frau, indem er seinen Rock wieder zuknöpfte und +sich zum Gehen rüstete. + +»Dann ist Gott im Himmel,« sagte Hanne, mit einem frommen +vertrauungsvollen Blick nach oben. + +»Ja, das ist wahr;« sagte der Fremde mit einem leichtfertigen Lächeln, +»der hat allerdings die große Kinderbewahranstalt. Aber es hat wirklich +aufgehört mit Gießen,« unterbrach er sich rasch, »den Augenblick will ich +doch lieber benutzen. So schön Dank für gegebenes Quartier Ihr Leute, und +gut Glück.« + +»Bitte, Ihr habt für Nichts zu danken, behüt’ Euch Gott,« sagte Gottlieb +freundlich. + +»Behüt’ Euch Gott;« sagte auch die Frau, und der Mann, ihnen noch einmal +zunickend, nahm draußen wieder den nassen Mantel um, drückte sich den +breiträndigen Hut in die Stirn, griff einen derben Knotenstock, der +daneben in der Ecke lehnte, auf, und verließ rasch das Haus, die Richtung +nach der Schenke einschlagend. + +»Mich freut’s daß er fort ist,« sagte die Frau, die dem Knaben gerade das +Essen auf den Tisch setzte und den Kaffee einschenkte — »bewahr uns Gott, +was hatte der Mann für ein finstres Gesicht und ein barsches Wesen; nicht +schlafen könnt’ ich die Nacht, wenn ich den unter einem Dach mit mir +wüßte. In dem Gesicht liegt auch nichts Gutes — und wie er fluchte und +über die Kinder sprach — ob er nur wirklich selber welche hat.« + +»Er sagt’s ja,« bestätigte Gottlieb — »aber mir schien’s ein Fleischer zu +sein, seinem Gewerbe nach, und die sind immer rauh und derb, meinen’s aber +nicht immer so bös.« + +»So bess’re ihn Gott,« sagte die Frau mit einem Seufzer, »und je seltener +er unseren Weg kreuzt, desto besser.« + + + + + + Capitel 7. + + + NACH AMERIKA. + + +»Nach Amerika!« — Leser, erinnerst Du Dich noch der Märchen in »Tausend +und eine Nacht«, wo das kleine Wörtchen »Sesam« dem, der es weiß, die +Thore zu ungezählten Schätzen öffnet? hast Du von den Zaubersprüchen +gehört, die vor alten Zeiten weise Männer gekannt, Geister heraufzurufen +aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu +machen? — Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe schlugen, wie sich die +Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner +zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkühne Menschenkind das sie +gesprochen, bebte zurück vor der furchtbaren Gewalt die es +heraufbeschworen. + +Die Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht +gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das +rechte Wort vergessen sie zu rufen — aber ein anderes dafür gefunden, das +kaum minder stark mit _einem_ Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, +den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und +Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reißt, in dem es bis dahin mit +seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten. + +»Nach Amerika,« leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten +schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen sollte, seinen +Muth stählen — »nach Amerika,« flüstert der Verzweifelte der hier am Rand +des Verderbens dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde — +»nach Amerika,« sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher +Kraft und doch immer und immer wieder vergebens, gegen die Macht der +Verhältnisse angekämpft, der um sein »tägliches Brod« mit blutigem Schweiß +gebeten — und es nicht erhalten, der keine Hülfe für sich und die Seinen +hier im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln _will_, nicht stehlen +_kann_ — »nach Amerika« lacht der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, +frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt +vor dem Arm des beleidigten Rechts — »nach Amerika,« jubelt der Idealist, +der wirklichen Welt zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über den +Ocean drüben ein Bild erhoffend, das dem, in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht — »nach Amerika« und mit dem einen Wort liegt hinter +ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, Wirken, Schaffen — liegen +die Bande die Blut oder Freundschaft hier geknüpft, liegen die Hoffnungen +die sie für hier gehegt, die Sorgen die sie gedrückt — _»nach Amerika!«_ + +So gährt und keimt der Saame um uns her — hier noch als leiser, kaum +verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft +und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und +Kasten. Der Bauer draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain der +ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so schwer +geärgert, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit +über dem Meer drüben, in dem fetten, herrlichen Land; — der Handwerker in +seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt +mit Neuerungen und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen Kunden +die ihm bis dahin noch geblieben in _seine_ Thür zu locken; der Künstler +in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, der über einer freieren +Entwickelung brütet, und von einem Lande schwärmt wo Nahrungssorgen ihm +nicht Geist und Hände binden; — der Kaufmann hinter seinem Pult, der +Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern zieht und, das +sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von einem neuen, andern Leben, +von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefüllten Waarenhäusern träumt; +in Tausenden von ihnen drängt’s und treibt’s und quält’s, und wenn sie +auch noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe wahren, +in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke schon — ein stiller aber ein +gefährlicher Brand. Jeder Bericht über das ferne Land wird gelesen und +überdacht, neue Arzenei, neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig +und ängstlich, und weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht nicht +errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding — nach Leuten +die vordem »hinüber« gezogen und denen es gut gegangen — nach Land- und +Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk — für Andere natürlich, nicht für sich +etwa — sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein +entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wünschen daß es dem wohl +geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich selber auf. + +So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem +nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den _salto mortale_ gethan, +und Alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und theuer war — aus +dem, aus jenem Grund — und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, +von denen wir im Leben nie geglaubt daß _sie_ je an Amerika gedacht, wie +sie mit Weib und Kind, mit Hab’ und Gut hinüberziehn. Und _dort_? — noch +liegt ein dichter Schleier über ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne +scheint ja überall — Dir aber lieber Leser, greif ich aus dem Leben noch +hie und da ein paar Freunde heraus, die wir begleiten wollen auf dem +weiten Weg. + + * * * * * + +Oben in der Brandstraße — nicht weit vom Brandthor entfernt, und dem +Gasthaus zum Löwen schräg gegenüber, wohnte Professor Lobenstein mit +seiner Familie, in der ersten Etage eines, zwar sehr alten, aber auch sehr +wohnlich eingerichteten Hauses, das ihm eigen gehörte. + +Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen Seite der »besseren +Jahre«, etwa einundfünfzig alt, aber rüstig und gesund, nur erst mit +einzelnen grauen Haaren zwischen den rabenschwarzen Locken, die ihm über +die bleiche, aber hohe und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast +jugendlichem, elastischem Gang und Wesen. Ein tüchtiger Kopf dabei, hatte +er _jura_ und _cameralia_ studirt, und einen großen Schatz von Kenntnissen +aufgehäuft; auch in manchem, mit schweren mühsamen Nachtwachen erkauften +Werk der Welt, der undankbaren Welt das Resultat seiner Studien und +Forschungen gebracht und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg, und +der kalten Aufnahme die es gefunden, wandte er sich später wieder von den +bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz ab und allein +seinem Lieblingsstudium den Cameralien zu, in denen er besonders der +Gewerbskunde seine Thätigkeit widmete, auch mit einem Buchhändler in +Heilingen eine Gewerbszeitung gründete und herausgab. + +Hierin hatte er Unglück; der Buchhändler machte bankerott und er übernahm +die Zeitung, mit ziemlich großen Verlusten schon, allein. + +So vortrefflich aber Professor Lobenstein in der Theorie seiner +Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest war er es in der +Praxis, und seine Zeitung wollte und wollte keinen Boden gewinnen. Mit +fabelhaftem Fleiß suchte er dem zu begegnen, umsonst — umsonst auch daß er +Capital nach Capital in das, zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene +Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypothek und mit einer +höchst ungünstigen politischen Periode, in der ihm eine große Anzahl +Abonnenten absprang, trafen ihn auch so bedeutende pecuniäre Verluste, daß +er sich endlich genöthigt sah sein Blatt vollständig aufzugeben. Es war +das das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht. + +Professor Lobenstein hatte eine ziemlich starke Familie, eine Frau, zwei +erwachsene Töchter von siebzehn und zwanzig Jahren, einen Sohn von +achtzehn, und zwei kleinere Kinder, einen Knaben von acht und ein Mädchen +von sieben Jahren. Wenn auch nicht in Reichthum doch in einem gewissen +Wohlstand erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort +»_Nahrungssorgen_« fremd geblieben; der Professor hatte immer, was man so +nennt, ein Haus gemacht, und sich in einem Umgangskreis bewegt, der ihnen +schon an und für sich eine gewisse Verpflichtung auferlegte Manches +mitzumachen, was seinen, sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht +Bedürfniß schien. Das Alles sollte, ja _mußte_ sich jetzt ändern, denn +wenn er auch aus den Trümmern seines Vermögens, nach allen erlittenen +Verlusten, einen kleinen Theil zu retten vermochte, genügte der nicht, das +bisherige Leben fortzuführen. Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem +eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen, und sich und den Seinen +schwere und ungewohnte Entbehrungen an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn +Alles und Jedes an frühere und bessere Zeiten erinnerte oder — es war eine +schwere Stunde in der ihm das Bild zum ersten Mal vor die Seele stieg — in +einem anderen Welttheil, ungekannt, aber auch nicht bemitleidet oder +verspottet, ein vollkommen neues _Leben_ zu beginnen. + +Aber die Frauen? — würden sie den Mühseligkeiten einer so langen Reise, +einer Ansiedlung drüben in einem noch wilden Lande gewachsen sein? — Daß +er selber die Beschwerden eines solchen Lebens leicht ertragen würde, +daran zweifelte er keinen Augenblick; er hatte so viel über Amerika +gelesen, sich mit den dortigen Verhältnissen aus allen erschienenen +Schriften so vertraut gemacht, daß er Alles kannte was ihn dort erwartete, +und einem derartigen Wirken eher mit Freude und Lust, als Bangen +entgegenging; aber durfte er seine Frau all den sie erwartenden +Unbequemlichkeiten und Strapatzen aussetzen? durfte er seine Töchter aus +ihrem geselligen glücklichen Leben reißen, und ihnen mit einem Schlage +alle jene Vergnügungen entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, +die ihnen fast Bedürfniß geworden? + +Einen langen und schweren Kampf kämpfte er mit sich selber, Monate lang, +und er wurde alt in der Zeit; die Augen lagen tief in ihren Höhlen und +seine Züge bekamen etwas Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner +schwersten Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder dabei sich +leicht mit einem vorgeschützten Unwohlsein beruhigen ließen, dem scharfen +Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die an seinem Herzen heimlich, +aber desto gewaltiger nagte, und ihren dringenden, ängstlichen Bitten +konnte er zuletzt nicht länger widerstehen. Was sie doch zuletzt hätte +erfahren _müssen_, vertraute er ihr an und wenn es die arme Frau auch wie +ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das Ganze doch viel ruhiger +auf als er erwartet, gefürchtet, und damit eine schwere Last von _seinem_ +Herzen — auf das ihre. Aber leichter trägt sich die getheilte, und bereden +konnten sie jetzt zusammen was zu thun, welchen Weg zu gehen, die +Möglichkeit besprechen die sich hier ihrem Leben bot, die Möglichkeit +errwägen, die ihnen dort eine andere freiere Zukunft öffnete. Und die +Kinder? wohin Mütter und Vater gingen folgten die ja gern; nur die Scene +wechselte für sie, anderen, vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu +geben, und Kummer und Sorge kannten die ja nicht. + +An demselben Abend waren die beiden ältesten Töchter zu einem kleinen +Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen und hatten schon den +ganzen Tag mit rastlosen Fingern an dem bunten blitzenden Ballstaat +genäht. Der Vater begleitete sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, +Kopfschmerz vorschützend, und die Sorge um das jüngste Kind, das mit einem +leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn Uhr +schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager ein, und daneben, das +sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, saß die Mutter und weinte — +weinte als ob sie mit dieser Thränenfluth all den Gram und Kummer +fortwaschen wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizonte ihres +Glücks erschien, und wild und drohend höher und höher stieg. + +Lachend und plaudernd kehrten die Töchter, mit dem Vater spät in der Nacht +zurück; den leichten, sorglosen Herzen lag die Welt noch, ein weiter +Garten offen da, und was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, +mischte noch sein fastgrünes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, mit +Blum’ und Blüthenpracht. + +Aber der Moment näherte sich auch, wo mit der vorgerückten Jahreszeit all’ +die nöthigen und mannichfaltigen Vorbereitungen zu einer so langen Reise, +zu einer gänzlichen Umgestaltung aller ihrer Verhältnisse, getroffen +werden _mußten_; auch schien die Zeit eine passende für den Sohn, der, von +der Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturienten-Examen glücklich +bestanden hatte. Der Vater wünschte allerdings daß er hier erst studiren, +und ihnen dann später, wenn er etwas Tüchtiges gelernt, vielleicht folgen +sollte, dachte ihm aber doch die freie Wahl zu lassen, und seinem Herzen +keinen Zwang aufzuerlegen. + +Am nächsten Morgen nach dem Balle nun — es war spät mit Aufstehn geworden +nach der durchschwärmten Nacht und die zweite Tochter Marie eben erst zum +Kaffee herübergekommen, während der Sohn das Haus schon, irgend eines +notwendigen Ganges wegen verlassen hatte — saß der Vater, ungewohnter +Weise nicht in seiner Studirstube an der Arbeit, sondern im Sopha, aus der +langen Pfeife den Dampf in weißen Kräußelwolken von sich blasend, und die +Mutter am Nähtisch, Kleider ausbessernd für das Jüngste, das in seinem +herübergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe +schaukelte. + +»Schon ausgeschlafen, Väterchen?« sagte Marie als sie, etwas beschämt, die +Letzte am Kaffeetische Platz genommen, »ich habe wohl recht lange heut +geschlafen, aber — was ist Dir denn? — und der Mutter auch?« — rief sie +vom Stuhl wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der +Eltern gewahrte — »bist Du böse auf mich, Mütterchen?« + +»Nein mein Kind,« sagte diese und zwang ein Lächeln auf die Lippen, »aber +der Vater hat Euch etwas recht Ernstes heute zu sagen, etwas von dem wir +noch nicht wissen, ob es Euch betrüben wird oder nicht.« + +»Der Vater?« rief Marie erschreckt, und auch Anna, die älteste Tochter, +sah ängstlich zu ihm auf; Professor Lobenstein aber, so in die Enge und +zum Aeußersten getrieben, hustete, paffte den Dampf ein paar Mal scharf +vor sich hin, die Pfeife ordentlich in Gluth zu bringen, und sagte: + +»Ja Kinder, Ihr wißt — wir — wir haben doch in den letzten Tagen viel über +Nord-Amerika gesprochen, und auch Manches gelesen — « + +»Ja, die herrlichen Romane von Cooper,« rief Marie rasch. + +»Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt,« lächelte Anna. + +»Der Doctor Haide ist ein Esel,« sagte der Professor, den Rauch wieder ein +paar Mal rasch ausstoßend — »wenn der hätte in Amerika ordentlich arbeiten +wollen, brauchte er sich jetzt nicht von einer Winkeladvocatur und vom +Schimpfen auf freisinnige Leute zu ernähren; über dessen Berichte wollen +wir uns keine Sorgen machen, aber — « er schwieg wieder einen Augenblick +und sah, wie furchtsam, nach der Frau hinüber. Die jedoch arbeitete um so +emsiger weiter, und selber mit dem Bedürfniß dem, was ihn schon so lange +gedrückt, endlich einmal Worte zu geben, fuhr er rasch fort — »ich habe +eine Frage an Euch zu thun, Kinder — Hättet Ihr — hättet Ihr wohl selber +Lust hinüber nach — nach Amerika zu gehn?« + +»Nach Amerika?« rief Anna rasch und auch wohl erschreckt. Marie aber +sprang auf, schlug in die Hände und rief jubelnd: + +»Nach Amerika? oh das wäre ja prächtig — das wäre herrlich — nicht wahr da +sind auch Bälle, Väterchen?« + +Die Mutter seufzte tief auf und der Vater zog wieder, etwas verlegen an +der Bernsteinspitze. + +»Hm — ich weiß nicht,« sagte er langsam mit dem Kopf schüttelnd — »wo wir +im Anfang hinwollten, werden wohl keine sein. Hängst Du so an Bällen, +Marie?« + +»Ich tanze gern,« lächelte das junge fröhliche Mädchen etwas verlegen und +schüchtern. + +»Nun tanzen wirst Du dort hoffentlich auch können, mein Kind,« sagte der +Vater freundlich — »wenn auch nicht gerade gleich auf solchen Bällen wie +wir sie hier gewohnt sind — das Leben ist dort einfacher.« + +»Oh, und bis zum nächsten Fasching sind wir gewiß auch wieder zurück,« +rief Marie. + +Der Vater schwieg erst eine kleine Weile, und sagte dann leise aber +entschlossen. + +»Wir wollen _ganz_ hinüberziehn, mein Kind.« + +»Auswandern?« rief die ältere Schwester fast erschreckt — das Wort, dessen +Bedeutung sie noch gar nicht vollkommen verstand, traf sie mit einem +unbekannten ahnenden Gefühl von Schmerz und Leid — »und die Mutter?« + +»Ihr werdet mich doch nicht wollen allein zurücklassen?« lächelte die +Frau, sich gewaltsam zwingend über den Schmerz dieser Stunde. + +»Mutter!« sagte Anna, warf die Arme um ihren Nacken und küßte sie. + +»Und Eduard?« frug Marie. + +»Bleibt, wenn er meinem Rathe folgt, noch hier bis er ausstudirt und etwas +ordentliches gelernt hat,« sagte der Vater — »wo nicht, hat er seinen +freien Willen und mag uns begleiten; sowie er zu Hause kommt werde ich mit +ihm sprechen.« + +»Aber — « rief Marie — »wer verwaltet unterdessen unser Haus?« + +»Wenn wir einmal fort sind von hier,« sagte der Professor ausweichend, +»kann uns auch das Haus nichts mehr nützen, und ich werde es verkaufen.« + +»_Verkaufen_? — unser Haus und den Garten?« riefen Maria und Anna fast wie +aus einem Munde erschreckt und rasch — + +»Unser freundliches Stübchen, wo wir als Kinder gespielt,« setzte Marie +traurig hinzu. + +»Und die Bäume die Vater alle gepflanzt — die Laube, die wir uns selbst +gebaut, und die so schön geworden ist in diesem Jahr,« sagte Anna leise — +»verlassen wollt’ ich es ja gern, wenn wir Alle gehn, aber daß fremde +Menschen jetzt darin hausen sollen, die vielleicht gar nicht wissen wie +wir das Alles gehegt und gepflegt und — « ihr Blick fiel in diesem +Augenblick auf der Mutter, halb von ihr abgewandte bleiche Züge, und faßte +das Blitzen einer heimlich fallenden Thräne. Anna erschrak und wurde +todtenbleich — hier lag mehr verborgen als man ihnen gesagt, und +heimlicher Gram, heimliche Sorge nagte an der Eltern Herzen, durfte sie +die vermehren? Sie schwieg einen Augenblick und sah sinnend vor sich +nieder, dann aber Mariens Hand ergreifend sagte sie mit leichterem +vielleicht gezwungen fröhlicherem Ton: + +»Aber wir wollen nicht klagen; Vater und Mutter wissen am Besten was sie +zu thun haben, und was uns gut ist, und dort baut uns Vater dann ein +anderes Haus, und wir selber pflanzen uns ein neues Gärtchen, schöner als +das unsere hier.« + +»Aber ich bliebe hier, wenn ich an Vaters Stelle wäre,« schmollte Marie, +»und was wird Herr Kellmann dazu sagen, wenn er es erfährt? der ist so +immer gegen Amerika, und hat sich schon oft mit Vater darüber gezankt.« + +»Ach der macht mir die geringste Sorge,« sagte Anna in ihrem Schmerz +lächelnd — »wenn man _für_ Amerika spricht, schimpft er aus Leibeskräften, +und citirt Gott weiß was für Stellen aus Briefen und Zeitungen, alles +Günstige zu widerlegen, oder wenigstens stark zu bezweifeln, und kommt +Jemand der das Land ordentlich angreift, dann hab’ ich auch schon gesehn, +daß er den Handschuh wacker dafür aufnimmt, und man wirklich glauben +sollte er bekäme so und so viel für den Kopf, Leute zu bereden +hinüberzuziehn. Das ist ein wunderlicher Kauz, der die meiste Zeit selber +nicht weiß was er will, und ich glaube, wenn es Jemand recht ordentlich +bei ihm darauf anlegte, könnte man ihn selber, nur durch Widersprechen, +dahin bringen, daß er in eigener Person hinüberginge.« + +»Herr Kellmann?« lachte Marie — »nun _den_ möcht’ ich in Amerika sehn.« + +»Und wer weiß, ob Dir das nicht noch passirt,« bestätigte der Vater, mit +dem Kopfe nickend. + +»Und darf ich mein neues seidenes Kleid mitnehmen, Mama?« frug das junge +lebenslustige Mädchen jetzt die Mutter — »hier lassen möcht’ ich es doch +nicht gern, und drüben im Wald — « + +»Liebes Kind, wir werden auch nicht mitten in den Wald gehn,« sagte die +Mutter, die indessen heimlich die verrätherische Thräne aus dem Auge +geschüttelt, freundlich dabei der zu ihr getretenen Tochter die Stirn +streichend und küssend, »denkt es Euch nicht so schlimm. Der Vater wird +uns schon einen Platz aussuchen, wo wir wenigstens unter Menschen und der +Cultur nicht ganz verschlossen sind — er hielte es ja dort sonst selber +nicht aus.« + +»Aber warum gehst Du nur, Väterchen?« bat Marie — »es ist doch hier so +wunderhübsch in Heilingen, und was wir da drüben haben, wissen wir noch +nicht.« + +Der Professor, zu dem Anna ängstlich aufsah, hatte seinen Sitz verlassen +und ging, langsam dabei mit dem Kopf nickend, im Zimmer auf und ab; er +fühlte daß er, auch den Töchtern gegenüber, diesen eine Erklärung seines +Handelns schuldig sei, denn er riß sie aus einem liebgewonnenen Leben +heraus, und führte sie vielen, vielen Entbehrungen — er durfte sich das +nicht leugnen — entgegen. Von ihrer späteren Haltung dabei hing auch viel +ihrer Aller Glück, ihrer Aller Zufriedenheit ab, und sie waren alt genug +ihrem Urtheil zu vertrauen. Aber es kostete ihm der Entschluß einen +schweren Kampf, und wo ihm die Frau war auf halbem Weg entgegen gekommen, +fürchtete er hier gerade, nicht Widerstand zu finden, denn dafür hatten +sie ihn zu lieb, aber Schmerz und Sorge zu wecken in den jungen Herzen, +denen er die ungebetenen Gäste gern noch fern gehalten hätte so lang als +möglich. Sie standen jedoch an einem wichtigen, bedeutungsvollen Abschnitt +ihres Lebens, und mußten _sehen_, wohin der Weg sie führte. + +In kurzen, einfachen Worten, frei vom Herzen weg, und zu den Herzen +sprechend, weil sie aus dem Herzen kamen, schilderte er ihnen jetzt die +veränderte Lage in die er, durch das gezwungene Aufgeben seiner +Zeitschrift sowohl, wie durch manche schwere, ihn betroffene Verluste +gekommen. Er verheimlichte ihnen nicht länger daß er einen Theil — einen +großen Theil seines Vermögens eingebüßt, und das ihm selber liebe Haus +nicht verkaufen würde, wenn ihn eben nicht — die Verhältnisse dazu +_zwängen_. Aber noch blieb ihnen genug nach einem fernen Welttheil +überzusiedeln und dort, mit bescheideneren Bedürfnissen, von Neuem zu +beginnen; Amerika mit seiner ungeheuren Lebenskraft bot ihnen nach allen +Seiten hin die Möglichkeit der Existenz, und das gut und zweckmäßig +angelegte kleine Capital konnte dort gute Zinsen tragen für spätere Zeit. +Hatten sie sich dann etwas verdient, waren die Hoffnungen, mit denen sie +hinüber gingen, Wahrheit geworden, und sehnte sich ihr Herz noch nach dem +Vaterland, wer hinderte sie dann zurückzukehren zu den theueren Plätzen, +die ihnen ewig lieb bleiben würden in der Erinnerung? + +Dem Professor war es leichter um die Brust geworden, wie er das Eis nur +erst gebrochen. Selbst überzeugt von dem was er sprach, wurde er warm, +indem er den Gedanken weiter dachte, und seine Phantasie verlor sich +zuletzt sogar, Luftschlösser aufbauend, zauberschnell in weiter Ferne. Der +Professor ging mit dem Menschen durch, und die leicht gerötheten Wangen +belebte ein eigenes, inneres Feuer. Und die Mutter saß dabei, still und +schweigend, und ängstlich bemüht, in der wiederaufgenommenen Arbeit die +eigene Bewegung zu verbergen. Marie und Anna aber, die des Vaters Hände +erfaßt und in den ihren hielten, schmiegten ihre Häupter an seine +Schultern und flüsterten; die großen, zu ihm aufgeschlagenen Augen voll +von Thränen. + +»Genug, genug, Väterchen; mal’ uns das Alles nicht so prächtig aus — wohin +Du und Mutter gehn, gehn auch wir, und wär’ es mitten hinein in den +wildesten Wald. Kein unzufriedenes Wort sollst Du dabei von uns hören, +keine Klage, kein böses Gesicht weiter — keine Thräne — nur die hier sind +uns so ganz von selber über die Backen gelaufen, weil wir die Mutter +weinen sahen. Mit Lieb und Lust wollen wir das Leben dort beginnen — « + +»Und Kühe und Hühner schaffen wir uns an!« rief Marie, »und die Kühe +melken wir selber und machen Butter und Käse.« + +»Wie gut,« sagte Anna, daß wir im vorigen Jahr auf dem Land bei der Tante +waren, und dort das Alles zum Spaß gelernt haben; jetzt wird es uns +nützen.« + +»Aber nicht wahr, Mütterchen, nun weinst Du auch nicht mehr,« rief Marie, +zur Mutter hinübergleitend, ihren Arm um deren Nacken legend und sie +küssend — »drüben wird schon Alles hübsch werden. Und ein paar von den +großen Holzschuhen nehm’ ich mir mit, wie sie die Bauern tragen, für +draußen bei nassem Wetter; hei wie wir da herumpatschen wollen und +schaffen und arbeiten; und plätten thun wir auch selbst, dafür nimmst Du +kein Mädchen mehr.« + +Den frohen, leichten Herzen schwammen schon die gewaltigen Umrisse ihrer +ganzen fernen, so ungewissen Zukunft, in den einzelnen bunten +Kleinigkeiten zusammen, die ihrem Geist, von dem Reiz der Neuheit mit +frischem Duft überhaucht, entstiegen. Nur die Lichtpunkte erspähte der, in +die Ferne arglos hinausschauende Blick, und die goß er sich lustig +zusammen zu einem Ganzen: was dahinter lag, der düstere Hintergrund, den +das erfahrenere Mutterauge wohl erkannt, diente ihnen nur dazu die +einzelnen Lichter stärker hervorzuheben, deutlicher erkennen zu können, +und der Himmel spannte sich blau und rein über ihren glücklichen Häuptern. + + + + + + Capitel 8. + + + DER TANZ IM ROTHEN DRACHEN. + + +Drei volle Monat waren nach den, in den vorigen Capiteln betriebenen +Scenen verflossen, und der Diebstahl im Dollingerschen Hause zu Heilingen, +der eine ganze Woche lang fast das alleinige Stadtgespräch gebildet, wurde +kaum noch erwähnt. Der vermuthete Dieb (gegen den aber allerdings +nachträglich keine weiteren Beweise aufgefunden worden), war zwei Tage +nach dem Sturz von der Brücke an seiner Kopfwunde gestorben; er hatte die +beiden Tage vollkommen bewußtlos gelegen, und kein Wort mehr gesprochen. +Das übrige Geld aber — außer den zweihundert und einigen Thalern — wie die +vermißten Pretiosen, konnten, trotz den genausten Nachforschungen nirgends +aufgefunden werden, und hatte er es wirklich gestohlen, so ließ sich jetzt +gar nichts Anderes vermuthen, als daß er es irgendwo an einer heimlichen +Stelle vergraben, und außer Sicht gebracht habe. + +Actuar Ledermann hatte dabei ganze Actenstöße über den Fall geschrieben — +man wußte wirklich nicht wo er nur den Stoff dazu herbekommen; aber mit +dem üblichen Canzleistyl wurde die Sache, der jede gründliche Vorlage +mangelte, nach Möglichkeit gereckt und ausgedehnt und dann, als sich +Nichts weiter darüber ergab, mit starkem Bindfaden umschnürt und +etiquettirt, um später vielleicht, mit Jahreszahl und Nummer versehn, in +irgend ein staubiges Gefach geschoben zu werden, dort ein Jahrhundert +fortzuträumen, — wie der Verstorbene unter dem Rasen, dicht an der +Kirchhofsmauer, an die er, ohne Sang und Klang damals, noch vor Tag, still +und heimlich hinausgeschafft worden. + +Die Geistlichkeit von Heilingen hatte dem Unglücklichen allerdings sogar +dies »ehrliche Begräbniß« versagen und den Körper der Anatomie +überantworten wollen, da er unter dem Verdacht eines schweren Diebstahls +und gewissermaßen als Selbstmörder seinen Tod gefunden — was kümmerte die +stolzen Geistlichen die duldende Liebe die Christus gelehrt, wo _ihre_ +Autorität Gefahr leiden konnte gekränkt zu werden, und sie hatten einmal +verordnet, daß solchen Sündern ein »christliches Begräbniß« versagt werden +solle; aber die Polizei war milder und verständiger als die »Diener des +Höchsten« und erklärte den Tod des Armen für keinen Selbstmord, indem er +nur »auf der Flucht« umgekommen, während wahrscheinlich der ihm +beigegebene Wächter die allerdings unschuldige, und nicht zur +Verantwortung zu ziehende direkte Ursache, seines Todes gewesen sei. + +Aber fort — fort mit den traurigen Bildern; das menschliche Leben hat der +dunklen Seiten so viele, und sie drängen sich uns doch auf, wohin wir +gehen — nur der Augenblick gehöret uns, und nicht muthwillig wollen wir +den Schmerz suchen. So mag mir der Leser denn noch einmal zum rothen +Drachen hinaus folgen — es dauert vielleicht lange, ehe wir den Platz +wieder zu sehn bekommen — und dort tönt heut fröhliche Musik aus dem +hellerleuchteten Saal des großen Hauses, der mit Guirlanden und Blumen und +jungen Birkenreisern festlich geschmückt ist, indeß ihn eine muntere, laut +und lustig durcheinander wogende Schaar belebt. + +Kaum eine Viertelstunde — oder eine »halbe Pfeife Tabak«, wie die Bauern +sagten — vom rothen Drachen entfernt, lag Schloß Hohleck an der anderen +Seite des nämlichen Hügelrückens, das gegenüber liegende Thal +überschauend, und der Besitzer desselben, Graf von Hohleck, feierte heute +die Vermählung seines ältesten Sohnes, der dabei das Gut selber übernahm, +und nun seinen Leuten dem Tag zu Ehren ein Fest »in der Schenke« gab. Bier +und Branntwein waren dabei zu freier Verfügung gestellt, und ein starkes +Musikchor aus der Stadt engagirt worden, den Leuten die ganze Nacht +hindurch zum Tanze aufzuspielen — und sie machten Gebrauch davon. + +Aber auch aus Heilingen selber hatten sich eine Menge Gäste eingefunden, +dem muntern Leben und Treiben der fröhlichen Menschen zuzuschauen, und +während der untere Gartensaal einzig und allein den Dienstleuten des +Rittergutes eingeräumt war, zu dem den Stadtleuten jedoch gastlich der +Zutritt gestattet wurde, hatten sich die letzteren noch besonders in einem +paar der kleineren Stuben festgesetzt, wo sie ihren Wein oder ihr Bier +tranken oder auch eine Parthie spielten, die Zeit auszufüllen. + +Zu den Gästen aus der Stadt gehörten auch mehre unserer alten Bekannten, +unter ihnen Kellmann und Schollfeld, zwei Stammgäste des rothen Drachen. +Ledermann war ebenfalls, wenn auch später, herausgekommen und ihnen hatte +sich noch der Auswanderungsagent Weigel — sehr zum Aerger Schollfeld’s, +der ihn nicht ausstehen konnte — zugesellt. Weigel blieb aber nicht ruhig +an ihrem Tisch sitzen, sondern ging ab und zu, und hatte sein Glas nur mit +bei ihnen stehn, gewissermaßen seinen Platz zu belegen. + +Ledermann war übrigens heute sehr still und niedergeschlagen, er hatte +sein einziges Kind vor etwa vierzehn Tagen verloren, und schien sich das +sehr zu Herzen zu nehmen, erklärte auch nur herausgekommen zu sein, sich +ein wenig zu zerstreuen und die Gedanken los zu werden, die ihn in der +Stadt drin peinigten. + +Uebrigens war ihm in den letzten Tagen höchst unerwarteter Weise eine +kleine Erbschaft von 600 Thalern zugefallen und Schollfeld, der heute +Abend außergewöhnlich gut aufgeräumt schien, versuchte jetzt sein Bestes +des Freundes Grillen oder trübe Gedanken ebenfalls zu verscheuchen. + +»Hören Sie einmal Ledermann,« begann er, mit dem Deckel seines Kruges +klappend und mehr Bier verlangend — »wie ist denn die Geschichte nun mit +den 600 Thalern? — beiläufig gesagt schneiden Sie ein Gesicht dabei, als +ob Sie Schwefelsäure verschluckt hätten.« + +»Er hört nicht einmal,« sagte Kellmann, als der Actuar kein Wort darauf +erwiederte, und die Anrede in der That gar nicht verstanden zu haben +schien — »Ledermann, Mensch, wo sind Sie jetzt mit Ihren Gedanken, im +rothen Drachen bei Heilingen, im Monde, oder in Amerika?« + +»Wo?« sagte der Actuar, rasch und fast verstört aufschauend, als aber die +Anderen laut lachten, schüttelte er mit dem Kopf und seinen Krug nehmend +und trinkend sagte er ruhig und ernst: + +»Ach laßt mich zufrieden Kinder — ich habe den Kopf voll, und bin +wahrhaftig heute Abend nicht zum Spaßen aufgelegt.« + +»Nicht zum Spaßen aufgelegt?« rief aber Schollfeld, Kellmann unter dem +Tisch anstoßend — »ist auch gar nicht nöthig mein lieber Actuar — wir +spaßen auch hier gar nicht; Jemand aber, der eine Erbschaft macht und +irgendwo Stammgast ist, überkommt dabei die moralische Verpflichtung +irgend etwas zum Besten zu geben, und es bleibt ein Skandal, daß man einen +solchen Glückspilz auch nur noch daran erinnern muß. Hat der Henker da +wieder den Schleicher, den Weigel,« unterbrach er sich aber plötzlich mit +etwas leiserer Stimme, als er sah wie dieser das Zimmer wieder betrat, und +sich ihrem Tische zuwandte — »ich hatte schon gehofft wir würden ihn heute +Abend los sein; jetzt ist _mein_ Vergnügen beim Teufel.« + +»Nun meine Herren, noch so fröhlich beisammen?« sagte Weigel jetzt, indem +er zum Tisch trat — »ah, da sind ja der Herr Actuar auch noch dazu +gekommen — bitte behalten Sie ja Platz, ich rücke ein klein wenig hier +herüber — so — das geht vortrefflich. Nun, der Herr Actuar haben in diesen +Tagen ein großes Glück gehabt — da darf man ja wohl gratuliren.« + +»Danke herzlich,« sagte Ledermann ruhig; »es wird übrigens so viel von den +paar hundert Thalern gesprochen, als ob’s eben so viel Tausende wären.« + +»Ih nun, das lassen Sie gut sein,« sagte aber Weigel, mit dem Kopf +schüttelnd — »sechshundert Thaler richtig angewandt könnten in der That in +kurzer Zeit zu so viel Tausenden werden.« + +»Wenn man sich Sächsische Löbau-Zittauer Eisenbahnactien dafür kaufte, +nicht wahr?« sagte Schollfeld, das Gesicht halb in den ebengebrachten Krug +versteckt, und einen grimmigen Blick über den Rand desselben hin, nach dem +Auswanderungsagenten schießend. + +»Nun das gerade nicht,« schmunzelte Herr Weigel, sein Glas ein wenig +weiter auf den Tisch schiebend, und sich die Hände reibend, »da wüßte ich +doch noch eine bessere Speculation.« + +»Und die wäre,« sagte der Actuar, seitwärts zu ihm aufschauend. + +»Wenn Sie sich eine kleine Farm in Amerika kauften.« + +»Puh!« rief Schollfeld, verächtlich den Kopf abwendend, »jetzt sein Sie so +gut, kommen Sie uns hier nicht mit Ihrer alten Leier von dem verdammten +Amerika, und verderben Sie uns das Bier nicht — hier ist auch Nichts zu +verdienen, denn von uns geht doch keiner hinüber.« + +»Lieber Herr Schollfeld,« sagte aber Weigel mit großer Ruhe, »von _uns_ +weiß noch Niemand was er nächstes Jahr thun wird, und verschwören läßt +sich so eine Sache nun einmal gar nicht — Amerika ist immer noch ein +Zufluchtsort.« + +»Ja für die Spitzbuben und Hallunken, _da_ haben Sie recht!« rief der +Apotheker. + +»Ne lieber Herr Weigel!« rief aber auch Kellmann jetzt — »mit sechshundert +Thalern kann ich da drüben auch Nichts anfangen, und bin dann noch +obendrein bei jedem Schritt und Tritt der Gefahr ausgesetzt, daß ich +betrogen und hintergangen werde. Man kann dort ja nicht einmal seinem +eigenen Bruder trauen.« + +»Aber mein bester Herr Kellmann, das sind die unglückseligen Ideen, die +von — na, ich will keinen Namen nennen — ausgesprengt werden, um die Leute +blind zu machen, rein blind. Sie sollen eben nicht sehen was für +Vortheile, für fabelhafte Vortheile dort gerade für sie zu Tage liegen, +und die Gerüchte von dort verübten Betrügereien hängen eben als +Vogelscheuche über den Erbsen. Wir haben _hier_ eben so viele schlechte +Charaktere wie in Amerika.« + +»Ob eben so _viel_, will ich dahingestellt sein lassen,« sagte Schollfeld +mit einem nichts weniger als freundlichen Seitenblick auf den Agenten — +»aber eben so schlechte gewiß.« + +»Nun also,« erwiederte Weigel freundlich, ohne auf den Hieb einzugehn, ja +im Gegentheil die Waffe lächelnd umdrehend — »sehn Sie, selber Herr +Schollfeld stimmt mir darin bei.« + +»Ja aber nicht wie _Sie_ es meinen!« rief da Schollfeld entrüstet, +keineswegs gesonnen sich die Worte so im Munde verdrehen zu lassen. + +»Von den Betrügereien will ich noch gar Nichts sagen,« unterbrach ihn aber +Kellmann, ziemlich in Eifer — »was ich dagegen sehr guten Grund habe zu +bezweifeln, sind die billigen Landkäufe, sind dabei die Erleichterungen, +welche diese republikanische Regierung allen möglichen Gewerken und +Unternehmungen bietet, die geringen Taxen, der freie Verkehr und Umsatz im +Innern. Das wird Alles ausgemalt mit Gold und Silber und Himmelblau, und +kommt man am Ende hinüber, so hat man die ganze nämliche Geschichte wie +bei uns. Daß all das nichtsnutzige Gesindel dort ohne _Paß_ herumlaufen +darf, mag wahr sein, das halte _ich_ aber eben für keinen Fortschritt.« + +»Verehrtester Herr Kellmann!« rief aber Weigel in Eifer — »gegen +_Thatsachen_ können wir doch nicht anstreiten; wir wollen doch nicht blind +und taub mit dem Kopf gegen die nächste, und womöglich härteste Wand +rennen? wir sind doch vernünftige Menschen, aber haben Sie nicht alle die +neueren Schriften jetzt gelesen, die — « + +»Ach gehn Sie mit Ihren Schmierereien,« rief aber Schollfeld, dem das +Gespräch jetzt zur Last wurde, »für einen Thaler den Bogen malen ihnen die +lumpigen Literaten selbst die Hölle himmelblau an, und kleben von oben bis +unten Sterne drüber. Laßt mir jetzt Euer Geschwätz von Amerika hier, oder +ich stehe, Gott straf mich, auf, und setze mich wo anders hin.« + +»Nun, jeder darf sich hinsetzen wo es ihn gerade freut,« sagte Weigel, +wirklich etwas beleidigt, obgleich er sonst einen ziemlichen Theil +vertragen konnte. + +»Ja leider,« sagte aber Schollfeld, mit wieder einem Seitenblick auf den +Agenten, der diesen doch jetzt vermochte aufzustehn und sein Bier +auszutrinken. + +»Herr Schollfeld,« sagte er dabei, »Sie sind in der Stadt als ein +Antiamerikaner bekannt, und ich glaube Sie würden den Leuten eher zu einer +Auswanderung nach Sibirien wie nach Nordamerika rathen.« + +»Würde ich auch,« sagte Herr Schollfeld trotzig, sich den Hut noch fester +in die Stirn drückend. + +»Nun ja, der Geschmack ist verschieden — Jeder weiß am Besten wohin er +gehört, und dahin treibt ihn der Instinkt,« sagte Herr Weigel +achselzuckend, indem er den Tisch verließ, und Kellmann erwischte eben +noch zur rechten Zeit Schollfeld hinten am Frackzipfel, der aufspringen +und dem sich rasch entfernenden Weigel nach wollte. + +»Aber so fangen Sie hier doch um Gottes Willen keinen Skandal mit dem +Menschen an!« rief Kellmann leise und bittend. + +»Instinkt treibt?« rief aber Schollfeld jetzt, da er sich hinten, +vielleicht gern, gehalten fühlte — laut hinter dem Davoneilenden her — +»Sie wird bald ’was anders treiben Sie — Sie _Seelenverkäufer_ Sie!« + +»Pst!« rief aber auch der Actuar jetzt, ihn rasch zu sich niederziehend — +»Sind Sie denn ganz vom Bösen besessen Apotheker? auf das Wort könnte er +Ihnen, wenn er’s noch gehört hätte, die schönste Injurienklage an den Hals +hängen.« + +»S’ist aber wahr — der Lump!« rief Schollfeld ärgerlich, den leeren Krug +zum hastigen Trunk aufhebend, und denselben dann laut auf den Tisch +aufstoßend — »es ist ein Seelenverkäufer, der Kerl, und um einen Thaler +beschwatzt er das Kind, daß es die Eltern, den Mann, daß er die Frau +verläßt — hier Kellner, noch ein Glas Bier. — Sprecht mir von Raubmördern +und Straßenräubern, gegen die das Gericht einschreitet und ihnen das +Handwerk legt — allen Respect vor einem Mann, der es den Leuten geradezu +in’s Gesicht wirft, »ich _bin_ ein schlechter Kerl — ich stehle wo ich’s +bekommen kann, und wo ich’s nicht gutwillig kriege mord’ ich auch; aber +solche heimliche Hallunken sind die Upasbäume der menschlichen +Gesellschaft — sie vergiften was sie erreichen können, und von außen geben +sie sich das Ansehen eines ehrlichen Baumes und haben grüne Blätter und +glatte Rinde. Gegen _die_ Schufte sollte eingeschritten werden, nicht mit +Geldstrafen oder Gefängniß, nein mit Knute und Strang — +Himmeldonnerwetter, wenn ich da ’was in der Regierung zu befehlen hätte.« + +»Sie würden schöne Geschichten anrichten, kann ich mir etwa denken,« sagte +der Actuar trocken, »s’ist so schon manchmal wie’s ist. Lassen Sie doch +jeden seinen Weg gehn in der Welt; der liebe Gott weiß wohl wozu’s gut +ist. Blutigel sind auch unangenehme Geschöpfe in der Naturgeschichte, und +doch verwendet sie die Natur wieder zu höchst nützlichen und nothwendigen +Zwecken; denken Sie sich so ein Individuum wäre ein menschlicher +Blutigel.« + +»Dann trink’ ich aber nicht mein Bier an einem Tisch mit ihm,« rief der +Apotheker. + +»Bah, das ist wieder zu weit gegangen,« sagte Kellmann, »viel zu weit +gegangen. ’Was Schlechtes können Sie dem Mann überhaupt nicht nachsagen, +denn daß er für Amerika wirbt, ist einesteils sein Geschäft, anderntheils +seine Ansicht, und er könnte Ihnen von _seinem_ Standpunkt aus dann +ebensogut wieder vorwerfen, daß Sie eine Menge Menschen absichtlich +unglücklich machten, die sie von einer Auswanderung nach jenem Lande +abhielten.« + +»Unsinn — baarer Unsinn!« rief aber Schollfeld, unwillig den Kopf herüber +und hinüber werfend — »Jemand unglücklich machen, daß man ihm von einer +Auswanderung nach Amerika abräth, wäre gerade so, als ob ich als eines +Menschen Mörder betrachtet würde, den ich abhalte aus dem dritten Stock +auf die Straße zu springen. Aber hol den Lump der Henker,« brach er kurz +und ärgerlich ab, »ich war so guter Laune und jetzt hat er mir den ganzen +Abend verdorben. — Nach Sibirien auswandern — « brummte er dabei, +während er eine neue Cigarre aus der Tasche nahm und sie an dem, auf dem +Tisch stehenden Licht entzündete — »Holzkopf der — nach Sibirien +auswandern — ich will nur einmal in den Saal gehn und sehn wie sie’s da +treiben, daß man auf andere Gedanken kömmt — ich bin bald wieder da.« Und +von seinem Stuhl aufstehend verließ er langsam, und immer noch vor sich +hin murmelnd, das Zimmer. + +Der Actuar stand ebenfalls auf und nahm seinen Hut. + +»Na nu?« sagte aber Kellmann erstaunt — »was ist das für eine Wirthschaft +heut Abend? Schollfeld läuft fort, Lobsich hat sich gar nicht sehen +lassen, und Sie wollen jetzt auch Fersengeld geben? wo bleibt denn da +heute Abend unser Solo? — wir können doch nicht wie die Pferde zu Bette +gehn, ohne unsere Parthie gespielt zu haben?« + +»Mir ist heute nicht wie spielen,« sagte der Actuar, langsam mit dem Kopfe +schüttelnd, »ich habe auch Kopfschmerzen, und an der frischen Luft wird +mir wohl besser werden.« + +»Fort dürfen Sie aber noch nicht,« sagte Kellmann, indem er sein Bier +austrank, und ebenfalls aufstand, »da wollen wir lieber einmal unten im +Garten auf und ab gehn.« + +Der Actuar zögerte einen Augenblick, dann aber legte er schweigend seinen +Arm in den Kellmann’s und beide Freunde gingen mitsammen die Treppe +hinunter. + +Es war indessen vollkommen dunkel geworden, und die Leute hatten sich, des +feuchten Abends, wie des im Saal wogenden Tanzes wegen, meist alle aus dem +Garten hinaus, und in die mehr geschützten Räume der Gebäude gezogen. Nur +hie und da saß noch irgend ein kosendes Pärchen in einer Laube, oder +schwärmte auch wohl auf dem Vorbau des Gartens nach dem, gerade über dem +nebelgefüllten Thal jetzt aufzeigenden Vollmond hinüber, dessen große +rothe Scheibe sich glühend aus den Bergen hob, und das weite, +thaublitzende Thal überschaute. + +Kellmann ging ruhig neben dem still vor sich nieder schauenden Freund her, +bis sie den breiten Fußweg der schönen ebenen Chaussee erreichten, und +eine kleine Strecke derselben hinauf gewandert waren; dann aber blieb er, +diesen zurück haltend, plötzlich stehen, und sagte mit freundlichem, +herzlichen Ton: + +»Aber lieber Ledermann, Sie dürfen sich Ihrem Schmerz um das Kind nicht so +ganz und rücksichtslos hingeben; lieber Gott ich begreife daß es ein +schwerer, recht schwerer Verlust ist, aber Gott hat’s gegeben und Gott +hat’s genommen, und wer weiß ob dem kleinen lieben Wesen dadurch nicht +vielleicht ein recht trübes und schmerzliches Dasein erspart wurde.« + +»Es ist nicht das Kind, Kellmann,« sagte aber der Actuar, leise mit dem +Kopf schüttelnd, »nicht der Tod meiner kleinen Adele nagt mir jetzt am +Herzen, obgleich der da oben weiß wie weh er mir gethan — nein, ich halte +ihn sogar unter den jetzigen Verhältnissen, in denen ich lebe, für ein +_Glück_, und es ist _furchtbar_, daß ich gezwungen bin so etwas von dem +Tod meines eigenen, einzigen Kindes zu sagen.« + +»Aber was, um Gottes Willen, haben Sie _denn_?« rief Kellmann, verwundert +vor ihm stehen bleibend und ihn anschauend. »Irgend etwas _ist_ +vorgefallen, aber was? — etwa wieder zu Hause der alte wunde Fleck?« + +Ledermann nickte finster und schweigend mit dem Kopf. + +»Aber was _will_ sie denn eigentlich,« rief Kellmann finster die Brauen +zusammen und seinen Arm aus dem des Freundes ziehend, um besser +gesticuliren zu können — »Wetter noch einmal, Ledermann, Sie hätten da +schon lange ernst und entschieden auftreten sollen, die Sache ist jetzt +schon viel zu weit eingerissen, und die Frau bringt sie, wenn das so fort +geht, wahrhaftig noch unter die Erde.« + +»Ernst und entschieden auftreten? — lieber Gott,« stöhnte der Actuar +kopfschüttelnd — »soll ich mir denn die letzte leiseste Hoffnung auf +einen, nur möglichen Hausfrieden selber muthwillig vernichten? — _Sie_ +haben gut reden; _Ihr_ Geschäft ist in Ihrer eignen Wohnung, und Ihre +Erholung gestattet Ihnen, _die_ außerhalb desselben zu suchen, ich aber +sitze und schwitze den ganzen lieben ausgeschlagenen Tag auf dem +verwünschten Bureau, und komme ich dann Abends zu Hause, und sehne mich +nach einer halbstündigen gemüthlichen Ruhe, so beginnt die Frau, und wenn +sie eine Ursache aus der Luft greifen sollte, mir das Leben zu einer Hölle +zu machen. Lieber Gott, es fiele mir ja gar nicht ein Abends in ein +Wirthshaus zu gehn, wenn ich Frieden daheim hätte; es giebt vielleicht +wenig Menschen in der Welt, die sich so nach einem stillen, häuslichen +Leben sehnen, wie gerade ich, und keinen, Kellmann, keinen weiter, dem es +_so_ verbittert, so gänzlich aus dem Fenster geworfen wird, jeden Abend +wieder von Frischem, wie gerade mir.« + +»Aber was ist denn nur vorgefallen?« + +»Das Ganze ist mit wenig Worten erzählt,« sagte der Actuar nach kurzer +Ueberlegung entschlossen, »und Sie sollen mir rathen, wie ich im Stande +bin mich einem Zustand zu entziehn, der mir unerträglich wird. Sie haben +gehört daß ich von einem entfernten Verwandten sechshundert Thaler geerbt, +die ich in den nächsten Wochen ausgezahlt bekomme. Das Vernünftigste nun +wäre das Geld in irgend einem _sichern_ Staatspapier, oder in guten Actien +anzulegen, und mit den wenigen, aber gewissen Zinsen meinen, überdies +ärmlichen Gehalt zu erhöhen — ich habe fünfhundert Thaler jährlich und +weiß bei Gott oft nicht wie ich auskommen soll.« + +»Nun gut, das ist ja Alles so schön und glatt wie es nur sein kann.« + +»Jawohl, aber meine Frau besteht darauf das Capital ihrem Bruder geben zu +wollen, der ein Geschäft hat und mir _fünf_ Procent verspricht.« + +»Ih nun, wenn es da sicher angelegt ist — fünf Procent wäre aller Ehren +werth.« + +»Aber es _ist_ nicht sicher angelegt; der Bursche ist ein liederlicher +leichtsinniger Mensch, der schon einmal Bankerott gemacht hat und — wie +ich ziemlich guten Grund habe zu vermuthen — an der Grenze eines zweiten +steht.« + +»Ahem,« sagte Kellmann nachdenkend. + +»Geb ich _ihm_ das Geld,« fuhr der Actuar fort, »so ist es über Jahr und +Tag, so sicher wie dort drüben der Mond aufgeht, verloren, und geb’ ich es +ihm _nicht_, so weiß ich daß mir die Frau zu Hause den eignen Heerd zur +Hölle macht.« + +»Aber Donnerwetter, Ledermann, nehmen Sie mir das nicht übel,« sagte +Kellmann stehen bleibend, »da würde ich denn doch einmal einen Trumpf +darauf setzen und mein Recht als Mann und Herr im Hause wahren; nur durch +Ihr ewiges Nachgeben haben Sie die Geschichte schon so, in Grund hinein +verdorben.« + +»Aber was _soll_ ich thun?« rief der Actuar verzweifelnd — »mit Worten +_kann_ ich nicht gegen sie anstreiten, nicht sechs Männer könnten das; in +Ruhe und Güte ist Nichts anzufangen mit ihr, und schlagen darf und will +ich sie ebenfalls nicht.« + +»So lassen Sie sich scheiden, zum Wetter noch einmal;« rief Kellmann, +»lieber doch eine trockne Brodrinde kauen, als mit solchem Drachen das +ganze Leben, eine ganze Existenz, mühselig und qualvoll hinzuschleppen.« + +»Heute Abend zum ersten Mal,« sagte der Actuar seufzend, »habe ich ihr +selber damit gedroht; ich habe ihr vorgehalten, daß sie sich mit mir nicht +glücklich fühlen _könne_, weil sie fortwährend, und ohne auch nur einen +einzigen Tag Frieden zu gestatten, zanke, und das Beste sein würde, wir +ließen uns, einem Leben zu entgehen das auf die Länge der Zeit doch nicht +durchgeführt werden könne, gerichtlich scheiden.« + +»Nun? — und was hat sie darauf erwiedert?« + +»Ich bin fortgelaufen,« sagte der Actuar, seufzend den Kopf von dem Freund +abwendend, »denn sie wurde — sie wurde so heftig, und betrug sich — betrug +sich so unvernünftig, daß ich mich vor den Nachbarn schämte, und lieber +Hut und Stock nahm, den Frieden wieder, wie schon so oft, auswärts zu +suchen.« + +»Also sie weigert eine Scheidung?« + +»Sie schwur sie wolle mir die Augen auskratzen, wenn ich noch einmal ein +derartiges Wort erwähne, zerbrach dann in ihrer Wuth Gott weiß was Alles, +und — ich glaube sie bekam nachher Krämpfe — ihr altes Leiden. Erst hatte +ich gehofft der Tod des Kindes würde sie milder stimmen, aber nein, und +wenn mich etwas über den Verlust des kleinen lieben Wesens trösten könnte, +so ist es gerade der Gedanke, es dem bösen Beispiel, das ihm die eigene +Mutter täglich gab, entrissen zu sehn — was hätte zuletzt aus ihr werden +sollen, als eben eine solche Frau.« + +»Und so ist gar keine Hoffnung, mit Güte durchzukommen? — « + +Der Actuar schüttelte schweigend mit dem Kopf. + +»Hm, das ist eine verfluchte Geschichte,« sagte Kellmann, »da — da weiß +ich wahrhaftig auch nicht was ich rathen soll. Das Geld vertraute ich aber +— wenn die Sache _so_ steht — meinem Schwager auch nicht an, soviel ist +sicher — Sie sind das sich selber und Ihrer eigenen Existenz schuldig.« + +Der Actuar seufzte tief auf und die beiden Männer gingen wieder eine +Zeitlang, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, nebeneinander +hin. Sie waren indeß die Straße ein Stück hinauf- und wieder +zurückgegangen, und blieben jetzt mehre Minuten nicht weit von dem Eingang +des Gartens stehn, den Rücken diesem, und ihr Gesicht dem sich gerade über +die Berge hebenden Monde zugewandt, als ein junges Mädchen, noch ein Kind +fast und augenscheinlich auf der Wanderung, ganz allein mit einem kleinen +Bündel in der linken Hand, und einem großen dunklen Tuch über dem rechten +Arm, die Straße herunter kam und ziemlich dicht an ihnen vorüberging. So +viel sie im Mondenlicht erkennen konnten, war sie nur ärmlich gekleidet, +und auch wohl ermüdet von einem vielleicht langen Marsch, denn sie blieb +zweimal stehen und trocknete sich dabei den Schweiß von der Stirn. + +Das zweite Mal als sie Halt machte geschah das fast dicht vor den beiden, +hier im Schatten eines Hollunderbusches stehenden Männern, die sie im +Anfang gar nicht bemerkte, und sie schien den Tönen zu lauschen die aus +dem etwa zweihundert Schritt davon gelegenen hellerleuchteten Gartenhaus +wild und lustig heraustönten. + +»Fröhliche Menschen,« flüsterte sie dabei — »_Glückliche_;« wie sie aber +den Kopf dem Lichte zuwandte, fiel ihr Blick auch auf die beiden dunklen +Schatten unter der Mauer, und wie unwillkürlich fuhr sie zurück; dabei +glitt ihr das Bündel aus der Hand und fiel zu Boden. + +»Wir thun Dir Nichts, Kind,« sagte Kellmann, der die Bewegung gesehen +hatte, gutmüthig; »wo willst Du denn noch so spät hin?« + +»Nach Heilingen,« antwortete das fremde Mädchen, ihr Bündel wieder +aufnehmend — »ist es noch weit bis dorthin?« + +»Eine halbe Stunde etwa, wenn Du rüstig zugingst; aber Du scheinst müde zu +sein und wirst wohl länger brauchen.« + +»Ich komme weit her,« sagte die Fremde, aber sie zögerte dabei und es war +als ob sie noch nach irgend etwas fragen oder um etwas bitten wolle, und +sich auch wieder scheue es zu thun. + +»Du bist wohl hungrig, Kind?« frug sie da Kellmann, dessen gutes Herz ihn +zu helfen drängte, wo das in seinen Kräften stand — »sag’s gerad’ heraus; +und wenn Du kein Geld hast macht das nichts, ich schaffe Dir was.« + +Das Mädchen schwieg und drehte seufzend den Kopf ab und Kellmann, dem +richtigen Princip der Gastlichkeit und Menschenliebe treu, nicht viel zu +fragen erst, wo man gern giebt, sagte ihr sich einen Augenblick auf die +kleine Bank am Thor zu setzen, und er werde ihr einen Imbiß holen — sie +könne dann Heilingen bald erreichen. Ohne erst eine Antwort abzuwarten +ging er darauf rasch in’s Haus, und das Mädchen zögerte noch einen +Augenblick und folgte dann, augenscheinlich zum Tod ermüdet, der +freundlichen Einladung. + +»Du kommst weit her?« sagte der Actuar endlich, der neben ihr stehn +geblieben, im Anfang aber noch zu sehr mit seinen eigenen Gedanken +beschäftigt war, viel auf die Fremde zu achten. + +»Von Erfurt.« + +»Von Erfurt? hm — das ist eine lange Strecke; zu Fuß den ganzen Weg?« + +»Ja.« + +»Und willst in Heilingen bleiben?« + +»Ich weiß es noch nicht.« + +»Hast Du Verwandte dort?« + +»Einen Bruder.« + +»Hast Du denn einen Paß bei Dir?« + +»Ja,« sagte das Mädchen und holte, mit einem scheuen Blick auf den Frager, +ihr kleines Bündel vor, das sie Miene machte aufzuknüpfen, der Actuar +aber, der die Bewegung verstehen mochte, sagte rasch: + +»Nein nein — laß nur sein — ich will ihn nicht sehen — ich frug nur +Deinethalben, damit Du hier in der Stadt in keine Verlegenheit kämest. Da +ist auch Freund Kellmann schon mit dem Essen — nun laß Dir’s schmecken.« + +»Da,« sagte der kleine Kürschner, der schnellen Schrittes mit einem großen +gestrichenen Weißbrod und einem hohen Glas Milch herankam und es der +Fremden reichte — »das wird Dir gut thun.« + +Das junge Mädchen nahm das Glas mit schüchternem Danke an und trank — erst +ein wenig, dann aber herzhafter — sie mochte wohl recht durstig gewesen +sein. Wie sie fertig war setzte sie das Glas auf die Bank zurück und nahm +ihr Bündel wieder auf. + +»Ich danke Ihnen auch noch viel tausend Mal,« sagte sie dabei mit weicher, +ergriffener Stimme — »ich hatte seit heute Morgen Nichts gegessen und war +recht matt geworden.« + +»Armes Kind,« sagte Kellmann mitleidig — »aber hast Du denn schon einen +Platz in der Stadt wo Du übernachtest?« + +»Ja,« sagte die Kleine — »ich denke so — können Sie mir aber wohl noch +sagen ob das Haus des reichen Herrn Dollinger nahe am Thore ist, oder weit +in der Stadt drin?« + +»Dollinger’s Haus? oh nicht so weit in der Stadt drin — aber was willst +Du dort?« + +»Mein Bruder ist in Herrn Dollinger’s Geschäft — wohnen auch die Leute bei +ihm im Hause?« + +»Nicht daß ich wüßte,« sagte Kellmann. + +»Aber man kann es doch dort erfahren wo sie wohnen?« + +»Gewiß — gleich unten im Haus bei dem Hausmann; frage nur nach der +Poststraße, wenn Du in’s Thor kommst.« + +»Gute Nacht Ihr Herren, und nochmals schönsten Dank — Gott mag es Ihnen +vergelten.« + +»Gute Nacht Kind, guten Weg,« sagte Kellmann, »aber — wie heißt denn Dein +Bruder?« + +»Franz Loßenwerder,« sagte das Mädchen und ging langsam die Straße hinab. + +»Oh Du mein Gott,« rief der Actuar leise und erschreckt vor sich hin, wie +er den Namen hörte — »das ist ja schrecklich.« + +»Du lieber Gott, das arme Ding muß von dem Schicksal des Bruders gar +Nichts wissen,« seufzte auch Kellmann — »und wenn sie das jetzt heute +Abend erfährt — o wo wird sie nur die Nacht bleiben?« + +»Armes, armes Kind,« sagte der Actuar, »und selbst ohne Geld in der +fremden Stadt.« + +»Ich geb’ ihr etwas,« rief Kellmann, rasch entschlossen, und eilte »heh! — +pst!« rufend die Straße hinab dem Mädchen nach, das stehen blieb und nach +Bündel und Tuch fühlte als sie den Ruf hörte, weil sie glaubte daß sie +vielleicht etwas vergessen hätte. + +»Liebes Kind,« stotterte aber Kellmann verlegen, als er sie eingeholt, +denn er konnte es nicht über’s Herz bringen ihr die Wahrheit zu sagen — +»ich — ich kenne Deinen Bruder, aber — er ist jetzt nicht in Heilingen — +Du — Du wirst es morgen schon hören, und im Dollingerschen Hause können +sie Dir auch heute nichts weiter sagen, es ist sogar sehr die Frage ob der +Mann unten im Haus noch auf ist. Gleich wenn Du in’s Thor hineinkommst, +das dritte Haus an der rechten Seite, vor dem die beiden Laternen stecken, +ist ein Gasthaus — ein gutes anständiges Haus, wo sie Dir Quartier geben +werden — da gieb ihnen diese Karte, der Wirth kennt mich, und sage ihm nur +ich hätte Dich hingeschickt.« + +»Aber bester Herr,« sagte das Mädchen bestürzt, als ihr der gutmüthige +Kürschnermeister mit der Karte zwei große Stücken Geld — es waren zwei +Thaler — in die Hand drückte — »ich weiß gar nicht — « + +Kellmann ließ sie aber gar nicht zu Worte kommen. + +»Schon gut — schon gut,« rief er, drehte sich um, und kehrte, das Mädchen +allein auf der Straße zurücklassend, eben so rasch nach dem Platz zurück, +wo der Actuar noch seiner harrend stand. + +»Haben Sie es ihr gesagt?« frug dieser ihn. + +»Nein — um Gottes Willen nein; das mögen Andere thun, _ich_ könnte es +nicht.« + +»Aber was soll jetzt aus ihr werden?« + +»Ich werde mich im Löwen schon nach ihr erkundigen,« sagte Kellmann nach +kurzer Ueberlegung — »und wenn es ein ordentliches Mädchen ist, hab ich +Bekannte genug hier in der Stadt, ihr einen Dienst zu verschaffen. Aber +wie ist es denn mit der Loßenwerderschen oder Dollingerschen Geschichte +geworden? ist denn noch etwas von dem gestohlenen Gut zu Tage gekommen? — +man hört ja keine Sterbenssylbe mehr darüber.« + +»Nichts — gar nichts weiter,« sagte der Actuar; »im Gegentheil hat der +arme Teufel von Loßenwerder ein kleines Tagebuch geführt gehabt, was sich +unter den confiscirten oder mit Beschlag belegten Sachen fand, und worin +er jeden bis dahin eingenommenen Groschen sorgfältig und ordentlich, mit +seinen höchst bescheidenen Ausgaben, aufnotirt. Das aber als gültig +angenommen — und wir haben nicht die mindeste Ursache es zu bezweifeln da +es fast zwölf Jahre zurückführt — wäre im Gegentheil der Beweis geliefert +daß die aufgefundenen zweihundert Thaler mühsam und redlich gespartes Geld +gewesen wären.« + +»Und _kein_ anderer Beweis hat sich gegen ihn herausgestellt?« + +»Keiner, als daß er im Hause war und sich auffällig heimlich daraus +entfernt hat; aber auch selbst das findet nach den Acten eine +wahrscheinliche, wenn auch etwas wunderliche Erklärung. Nach einer Zahl +vieler höchst mittelmäßiger, oft aber auch ziemlich guter Gedichte, in +denen sich besonders viel Gemüth ausspricht, scheint der arme verwachsene +und hülflose Mensch eine Art von — Liebe — ich kann es nicht anders +nennen, gegen Dollinger’s jüngste Tochter und Henkel’s Braut in seinem +unschönen Körper mit herumgetragen, und nur, seinen Standpunkt gar wohl +erkennend, den einzelnen, in seinem Pult verschlossenen Blättern +anvertraut zu haben — doch das unter uns. Diese unglückselige und +hoffnungslose Neigung _kann_ ihn möglicher Weise dazu getrieben haben, dem +jungen Mädchen zu ihrem Geburtstag einen Blumenstock zu schenken — er hat +sogar ein Gedicht geschrieben was den Punkt berührt, und worin er sich +glücklich fühlt daß sie eine Blume pflegen könnte die er gezogen, wenn sie +auch nicht wüßte von wem sie käme. Daß er unter solchen Umständen nicht +wollte im Hause gesehen sein läßt sich denken, und ein Diebstahl in ihrem +eigenen Zimmer verliert, diesen Thatsachen gegenüber, an +Wahrscheinlichkeit, wenn er auch nicht eben zu einer Unmöglichkeit +gehörte. Das Menschenherz ist schwach, und Mancher schon ist geringerer +Verführung erlegen.« + +»Hm, hm, hm,« sagte Kellmann vor sich hin — »das ist ja eine rechte, +rechte böse Geschichte, und der arme Teufel da am Ende ganz und gar +unschuldig in sein Verderben gesprungen.« + +»Ja, und eine Sache die mir selber schon manche schlaflose Nacht gemacht +hat,« sagte der Actuar, »denn ich _kann_ den Gedanken nicht los werden, +welchen Antheil ich selber daran gehabt, den Unglücklichen dahin zu +treiben — obgleich ich eben nicht mehr als meine Pflicht gethan, und an +einen solchen verzweifelten Schritt nicht denken konnte; war er +unschuldig, hätte sich das ja bald in der Untersuchung herausgestellt.« + +»Ja, und die Untersuchung rechnet Ihr Herrn vom Gericht eben für Nichts,« +sagte Kellmann finster — »aber wenn das sein erspartes, und Gott weiß dann +_wie_ mühsam erspartes Geld war, wird es doch auch seinen Erben nicht +können vorenthalten werden.« + +»Die Untersuchung ist noch nicht ganz geschlossen,« sagte der Actuar, +»aber ich glaube auch nicht daß irgend Jemand anders einen Anspruch darauf +wird geltend machen können. Diese Schwester erwähnte er überhaupt mehrmals +in seinen Notizen, und hat sie auch dann und wann unterstützt, das Geld +wird ihr später allerdings zugesprochen werden.« + +»Und keine Spur ist sonst aufgefunden von dem möglichen, von dem +wirklichen Dieb?« + +»Keine — die Dienstboten sind Alle mehrmals scharf inquirirt und auf das +Genauste die ganze Zeit beobachtet, zu sehen ob eins von ihnen vielleicht +größere Ausgaben als gewöhnlich mache, oder sich durch irgend etwas +anderes verrathen würde; ja die Leute haben untereinander fast eben so +scharfe Wacht gehalten, den Verdacht von sich abzuwälzen und den +Schuldigen aufzufinden, aber es hat sich bis jetzt nicht das Mindeste +herausstellen wollen. Mit Geld ist das eine böse Sache, und wenn der Dieb +die Juwelen nur vorsichtig ein paar Jahr an sich hält, und dann vielleicht +noch gar außer Landes schafft, wer soll ihn da aufspüren? allwissend sind +wir auch nicht.« + +»Das weiß Gott,« sagte Kellmann — »wie damals mit der Pelzdecke, die mir +Jemand von der Ladenthür weggestohlen, und die ich zwei Jahr später ganz +gemüthlich im Polizeibureau, beim Polizeidirector selber in der Stube +wiederfand; da hört denn doch Alles auf. Aber mir ist wahrhaftig jetzt +nicht wie spaßen zu Muth; der Anblick des armen Mädchens hat einen +wehmüthigen Eindruck auf mich gemacht; lieber Himmel, was es doch für +Elend auf der Welt giebt, und still und bewußtlos gehen wir meist daran +vorüber.« + +»Und die Musik da drinnen, während das arme Kind dort allein und freundlos +seine Straße geht, und trotzdem jetzt noch glücklich ist gegen den +Augenblick, wo es das Furchtbare doch erfahren _muß_. Mich leidet’s heute +nicht länger hier draußen, Kellmann,« brach er kurz ab — »ich mag die +Tanzmusik nicht hören — wollen wir zurück in die Stadt gehn? es ist +überdies schon spät.« + +»Ich habe Nichts dagegen,« sagte Kellmann, tief aufseufzend — »mir ist +der Abend heute auch verdorben, aber wir wollen Schollfeld erst abrufen.« + +»Da drin ist wohl Prügelei?« sagte da Ledermann, als aus dem Hause wilder +Lärm zu ihnen heraus tönte. + +»Das wäre früh,« meinte Kellmann — »die kommt gewöhnlich sonst erst +später, oder ganz zum Schluß. Es ist doch sonderbar, daß ein deutscher +»Tanz« nie ohne eine Schlägerei enden kann; es scheint auch ungefähr +dasselbe, wie der Cotillon bei einem Ball, nur daß sich die jungen Mädchen +nicht dabei betheiligen — höchstens verheirathete Frauen, ihre Eheherren +zu schützen, und die Verwirrung womöglich noch größer zu machen — hallo +aber das kommt hier heraus.« + +»Sie werden Jemanden hinauswerfen,« sagte der Actuar ruhig — »lassen Sie +uns an die Seite treten daß wir nicht in das Gewirr gerathen.« + +Der Actuar hatte allerdings recht, denn unter dem Lachen, Schreien und +Jubeln der Menge, durch das einzelne wilde Flüche einer, ihnen keineswegs +unbekannten Stimme tönten, wälzte sich ein Haufen Menschen aus dem Saal +heraus, in der Mitte einen Mann schleppend, der sich mit Händen und Füßen, +wenn auch umsonst, gegen solche unwürdige Behandlung sträubte, und in dem +die beiden Freunde sehr zu ihrem Erstaunen den Auswanderungsagenten Weigel +erkannten. + +»Laßt mich los!« schrie dieser dabei, mit den wildesten, ungemessensten +Flüchen und Schimpfreden — »laßt mich los oder ich rufe die Polizei — +Hülfe! — Mörder! Feuer!« + +»Brüll nur mein Herzchen!« sagte aber der Verwalter von Hohleck, eine +riesige breitschultrige Gestalt, der den machtlos dagegen Ankämpfenden wie +in einer eisernen Klammer am Kragen gepackt hielt — »Dich könnten wir hier +brauchen, die Leute heimlich beschwatzen daß sie Hof und Dienst verlassen +und nach Amerika liefen — ei Du Hallunke, Du kommst mir einmal wieder vor +die Fäuste.« + +»Halt da — Hohmeier! laßt ihn los!« rief aber in diesem Augenblick eine +andere, etwas schwer klingende Stimme, die dem also Gefährdeten zu Hülfe +zu eilen schien — »der hier — Homeier — der hier ist mein Freund — mein +ganz intimer Freund und den laß ich mir — Homeier, den laß ich mir nicht +aus dem Hause werfen.« + +Es war Niemand anderes als der Wirth, Lobsich, selber, aber, wie es die +Seeleute nennen, »halb im Wind«, mit schwerer Zunge und schon etwas +taumelndem Gang, daß sich der Zustand in dem er sich befand, nicht gut +verkennen ließ. Er versuchte dabei den Agenten zu halten und aus den +Händen derer die ihn gefaßt hatten fortzuziehn; Hohmeier, der Verwalter +schob ihn aber mit seinem linken Arm bei Seite, als ob es ein Kind gewesen +wäre, und sagte ruhig: + +»Geht zu Bett Lobsich, das wär’ Euch viel besser heut Abend, aber mischt +Euch nicht in Sachen die Euch Nichts kümmern.« + +»Nichts kümmern?« rief aber der Wirth gereizt, indem er den Verwalter mit +großen stieren Augen ansah — »nichts kümmern _Hoh_meier? — oh _Hoh_meier +wem gehört denn dies Haus, heh? — nichts _kümmern_? wem gehört denn der +rothe Drache, heh, _Hoh_meier.« + +Die Schaar war indessen bis grade dorthin gekommen, wo Kellmann und der +Actuar standen, und wo sie den Agenten zwischen zwei ziemlich nah zusammen +wachsenden Akazienbäumen durchtragen wollten als dieser, solche letzte +Gelegenheit vielleicht, benutzend, Arm und Beine auseinanderspreitzte, daß +sie ihn nicht hindurchbringen konnten, während er von Neuem sein »Hülfe! +Mörder! Feuer!« aus voller Kehle schrie. + +»Wenn ihm nur Jemand die Beine ausheben wollte!« sagte Herr Schollfeld, +der ein höchst vergnügter Zeuge der Scene war, ohne jedoch seines +schwächlichen Körpers wegen selber Theil daran zu nehmen, jetzt +wohlmeinend. Ein paar Knechte vom Hof, die ihren Verwalter in seinem +Richteramt unterstützten, ließen sich das auch nicht zweimal sagen, und +der wüthend, aber vergebens dagegen Antretende fand sich bald in der +vollkommnen Gewalt der Leute, ohne im Stande zu sein auch nur den +geringsten erfolgreichen Widerstand zu leisten. + +»Heh _Hoh_meier!« schrie aber Lobsich, der sich indeß durch die im Garten +stehenden Stühle und Tische wieder nach vorn gedrängt hatte den Mann frei +zu machen, von dem er sich plötzlich einbildete daß er sein Freund sei, +»laßt mir den Menschen los, sag ich Euch _Hoh_meier — Donnerwetter ich +will doch einmal sehn wer hier in meinem eigenen Hause zu befehlen hat. +Ihr oder ich — _Hoh_meier. Es ist mir doch was Unbedeutendes!« Er schien +sich auch in der That den Leuten entgegenwerfen zu wollen; im Vorspringen, +und das viele Getränk im Kopf, blieb er aber mit dem einen Fuß in einer +dort stehenden Fußbank hängen, und schlug der Länge lang in den Garten, +während die Knechte den jetzt wüthend um sich schlagenden Agenten rasch +aufgriffen und, lachend über des Wirthes Unfall, aus der Gartenthür auf +die Straße warfen. + +Ein furchtbarer Lärm entstand jetzt, die Leute jubelten und lachten, und +erzählten sich untereinander wie der »Auswanderungsmann« einen +Schaafknecht vom Gut hätte bereden wollen als »Schaafmeister« nach Amerika +auszuwandern, und vom Verwalter dabei erwischt wäre, und der +»Auswanderungsmann« stand vor dem Gartenthor und schimpfte und wüthete, +bis einer der Knechte das Schloß wieder aufdrückte und hinaus und ihm nach +wollte, und dann auf der Chaussee stehen blieb und hinter dem davon +Laufenden herfluchte, und Steine hinter ihm drein warf. + +Drinnen im Saal tönte die Musik aber wieder rauschender als vorher, und +die jungen Burschen durften die Zeit hier nicht länger im Garten +versäumen. Während die aber wieder in den Saal drängten, Tänzerinnen zu +bekommen, und Schollfeld von Kellmann angerufen war, mit ihnen zurück nach +der Stadt zu gehn, blieb Lobsich noch im Garten, an dessen Thüre er trat, +und nach der Straße hinaus mit lauter und immer ärgerlicher werdender +Stimme Weigel’s Namen schrie. Lobsich war jedenfalls stark angetrunken und +wollte sehr wahrscheinlich den Mann zurück holen, um ihm jetzt ernstlich +beizustehn und den Skandal noch einmal von Neuem zu beginnen. + +Die drei Freunde hielten sich dabei im Schatten eines dichten +Fliederbusches, von dem aufgeregten und jetzt doch nicht +zurechnungsfähigen Menschen nicht bemerkt zu werden, und dann unbelästigt +den Garten zu verlassen, als Lobsich’s Frau, die das Toben ihres Mannes +wohl im Haus gehört, von dort her und den Mittelweg herunter eilte. Ohne +daß er sie bemerkte kam sie auch bis dicht an ihn hinan, und hier seinen +Arm ergreifend sagte sie mit leiser, bittender Stimme. + +»Lobsich — Vater — komm sei vernünftig, laß das Schreien und Toben hier +auf der Landstraße und geh zu Bette — thu _mir’s_ zu Liebe Lobsich, wenn +ich Dich darum bitte.« + +»Laßmchfrieden,« stammelte aber der Betrunkene mit schwerer Zunge und +suchte sie von sich abzuschütteln — »laß mchfrieden sag ich — Dnrrwttrrr — +ich weiß — ich weiß was ich ss — se thun habe — « + +»Aber Lobsich, ich bitte Dich um Gottes Willen,« flüsterte die Frau in +Todesangst — »Du machst Dich und mich unglücklich wenn Du Dich nicht +änderst — was soll daraus werden?« — + +»Laßmch — frieden,« stammelte aber der Mann, sie unwillig von sich +abschüttelnd, aber er verließ den Thorweg wenigstens und taumelte durch +den Garten fort, seitwärts vom Hause ab — »Weibervolk,« murmelte und +fluchte er dabei — Himmelsakkrments Weibervolk — Unsinn — violettblaues — +ist mir doch — ist mir doch was Unbe — Unbedeutendes — « und er +verschwand damit hinter den Büschen. Die Frau aber blieb, den Ellbogen auf +das Thürschloß gestützt und das Gesicht in den Händen bergend, allein +zurück, richtete sich aber rasch wieder auf, als sie Schritte auf sich +zukommen hörte, und wollte nach dem Haus zurück. + +»Frau Lobsich,« sagte Kellmann, der es war, gutmüthig, ja fast herzlich — +»macht denn das Lobsich jetzt öfter daß er so über die Schnur haut?« + +»Ach Sie sind es Herr Kellmann,« sagte die arme Frau beruhigt. »Lieber +Gott, ich weiß meinem Herzen keinen Rath mehr, wenn er’s so fort treibt; +wie soll das enden?« + +»Aber ich habe Ihren Mann so doch noch in meinem Leben nicht gesehn,« +sagte Kellmann verwundert. + +»Ach ja,« seufzte die Frau — »es ist nicht das erste Mal, aber ich habe +immer gesucht es so viel als möglich zu verheimlichen, es giebt gar solch +ein böses Beispiel für die Leute. Es sind auch eigentlich nur einige +Wochen erst daß er so scharf zu trinken anfängt. Lieber Gott, im Kopf hat +er früher schon manchmal eins gehabt, aber er artete doch nie aus, jetzt +jedoch geht der Spiritus mit ihm durch, und er wird zum Thier. Ach guter +Herr Kellmann, wenn Sie einmal ein recht ernstes aber doch freundliches +Wort mit ihm sprechen wollten; auf Sie hält er etwas. Mir verspricht er’s +wohl auch,« setzte sie leiser hinzu, »aber — er vergißt es immer nur zu +rasch wieder.« + +»Ich will mein Möglichstes mit ihm versuchen, Frau Lobsich,« sagte +Kellmann freundlich — »aber,« setzte er rascher und leiser hinzu — »dort +glaub’ ich kommt er schon wieder zurück, es wird besser sein wenn Sie +versuchen ihn heute Abend zu Bett zu bringen; mit einem betrunkenen +Menschen läßt sich Nichts anfangen.« + +»Na? — Donnrrwttrrr,« stammelte aber in diesem Augenblick der Wirth, der +auf seinem Zickzack Cours wieder nach der Thür zurückkam, und die Arme +einstemmend einen, wenn auch vergebenen Versuch machte, mit gespreitzten +Beinen vor seiner Frau stehen zu bleiben — »Dnnrrrwttrrr,« wiederholte er, +herüber und hinüber schwankend — »was’s das vor Wirthschaft heh? wo gehört +die — gehört die Frau hin, heh? — in die Hofthür mit fremden Kerlen +schwatzen heh? — ist mir doch — ist mir doch was Unbe — Unbedeutendes.« + +»Aber lieber Lobsich,« nahm hier der jetzt auch hinzugetretene Schollfeld +das Wort, »sein Sie doch vernünftig und gehn Sie — « + +»Hallo?« rief aber der Wirth, sich halb nach dem Redner herumdrehend, in +dessen hell vom Mond beschienenen Zügen er den Apotheker erkannte — »sin’ +wir auch hier? heh? — haben auch mit g’holfen mein’ besten Freund — mein’ +besten Freund mit hinaus zu werfen — heh? Sie — Sie Giftmischer Sie — Sie +— « + +»Herr Lobsich!« rief Schollfeld ärgerlich, »Sie sind heute nicht +zurechnungsfähig, sonst — « + +»Was? — Pillendreher will noch — will noch raiss — raiss’niren — heh?« +rief aber der gereizte Wirth und that einen Schritt gegen den Mann an. + +»Aber Lobsich so bedenke doch um Gottes Willen was Du sprichst,« bat ihn +die Frau, seinen Arm ergreifend — »komm mit mir in’s Haus — wir haben +noch so viel zu thun.« + +»Viel zu thun? — heh? — habe keine Zeit mehr heut Abend — hickup« — +stammelte aber der Mann gegen den Schlucken ankämpfend — »muß noch — muß +noch — hickup — muß noch Wein abziehn und — und Bier trinken — hickup — +und — und hahahahaha — da ist — da ist ja die ganze Gesellschaft — ja wohl +— hickup — ja wohl, komme schon — komme schon meine Herrn — Lobsich ist +immer da — ein verfluchter Kerl, der — der — hickup — der Lobsich — ist +mir doch — ist mir doch was Unbedeutendes;« — und in einer unbestimmten +Idee daß ihn vom Haus aus Jemand gerufen hätte, wobei er seine Umgebung +ganz vergaß, taumelte er dem Saal wieder zu, wohin ihm die Frau ängstlich +folgte. Sie mußte ihn ja zurückhalten, daß er so seinen Gästen und Leuten +nicht wieder unter die Augen kam. + + + + + + Capitel 9. + + + RÜSTUNGEN. + + +»Nach New-Orleans!« + +»Das ausgezeichnet schöne, 360 Last große, schnellsegelnde, kupferfeste +und gekupferte dreimastige Bremer Schiff erster Klasse: + +_Die Haidschnucke_, Capitain _E. Siebelt_, mit vorzüglicher Gelegenheit +für Cajüts- und Zwischendecks-Passagiere — wird am 30. August expedirt. + +Agent dafür, I. G. Weigel, + +Hauptagent des Central-Bureau’s für Norddeutsche Auswanderung in +Heilingen, am Markt Nr. 17.« + +Diese Anzeige stand am Morgen nach den, im letzten Capitel beschriebenen +Vorfällen im Heilinger Tageblatt, und Dr. Haide, der Redacteur desselben, +hatte die Gelegenheit nicht unbenutzt wollen vorübergehen lassen, einige +entsetzliche Mordgeschichten und falsche Bankerotte aus den Vereinigten +Staaten, wie zur Entmuthigung aller Auswanderungslustigen, in der +nämlichen Nummer seines Blattes abzudrucken. + +Weigel war wüthend darüber, und schrieb augenblicklich einen anderen +Artikel dagegen; den nahm Doctor Haide aber nicht auf, weil er, wie er +ganz naiv erklärte, »sich dadurch selber blamiren würde.« Uebrigens sei +die Sache auch schon erledigt, indem die Schiffsanzeige _für_, sein +Artikel aber _gegen_ Amerika und die Auswanderung wäre, und er es sich zum +Grundsatz gemacht hätte, jeden Artikel nach beiden Seiten hin zu +beleuchten — wenn Herr Weigel etwas gegen ihn wolle einrücken lassen, sei +er keineswegs verpflichtet es aufzunehmen, und er möge ihn deshalb, wenn +er damit durchzukommen glaube, nur ganz einfach darauf verklagen. + +Die Abfahrt dieses Schiffes war aber für Heilingen in so fern von nicht +unbedeutender Wichtigkeit, als sich mehre Familien dieser Stadt ernstlich +dahin entschlossen hatten, mit demselben nach Amerika auszuwandern. So +unter Anderen Professor Lobenstein, der sein Haus jetzt verkauft, und der +Stadt überhaupt durch seine beabsichtigte Auswanderung höchst willkommenen +Stoff zu den mannichfaltigsten Vermuthungen und Erörterungen geliefert +hatte. Ja mehrere Kaffeegesellschaften der näheren Bekannten Lobenstein’s +waren wirklich nur einzig und allein zu dem Zweck gegeben worden, sich +einmal ordentlich über die Sache »aussprechen« zu können. + +Auch in dem Dollinger’schen Haus hatten die letzten Wochen bedeutende +Veränderungen hervorgebracht, indem der junge Henkel Briefe von Amerika +erhielt, nach denen seine Anwesenheit dort, dringend nothwendig geworden. +Zwei Wechsel trafen zugleich für ihn ein, wie ziemlich starke Aufträge zu +Ankäufen in Tuchen und Seidenwaaren von seinem Haus, welches Geschäft er +mit Herrn Dollinger in Gemeinschaft auszuführen gedachte. + +Der alte Herr Dollinger, so schwer es ihm auch wurde, und so lange er sich +dagegen gesträubt, mußte da wohl endlich seine Einwilligung zu der +Verbindung Clara’s mit dem jungen Amerikanischen Kaufmann, über dessen +Familie und Geschäft in New-Orleans er von einem dortigen Geschäftsfreund +das Beste erfahren hatte, geben. Nur wunderte man sich dort, daß der junge +Henkel in Nord-Deutschland sei, während man ihn auf einer größern Tour +durch Italien und Griechenland vermuthet. Die Leute dort konnten nicht +wissen daß der junge Mann auf dem Rhein andere Pläne für seine Zukunft +geschaffen, als er sie früher vielleicht ausgesonnen. + +Am letzten Sonntag war also, ganz in der Stille, die Trauung vollzogen und +Clara, das liebe holde Mädchen, die Frau des jungen reichen Amerikaners — +wie man ihn überall in der Stadt nannte, geworden. Jetzt galt es nun +freilich noch, in der kurzen Zeit all die nöthigen und so mannichfachen +Vorbereitungen zu einer Reise nach Amerika für die junge Frau zu treffen. +Es sollte aber wirklich auch nicht viel mehr als eine Reise werden, denn +Henkel hatte sich schon selber fest erklärt, seinen künftigen Wohnsitz +keineswegs in Amerika, sondern in Havre nehmen zu wollen, wo überdies, der +bedeutenden Geschäftsverbindung wegen mit diesem Hafen, ein Associé des +Hauses sich aufhalten mußte. Ein oder zwei Monate gedachten die jungen +Eheleute dann jedes Jahr in dem reizend gelegenen Heilingen zuzubringen, +was ihnen, wie den Eltern, die jetzige Trennung sehr erleichterte, und +spätestens im März oder April schon wieder nach Europa zurückkehren zu +können. Die ganze Reise war dadurch wirklich fast nur zu einer etwas +längeren Vergnügungsfahrt geworden. + +Auch für Clara’s Mutter war das Bewußtsein, ihr Kind nicht für immer zu +verlieren und bald wieder in die Arme schließen zu können, eine unendliche +Beruhigung, und selbst hierzu hatte es ihr einen großen Kampf gekostet, +ihre Einwilligung zu geben. Clara selbst aber hing mit ganzem Herzen an +dem theuren Mann, und fühlte sich vollkommen glücklich in einer +Verbindung, die seit sie den Fremden kennen und lieben gelernt, ihr das +Ziel ihrer irdischen Wünsche geschienen. + +Was war ihr die Reise, was die Gefahr und Mühseligkeit derselben? sie wäre +ihm in eine Wildniß gefolgt, und hätte sich doch glücklich an seiner Seite +gefühlt. + +Der junge Henkel wünschte nun die Ueberfahrt in einem Englischen Dampfer +nach New-York, und von da mit einem Amerikanischen Dampfschiff nach +New-Orleans zu bewerkstelligen, Clara fürchtete sich aber an Bord eines +Dampfers zu gehn, theils der doppelten Gefahr, theils der unangenehmen +Bewegung derselben in schwerem Wetter wegen, von der sie viel gehört, und +da es sich jetzt gerade so traf daß eine ihr befreundete Familie, +Professor Lobenstein’s, ebenfalls nach New-Orleans, und in einem +Segelschiff von Bremen ab auswanderte, bat sie mit diesen reisen zu +dürfen. Henkel selber schien nicht recht damit einverstanden, fügte sich +aber doch endlich den Bitten seiner jungen Frau. + +Wenn aber bei Dollinger’s im Haus wenig mehr als Wäsche und Kleider +herzurichten waren, nur zu einer Reise nicht zu einer Uebersiedlung nach +Amerika, und man diese schon großenteils gepackt und vorausgeschickt +hatte, die letzten Stunden in der Heimath durch kein Aussuchen und Packen +gestört zu haben, so schien dagegen bei Professor Lobenstein das ganze +Haus von innen nach außen gekehrt zu sein. + +Der Professor nämlich hatte auf keinerlei Weise bewogen werden können mit +seinen Sachen eine Auction anzustellen, und nur das Nothwendigste +mitzunehmen, da Fracht und Spesen unterwegs ein wirkliches Capital +auffressen würden, für das er sich Alles was er dort brauchte auch an Ort +und Stelle neu anschaffen könnte. Allen die ihm dies riethen zeigte er aus +verschiedenen Schriften die statistisch aufgestellten Arbeitslöhne der +verschiedenen Handwerker, wie die Preise der Provisionen, und bewieß ihnen +auf das Klarste und Unumstößlichste was jedes einzelne Stück Meublen und +Hausgeräth in notwendiger Folgerung in Amerika kosten müsse. Eben so hatte +er sich mit unendlicher Ausdauer einen Ueberschlag der verschiedenen +Frachtpreise nach New-Orleans, und von da in’s Innere gemacht, bis er +endlich zu dem obigen Resultat gekommen, und nun auch augenblicklich eine +Anzahl Tischler in Arbeit setzte, lauter neue Kisten für seine Sachen +anzufertigen. + +Eine große Anzahl von diesen war nun schon, gepackt und mit eisernen +Reifen beschlagen, als Fracht vorausgeschickt, eine andere Sendung sollte +heute abgehn, und die letzten dann in den nächsten Tagen befördert werden, +noch zur rechten Zeit an Ort und Stelle zu sein. Kellmann selbst, dem +Hause eng befreundet, hatte dahin mehrere Aufträge übernommen, und kam +heute Morgen, Bericht über die Ausführung derselben abzustatten. + +Er selber war natürlich mit der ganzen Uebersiedlung gar nicht +einverstanden, hatte aber doch, als er alle Gründe des Professors dafür +gehört, weit weniger dagegen gesagt, als die Familie im Anfang vermuthet +und auch wohl gefürchtet haben mochte. Der Professor sei eben ein +Professor, meinte er nur, und wo der einmal seinen Kopf aufgesetzt habe, +ließ sich auch Nichts mehr abstreiten oder gar dagegen beweisen, man müsse +ihn eben sich selber überlassen, und — es thue ihm nur um die Familie +leid. Nichtsdestoweniger gab er sich jede erdenkliche Mühe ihnen, wo er es +nur irgend vermochte, beizustehn, wobei er den Professor doch von manchem +unüberlegten oder unpraktischen Schritt zurückhielt. So kämpfte er, und +zwar glücklicher Weise mit Erfolg, gegen die unglückselige Idee des +Professors an, sich hier, trotz Allem was er darüber schon gelesen, von +dem Auswanderungsagenten Land und eine Farm zu kaufen. Er wollte drüben +nicht »in Gefahr kommen« von Amerikanischen und betrügerischen +Landspeculanten hintergangen zu werden, und seine Berechnung sämmtlicher +Kosten gleich hier an Ort und Stelle machen können, was ihm nicht möglich +sei, wenn er die Contracte nicht in der Tasche habe. + +Kellmann, auf dessen praktisches und gesundes Urtheil er sonst überhaupt +viel gab, machte ihn mit seinen ernstlichen Vorstellungen aber doch +stutzig, und noch eine authentische Person über die dortigen Verhältnis zu +hören, wandte er sich zuletzt an den jungen Henkel, und bat diesen um +Meinung und Rath über die, ihm allerdings sehr am Herzen liegende Sache. +Dieser rieth ihm aber ebenfalls auf das Entschiedenste ab, sein Geld hier +an eine solche Speculation wegzuwerfen, denn dieser Weigel scheine ihm, +was er bis jetzt von ihm gesehn, eine keineswegs volles Vertrauen +verdienende Persönlichkeit. Er solle warten bis sie drüben wären, dort +habe er Zeit genug (Kellmann hatte ihm dasselbe gesagt), und finde er in +New-Orleans oder Missouri nichts Besseres, so sei er selber vielleicht im +Stande ihm ein kleines reizendes Gut abzutreten, das er einmal auf einem +Jagdzug in’s innere Land gekauft, und jetzt noch verpachtet hätte. + +»Und der Preis?« + +»Er würde zufrieden sein.« Damit war die Sache für jetzt abgemacht; +freilich zu Weigels Verdruß, der die Farm, wie er sich ausdrückte, nun +noch »zur Verfügung« behielt. + +Es mochte etwa Morgens um elf sein, als Kellmann Professor Lobensteins +besuchte. Das Haus war am vorigen Tag öffentlich verauctionirt und von +einem reichen Weinhändler in Heilingen erstanden worden, die Familie aber +jetzt in angestrengter Arbeit eifrig bemüht das unangenehme Gefühl nicht +allein zu verscheuchen, sondern auch eines vor dem anderen zu verbergen, +»zum _ersten_ Male in der _eigenen_ Heimath _fremd_ zu sein;« zum ersten +Mal fremd in den Räumen, die ihrer Kindheit Spiele gesehn, und Zeuge +gewesen waren ihrer keimenden Hoffnungen und Träume. + +Der erste schwere Schritt zu einem neuen Leben und Wirken war aber damit +geschehn; freilich auch zu gleicher Zeit die Brücke abgebrochen, die noch +zurück hätte führen können in das Vaterland. Das Band war damit zerrissen, +das sie noch an dieses knüpfte, und wunderbarer Weise hatte sich jetzt, +wie sie sich gestern noch fast Alle gefürchtet vor dem Gedanken die lieben +theueren Räume zu verlassen, ein fremdes unheimliches Gefühl zwischen sie +und das Haus geworfen, und sie _ersehnten_ den Augenblick wo sie hinaus +konnten, fort, nur fort von hier — aus den Erinnerungen fort. Und doch +sprachen sie das nicht aus gegen einander; Jedes hielt sich nur allein für +so thöricht und kindisch, mit den quälenden Gedanken; keines wußte daß das +Gefühl in ihrer Aller inneres Leben verwoben sei, und in des Herzens +feinsten Fasern Wurzel schlug. + +Die Stimmung Aller, so sehr sie sich auch hüteten dem was sie dachten +Worte zu geben, war denn auch an dem ganzen Morgen schon eine stille, +gedrückte gewesen, und Kellmann’s Erscheinen befreite Alle wie von einer +Last. Unten auf der Treppe wurde der aber schon laut. + +»Na, ist das ein Vergnügen zu so einer Auswanderungsfamilie in’s Haus zu +kommen,« rief er, als er sich mit zusammengehaltenen Schößen zwischen +einer Reihe Kistendeckel hindurchdrückte, die, mit den Nägeln nach außen, +an der Wand lehnten, und dabei noch über eine Unzahl Körbe und Schachteln +wegsteigen mußte, nur in die Stube zu kommen. + +»Nehmen Sie sich in Acht, lieber Kellmann,« rief ihm der Professor, der +seine Stimme gehört hatte, aus der halbgeöffneten Thüre entgegen (er +konnte diese nicht ganz aufmachen da ebenfalls eine Kiste dahinter stand). +»Sie möchten sich da draußen die Kleider zerreißen.« + +»Ist schon bereits geschehen,« brummte Kellmann, indem er versuchte einen +Blick nach seinem, allerdings beschädigten Rücktheil zu gewinnen, »meine +Güte, wie sieht das bei Ihnen aus — ah guten Morgen meine Damen — und +schon so fleißig? — was um Gottes Willen nähen Sie denn da? — +Getraidesäcke für die nächste Erndte?« + +»Fehlgeschossen Herr Kellmann,« rief ihm aber Marie, die sich gern mit dem +freundlichen Mann neckte, entgegen — »Jacken sind das für uns, in den +Busch, zwischen den Dornen und Schlingpflanzen, die uns sonst das leichte +Zeug von den Schultern rissen. Warten Sie einen Augenblick, da können Sie +uns gleich Ihre Meinung sagen; die meinige ist gerade fertig, und ich will +sie eben anprobiren. Lassen Sie nur, ich werde schon allein fertig, dort +drüben müssen wir überdies Alles allein machen — So — nun, wie gefalle ich +Ihnen darin?« + +»Gar nicht,« sagte Kellmann mürrisch, »ich sähe Sie weit lieber in einem +leichten Ballkleid und mit Ihrem gewöhnlichen heiteren Gesicht, als in der +Sackleinwand und — hm — das verdammte Amerika. Geht denn Eduard jetzt +noch mit, oder bleibt er da? wo steckt er denn wieder? — der ist immer +fort wenn ich komme.« + +»Der geht mit, lieber Kellmann,« rief der Professor, »er konnte sich nicht +dazu entschließen, seine Eltern und Geschwister allein in die Welt ziehn +zu lassen, wo er ihnen vielleicht, zum ersten Mal in seinem Leben, +nützlich sein würde, und ist jetzt noch in der Geschwindigkeit zu einem +Tischler gegangen, die paar Wochen wenigstens zu benutzen, und doch eine +Idee von dem Handwerk zu gewinnen; wer weiß was wir da Alles zu thun +bekommen.« + +»Wird auch was recht’s davon in den paar Tagen profitiren,« brummte +Kellmann — »bei wem ist er denn, bei Leupold?« + +»Leupold?« rief der Professor, »der geht ja mit unserem Schiff nach +New-Orleans.« + +»Der Tischlermeister Leupold wandert auch aus?« rief Kellmann laut und +verwundert. + +»Hat sein Häuschen und seine Werkstätte verkauft, und ist jetzt +wahrscheinlich schon unterwegs nach Bremen,« betätigte ihm der Professor. + +»Na nu ist mir’s aber doch über den Spaß,« rief Kellmann — »da läuft ja +halb Heilingen fort; jetzt freut mich mein Leben; nächstens werden wir uns +unsere Schränke und Schuhe und Röcke selber machen können wenn wir ’was +haben wollen; ich darf nur gleich den meinigen zum Schneider schicken daß +er ihn mir noch ausbessert, ehe er auch durchbrennt. S’ist wirklich zum +Verzweifeln.« + +»Lieber Gott,« sagte der Professor — »die Leute verlangen nur Ellbogenraum +sich zu rühren; sie wollen einen Platz haben, der ihren Bedürfnissen +Befriedigung verspricht.« + +»Da haben Sie gleich den faulen Fleck,« rief Kellmann, »_Bedürfnisse +befriedigen_, wenn die Leute lebten wie ihre Voreltern gelebt haben, und +nicht mit jedem Jahre auch neue Bedürfnisse kennen lernten und befriedigt +haben wollten, so hätten wir alle Platz, und das verwünschte Amerika +könnte sehen wo es Hände und Fäuste bekäm zuzupacken und ihm den Boden zu +bestellen. Aber ich will mich nicht länger ärgern — laßt sie laufen, +nachher wird’s hier erst recht gemüthlich — apropos — Ihren Freund Weigel +haben sie gestern Abend im rothen Drachen hinausgeworfen — er wollte +Dienstleute, ich glaube einen Schäfer, verlocken nach seinem gerühmten +Amerika auszuwandern.« + +»Meinen _Freund_?« sagte der Professor achselzuckend, »ich habe mit Herrn +Weigel nie in einer solchen Beziehung gestanden, aber ich achte ihn als +einen Mann der ein gutes Herz mit einer tüchtigen Portion gesundem +Menschenverstand verbindet, und besonders schätzenswerthe statistische +Kenntnisse Amerika’s besitzt.« + +»Bah!« sagte Kellmann, den Kopf auf die Seite werfend, und mit den Fingern +schnalzend, »so viel für seine statistischen Kenntnisse; _unverschämt_ ist +er, das halt’ ich für seine Hauptforce, und er wirft Ihnen da mit der +größten Kaltblütigkeit eine Masse Zahlen in den Bart, denen man nicht +gleich widersprechen kann, weil sich der Gegenbeweis eben nicht führen +läßt. Wenn das Alles wahr ist was er über Amerika sagt, wäre _er_ der +größte Esel wenn er nicht selber hinüberginge.« + +»Seine Verhältnisse gestatten es ihm nicht, wie er mich oft versichert +hat,« vertheidigte ihn aber der Professor. + +»Ja, das kennen wir schon,« sagte Kellmann, »und wenn mich irgend etwas +glauben machen könnte daß _er_ wirklich Amerika kennt, so wäre es der +Umstand daß er selber nicht hinübergeht.« + +»Im rothen Drachen war ja wohl gestern ein kleines Fest?« frug die Frau +Professorin dazwischen, die das unerquickliche Gespräch abzubrechen +wünschte. + +»Ja, für die Dienstleute von Hohleck,« sagte Kellmann, »und Schollfeld und +ich waren ebenfalls hinausgegangen um den Spaß mit anzusehn.« + +»Und ihr Freund, der lange Actuar war nicht dabei?« lachte Marie. + +»Er kam später nach,« sagte Kellmann — »der arme Teufel ist jetzt auch +immer verdrießlich und niederschlagen.« + +»Er hat sein Kind verloren,« sagte Anna mitleidig. + +»Ja, und zu Hause fühlt er sich auch wohl nicht so recht wohl und +behaglich.« + +»Wir haben davon gehört,« sagte die Professorin — »seine Frau soll +eigenwillig und heftig sein, und ihm oft gar unangenehme Scenen bereiten.« + +»Seine Frau ist — « fuhr Kellmann auf, aber er unterbrach sich selber +wieder, und trommelte eine Weile mit den Fingern auf dem vor ihm stehenden +Tisch. + +»Was ist Ihnen denn nur heute, Herr Kellmann?« sagte aber Marie, jetzt zu +ihm tretend und seinen Arm berührend — »Sie schneiden ja heut Morgen ein +so bitterböses Gesicht, wie ich noch fast in meinem Leben nicht an Ihnen +gesehn. Ist Ihnen irgend etwas Aergerliches begegnet? — oder — Sie sind +doch nicht böse mit uns?« + +»Böse mit Ihnen? lieber Gott Mariechen,« sagte Kellmann herzlich ihre Hand +ergreifend — »ich müßte böse mit Ihnen sein daß Sie fortgehn und mich hier +allein zurücklassen; sonst wüßt’ ich wahrhaftig nicht weshalb.« + +»So kommen Sie mit,« lachte Marie, indem sie neckisch zu ihm aufsah. + +Kellmann seufzte tief auf, sagte dann aber kopfschüttelnd, und mit der +Hand über seine Stirn streichend, als ob er sich daraus all’ die trüben +Gedanken verscheuchen wollte — + +»Nach Amerika? — ja, weiter fehlte mir gar Nichts; aber heute sind es +wirklich andere Sachen die mir im Kopf herumgehn.« + +»Ist etwas vorgefallen, und können wir Ihnen helfen, lieber Herr +Kellmann?« sagte Anna freundlich. + +»Ach Gott nein,« sagte der kleine Mann seufzend — »es ist ein Stück von +dem allgemeinen Elend, das über den ganzen Erdball hinspielt, und das uns +gewöhnlich mit einem unheimlichen Gefühl, auch nicht außer dem Bereich +desselben zu liegen, durchschauert, wenn wir ihm einmal auf unserem +Lebenspfad begegnen. Sie sahen mich als ich vor dritthalb Stunden etwa +drüben aus dem Löwen kam?« + +»Ja, Sie grüßten ja herauf,« sagte die Professorin — + +»Nun gut; ich war dort, einem armen Mädchen nachzufragen, das wir gestern +Abend spät auf der Straße trafen, und das ich dorthin schickte +Nachtquartier zu suchen« — Und nun erzählte ihnen Kellmann mit kurzen +Worten das gestrige Zusammentreffen mit des unglücklichen Loßenwerder +Schwester, und ebenfalls daß sich schon jetzt herauszustellen scheine, wie +der arme Teufel von Loßenwerder unschuldig in Verdacht gerathen sei. Nur +in reiner Verzweiflung mochte er sich den Tod gegeben haben, als man ihm +das letzte, einzige das er auf der Welt hatte — seinen ehrlichen Namen — +nehmen wollte — oder eigentlich schon von Gerichts wegen genommen hatte. +Unsere wackeren Polizeigesetze halten ja nun einmal jeden Menschen für +einen Spitzbuben, bis er nicht durch Atteste genügend dargethan hat daß — +»gegen ihn noch nichts Gravirendes bekannt geworden.« + +»Und was geschieht jetzt mit dem armen, armen Mädchen?« frugen fast +gleichzeitig Marie und Anna — »lieber Gott, hier in der fremden Stadt, +allein, ohne Mittel, ohne Freunde, wie entsetzlich müßte es da sein, wenn +sie vielleicht aus rohem Munde zuerst die furchtbare Nachricht vernähme.« + +»Gestern Abend,« sagte Herr Kellmann etwas verlegen, »kam uns das Ganze +wirklich so schnell und überraschend, daß wir nicht die geringste Zeit zum +Ueberlegen behielten; wir — wir gaben ihr nur ein paar Groschen und +schickten sie in den Löwen, hier gegenüber, um da zu übernachten, damit +sie nicht in der Stadt nach ihrem Bruder früge, und die entsetzliche +Geschichte gleich in der ersten Viertelstunde erführe; heute Morgen wollte +ich dann selber herkommen und sehn was sich thun ließ — « + +»Und jetzt? — weiß sie was geschehen ist? frug die Professorin mitleidig +die Hände faltend — Herr Kellmann zuckte mit den Achseln und sagte: + +»Sie ist fort — « + +»Fort? — wohin?« riefen die Frauen. + +»Kein Mensch konnte mir darüber Auskunft geben, gestern Abend war sie +richtig dort angekommen, und ihres dürftigen Aussehns wegen in die +Gesindestube gewiesen, und dort muß sie unglückseliger Weise ihren Namen +genannt, vielleicht nach ihrem Bruder gefragt und das Schrecklichste +gleich erfahren haben, denn sie war, selbst ihr Bündel im Stich lassend, +hinausgelaufen in Nacht und Nebel und — und nicht wieder zurückgekehrt.« + +»Du lieber Gott,« sagte Anna, »wenn sie sich nur kein Leides gethan.« + +»Ich bin gleich zu Ledermann und dann auf die Polizei gegangen, diese +aufmerksam zu machen,« sagte Kellmann etwas kleinlaut, »werde auch selber +noch mein möglichstes thun das arme Ding wieder aufzufinden, aber — ich +weiß wahrhaftig nicht wo man die eigentlich suchen soll, denn sie kennt ja +keinen einzigen Menschen in der Stadt.« + +»Und in ihres Bruders früherem Logis? — « + +»Hat sie Niemand gesehn — ich war dort.« + +»Waren Sie auch schon — auf dem Kirchhof?« frug ihn Marie jetzt leise und +schüchtern.« + +»Wahrhaftig, daran hatte ich gar nicht gedacht,« sagte Kellmann rasch +seinen Stuhl zurückschiebend, »die Möglichkeit ist da, und ich will keinen +Augenblick mehr versäumen — vielleicht ist es jetzt noch nicht zu spät.« + +»Und Sie sagen uns Antwort?« + +»Sowie ich etwas Bestimmtes über sie weiß — aber — aber was dann mit ihr +anfangen? — hier in der Stadt _kann_ sie nicht bleiben,« sagte Kellmann, +die Thürklinke schon in der Hand, »und überhaupt scheint mir ihr +schwächlicher Körper zu grober Handarbeit gar nicht geeignet.« + +»Vielleicht bietet sich da für die Schwester in demselben Haus ein +Ausweg,« rief Anna plötzlich, »das für den Bruder ja so viel gut zu +machen, wenn er wirklich unschuldig gelitten. Gestern Nachmittag noch +klagte mir Clara ihr Leid, daß ihre Kammerjungfer, mit der sie sehr +zufrieden ist, und die ihr bis dahin fest versprochen mitzugehn, plötzlich +anderes Sinnes geworden wäre, und sich jetzt weigerte Heilingen zu +verlassen. Clara ist so seelensgut, sie würde gewiß Alles thun was nur in +ihren Kräften steht, das arme Kind den herben Verlust vergessen zu machen. + +»Aber wird sich das Mädchen selber dazu eignen?« sagte Kellmann. + +»Weshalb nicht,« rief aber auch jetzt Marie — »bringen Sie die Arme nur +hierher, sobald Sie sie finden, und nehmen sie Henkel’s nicht mit, findet +Papa gewiß einen Ausweg.« + +»Ja, Papa einen Ausweg,« sagte aber der Professor — »ich kann _Niemanden_ +mehr mitnehmen Kinder, so viel solltet Ihr eigentlich jetzt schon wissen, +denn wir sind Leute genug.« + +»Ach wenn sie überhaupt gehen will,« rief Kellmann, »die Passage bringen +wir hier schon zusammen, und wenn sich Fräulein Anna bei Frau Henkel für +sie verwenden will, wär’ es ein Glück für das arme Mädchen, den hiesigen +für sie so trüben Verhältnissen so rasch wieder entrissen zu werden. Doch +jetzt leben Sie wohl — ich habe da nicht lange Zeit mehr zu verlieren, und +hoffe Ihnen bald günstige Nachrichten bringen zu können.« + + * * * * * + +Actuar Ledermann hatte die Nacht einen heftigen Fieberanfall bekommen, und +sich am anderen Morgen auf seinem Bureau entschuldigen lassen. Erst um +zehn Uhr etwa fühlte er sich etwas besser, und beschloß ein wenig an die +frische Luft zu gehn, in dem sonnigen Morgen draußen die trüben quälenden +Gedanken zu verscheuchen. + +Er ging auf den Kirchhof, das Grab seines kleinen Lieblings zu besuchen, +und nahm einen Monatsrosenstock mit hinaus, ihn darauf zu pflanzen. + +Der Weg der zu dem Grab, zwischen den andern Hügeln hin, führte, lief eine +kurze Strecke die Mauer entlang, die bis jetzt leer gelassen und von +Unkraut überwuchert lag. Nur ein einziger, unter Gras und Unkraut fast +versteckter flacher Hügel war dort aufgeworfen, über dem kein Kreuz den +Namen des Hingeschiedenen kündete, keine Blume ein sorgendes Herz +verrieth, das dem Entschlafenen die stille Thräne nachgeweint. Und dort? — +in das hohe, feuchte Gras geschmiegt, lag eine schlanke Mädchengestalt, +Stirn und Antlitz in dem wuchernden Unkraut verborgen, auf dem die vollen +aufgelösten Locken ruhten. + +»Lieber Gott,« sagte der Actuar, mit dem Blumenstock im Arm neben ihr +stehen bleibend, leise vor sich hin — »es ist doch noch viel, viel Elend +in der Welt, und wenn Einem recht traurig und weh um’s Herz ist, sollte +man eigentlich immer hinaus auf den Kirchhof gehn. Da haben die Leute +nicht ihre glatten unbewegten Alltagsgesichter vor, sondern geben sich wie +sie sind, und wenn es auch eben kein Trost sein sollte andere Menschen +unglücklich zu sehn, ist es doch jedenfalls einer, zu wissen daß man es +nicht allein ist.« Und sich langsam abwendend schritt er dem Grabe seines +Kindes zu, setzte den Blumentopf auf den kleinen Hügel, und sich selber +dann auf eine dicht daneben liegende Marmorplatte, die das Grab eines +anderen Menschen deckte. + +Dort blieb er lange, das Gesicht mit den Händen bedeckt, und regungslos in +seiner Stellung verharrend, seinen schmerzlichen Gedanken überlassen, bis +die Sonne höher und höher stieg, und ein stechender Kopfschmerz ihn mahnte +den, den heißen Strahlen vollkommen ausgesetzten Platz zu verlassen, wenn +er sich nicht noch kränker machen wollte als er schon war. Er stand auf, +und sah sich nach dem Todtengräber um, diesen zu bitten den Blumenstock +für ihn einzusetzen, und fand ihn auch, nicht weit von dort entfernt, mit +einem neuen Grabe beschäftigt. Langsam seinen Spaten schulternd ging er +mit ihm zu dem verlangten Platz, und dort sein Handwerksgeräth neben sich +in den Boden stoßend und sich den Schweiß von der glühenden Stirne +trocknend, sagte er freundlich: + +»Warmer Tag heute, Herr Actuar — sehn Sie einmal was für ein schönes +Stöckchen; das müssen wir aber ordentlich angießen, sonst vertrocknet es +gleich in der lockeren Erde — werde Ihnen das schon besorgen.« + +»Bitte sein Sie so gut,« sagte Ledermann, und der Mann nahm den Stock auf, +drehte ihn um und schlug mit der flachen Hand unter den Topf, diesen +locker und los zu bekommen. + +»Kennen Sie das junge Mädchen was da auf dem Grabe an der Mauer liegt?« +frug der Actuar jetzt, als sein Blick wieder zufällig dort hinüber +streifte — »dort drüben meine ich.« + +»Ja ich weiß schon,« sagte der Mann, ohne den Kopf zu wenden und mit +seiner Arbeit beschäftigt — »nein — sie saß vor dem Kirchhofsgitter schon +heut’ Morgen wie ich öffnete, um drei Uhr früh, und muß die ganze Nacht da +zugebracht haben. Wie ich das Thor aufmachte frug sie mich nur nach dem +Grabe eines armen Teufels, den wir hier vor kurzer Zeit zu Ruh gebracht, +und ist seit der Zeit nicht von dort weggegangen. Das kommt manchmal vor.« + +»Und wer liegt da begraben?« frug Ledermann schnell, dem ein plötzlicher +Gedanke an das Mädchen von gestern Abend aufstieg. + + [Capitel 9] + +»Dort an der Mauer?« sagte der Todtengräber, »ih Sie wissen ja, der kleine +bucklige Bursche, der von der Brücke gesprungen war, und sich den Kopf +aufgeschlagen hatte.« + +Dem Actuar fuhr es mit einem eisigen Stich durchs Herz, aber er erwiederte +Nichts, gab dem Mann eine Kleinigkeit für seine Dienstleistung, und ging +dann langsam, als ihn dieser wieder verlassen und seine frühere Arbeit +aufgenommen hatte, zu Loßenwerder’s Grab, wo die Trauernde noch still und +regungslos in ihrem Jammer lag. Nur das krampfhafte Zittern des Körpers +verrieth das darin wohnende Leben. + +»Liebes Kind,« sagte Ledermann leise — das Mädchen bewegte sich nicht — +»mein liebes Kind,« sagte er lauter, und berührte ihre Schulter mit seinem +Finger. Langsam hob sie das bleiche, Thränen überströmte Gesicht zu ihm +empor, und als sie den fremden Mann neben sich sah, richtete sie sich +verwirrt, beschämt aus ihrer Stellung auf. + +»Aber wie können Sie sich hier so Stunden lang in das feuchte Gras +werfen,« sagte der Actuar mit freundlichem Vorwurf — »Sie _müssen_ ja +krank werden — nicht wahr, Sie kennen mich nicht mehr?« + +Das Mädchen sah ihn groß und verwundert an, und schüttelte dann langsam +mit dem Kopf. + +»Ich sprach gestern Abend mit Ihnen, draußen vor dem Thor, wo die Musik in +dem Hause war,« sagte Ledermann — »hatten Sie gar keine Ahnung von dem +Schicksal des Bruders?« + +»Keine,« sagte die Arme leise, das Köpfchen wieder senkend. + +»Und wo erfuhren Sie seinen Tod?« + +Das Mädchen schauderte zusammen als sie des Augenblicks gedachte, und +sagte endlich, wie mit angstgepreßter Stimme: + +»Gestern Abend in dem Haus — die Leute in der Gesindestube frugen mich wo +ich herkäme und um meinen Namen, und dann — + +»Und dann?« frug der Actuar mitleidig, als das Mädchen schwieg und ihr +Antlitz wieder zitternd in den Händen barg — + +»Dann sagten sie« — setzte das Mädchen, am ganzen Körper bebend hinzu — +»daß Einer der so hieß — und sie spotteten dabei über sein Gebrechen — daß +Einer — hier — « sie vermochte nicht auszureden und warf sich, +rücksichtslos um den neben ihr stehenden Fremden, und in krampfhafter +Verzweiflung, wieder auf das Grab nieder, das sie laut schluchzend mit +ihren Armen umschlang, und den Bruder rief, sie zu sich zu nehmen in sein +stilles, kühles Bett. + +Nur mit Mühe, und herzlichen tröstenden Worten die er zu ihr sprach, +brachte sie Ledermann, als sich ihr Schmerz in etwas ausgetobt, endlich +dahin sich etwas zu fassen und zu beruhigen, und ihm mehr über ihr +Schicksal und sich selber zu sagen. Sie hieß Hedwig, war funfzehn Jahr alt +und hatte bis zu ihrem elften Jahr bei einer entfernten armen Verwandten +zugebracht, nach deren Tode sie, ein Kind noch, bei fremden Leuten in +Dienst gehen mußte. Ihre Elteren schienen in besseren Verhältnissen gelebt +zu haben, waren aber früh gestorben, und die Waisen sich selber überlassen +gewesen. Ihr um zehn Jahr älterer Bruder Franz hatte sie dabei noch immer +dann und wann von dem Wenigen was er selber verdiente, unterstützt, auch +ihr vor einigen Monaten — und das mußte etwa grade vor seinem Tode gewesen +sein, geschrieben, daß er recht sparsam lebe, und bald so viel zusammen zu +haben hoffe mit ihr, der Schwester, nach Amerika auszuwandern, dort +vielleicht ein kleines Geschäft oder irgend etwas Anderes anzufangen, +ehrlich durch die Welt zu kommen. Hedwigs Aussage nach mußte er ihr auch +die genaue Summe geschrieben haben, die er besaß, und als sie der Actuar +dringend bat ihm den Brief zu verschaffen, wenn es irgend möglich sei, da +der vielleicht vollständig des Bruders Unschuld beweisen konnte, zog sie +aus ihrer Brust das zusammengefaltete und dort bis jetzt sorgfältig +bewahrte Papier. Es war das letzte was sie von ihm bekommen, und als Monat +nach Monat verstrich und keine neue Nachricht kam, wurde sie zuletzt +unruhig und schrieb nach Heilingen. Aber auch hierauf erhielt sie keine +Antwort und nicht mehr im Stande die Ungewißheit zu ertragen, verließ sie +ihren Dienst und machte sich, mit wenigen Groschen in der Tasche auf, den +weiten Weg zu Fuß zurückzulegen. Und ihr Empfang? großer Gott mit Spott +und Hohn wurde ihr Bruder — das einzige noch auf der Welt ihr gehörende +Wesen, das sie mehr als sich selber liebte — eines furchtbaren Verbrechens +beschuldigt, in Folge dessen er sich selber das Leben genommen, und +schlimmer, gewaltiger noch als die Nachricht seines Todes, erschütterte +das reine, vertrauensvolle Herz des armen Kindes der erste _Zweifel_ an +den Hingeschiedenen, der doch heimlich und quälend in ihr aufsteigen +wollte, wie sie sich auch dagegen sträubte; und doch _wußte_ sie daß er +keiner schlechten Handlung fähig gewesen sei. + +Während dieser Erzählung flossen ihre Thränen stärker; wenn aber der +Schmerz auch nur mehr aufgerüttelt wurde durch das Wiederdurchleben +vergangener Scenen, fand sie doch auch einen Trost in dem Aussprechen über +ihren Verlust. Der Actuar überlas indeß flüchtig den Brief, und den Datum +mit dem verübten Raub vergleichend sah er, ob Loßenwerder nun schuldig +oder unschuldig sei, daß jenes, bei ihm gefundene Geld sein Eigenthum +gewesen sein müsse, schon vor dem Tag, und nicht mehr als Beweis gegen ihn +gelten konnte. + +So traf sie Kellmann, der von Lobensteins direct auf den Gottesacker +gegangen war, das arme Mädchen aufzusuchen. Mit wenigen Worten sagte ihm +der Actuar was er von ihr erfahren, und der gutmüthige kleine Kürschner +setzte sich neben sie auf das Grab des Bruders, nahm ihre Hand in die +seine, und diese streichelnd sprach er ihr Muth und Hoffnung in das arme +gequälte Herz. Sie sollte nicht mehr allein stehn auf der Welt; er wollte +Freunde für sie finden, die sich ihrer annähmen, und sie Beide, Ledermann +und er, wollten nicht ruhen noch rasten bis ihres Bruders Name wieder +ehrlich gemacht sei vor der ganzen Stadt; lieber Gott, sie konnten ja +nichts mehr für den Armen thun. + +Hedwig weinte, während er sprach; aber die Thränen lösten ihren Schmerz — +die freundlichen Worte; oh die ersten wieder seit so langer, langer Zeit +die sie gehört, thaten ihr wohl und bannten die Verzweiflung aus ihrem +Herzen, der sie ja sonst wohl rettungslos verfallen wäre. Wieviel Segen +hat schon ein herzliches Wort gebracht, dem Unglücklichen gespendet — wie +viele Thränen getrocknet, wie manches Weh, wenn es nicht heilen konnte, +doch gelindert. + +Kellmann erbot sich dann auch, sie zu seiner Mutter zu führen, wo sie +wenigstens bleiben konnte bis sich etwas Weiteres entschieden. Von Amerika +sagte er ihr noch Nichts, die nächsten Tage mochten sie erst mit dem +Gedanken vertrauter machen, wenn sie hörte wie viel Leute die auch ihren +Bruder gekannt und liebe Freunde von ihm selber seien, gerade jetzt nach +dort hinübergingen. + +Hedwig zögerte noch schüchtern das gütige Erbieten anzunehmen, aber die +Worte klangen so herzlich, so gut gemeint, sie stand so hülflos, so allein +in der weiten Welt, der fremde Mann erschien ihr wie ein Engel des Himmels +in ihrem Schmerz, und unter Thränen nahm sie seine Hand und dankte ihm, +und sagte daß sie ihm folgen würde, wohin er sie führe. + + + + + + Capitel 10. + + + DIE BEIDEN FAMILIEN. + + +Der Leser muß mir noch, ehe wir unsere weitere Wanderung zusammen +antreten, zu zwei Stellen folgen, in Lage und Art freilich gar sehr +verschieden. Den Characteren, die wir dort finden, begegnen wir später +wieder, theils auf der Reise, theils in ihrem neugewählten Vaterland. + +An der Hannöverschen Grenze lag ein kleines Dorf, Waldenhayn mit Namen, +und fast versteckt zwischen mächtigen Linden und Fruchtbäumen, die es von +allen Seiten dicht umgaben. + +Mitten im Dorf auf einem flachen, aber die ganze Ortschaft überschauenden +Hügel stand die Kirche, und daneben das kleine freundliche Pfarrhaus, das +sein Dach über gute und glückliche Menschen gespannt hatte, Jahrzehnte +lang — und heute? — Guter Gott welche Veränderung in dem Haus — der Vater, +Pastor Donner, still und ernst in seinem Sorgenstuhl, und, ganz gegen +seine sonstige Gewohnheit, ordentlich eingehüllt in eine dichte +Tabakswolke, die Mutter mit verweinten Augen, und doch immer geschäftig +herüber- und hinübergehend, bald aus der in jene Stube, Kleinigkeiten zu +besorgen die sie immer wieder vergaß, ehe sie nur das andere Zimmer +betreten. + +Der älteste Sohn Georg ging zu Schiff — ging nach Amerika über das weite, +wilde Weltmeer nach einem anderen Vaterland, dort für den unruhigen Geist +das Glück zu suchen, das er hier nicht fand, und »wann würden sie ihn — ja +würden sie ihn je wieder sehen?« Oh es ist ein großer Schmerz für ein +Elternherz ein Kind in der Blüthe der Jahre zu verlieren — wie viel Sorge, +wie viel schlaflose Nächte hat es gemacht, bis es wuchs und gedieh; welche +Hoffnungen knüpften sich an das junge Wesen, und blühten und reisten mit +ihm; wie treulich wurde da nicht jeder Schritt bewacht, den noch +unsicheren Fuß vor Stoß und Fall zu schützen, wie ängstlich jedem bösen +Eindruck gewehrt, der Herz oder Geist hätte vergiften können. Und nun das +Alles preiszugeben der Welt, ihren Verführungen, ihren Gefahren für Geist +und Körper, das Alles preiszugeben und hinausgeworfen zu sehn auf die +stürmischen Wogen des Lebens — sich selbst überlassen, und der eigenen, +vielleicht doch noch zu schwachen Kraft. Wie viele heimliche Thränen +werden da geweint, wie trüb und traurig liegt da oft des Kindes Zukunft +vor dem ahnenden Blick des Vaters und der Mutter — Krankheit wird es +erfassen und halten, und keine liebende Hand in der Nähe sein, es zu +pflegen und ihm den Schweiß von der heißen, glühenden Stirn zu trocknen, +die Verführung ihre falschen, goldblinkenden Netze nach ihm auswerfen, und +keine treu warnende Stimme ihm zur Seite stehn — Noth und Mangel +vielleicht in bitterem Weh auf ihm lasten, und Niemand da sein, der ihm +Hülfe bringt, und den Unglücklichen tröstet und unterstützt — Mutter und +Vater sind fern, fern von dem Geliebten, seine Klage dringt nicht herüber +zu ihnen — ihr Trost und Hülfswort nicht zurück zu ihm. + +Und ein solcher Abschied dann — der Tod pocht nicht viel härter an des +Glückes Thor, und das Bewußtsein den Geschiedenen still und geschützt in +kühler Erde zu wissen, auf der die treu gepflegten Blumen keimen, ist oft +noch weniger bitter als dieser _freiwillige_ Tod — der Fortgang über’s +Meer, in eine fremde, ungekannte Welt — vielleicht so ohne Wiederkehr wie +jener, und ohne jedes beruhigende Gefühl der Sicherheit. Der Scheidende +ist da noch immer besser, weit besser daran als die Zurückbleibenden; ihm +liegt die Welt jetzt frei und offen da, jede Stunde draußen, jede Meile +Wegs bringt ihm Neues, Unbekanntes, und wehrt dem Blick nur an dem einen +Schmerz zu haften. Er hat auch zu sorgen, für sich und sein Gepäck, seine +ganze Zukunft ist ihm in der einen Stunde in die eigene Hand gegeben — ein +ungewohnt Geschäft bis jetzt — und fremde Landschaft, fremde Scenen +wechseln so rasch an ihm vorüber, daß jedes Bild einen Theil des alten +Schmerzes fortführt mit sich. Selbst der Gedanke an die Verlassenen hat +nicht das Herbe, Bittere für ihn, als es für diese hat, wenn sie sein +gedenken, und sich mit Vermuthungen quälen müssen wie es jetzt ihm geht, +was er thut, was er treibt, wo er jetzt gerade weilt. _Er weiß_ in welchem +Kreis die Seinen sich bewegen, kennt in jeder Tageszeit ihre kleinen, +häuslichen Beschäftigungen, ihr gleichmäßiges Wirken und Schaffen, und +sein Herz, das immer noch daheim bei ihnen weilt, wahrt seinen festen +Anhaltspunkt an sie sich unverkümmert fort, bis das Bild, von anderen +dicht umdrängt in weiter immer weiterer Ferne langsam erbleicht, und nur +noch auf dem Hintergrund des Herzens wie schlummernd liegt, in seinen +Träumen ihn zu segnen, oder dereinst, wenn die Welt ihn kalt und rauh von +sich stößt, und er allein und freundlos sich da fühlt, wieder aufzuglühen +in aller Frische und Wärme, ein Trost und Hoffnungsziel, dem armen, +einsamen Wanderer. + +Georg war ein junger lebenskräftiger Mann von dreiundzwanzig Jahren, mit +dunkelbraunen, vollen, ihm frei und ungescheitelt über die offene +sonngebräunte Stirn fallenden Locken, schwarzen klaren Augen und freien, +gutmüthigen Zügen, die selbst eine breite dunkle Narbe über den rechten +Backen, der Autograph eines Commilitonen, nicht entstellen konnte. Er +hatte Medicin studirt, und sich das Doctordiplom mit eifrigem Fleiß +verdient, aber die Aussichten für einen jungen Arzt waren trüb und +unversprechend in seiner Heimath, und jene fremde Welt, von der er schon +so viel gelesen und gehört, zog ihn mächtig an. Sein Vater konnte und +wollte dieses Streben nicht bei ihm unterdrücken; auch er erkannte die +Banden, die hier einen kräftigen Geist so leicht in Fesseln legen, und +ehrte den Wunsch und Drang der jungen, nach Thaten dürstenden Brust, einen +Schauplatz zu finden für ihr Sehnen und Wirken, wenn er sich auch wohl +selber dann wieder mit einem schweren Seufzer gestehen mußte, wie manche +Hoffnung der Sohn zertrümmert, wie manche Erwartung er getäuscht sehn +würde in dem neuen Leben, das jetzt ihm freilich im vollen Glanz einer +aufsteigenden Sonne, von warmem Lichte übergossen winkte. Und wie würde +sich sein Herz dann bewähren, das jetzt jubelnd zu den blinkenden, +Flaggen- und Blumengeschmückten Wällen seiner eigenen Luftschlösser +aufschaute, wenn es an deren Trümmern stand? oh daß er dann hätte an +seiner Seite stehen und ihn leiten dürfen den dunklen, schmalen Pfad zum +wahren Glück — retten ihn dann vor sich selbst und seinem bittern Weh. + +Aber die Zeit lag noch fern, und weshalb sich selbst den Augenblick +vergiften, wo sich der Himmel noch blau und rein über seiner Zukunft +spannte. Georg selbst sah auch Nichts von solchen trüben Bildern, die das +Herz des Vaters oft mit banger Trauer füllten; ihm war das Thor jetzt weit +und frei geöffnet, das hinaus in’s Leben führte und an dessen Schwelle er +stand, und nur die Trennung noch vom Vaterhaus lag schwer auf seiner +Seele. + +Am schwersten freilich trug gerade diese Stunde, weil ganz und ungetheilt, +das Mutterherz. Nicht dachte _sie_ in diesem Augenblick an die Hoffnungen +die dem Sohne in der Welt draußen blühen, an die Gefahren die ihm drohen +könnten; sie sah und fühlte Nichts, als die Trennung von dem _Kind_, den +Abschied von dem Heißgeliebten, und wie im Traum hatte sie schon den +ganzen Tag ihren gewöhnlichen Beschäftigungen obgelegen, wie im Traum noch +einmal seine Lieblingsgerichte bereitet für den Abend, den letzten Abend, +den er im Vaterhause zubringen würde. + +Lieber Gott, die Speisen kamen Abends auf den Tisch und wurden gegessen, +aber Keiner von allen, die jüngsten Geschwister ausgenommen, schmeckten +was sie aßen; man sprach dabei über das an dem Nachmittag fortgesandte +Gepäck, über das Wetter, über die Uhr die zehn Minuten vorging — Georg +trug Grüße auf an alle seine Bekannte, die sich noch seiner erinnerten. Er +hatte an dem Tag noch selber ein paar Briefe schreiben wollen, war aber +nicht dazu gekommen — Vieles Andere war ihm ebenfalls entfallen; so wollte +er einen Absenker von dem Rosenstock mitnehmen der vor der Mutter Fenster +blühte, und jetzt blieb ihm doch keine Zeit mehr; aber während dem Essen +stand die Schwester — unvermißt — vom Tische auf, ging hinaus, grub einen +Absenker aus, und brachte ihn in einem kleinen Topf dem Bruder, dem sich +die Thränen in die Augen zwangen — er mochte kämpfen dagegen wie er wollte +als er die Gabe sah. Die Mutter stand vom Tisch auf und ging hinaus — +nicht ein Wort wurde gesprochen so lange sie fort war. Die Speisen +verschwanden dabei von den Tellern und der Wein wurde getrunken, und die +Mutter kam zurück und nahm ihren Platz wieder ein, lautlos wie vorher; man +konnte den langsamen Gang der Uhr hören, an der Wand. + +Da endlich füllte der Vater sein Glas bis zum Rand, hob es mit der Linken +und ergriff mit der anderen Georgs Hand. Er hatte etwas zum Herzen des +Sohnes, zum Trost vielleicht der Mutter sprechen wollen, aber die Worte +schwollen ihm im Mund — er brachte eine volle Minute keine Sylbe über die +Lippen, und sich gewaltsam fassend und zusammennehmend sagte er endlich. + +»Auf ein frohes Wiedersehn Georg!« + +Georg preßte des Vaters Hand und trank ihm und der Mutter und den +Geschwistern zu — und die Mutter hob ihr Glas und stieß mit dem Sohne an, +aber mehr vermochte das Mutterherz nicht — zu lange hatte sie jetzt +gewaltsam gegen ihr eigenes Gefühl an- und den Schmerz niedergekämpft, den +Anderen zu Liebe; länger war sie es nicht im Stande, und das Glas mit +zitternder Hand niedersetzend, daß der Wein über und auf das Tischtuch +floß, stand sie auf, warf die Arme krampfhaft um den Hals des Sohnes und +schluchzte laut. + +»Mutter, liebe — liebe Mutter — « + +»Mein Kind — mein Kind,« jammerte die Frau und der Schmerz wuchs an +Heftigkeit, wie der mächtig aber still dahinwälzende Strom schäumend +hinausdonnert in’s Freie, wo er sich erst einmal Bahn gebrochen aus seinem +Bett — »mein liebes — liebes Kind.« + +»Aber Mutter,« bat der Pastor, »fasse Dich; es ist ja doch nur vielleicht +auf kurze Zeit, bis sich der Junge draußen die Hörner abgelaufen, und ihm +die Heimath anders aussieht wie jetzt; dann kommt er wieder.« + +»Liebe — liebe Mutter,« flüsterte Georg, sie innig an sich schließend, und +auch ihm erstickten unaufhaltsam fließende Thränen die Stimme. + +Die Geschwister weinten auch, und der Vater war aufgestanden und ein paar +Mal mit raschen Schritten, wie um den Anderen Zeit zu geben, eigentlich +aber nur seine eigene Fassung wiederzugewinnen, im Zimmer auf- und +abgegangen. Jetzt blieb er neben der Gattin und dem Sohne stehn, und sie +langsam trennend sagte er mit sanfter, bittender Stimme: + +»Kommt Kinder, kommt — macht Euch selber nicht das Herz zum Brechen +schwer; das ist unrecht. Ueberdies quält Ihr Euch zweimal, und habt morgen +früh noch dasselbe Leid. Es ist eine lange Trennung, aber keine Trennung +für’s Leben — wir sind Alle noch rüstig und gesund, und werden uns, will +es Gott, hoffentlich Alle einmal froh und freudig in die Arme schließen +können.« + +»Aber Du schreibst bald, Georg,« flüsterte die Mutter sich mit aller Kraft +zusammennehmend — »Du läßt uns nie lange ohne Nachricht, nicht wahr Du +versprichst mir das?« + +»Gewiß Mutter, gewiß — so oft ich kann — aber ängstigt Euch nur auch +nicht, wenn einmal ein Brief länger ausbleibt als gewöhnlich; der Weg ist +weit, und ein Brief kann leicht verloren gehn.« + +»So, und jetzt zu Bett Kinder,« mahnte der Vater — »es ist spät geworden, +sehr spät, und Du mußt früh wieder heraus Georg, die Post nicht zu +versäumen; sind Deine Koffer hinübergeschafft?« + +»Es ist Alles drüben,« sagte die Mutter, sich aus den Armen des Sohnes +windend und ihre Thränen trocknend, »nur sein Ueberrock ist noch hier, den +er anzieht, und die kleine Tasche in die er morgen früh sein Nacht- und +Waschzeug steckt — doch das besorg’ ich schon selber und werd’ es nicht +vergessen. Ich bin früh auf, Georg, Du mußt ja doch auch noch Deinen +Kaffee haben bevor Du gehst.« + +»Gute Nacht Mutter!« rief Georg, umschlang sie noch einmal und küßte ihr +Lippen, Augen und Stirn, »gute Nacht meine gute, gute Mutter — gute +Nacht!« + +»Gute Nacht mein Georg, mein Kind,« sagte die arme Frau unter Thränen — +»schlaf nur jetzt recht aus — zum letzten Mal unter unserem Dach — für die +nächste Zeit wenigstens,« setzte sie rasch hinzu — »denn mit Gottes +Beistand hoff’ ich soll es nicht das letzte Mal gewesen sein — und — und +meinen Segen nimm mit Dir, wohin Du gehst — wo Du weilst — was Du thust — +— er ruhe auf Dir, mein gutes, gutes Kind!« + +Georg beugte sich unwillkürlich dem ernsten heiligen Wort — seine ganze +Gestalt zitterte dabei, und die Mutter mußte sich endlich mit freundlicher +Gewalt aus seinen Armen winden; dann aber floh sie auch hastigen Schrittes +aus dem Zimmer, sich in dem eigenen Kämmerlein recht, recht herzlich +auszuweinen. + +Die Geschwister sagten dem Bruder jetzt gute Nacht — die älteste Schwester +Louise hing lange an seinem Hals, aber riß sich los, den Schmerz der +Eltern nicht zu vermehren. Die Jüngeren küßten ihn auf die Wangen und +sagten. »Gute Nacht Georg — weck’ uns nicht zu spät morgen früh, daß wir +Dir auch noch können glückliche Reise wünschen.« + +Georg küßte sie herzlich und bat sie brav und gut zu sein, und Vater und +Mutter Freude — viel Freude zu machen, denn er selber ginge nun fort, und +die Eltern würden deshalb recht traurig sein. + +»Gute Nacht Georg,« sagte der Vater, als die Kinder zu Bett gegangen +waren, und Alle, außer ihm, das Zimmer verlassen hatten, »habe keine Angst +daß Du die Post morgen verschläfst, ich wache schon auf zur rechten Zeit — +gute Nacht mein Sohn. Komm komm, fange nicht selber wieder an, und mach’ +mir das Herz nicht schwer vor der Zeit — aber Georg, um Gottes Willen was +ist Dir? — sei ein Mann — Nun ja — so lange die Frauen da waren hat es mir +auch das Herz fast abgedrückt — man darf es sie ja nicht so merken lassen, +sonst zerfließen sie ganz — « + +»Mein lieber — lieber Vater,« schluchzte Georg an seinem Halse.« + +»Mein guter, guter Sohn!« flüsterte der Pastor, des Kindes Stirne küssend, +und jetzt selber im Innersten ergriffen und bewegt — »bleibe brav — bleibe +so brav wie Du bist — ich kann Dir nichts Besseres wünschen — trage Gott +im Herzen und Dich selbst, und — Deiner alten Eltern Bild, deren Segen Dir +folgt auf allen Deinen Wegen.« + +»Mein Vater!« + +»So mein Sohn — jetzt gute Nacht und bete zu Deinem Schöpfer daß er uns +morgen in der schweren Abschiedsstunde stärkt — gute Nacht mein Georg — +gute Nacht.« + +Leise machte er sich los aus des Sohnes Arm, küßte ihn noch einmal, und +verließ dann rasch das Zimmer. Georg aber blieb lange, lange Minuten auf +dem Stuhle sitzen wo ihn der Vater verlassen, das Gesicht in seinen Händen +bergend. + +»Gute Nacht,« flüsterte er endlich leise und kaum hörbar, als Alles schon +im Hause still war, und zu Ruhe gegangen — »gute Nacht Ihr Lieben und Gott +schütze Euch und mich; aber nicht möglich wäre es mir, die furchtbare +Trennungsstunde noch einmal durchzuleben, nicht möcht’ ich Dir Vater, Dir +Mutter den Schmerz, das bittere Weh zum zweiten Mal bereiten. Es ist +vorbei — Alles vorbei, und wenig Stunden noch und die Heimath selber +liegt, ein schöner Traum nur, in der Erinnerung Tiefe. So denn an’s Werk« +setzte er fest und entschlossen hinzu, »und ob das Herz darüber brechen +will, »durch« ist mein Wahlspruch jetzt, durch Nacht zum Licht — _durch_.« + +Und mit den, fest zwischen den zusammengebissenen Zähnen gemurmelten +Worten stand er auf, und sein Schlafzimmer öffnend warf er den Rock ab, +und badete Gesicht und Nacken in kühlem Wasser. Dann, als er die Glut die +ihn durchtobte, in etwas gelöscht, packte er den kleinen Nachtsack mit +den, sorglich für ihn auf dem Waschtisch ausgebreiteten Gegenständen, zog +sich wieder an, knöpfte den Ueberrock bis an den Hals zu, denn die Nacht +war kalt, und nach der gehabten Aufregung fröstelten ihn die Glieder, und +im Zimmer umherschauend fiel sein Blick auf den, unter dem Spiegel +stehenden, für ihn eingeschlagenen Rosenstock. Rasch barg er ihn in der +weiten Tasche seines Ueberrocks, öffnete dann das Fenster, das in den +Garten hinaus und von da über den Kirchhof führte, der Landstraße zu, und +schwang sich auf das Fensterbret. + +»Ade!« flüsterte er, »ade Du trautes, liebes Haus, ade — Gott halte seine +Hand über Dir, und schütze die lieben Menschen — ade, ade.« Und von dem +Bret hinunterspringend in den Garten, durcheilte er diesen, schwang sich +leicht über die Kirchhofmauer, die er als Kind unzählige Male +überklettert, und schritt dann langsam und traurig seinen einsam dunklen +Weg entlang. + + * * * * * + +Noch hob sich die Sonne nicht über den östlichen Fichtenhang, und der +dämmernde Tag grüßte eben die schlummernde Erde, als sich die Mutter von +ihrem Lager hob, das Mädchen weckte daß es Feuer in der Küche mache, den +Kaffee bereit zu halten, und dann den Mann rief, dem Sohn ade zu sagen. +Pastor Donner hatte aber auch nur in unruhigem Schlaf gelegen — die +Gedanken und Sorgen ließen ihn nicht ruhen, und wie aus bösem Traum fuhr +er oft empor, mit einem wehen Stich durch’s Herz zurückzusinken, _daß_ es +eben kein Traum sei, der ihn bedrücke und quäle. + +Er stand auf, zog sich an, und während die Mutter draußen in der Küche +sorgte, dem Sohn ein rasches Frühstück zu bereiten, ging der Vater hin ihn +zu wecken. + +»Georg!« sagte er, als er die Thür öffnete, die in des Sohnes Kammer +führte — »Georg — es wird Zeit — heiliger Gott!« unterbrach er sich aber +rasch und erschreckt als er das Gemach leer, das Bett unberührt und keine +Spur mehr von dem Kinde fand — »heiliger, erbarmender Gott — er ist fort.« +Und wie er sich auch vorgenommen sich zu fassen, und der Frau, dem Kind, +die letzten Augenblicke nicht mehr zu erschweren, durch seine eigene +Schwäche, traf ihn _der_ Schlag doch zu hart — zu unerwartet. In diesem +Augenblick betrat die Mutter das Zimmer, und sah wie der Vater sich +erschüttert von der Thür abwandte und das Antlitz in den Händen barg. + +»Mein Sohn — mein Kind!« stammelte sie, in der sie durchzuckenden Ahnung +des Geschehenen, der sie wie ein jäher Schlag in’s Herz traf — »wo ist — +wo ist Georg?« Aber der Vater zog sie an die Brust, und ihre Stirn, auf +die seine heißen Thränen fielen, küssend, flüsterte er leise: + +»Er hat uns den Schmerz des Abschiedes sparen wollen, Louise — er ist +fort.« + +»_Fort!_« hauchte die Frau — kaum noch den Sinn der Worte fassend, und +brach bewußtlos in den Armen des Gatten zusammen. + + * * * * * + +Außerhalb Waldenhayn, wenn auch noch zu demselben Kirchspiel gehörend, und +dicht an der Grenze des bis hier herniederlaufenden Holzes, stand ein +kleines, schon halb verfallenes Haus, das früher einmal von einem +Forstgehülfen des herrschaftlichen Waldes bewohnt, dann aber nicht mehr +benutzt, und um ein Billiges, eigentlich auf Abbruch, verkauft worden war. +Der Mann der es kaufte aber, hatte früher ebenfalls in herrschaftlichen +Diensten gestanden, und dann das Metzger-Handwerk getrieben; sein wildes, +liederliches Leben jedoch ließ sein Geschäft nicht fördern, noch vorwärts +gehn. Er schien auch keine rechte Lust an einer regelmäßigen Arbeit zu +haben, heirathete dann, als er Alles was er sein nannte, durchgebracht, +ein Mädchen vom herrschaftlichen Gut, das den Dienst dort verlassen mußte +und von dem Herrn selber eine Abstandssumme bekam, und kaufte mit dem +Gelde eben das kleine unwohnliche Gebäude, das er nichtsdestoweniger +bezog, und sich jetzt angeblich vom Viehhandel ernährte. Er zog im Lande +herüber und hinüber, und kaufte und verkaufte Vieh, mehr aber noch trieb +er sich in den Wirthshäusern herum, wo er trank und spielte, und den +schlimmsten Ruf im Lande hatte, den ein Mensch haben kann, ohne daß jedoch +die Polizei den mindesten Halt an ihn bekommen konnte. Aber die +ordentlichen Leute zogen sich von ihm zurück; Niemand mochte Umgang mit +ihm oder seinem Weibe haben, und auf dem Weg zu seinem Hause wuchs Gras; +wen dort nicht ein besonderes Geschäft hinführte, betrat ihn nimmer. + +So hatte der »schwarze Steffen,« wie er im Lande seines dunklen Haares und +Aussehns wegen hieß, sechs Jahre in dem kleinen Haus gewohnt, und sein +Weib ihm, außer dem Kind das sie in die Ehe gebracht, noch drei andere +geboren. In der letzten Zeit tauchte dabei ein anderer Verdacht gegen ihn +auf, daß er sich nämlich unter der Hand mit Wilddieben einlasse, und — +wenn auch vielleicht nicht selber wildere, doch das Gestohlene kaufe und +unterbringe. + +Sicher ist, daß nicht alles Fleisch was er zu Markte führte, im Stall +gemästet worden, und als nun auch gar einmal, und vor nicht so sehr langer +Zeit, ein Forstgehülfe, in Ausübung seiner Pflicht, erschossen worden, +wurde die Aufsicht über den schwarzen Steffen, dem man aber doch nicht zu +Kragen konnte, so scharf geführt, und diesem zuletzt so unerträglich, daß +er schon ein paar Mal mit den Forstbeamten im Wirthshaus Streit gesucht +und gefunden, und ihm zuletzt von der Herrschaft, nach lange geübter +Nachsicht, der Befehl zugestellt wurde, das auf den Abbruch damals +erstandene Haus, von dem übrigens kein Ziegel mehr sein gehörte, zu räumen +und abzutragen oder stehen zu lassen, wie es ihm gefalle, seinen Wohnsitz +aber, wider ihn eingelaufener Klagen wegen, wo anders zu nehmen, vom +ersten des nächsten Monats an. + +Steffen war heute einmal ausnahmsweise den ganzen Tag zu Haus geblieben, +und hatte manche von seinen Sachen, wobei ihm die Frau half, +zusammengetragen und in einen Ranzen gepackt. Die Kinder aber achteten +wenig darauf; sie waren gewohnt daß der Vater oft fortging, und dann immer +mehre, manchmal sogar acht Tage fortblieb, ehe sie ihn wieder zu sehen +bekamen, oder auch nur von ihm hörten. Fragen, wohin er ging, durften sie +nie. + +Der Vater war übrigens mürrischer heute als je — er sprach fast kein Wort, +trank aber oft aus der Flasche, die zum ersten Mal offen in der Stube +stand, und woraus sich auch die Mutter zweimal einschenkte, und sich dann +zu dem jüngsten Kinde setzte, und es auf den Schoos nahm und küßte. + +»Weshalb weinst Du, Mama?« sagte das zweite Kind, ein Junge von etwas über +fünf Jahren — »hat Dir Jemand ’was zu Leid gethan?« + +»Weil sie eine Närrin ist,« brummte der Vater, der die Frage gehört hatte, +und jetzt einen ärgerlichen Blick nach der Frau schoß — »ich dächte wir +hätten nun genug darüber geschwatzt und die Sache wär’ abgemacht.« + +»Nun ja — ich sage ja auch kein Wort mehr dagegen,« erwiederte die Frau — +»es — es überkommt Einen nur noch manchmal so — nachher wird’s besser und +— es geht ja doch nun einmal nicht anders,« setzte sie still und schwer +vor sich hinseufzend, hinzu. + +Steffen entgegnete nichts weiter darauf, schickte aber bald darauf, unter +irgend einem Vorwand, die Kinder mitsammen hinaus in den Garten, und sagte +dann, als er sich mit der Frau allein sah, mürrisch und finster. + +»Du flennst und flennst, und wirst die Bälge noch zuletzt aufmerksam und +ängstlich machen mit Deiner Heulerei — kannst Du sie hier ernähren, so +bleib da, ich habe Nichts dagegen; kannst Du’s aber nicht, dann sei auch +vernünftig und mach’ jetzt keine dummen Streiche — es wär’ ein Spaß, wenn +sie uns abfaßten, und Du weißt am Besten was uns nachher bevorstünde.« + +Die Frau war schlank und voll gewachsen, mit besonders kleinen Händen und +Füßen, mußte auch einmal in früheren Jahren wirklich schön gewesen sein, +und mehr noch als nur die Spuren war ihr davon geblieben, hätte sie eben +etwas gethan sich das zu erhalten. Aber in ihrem ganzen Aeußeren ging sie, +wenn nicht geradezu unreinlich, doch vernachlässigt; die ungeordneten +Haare wurden durch einen zerbrochenen, ächten Schildpatkamm, und durch ein +schwarzes abgescheuertes Sammetband, in dem vorn eine große bronzene +Broche mit einem unächten Turquis saß, gehalten; in den Ohren hingen ihr +ebenfalls lange emaillirte unächte Ohrringe, die mit dazu beigetragen +hatten ihr bei ihren bescheidenen und einfachen Nachbarn den Namen der +»stolzen Jule« zu geben, und das Kleid von gutem Stoff und nach neuem +Schnitt gemacht, zeigte unausgebesserte Risse, und Spuren von Fett, in +Streifen und Flecken, die schlecht zu dem blitzenden falschen Schmucke +paßten. + +Auch in den Augen selber lag etwas Keckes, Unweibliches, das aber doch +jetzt einem mächtigeren Gefühl gewichen war, denn nur manchmal, bei den +rauhen Worten, blitzte es an gegen den Mann, und um die Lippen zog sich +dann ein eigener fester Zug von Trotz und Zorn. + +»Ich hab’ Dir genug zu Willen gethan, daß ich mit Dir gehe und die Kinder +zurücklasse,« sagte sie dann nach kleiner Weile — »wenn’s mir das Herz +dabei zusammenzieht, wärst Du schlimmer wie ein Thier, wolltest Du’s mir +wehren. Der Wolf läßt seine Brut nicht im Stich, und wir wollen fort — « + +»Der Wolf hat auch draußen zu leben, und für die Jungen Milch — wer +giebt’s uns?« zischte der Mann zwischen den zusammgebissenen Zähnen durch +— »wir könnten krepiren hier im Nest, keine Katze miaute deshalb im ganzen +Kreis.« + +»Ich weiß es, ich weiß es,« sagte die Frau, »und das ist das Einzige was +mich freut, daß wir ihnen jetzt einen Streich spielen — den Lumpen. Und +wie sie schreien und schimpfen werden — aber ernähren müßen sie sie doch, +davon hilft ihnen kein Gott. Leid thut’s Einem freilich immer, die armen +Dinger, die noch Nichts von der Welt wissen und begreifen, so allein +zurückzulassen — wenn ich das Jüngste nur mitnehmen dürfte — « setzte sie +leise hinzu. + +»Komm mir nur jetzt nicht wieder mit dem alten Gewäsch,« rief aber der +Mann finster und ärgerlich — »ich dächte das hätten wir über und genug +besprochen und überlegt, und wären einig darüber.« + +»Ueberlegt gar nicht,« sagte aber die Frau, die Brauen fest +zusammenziehend — »wenn ich davon anfing hast Du mich immer grob +angefahren und ausgezankt, und Deinen Willen gehabt dabei, wie bei allem +Anderen. Ich weiß daß ich nicht zu den Weichen gehöre, aber — Mutter +bleibt doch Mutter, und — ’s ist immer ein häßlich unnatürlich Ding.« + +»Papperlapapp!« sagte der Mann den Kopf herüber und hinüber werfend — +»unnatürlich — natürlich ist’s allerdings nicht daß die Scheunen +ringsherum voll liegen, und das reiche Lumpenpack das Geld mit vollen +Fausten zum Fenster hinauswirft, während wir hier trocken Brod nagen +sollen, und das nicht einmal immer kriegen — schöne Natürlichkeit das.« + +»Wenn Du nur nicht den dummen Streich mit dem — « + +»Halt’s Maul!« brummte aber der Mann mürrisch — »ich sollte mich wohl +erwischen und anzeigen lassen, daß ich jetzt im Zuchthaus säß und spänn — +Gott verdamm mich, ich schösse eher die ganze Bande über den Haufen, einen +nach dem anderen — bist Du nun fertig mit Deinen Sachen?« + +»Ja!« sagte die Frau leise und unwillkürlich zusammenschaudernd — »es kann +fort gehn.« + +»Wir wollen aber doch warten bis es dunkel ist,« sagte Steffen nach +kleiner Pause; »besser ist besser, und der Märtens unten an der Straße +braucht nicht gleich zu wissen daß wir fortgefahren sind, beide zusammen, +seine Nase hineinzustecken vor der Zeit; er ist mir so schon ein paar Mal +hier oben herumgekrochen, wo er Nichts zu suchen hatte.« + +»Aber wenn sie uns nun doch vor der Zeit vermissen?« sagte die Frau, »und +unserer Spur nachgehn; wenn’s jetzt schlimm ist, nachher wird’s erst bös, +und wir dürften dann nur gleich mit Sack und Pack abziehn.« + +»In’s Arbeitshaus, eh? — nein, eine Weile halt’ ich sie uns schon von den +Hacken, und Gefahr daß sie uns finden, hat es auch nicht. Wo wir zur +Eisenbahn kommen bin ich bekannt, und habe schon manchmal Vieh da gekauft, +wenn sie auch eben meinen Namen nicht wissen, und wenn wir fortgehn, lasse +ich einen alten Hut von mir und das gelbe Tuch von Dir unten an dem tiefen +Wasserloch unter den Erlen. Sobald Jemand hier in der Gegend vermißt wird, +suchen sie dort immer zuerst, und der Schulze im Dorf hat das Pulver nicht +erfunden, dem ist leicht was aufgehängt. Bis sie eine Weile stromab +geangelt haben, sind wir hoffentlich unterwegs, und wenn nicht unter, doch +über dem Wasser. Aber ich will jetzt noch einmal hinunter zum Märtens gehn +und Mehl holen; es ist auch heute der gewöhnliche Tag, und hierher kommt +nachher keiner so leicht, nimm Du indeß die Kinder vor, und instruire sie +wie sie sich zu verhalten haben.« + +Und seine Mütze aufgreifend steckte Steffen die Hände in die Taschen, und +schlenderte langsam den Hang hinunter dem nächsten, eine gute +Viertelstunde entfernten Hause zu, während die Frau die Kinder zu sich +hereinrief, das Jüngste, ein kleines liebes Mädchen von anderthalb Jahren, +auf den Schoos nahm, und sich damit still und lautlos in die Ecke setzte. + +Die Sonne neigte sich indessen ihrem Untergang, und der Vater kam nach +etwa einer Stunde, als es schon völlig dunkel geworden war zurück — die +Mutter saß noch immer mit dem Kind auf dem Schoos, das bei ihr +eingeschlafen war, und hielt es fest an sich gedrückt. + +»So Jule, es ist Zeit,« sagte der Mann, seine Arbeitsjacke abwerfend und +den Rock anziehend, »weiß die Albertine was sie zu thun hat?« + +Die Frau zitterte am ganzen Leib, aber sie erwiederte kein Wort, stand +auf, küßte das Kind das sie auf dem Arm trug, und legte es in sein +Bettchen — einen Kasten, der in der Ecke der Stube stand. + +»Albertine,« sagte sie dann zu der Aeltesten, und wandte sich von der +düster brennenden Oellampe, die Steffen auf den Ofen gestellt hatte, ab, +daß die Tochter ihr nicht in die jetzt wirklich todtenbleichen Züge +schauen sollte — »ich gehe mit dem Vater heute Abend eine Weile fort — den +Karl bring ich erst noch zu Bett — sollten wir morgen früh nicht bei +Zeiten da sein, so — so zieh die Kinder an und gieb ihnen zu essen — der +Brodschrank ist offen, und Milch steht unter der Diele in der Schüssel — +Du paßt mir auf daß den Kleinen Nichts passirt — Du — Du bist ja schon ein +großes Mädchen.« + +»Und geht mir nicht vor die Thür morgen, bis wir nicht wieder da sind,« +sagte Steffen, »wie ich heut Abend drunten gehört habe, ist hier ein +toller Hund herumgelaufen. Das Beste wird sein Ihr haltet die Hausthür zu, +daß er nicht etwa gar herein kommt.« + +Die Frau hatte dabei das etwa dreijährige Mädchen das indeß gar schläfrig +geworden war, ausgezogen und in sein Bettchen gelegt — und der Junge, +Carl, saß auf der Bank am Fenster, noch auf sein Abendbrod wartend. Aber +er sah auch erstaunt dabei die Eltern an, die noch nie so spät Abends +fortgegangen waren, und auch wohl noch nie, oder doch nur selten gar so +freundlich mit ihnen gesprochen hatten. + +»Was für ein Hund ist es, Vater?« frug er jetzt, da der Gedanke an den +tollgewordenen Hund ihn besonders interessiren mochte — »Märtens’ Bello? +der kennt mich, und beißt mich nicht.« + +»Nein, der große Türk aus dem Dorfe unten,« sagte Steffen — »der den +Müller auch schon einmal gebissen hat.« + +»Oh der ist schlimm!« rief der Knabe erschreckt — »da geh’ ich gewiß nicht +hinaus.« + +»Geh’ nun zu Bett Carl, es ist spät,« sagte der Vater. + +»Ich habe mein Abendbrod noch nicht,« brummte der arme kleine Bursch. + +»So? — dann wird Dir’s Albertine geben — und — seid brav und folgt ihr — +« + +Er gab dem Knaben und ältesten Mädchen die Hand, und ging zu den Bettchen +der Kleinen die er küßte; dann aber als ob er sich einer solchen Regung +schäme, richtete er sich rasch wieder auf, drückte den Hut in die Stirn, +und sagte, das Zimmer verlassend, und noch in der Thür sich umdrehend: + +»Ich warte auf Dich unten am Wasser — mach schnell!« + +»Sei ein gut Kind Albertine, und hab mir gut auf die Kleinen Acht,« +flüsterte die Frau jetzt dem Mädchen zu, das eben dem Bruder ein Stück +Brod und Salz gegeben hatte, an dem der aß und verwundert dabei hinter den +Vater her aus der Thür, und nach der Mutter schaute, die lange — o lange +Zeit nicht so freundlich mit ihnen gesprochen hatte. + +»Aber Mutter wo geht Ihr nur hin?« — frug das Mädchen, der das Benehmen +der Eltern ebenfalls auffiel, verwundert. + +»Auf’s Amt,« sagte die Frau, auf die Frage schon vorbereitet — »wir müssen +morgen früh mit Tagesanbruch in der Stadt sein, und wollen gehn so lang’s +kühl ist.« + +»Und wann kommst Du wieder?« + +»Hoffentlich morgen gegen Abend — wenn wir fertig werden; auf dem Amt sind +sie aber gar weitläufig — manchmal dauert’s länger als man denkt. Geht mir +aber nicht vor die Thür, Ihr habt zu essen genug — jedenfalls sind wir +morgen Abend um die Zeit wieder da — und acht’ mir auf die Kleinen, Tine — +sei ein vernünftig gutes Mädchen — Du bist groß genug. Und — wenn Jemand +nach uns fragen sollte, so sag nur wir wären in den Wald gegangen, und +kämen gleich wieder — es wird aber wohl Niemand fragen,« — setzte sie +leise, und wie zu ihrer eigenen Beruhigung hinzu. + +Sie sah sich im Zimmer um, ob sie Nichts vergessen habe — ihr Bündel lag +aber versteckt draußen vor der Thür, wie der Mann seine gepackte +Jagdtasche ebenfalls draußen verborgen gehabt und jetzt mitgenommen hatte. +Ihr Blick überflog auch nur flüchtig den kleinen Raum, und haftete dann +auf dem Bettchen des jüngsten Kindes — sie konnte nicht widerstehn, und +trat noch einmal zu dem schlummernden Kind. + +»Geh doch hinaus Tine, und hole ein paar Stücken Holz herein, so lang ich +noch hier bin, daß Du morgen früh Kaffee kochen kannst — ich bleibe so +lang bei den Kindern,« setzte sie langsam und ohne das älteste Mädchen +dabei anzusehn, hinzu. Dieses ging, und in wilder, fast ängstlicher Hast +küßte die Frau jetzt die kleine, schon sanft schlummernde Line, und hob +dann das Jüngste aus seinem Kasten, auf dessen rosige Lippen sie den +eigenen Mund in wilder Heftigkeit preßte, bis es schrie. Die Thränen — die +Mutter _konnte_ sich nicht ganz verleugnen in dem Augenblick — liefen ihr +dabei voll und schwer die Wangen hinunter, und erst als sie das Aelteste +mit dem Holz zurückkehren hörte, legte sie das leicht beruhigte Kind +wieder auf sein Lager, und küßte den Jungen, dem die Thränen auch anfingen +in die Augen zu steigen. Er wußte freilich nicht recht weshalb, und nur +vielleicht weil er die Mutter weinen sah, wurd’ es ihm auch so weh und +weich um’s Herz. + +»Aber Mutter, was ist Dir nur heute Abend?« sagte das Mädchen, dem die +außergewöhnliche Bewegung derselben unmöglich entgehen konnte — »was habt +Ihr nur, Du und der Vater?« + +»Bah — der Vater war garstig mit mir, und wir haben uns gezankt,« sagte +die Mutter, das Gesicht abwendend von dem Kind. + +Ein scharfer Pfiff von draußen her schlug an ihr Ohr, und sie fuhr +erschreckt in die Höhe. + +»Ja — ich komme schon!« murmelte sie, kaum hörbar, vor sich hin, »so adieu +Albertine — hab auf die Kinder Acht, und — _behüt Euch Gott_!« und mit +dem, wie scheu geflüsterten und vielleicht seit langer, langer Zeit nicht +ausgesprochenen Segen, verließ sie rasch das Zimmer und das Haus. + +»Was zum Teufel trödelst Du denn da drin, und läßt mich eine Stunde hier +warten?« rief der Mann mürrisch, als sie ihn endlich an der verabredeten +Stelle traf — aber die Frau erwiederte kein Wort, und die fieberheiße +Stirn in die Hand pressend, folgte sie dem, jetzt ebenfalls finster und +schweigend Voranschreitenden, durch die Nacht. + + + + + + +***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACH AMERIKA! ERSTER BAND*** + + + +CREDITS + + +May 2006 + + Project Gutenberg Edition + richyfortytwo + Joshua Hutchinson + Online Distributed Proofreading Team + + + +A WORD FROM PROJECT GUTENBERG + + +This file should be named 18475-0.txt or 18475-0.zip. + +This and all associated files of various formats will be found in: + + + http://www.gutenberg.org/dirs/1/8/4/7/18475/ + + +Updated editions will replace the previous one — the old editions will be +renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no one +owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and +you!) can copy and distribute it in the United States without permission +and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the +General Terms of Use part of this license, apply to copying and +distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the Project +Gutenberg™ concept and trademark. 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They may be modified and printed and given away +— you may do practically _anything_ with public domain eBooks. +Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial +redistribution. + + + +THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE + + +_Please read this before you distribute or use this work._ + +To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free +distribution of electronic works, by using or distributing this work (or +any other work associated in any way with the phrase „Project Gutenberg“), +you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ +License (available with this file or online at +http://www.gutenberg.org/license). + + +Section 1. + + +General Terms of Use & Redistributing Project Gutenberg™ electronic works + + +1.A. + + +By reading or using any part of this Project Gutenberg™ electronic work, +you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the +terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) +agreement. 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It exists because of the +efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks +of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance +they need, is critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring +that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for +generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation was created to provide a secure and permanent future for +Project Gutenberg™ and future generations. 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\ No newline at end of file diff --git a/18475-0.zip b/18475-0.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..a71d069 --- /dev/null +++ b/18475-0.zip diff --git a/18475-8.txt b/18475-8.txt new file mode 100644 index 0000000..f300065 --- /dev/null +++ b/18475-8.txt @@ -0,0 +1,7517 @@ +The Project Gutenberg EBook of Nach Amerika! Erster Band by Friedrich +Gerstcker + + + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no +restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under +the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or +online at http://www.gutenberg.org/license + + + +Title: Nach Amerika! Erster Band + +Author: Friedrich Gerstcker + +Release Date: May 2006 [Ebook #18475] + +Language: German + +Character set encoding: ISO 8859-1 + + +***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACH AMERIKA! ERSTER BAND*** + + + + + + Nach Amerika! + Ein Volksbuch + + Erster Band + von + Friedrich Gerstcker. +Illustrirt von Theodor Hosemann. +Leipzig, Hermann Costenoble, Verlagsbuchhandlung +Berlin, Rudolph Gaertner, Amelang'sche Sort-Buchhandlung + +1855 + + + + + + [image] + + + + + + + NACH AMERIKA! + + +Wie man ein Bild, aus einem Werk heraus, vorn auf den Umschlag bringt, den +Beschauer dadurch gewissermaen in den Charakter des Ganzen einzuweihen, +so will auch ich hier den Anfang des einen Capitels, aus der Mitte des +Bandes heraus, zum Vorwort whlen, den Leser gleich von vorn herein mit +dem bekannt zu machen, was ich ihm biete. + +Nach Amerika! -- Leser, erinnerst Du Dich noch der Mrchen in Tausend +und eine Nacht, wo das kleine Wrtchen Sesam dem, der es wei, die +Thore zu ungezhlten Schtzen ffnet? hast Du von den Zaubersprchen +gehrt, die vor alten Zeiten weise Mnner gekannt, Geister heraufzurufen +aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu +machen? -- Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe schlugen, wie sich die +Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner +zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkhne Menschenkind das sie +gesprochen, bebte zurck vor der furchtbaren Gewalt die es +heraufbeschworen. + +_Die_ Zeiten sind vorber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht +gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das +rechte Wort vergeben sie zu rufen -- aber ein anderes dafr gefunden das, +kaum minder stark, mit _einem_ Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, +den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhltnissen und +Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reit, in dem es bis dahin mit +seinen strksten, innigsten Fasern treulich festgehalten. + +Nach Amerika, leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten +schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prfen sollte, seinen +Muth sthlen -- nach Amerika, flstert der Verzweifelte der hier am Rand +des Verderbens dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde -- +nach Amerika, sagt still und entschlossen der Arme, der mit mnnlicher +Kraft, und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der +Verhltnisse angekmpft, der um sein tgliches Brod mit blutigem Schwei +gebeten -- und es nicht erhalten, der keine Hlfe fr sich und die Seinen +hier im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln _will_, nicht stehlen +_kann_ -- nach Amerika lacht der Verbrecher nach glcklich verbtem Raub, +frohlockend der fernen Kste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt +vor dem Arm des beleidigten Rechts -- nach Amerika, jubelt der Idealist, +der wirklichen Welt zrnend, weil sie eben wirklich ist, und ber dem +Ocean drben ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht -- nach Amerika und mit dem einen Wort liegt hinter +ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes frheres Leben, Wirken, Schaffen -- liegen +die Bande die Blut oder Freundschaft hier geknpft, liegen die Hoffnungen +die sie fr hier gehegt, die Sorgen die sie gedrckt -- _nach Amerika!_ + +So ghrt und keimt der Saame um uns her -- hier noch als leiser, kaum +verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft +und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und +Kasten. Der Bauer drauen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain, der +ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so schwer +gergert, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit +ber dem Meer drben, in dem fetten, herrlichen Land; -- der Handwerker in +seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft +setzt, mit Neuerungen und groen, marktschreierischen Firmen, die wenigen +Kunden die ihm bis dahin noch geblieben in _seine_ Thr zu locken; der +Knstler in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, der ber einer +freieren Entwickelung brtet, und von einem Lande schwrmt wo +Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Hnde binden; -- der Kaufmann hinter +seinem Pult, der Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Bchern +zieht, und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gesttzt, von einem neuen, +andern Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefllten +Waarenhusern trumt; in Tausenden von ihnen drngt's und treibt's und +qult's, und wenn sie auch noch vielleicht Jahre lang nach auen die alte +frhere Ruhe wahren, in ihren Herzen glht und glimmt der Funke fort -- ein +stiller aber ein gefhrlicher Brand. Jeder Bericht ber das ferne Land +wird gelesen und berdacht, neue Arzenei, neues Gift bringend fr den +Kranken. Vorsichtig und ngstlich, und wie weit herum um ihr Ziel, da man +die Absicht nicht errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem +Ding -- nach Leuten die vordem hinber gezogen und denen es gut gegangen +-- nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk -- fr Andere natrlich, +nicht fr sich etwa -- sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen +will hinber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wnschen +da es dem wohl geht, und hufen mehr und mehr Zunder fr sich selber auf. + +So ringt und drngt und whlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem +nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den _salto mortale_ gethan, +und Alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und theuer war -- aus +dem, aus jenem Grund -- und tglich, stndlich noch hren wir von anderen, +von denen wir im Leben nie geglaubt da _sie_ je an Amerika gedacht, wie +sie mit Weib und Kind und Hab und Gut hinberziehn. + +Und dort? -- + +-- Die vorliegenden Bltter sollen dem Leser ein Bild geben von dem Leben +und Treiben solcher Leute. Hier aus unserer Mitte heraus, aus den +verschiedenartigsten Verhltnissen und Sphren, aus allen Schichten der +menschlichen Gesellschaft sehen wir sie ziehen -- Gute und Bse, den +Leichtsinnigen und den Spekulanten, den Bauer und Handwerker, den +Gelehrten und den Arbeiter, den rechtschaffenen Brger und den heimlichen +Verbrecher, Alle dem _einen_ Ziel entgegenstrebend. Und _Alle_ vereinigt +sie das Schiff; der eine kleine Bau, der hunderte von Menschen auf seinem +schwanken Kiel hinbertrgt, dem fernen Welttheil zu; oh was fr +Hoffnungen, was fr Plne und Trume birgt er in seinem Schoo. Aber die +Auswanderer liegen die langen Wochen, ja Monate, verpuppten Raupen gleich, +im engen Haus, still und gedrngt beisammen; Jeder mit dem alten Leben +abgeschlossen hinter sich, mit dem neuen noch nicht begonnen, in einem +wunderlichen unnatrlichen Zustand, ungeduldiger Ruhe, bis der Anker in +die Tiefe rollt, und die ausgeschobene schmale Planke der bunten Schaar +von Tag- und Nachtfaltern den Weg in's Freie ffnet. + +Hinaus flattern sie da nach allen Seiten, wie eine Hand voll Spreu, vom +Winde fort gefhrt; die Einen selbstbewut und keck dem fremden, +unbekannten Leben in die Arme springend, die Anderen scheu und zaghaft bei +jedem Schritte fast moralische Selbstschsse und Fuangeln frchtend; Alle +aber entschlossen, die meisten sogar gezwungen, dem neuen Vaterlande die, +im alten aufgegebene Existenz abzuringen, Jeder in seiner Art, auf seine +Weise. + +Dort nun sehen wir sie schaffen und wirken in Gutem und Bsen, die Einen +mit ihren khnsten Hoffnungen erfllt, Andere, zerknirscht und zertreten, +die Stunde verwnschend, die den Gedanken an Auswanderung gebar -- sehn wie +sich die Wildni lichtet, wie Farmen und Stdte entstehn, und sich das +deutsche Element ausbreitet nach allen Seiten, und folgen den einzelnen +Bekannten und Freunden, die wir zu Hause schon, oder auf der Fahrt erst +lieb gewonnen, oder fr die wir uns interessiren, auf ihren verschiedenen, +oft wunderlichen Bahnen. + +Manchen alten Reisegefhrten fhr ich dabei dem Leser vor, und hoffe ihn +nicht zu langweilen, den weiten Weg; schlafen wir dann auch manchmal +drauen im Freien, oder in niederer Blockhtte auf dnnem Quilt, mssen +wir auch eine Zeit lang mit Maisbrod und Wildpret, oder gar mit Speck und +Syrup verlieb nehmen, wie es der Farmer am Ohio liebt, wir lernen doch das +Land kennen, mit seinen guten und schlechten Eigenschaften, seinen +Vortheilen und Mngeln, seinen Brgern und Einwanderern, seinen inneren +Verhltnissen, seinem Leben und seiner Lebenskraft, und bin ich im Stande +ihn auch nur einen Blick in jene ferne, von Tausenden so hei ersehnte +Welt, wie ich sie selbst gefunden, thun zu lassen, so hab ich meinen Zweck +mit diesem Buch erreicht. + +_Rosenau_ bei Coburg im September 1854. + + Friedrich Gerstcker. + + + + + + INHALT DES ERSTEN BANDES. + + +Das Dollinger'sche Haus +Der rothe Drachen +Der Diebstahl +Franz Loenwerder +Die Auswanderungs-Agentur +Die Weberfamilie +Nach Amerika +Der Tanz im rothen Drachen +Rstungen +Die beiden Familien + + + + + + Capitel 1. + + + DAS DOLLINGER'SCHE HAUS. + + +Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger zu Heilingen -- einer nicht +unbedeutenden Stadt Deutschlands -- hatte am Sonntag Mittag, ein kleines +Familienfest die Glieder des Hauses um den Speisetisch versammelt, und +diesen heute in auergewhnlicher Weise mit Blumen geschmckt, und +delicaten Speisen und Weinen gedeckt. Es war der Geburtstag der zweiten +Tochter des Hauses, der liebenswrdigen Clara und nur ihr erklrter +Brutigam, ein junger deutscher, in New-Orleans ansssiger Kaufmann, als +Gast der Familie zugezogen worden. + +Am oberen Ende des Tisches, um dem Leser die Personen gleich in +Lebensgre vorzufhren, sa Vater Dollinger, ein etwas wohlbeleibter aber +behbiger, stattlicher Mann, mit klaren, blauen, unendlich gutmthigen +Augen und schneeweien Locken und Augenbrauen, die aber dem edel +geschnittenen Gesicht gar gut und ehrwrdig standen. Ihm zur Rechten sa +seine Frau, allem Anschein nach etwa funfzehn oder sechzehn Jahre jnger +wie er selber, und durch ihr volles, dunkelbraunes Haar vielleicht auch +noch sogar jnger aussehend, als sie wirklich war. Sie ebenfalls, mit +ihrer stattlichen Gestalt, hatte einen leichten Anflug zu Corpulenz, aber +das etwas ausgeschnittene Kleid, wie die schwere goldene Kette, Broche und +Ohrringe, die sie fast etwas zu reichlich schmckten, paten nicht ganz zu +dem sonst so freundlichen, matronenhaften Aeuern. + +Clara neben ihr, war das veredelte Bild der Eltern; die lieben treublauen +Augen schauten gar so vertrauungs- und unschuldsvoll hinein in die Welt, +an deren Schwelle sie stand, und die ihr, wie ein eben geffnetes, +prachtvoll gebundenes Buch auf den ersten, flchtig durchbltterten +Seiten, nur freundliche Blumen und ihr zulchelnde Gestalten zeigte. Kein +Schmerz hatte diese engelsanften Zge noch je durchzuckt, keine Thrne +wirklichen Schmerzes den reinen Blick getrbt, und die ganze zarte, +sinnige Gestalt glich der eben entkeimenden Frhlingsblthe im sonnigen +Wald, die dem jungen Frhlingstag in Glck und Unschuld die schwellenden +Lippen zum Kusse bietet, und in der blitzenden Thauperle ihres Kelchs, den +reinen Aether ber sich, nur schner, nur glhender zurckspiegelt. + +Ihre um nur wenige Jahre ltere Schwester, Sophie, die an des Vaters Seite +sa, hnelte der Schwester in mancher Hinsicht an Gestalt, aber das +einfach kindliche, was Clrchen jenen unendlichen Reiz verlieh, fehlte +ihr. Ihre Gestalt war voller, majesttischer, aber auch ihr Blick mehr +kalt und stolz; ich bin des reichen Dollingers Kind lag klar und +deutlich in den scharf zusammengezogenen Mundwinkeln, in dem fest und +entschieden, blitzenden Auge, und auch ihre Kleidung, ihr Schmuck war, +wenn nicht reicher, doch jedenfalls mehr in's Auge springend, Bewunderung +fordernd. + +Zwischen Beiden sa Clara's Brutigam, ein junger, bildhbscher Mann in +moderner, fast fr einen Mann etwas zu gewhlter und sorgfltig geordneter +Kleidung; er trug das Haar in natrlichen dunkelbraunen Locken und das +Gesicht glatt rasirt, bis auf einen kleinen, aufmerksam gekruten, und +nur bis zur halben Backe reichenden Backenbart, an den Fingern aber mehre +sehr kostbare Diamant-Ringe, eine Brillant-Tuchnadel von prachtvollem +Feuer, und eine schwere goldene, ebenfalls mit kleinen Edelsteinen +besetzte Uhrkette. + +Die Bekanntschaft Clara's und ihrer Eltern hatte er dabei auf eine etwas +romantische Weise, und zwar gleich als ihr Lebensretter oder doch Befreier +aus einer nicht unbedeutenden Gefahr gemacht. Herr und Frau Dollinger +waren nmlich mit ihren beiden Tchtern im vorigen Herbst auf einer +Rheinreise bei Rdesheim aus- und zu dem kleinen Waldtempel oben ber +Asmannshausen hinaufgestiegen, um sich von dort nach dem Rheinstein +bersetzen zu lassen; die Mutter hatte aber durch das nicht gewohnte +Bergsteigen heftige Kopfschmerzen bekommen oder, was wahrscheinlicher ist, +ennuyirte sich am Land und wnschte an Bord des Dampfers zurckzukehren, +und als sie gerade mit dem Kahn ber den Rhein fuhren, kam ein Dampfboot +stromab, und hielt auf ihr Winken, sie an Bord zu nehmen. Herr und Frau +Dollinger, mit Sophie, von den Kahnfhrern untersttzt, hatten auch schon +glcklich die Treppe und das Deck erreicht, und dicht hinter ihnen folgte +Clara, als diese sich pltzlich erinnerte, ihre Geldtasche im Kahn +vergessen zu haben, und anstatt diese sich heraufreichen zu lassen, selber +wieder zurcksprang sie zu holen. Durch das Hineinspringen fing aber der +schmale Kahn an zu schwanken, whrend sie, die vergessene kleine Tasche +aufhebend, das Gleichgewicht verlor und, mit dem Kopf voran, in den Rhein +strzte. Unglcklicher Weise waren gerade in dem nmlichen Augenblick die +Kahnleute an Deck des Dampfers gestiegen, den Koffer eines Passagiers, der +mit an Land fahren wollte, in ihren Kahn zu heben, und wenn sie jetzt +auch, auf das Geschrei an Bord, rasch in diesen zurcksprangen, trieb doch +Clara schon hinter dem Dampfboot aus, als der junge, eben von Amerika +zurckgekehrte Mann, der dem ganzen Vorfall vom Deck des Dampfers +zugesehn, mit keckem Muth ins Wasser sprang und die Jungfrau doch +wenigstens so lange an der Oberflche untersttzte, bis das Boot herbeikam +sie beide aufzunehmen. + +Das Weitere nahm einen ziemlich einfachen Verlauf, Joseph Henkel, wie der +junge Mann hie, gewann sich in den nchsten Wochen, die er in der +Gesellschaft der ihm zu groen Dank verpachteten Familie zubrachte, die +Achtung des Vaters und die Liebe von Mutter und Tochter, und als er zuerst +bei der Mutter um die Hand der Tochter anhielt, sagten Beide nicht nein. +Allerdings wollte der Vater erst, wenn auch nicht gerade Schwierigkeiten +machen, doch etwas Genaueres ber die Existenzmittel eines Mannes +erfahren, dem er das Glck und Leben eines lieben Kindes anvertrauen +sollte. Henkel selber bot ihm dazu die Hand und gab ihm Adressen an +verschiedene Huser in New-Orleans, die ihm ber seine dortige Stellung +genaue Auskunft geben konnten. + +Nach seinem Vermgen mochte der alte Dollinger, wenn auch Kaufmann, nicht +so genau forschen; er war selber reich genug, einen _reichen_ +Schwiegersohn entbehren zu knnen, und etwas Vermgen mute der junge Mann +haben, dafr brgte sein ganzes Auftreten, brgte besonders in den Augen +seiner Frau der reiche und wirklich kostbare Schmuck, den er trug. Joseph +Henkel war aber auch auerdem ein interessanter und sehr gescheidter Mann, +der Manches in der Welt schon gesehen und erlebt, und das Gesehene und +Erlebte mit lebendigen Farben und Worten zu schildern wute. Er hatte die +ganzen Vereinigten Staaten von Nord nach Sd und von Ost nach West +durchstreift, und dort theils seinen Geschften gelebt, theils gejagt, +sogar ein kleines Dampfschiff auf dem Arkansas laufen gehabt, mit den +Indianern Handel zu treiben, und ihnen die Produkte des Ostens gegen ihre +eigenen Fabrikate und den Gewinn ihrer Jagden einzutauschen. Er war auch +einmal von jenen wilden trotzigen Stmmen, die uns Cooper so herrlich und +unbertroffen beschrieben, gefangen genommen und zum Opfertod verdammt, +und damals wirklich nur durch ein halbes Wunder gerettet worden, und Clara +hatte eine ganze Nacht nicht schlafen knnen, nur in der Angst und Unruhe +um die entsetzliche Gefahr, der sich der tollkhne Mensch damals schon +ausgesetzt. + +Der junge Mann schien aber zwischen jenen wilden Stmmen den Umgang mit +civilisirten Menschen keineswegs verlernt zu haben, und besa ganz +besonders ein fast wunderbares Geschick, sich seiner Umgebung +anzuschmiegen, und sich in ihre Charaktere ordentlich hineinzuleben. Als +ein tchtiger und raffinirter Kaufmann, der vorzglich eine vortreffliche +statistische Kenntni der Union besa, gewann er sich dabei, und gleich +von allem Anfang an, die Achtung des alten Dollinger. Der Frau aber hatte +er leicht ihre kleinen, oft liebenswrdigen Schwachheiten abgelauscht, und +wute ihnen auf so geschickte Art zu begegnen, da Frau Dollinger, mit der +Rettung des geliebten Kindes im Hintergrund, schon nach sehr kurzer Zeit +ganz entzckt von ihm war, und sein Lob dem Gatten unaufhrlich redete. +Auch mit der lteren Schwester, Sophie, wute sich Henkel bald auf guten +Fu zu stellen; er hatte bei ihr das leichteste Spiel, denn ihre Schwchen +lagen offen zu Tag, denen aber schmeichelte er mit solcher +Liebenswrdigkeit, da ihm Clara, die es fhlte wie er dabei aus sich +herausging und etwas annahm was ihm nicht natrlich war, oder doch +jedenfalls dem Mann, den sie liebte, nicht natrlich sein _sollte_, +dennoch nicht bse darber werden konnte. + +Desto freier, offener und natrlicher war er dafr gegen sie selber; er +las, sang und spielte Pianoforte mit ihr, lehrte sie eine Menge kleiner +reizender, schottischer und irischer Lieder, oder plauderte mit ihr leicht +und sorglos Stunden lang in den Tag hinein, und konnte oft so herzlich +dabei lachen, da es Einem ordentlich gut that, ihm zuzuhren. Selbst +Sophie entsagte dann nicht selten ihrem sonst etwas mehr abgeschlossenen, +fast steifen Wesen und kam zu ihnen, Theil an ihrer Frhlichkeit zu +nehmen. + +Nur in den letzten Tagen war der junge Amerikaner wie er im Hause +gewhnlich scherzhaft hie, oder der Delaware wie ihn Sophie, wenn sie +manchmal bei recht guter Laune war, nannte, auffllig niedergeschlagen +gewesen; er hatte Briefe von Amerika bekommen, wie er sagte, und ein sehr +lieber Freund von ihm war dort schwer erkrankt, auch ein Schiff das ihm +gehrte, und das nicht versichert worden, so lange ausgeblieben, da sein +Compagnon fast den Untergang desselben befrchte. Der alte Herr Dollinger +trstete ihn deshalb, und er schien sich auch darber hinwegzusetzen, die +sonst so blhende Farbe seiner Wangen wollte aber doch nicht sogleich +wieder dorthin zurckkehren, und das Auge hatte etwas Unsicheres, +Unsttes, ihm sonst gar nicht Eigenes bekommen. + +Nur heute, zu dem Fest der holden Jungfrau, die er bald die seine zu +nennen hoffte, hatte er all die trben Gedanken, welcher Art sie auch +gewesen, und woher sie stammten, von sich abgeschttelt, und war ganz +wieder der frohe glckliche Mann, wie ihn Clara kennen -- _lieben_ gelernt. +Auf seinen Wunsch nur, womit Frau Dollinger eigentlich nicht ganz +einverstanden gewesen, war auch heute keine grere Gesellschaft geladen +worden, sondern die kleine Familie speiste ganz unter sich in dem +festlich mit Blumen und Guirlanden geschmckten Zimmer des jungen +liebenswrdigen Geburtstagkindes. Frau Dollinger hatte sich eigentlich +schon lnger auf eine zu diesem Zweck einzuladende, grere Gesellschaft +gefreut. Herr Dollinger selber hielt aber nicht viel von solchen Ften; +dafr jedoch bedung sie sich aus, da sie wenigstens den Nachmittag +spatzieren fahren wollten, wobei sie der junge Henkel gewhnlich zu Pferde +begleitete. + +Etwas that aber der alte Herr Dollinger gern, und zwar ein Glas Champagner +trinken, und der zweite Stpsel war eben lustig hinausgeknallt, der +Gesundheit des jungen Brautpaares zu Ehren, als die Thr aufging und +Loenwerder, ein Comptoirdiener des Hauses, mit einem kleinen Paket in's +Zimmer trat. + +Loenwerder war schon seit elf oder zwlf Jahren im Haus, und seinem +Aeuern nach eben keine angenehme Persnlichkeit; er hinkte auf dem linken +Bein, das er als Kind einmal gebrochen, war berhaupt hlicher und +magerer Natur, und schielte auf dem rechten Auge, wodurch sein sonst +gerade nicht unangenehmes Gesicht einen etwas falschen Ausdruck bekam. Das +Strendste aber an dem ganzen Menschen war sein Stottern, wegen dem man +sich auf ein lngeres Gesprch gar nicht mit ihm einlassen konnte, und kam +er einmal in Affekt, konnte er kein Wort mehr herausbringen. Frau +Dollinger sowohl wie Sophie konnten ihn auch nicht leiden, ja die letztere +behauptete sogar er verstelle sich und sie habe ihn schon ganz ordentlich, +wenigstens zehntausend Mal besser sprechen hren, als er es jedesmal +affektire, wenn er zu ihnen in die Wohnung komme; Clara aber hatte Mitleid +mit dem armen Menschen, den sie seines Unglcks wegen innig bedauerte, +schenkte ihm oft eine Kleinigkeit und spottete nie ber ihn, whrend Herr +Dollinger selber, ihn als einen brauchbaren und treuen Diener, der noch +auerdem eine vortreffliche Hand schrieb, kannte und sehr zufrieden mit +ihm war, ihm auch jedes nur mgliche Vertrauen bewie. + +Hallo, Loenwerder, was bringst Du mir da in's Haus? rief ihm sein +Principal jetzt halb lachend, halb erstaunt entgegen, als der kleine Mann +das Zimmer betrat und schchtern an der Thre stehen blieb -- ist das fr +mich oder meine Tochter? + +Gewi fr mich, Vterchen, rief Clara, rasch von ihrem Sitze +aufspringend -- siehst Du, der Onkel hat mich doch nicht ganz vergessen +mit meinem Fest, und mir Gru und Geschenk geschickt. + +Hehehe -- m -- m -- mchten es sich wo -- wo -- wo -- wo -- wohl w -- n -- +nschen Frulein lachte aber der Stotternde, indem er Herrn Dollinger +zuwinkte, da das Paket fr ihn sei -- ka -- ka -- ka -- kann ich mir de -- de +-- de -- de -- denken -- Go -- go -- gold und Ba -- ba -- ba -- ba -- bank -- no -- +noten. Er zog dabei einen Brief aus der Tasche, den er dem Herrn bergab. + +Hm, hm, hm sagte aber dieser kopfschttelnd, und das bringst Du mir +jetzt in's Haus -- gerade wo ich ausfahren will -- warum hast Du es denn +nicht dem Cassirer gegeben? + +Ni -- ni -- nirgends zu fi -- fi -- fi -- finden stotterte Loenwerder. + +Herr Dollinger warf den Kopf, den Brief flchtig durchfliegend, herber +und hinber, sagte dann aber, aufstehend und das Papier vor sich +hinlegend: + +Ja, da lt sich denn weiter Nichts ndern; gieb mir das Paket +Loenwerder, und sieh dann zu, da Du Herrn Reibich findest. Ich lasse ihn +bitten um sieben oder halb acht Uhr heute Abend auf einen Augenblick zu +mir zu kommen -- verstanden? + +Ja -- ja -- jawohl He -- he -- he -- herr Do -- do -- do -- Do -- + +Schon gut lachte Herr Dollinger, ihm zuwinkend, und hier, Loenwerder, +magst Du auch einmal ein Glas auf das Wohl meiner Tochter trinken. +Frulein Clara's Geburtstag ist heute -- hier Clara, reich es dem jungen +Herrn. Er fllte dabei ein Wasserglas bis zum Rande voll von dem +funkelnden, schumenden Na, und whrend Clara mit freundlichem Lcheln +dem armen Teufel das Glas credenzte, nahm Herr Dollinger das Paket mit +Geld, ging zu dem nahen Secretair, in dem der Schlssel stak, ffnete ihn, +legte das Geld hinein, zog dann den Schlssel ab und sagte, diesen der +Tochter berreichend: + +So Kinder, heute mt Ihr einmal auf ein paar Stunden mein Cassirer sein, +bis der andere aufgefunden werden kann. + +Clara nickte dem Vater freundlich zu, und Loenwerder, der das volle Glas +in der Hand hielt und auf einmal ganz blutroth im Gesicht geworden war, +hob es empor und rief stotternd: + +Fr -- re, re, re, re, re, ru -- le -- le -- lein Cla -- ra -- ra -- ra -- ra -- +aus ga -- ga -- ganzem He -- he -- he -- he -- he -- he -- her -- ze -- ze -- zen. + +Als ob er aber mit den Worten in der Kehle Luft gemacht, setzte er das +Glas an, und der Wein verschwand wie durch Zauberei. + +Alle Wetter lachte Herr Dollinger, der sich gerade nach ihm umdrehte, +Loenwerder hat einen vortrefflichen Zug -- nun? -- hat's geschmeckt? + +Gu -- gut Herr Do -- do -- do -- do -- do. + +Genug, genug winkte ihm der Principal wieder ab -- also bestell mir das +ordentlich. + +Loenwerder, der Art entlassen, und vielleicht froh aus einer Umgebung zu +kommen, in der er sich nicht heimisch fhlen konnte, setzte das Glas auf +einen Seitentisch ab, machte eine etwas linkische Verbeugung, und wohl +wissend da er zu einem ordentlichen Danke doch keine Zeit mehr brig +hatte, empfahl er sich ohne weiter auch nur einen Versuch zu mndlichem +Abschied zu machen. + +Eine unangenehme Persnlichkeit sagte Frau Dollinger zu ihrem +Schwiegersohn _in spe_, als der Mann noch die Thr nicht einmal ordentlich +hinter sich geschlossen hatte; ich kann mir nicht helfen, auf mich macht +der Mensch immer einen fatalen Eindruck. + +Wie -- wie befehlen Sie meine Gndige? sagte der junge Henkel etwas +zerstreut; Sophie bog sich in diesem Augenblick zu ihm nieder und +flsterte ihm ein paar Worte zu -- + +Er kann ja doch Nichts fr seine Gebrechen nahm Clara aber die Antwort +auf, und thut gewi Alles in seinen Krften sie eben durch gutes Betragen +vergessen zu machen. + +Papa, ich wrde das Geld auch nicht so offen in dem Secretair da liegen +lassen sagte Sophie. + +Nicht so offen? -- ich habe ja zugeschlossen -- + +Nun, es ist immer nicht gerade gut, wenn die Dienstleute wissen wo man +Geld liegen hat stimmte die Mutter bei. + +Dienstleute? meinte Herr Dollinger -- es war ja Niemand von ihnen im +Zimmer -- + +Doch Loenwerder? + +Bah lachte der Kaufmann, mit dem Kopf schttelnd. + +Ist es denn viel? frug seine Frau. + +Nun, der Mhe werth wr's immer sagte Herr Dollinger, fnf Tausend +Thaler etwa -- es soll aber auch nicht ber Nacht da liegen bleiben, und +Loenwerder hat mir auf heute Abend den Cassirer zu bestellen, das Geld an +sicheren Ort zu legen, bis ich morgen darber verfgt habe. + +Der Loenwerder verwandte keinen Blick von dem Geld, so lang er im Zimmer +war sagte die Mutter, mit dem Finger vor sich hindrohend. + +Lieber Gott, Mtterchen, Du weit ja aber doch da er schielt +vertheidigte ihn lachend Clara -- eben so fest und unverwandt hat er mich +indessen mit dem andern Auge angesehen; seine Schuld ist's nicht da er +zwei Stellen auf einmal im Auge behalten mu. + +Lat mir den armen Teufel zufrieden sagte aber auch Herr Dollinger -- +der ist mir ntzlicher wie zwei von meinen anderen Leuten; mehr zum +Nutzen wie Staat freilich, aber Staat will er auch nicht machen. Jetzt +brigens Kinder wird es Zeit da wir uns rsten, und Henkel, Sie mssen +noch Ihr Pferd holen lassen. + +Ich habe es schon, in der Voraussetzung da wir bei dem schnen Wetter +doch wohl eine kleine Parthie machen wrden, hierher bestellt, erwiederte +rasch der junge Mann -- wnschen Sie den Wagen jetzt? + +Ich glaube ja, je eher, desto besser; die Tage sind kurz und wenn wir +noch eine Stunde oder zwei fahren wollen, drfen wir nicht mehr viel +lnger warten. + +Aber Ihr Mdchen mchtet Euch ein wenig warm einpacken sagte jetzt die +Mutter, alles Andere in dem Gedanken an ihre Toilette vergessend -- zum +still im Wagen Sitzen pat ein Sommerkleid noch nicht und heute Abend wird +es khl werden. + +Und nicht so lange machen, mahnte der Vater, der sich sein Glas noch +einmal voll schenkte und leerte; der Wagen wird im Augenblick da sein. + +Der Wagen fuhr auch wirklich kaum zehn Minuten spter vor, Herr Dollinger, +der nun seinen Hut und Stock aufgenommen, ging, seine Handschuh anziehend, +im Hofe auf und nieder, und endlich erschienen, diesmal in wirklich sehr +kurzer Zeit, die Damen, ihre Sitze einzunehmen. + +Nun, wo ist Henkel? sagte Herr Dollinger, sich nach seinem zuknftigen +Schwiegersohne umschauend, ich habe sein Pferd auch noch nicht gesehen; +jetzt wird uns der warten lassen. + +Die Familie hatte indessen im Wagen Platz genommen, und der alte Herr +schaute etwas ungeduldig zum Schlag hinaus, als der junge Henkel zum Thor, +aber ohne Pferd, hereinkam. + +Nun? und Sie sitzen noch nicht im Sattel? rief er ihm schon von weitem +entgegen -- das ist eine schne Geschichte; jetzt drfen wir den Frauen +nie im Leben wieder vorwerfen, da sie uns warten lassen. + +Ich mu tausend Mal um Entschuldigung bitten, sagte der junge Mann, zum +Wagen hinantretend, aber mein Stallmeister hat mich sitzen lassen. Wenn +Sie mir erlauben schicke ich einen der Leute danach, oder gehe selber, es +ist nicht weit von hier. Aber thun Sie mir die Liebe und fahren Sie +langsam voraus, ich hole Sie in Zeit von zehn Minuten ein. + +Wir knnen ja hier warten, sagte die Mutter. + +Ja, wenn die Pferde stehen wollten, brummte Herr Dollinger -- zieh nicht +so fest in die Zgel Johann, das Handpferd kann das nicht vertragen und +wird nur noch immer unruhiger -- wir wollen langsam vorausfahren -- machen +Sie aber da Sie nachkommen; auf dem Balkon vom rothen Drachen trinken wir +Kaffee, dort ist eine wundervolle Aussicht -- der Stalljunge mag +hinberlaufen und Ihnen das Pferd holen. + +Die Pferde zogen in diesem Augenblick an, Henkel mute aus dem Weg +springen und verbeugte sich leicht gegen die Damen, von denen ihm Clara +freundlich lchelnd zunickte. + +Eine starke Viertelstunde spter sprengte der junge Amerikaner, seinem +Thiere die Sporen gebend, da es Funken und Kies hintenaus stob, ber das +Pflaster, zum Entsetzen der Fugnger dahin, dem Wagen nach, den er nur +erst eine kurze Strecke vor dem bezeichneten Platz wieder einholte. Im +Stall wollte Niemand etwas davon gewut haben, da er sein Pferd bestellt +gehabt -- Einer schob die Vergessenheit natrlich auf den Andern, und +Dollinger's Stallknecht mute die Leute sogar erst zusammensuchen, bis er +das Pferd bekam, deshalb hatte es so lange gedauert. Als er mit demselben +zurckkehrte, ging der junge Mann in dem kleinen, dicht am Haus liegenden +Garten auf und ab, sprang aber dann, dem Burschen ein Trinkgeld zuwerfend, +und dessen Entschuldigung nur halb hrend, rasch in den Sattel und flog, +wie vorher erwhnt, in vollem Carrire die Strae nieder. + +Er hatte den Hof kaum verlassen, als Loenwerder, einen groen, +wunderschn blhenden Monatsrosenstock unter dem Arm, vorsichtig und wie +scheu, da ihn Niemand gewahre, ber den Hof und in die Hinterthr des +Hauses schlich, und sich leise und geruschlos die Treppe damit +hinaufstahl. Er blieb etwa zehn Minuten im Haus und wollte dann aus +derselben Thr wieder ber den Hof zurck, als der Stallknecht aus der +Futterkammer kam. Unschlssig blieb der kleine Mann eine kurze Zeit hinter +der Thr stehen, und schlich sich dann, als der Bursche den Platz nicht +verlassen wollte, vorn zur Hausthr hinaus auf die Strae, den Weg nach +seiner Wohnung einschlagend. + + + + + + Capitel 2. + + + DER ROTHE DRACHEN. + + +Der rothe Drachen, ein Wirthshaus, das wegen seines vortrefflichen +Bieres, wie sonst mancher schtzenswerthen Eigenschaften einen sehr guten +Namen hatte, lag etwa eine halbe Stunde von Heilingen, an der groen +Landstrae, die gen Norden fhrte. Ein freundlicher Thalgrund umschlo +Haus und Garten und die dunklen, den Gipfel des nchsten Hanges krnenden +Nadelhlzer hoben nur noch mehr das freundliche Grn der jungen Birken und +Weieichen hervor, die sich ber die niedere Abdachung erstreckten, und +bis scharf hinan an den hocheingefriedigten und sorgfltig in Ordnung +gehaltenen Frucht-, Gemse- und Blumengarten des Hauses selber lehnten. + +Es war ein warmer, sonniger Frhlingsnachmittag; der Bach, der am Hause +dicht vorbeirieselte, pltscherte und schumte in frischem jugendlichen +Uebermuth, des Eises Hlle, die ihn so lange gefangen gehalten oder doch +fest und ngstlich eingeklemmt, nun endlich einmal enthoben zu sein, und +die Vgel zwitscherten so froh und munter in den Zweigen der alten +knorrigen Linde, die unfern der Thre stand, und flatterten und suchten +herber und hinber, aus den blhenden Obstbumen fort ber den Hof und +von dem Hof wieder fort in dicht versteckten Ast und Zweig hinein, mit +einem gefundenen Strohhalm oder einer erbeuteten Feder im Schnabel, da +Einem das Herz ordentlich aufging ber das rege glckliche Leben. Und wie +blau spannte sich der Himmel ber die blhende, knospende Welt, wie leicht +und licht zogen weie duftige Wolken, Schwnen gleich, durch den Aether +hin, farbige, flchtige Schatten werfend ber Wiesen und Feld und die +weite Thalesflucht, die sich dem Auge in die Ferne ffnete und dem +leuchtenden Blick neue Schtze bot, wohin er fiel. + +Ein Frhling in Deutschland -- ein Frhling im _Vaterland_; oh wie sich das +Herz da mit der wirbelnden, schmetternden Lerche hebt und jubelnd, +jauchzend gen Himmel steigt; zwinge die Thrne da nicht zurck, die sich +Dir, dem Glcklichen, in's Auge drngt -- in ihrem Blitzen preisest Du den +Vater droben, wie es die jubelnde Lerche dort thut, die mit zitterndem +Flgelschlag ber den grnen Matten schwebt; -- wie das raschelnde +flsternde Blatt im Wald, wie der schwankende, thaugeschmckte Halm und +die knospende, duftende Blthe im Thal. Ein Frhling im Vaterland -- oh wie +schn, wie jung und frisch die Welt da um uns liegt in ihrem brutlichen +Glanz, voll neuer Hoffnungen in jedem jungen Keim, und wie sich das Herz +der schnen Blume gleich zusammenzog, als der Herbststurm ber die Haide +fuhr, mit rauher Hand den Blattschmuck von den Bumen ri und zu Boden +warf und Schnee und Eis vor sich hin jagte ber die erstarrende Flur, so +ffnet es sich jetzt mit vollem Athemzug wieder den balsamischen +Frhlingsgru, und vorbei, vergessen liegt vergangenes Leid -- wie der +verwehte Sturm selber keine Spur mehr hinterlie und die schnsten Blumen +jetzt gerade an den Stellen blhen, wo er am tollsten, rasendsten getobt. + +Ein warmer erquickender Regen war die letzten Tage gefallen, und so gut er +dem Land gethan, hatte er doch die Bewohner des nahen Stdtchens in ihre +Huser und Straen gebannt gehalten, von wo aus sie sehnschtig die nahen +grnenden Berge theils, theils die dunklen Wolken betrachteten, die nicht +nachlassen wollten Segen auf die Fluren niederzutrufeln. Heute aber hatte +sich das gendert; voll und warm glhte die Sonne am Himmelszelt und +hinaus strmten sie in jubelnden Schaaren, hinaus in's Freie. Der rothe +Drachen vor allen anderen Pltzen, der so reizend an der Oeffnung des +Thales lag und die Aussicht bot in das darunter liegende freie Land, hatte +dabei sein reichlich Theil erhalten der frhlichen Schaar, da die Wirthin +mit ihren Kellnern und Mgden nicht Hnde genug hatte zu schaffen und +herzurichten, und die Tische und Bnke im Garten drauen fast alle besetzt +waren rund herum von Schmausenden. + +Der rothe Drachen sollte brigens, wie die Sage ging, seinen Namen von +einem wirklichen Drachen bekommen haben, der einmal vor vielen hundert +Jahren in der Schlucht weiter oben, die auch noch ebenfalls nach ihm die +Drachenschlucht hie, gehaust und viele Menschen und Rinder verschlungen +hatte. Der Wirth des rothen Drachen nun, Thuegut Lobsich, dessen +Voreltern schon diesen Platz gehalten, behauptete dabei, Einer seiner +Ahnen habe den Drachen im Einzelkampf erlegt -- (die Gste meinten, mit +schlechtem Bier vergiftet) und dafr von dem damals regierenden Frsten +Platz und Wirtschaft als Gerechtsame, mit dem Schild als Wahrzeichen, +erhalten. + +Wie dem auch sei, Thuegut Lobsich that wirklich gut auf dem Platz, der ihm +vortreffliche Nahrung bot, und befand sich so wohl, wie sich nur ein Wirth +in einer gut gelegenen Wirthschaft befinden kann. Seine Frau war aber +dabei der Nerv des Ganzen, in Kche und Stall, in Keller und Haus, und +whrend sich Vater Lobsich, wie er sich gern nennen lie, obgleich er noch +jung und rstig war, am Liebsten zu seinen Gsten irgendwo an einen Tisch +drckte und das Bier controllirte, wie er sagte, da ihm die Burschen +kein Saures brachten und die Gste verjagten, arbeitete die Frau im +Schweie ihres Angesichts vor dem Heerd, die bestellten Portionen +herzurichten und zu gleicher Zeit auch den Verkauf von Kaffee, Thee, Milch +und Kuchen zu berwachen. Dabei fhrte sie die Kasse und rechnete mit +Kellnern und Mdchen ab, und wehe denen, die eine halbe Portion Kaffee +oder Kuchen vergessen, ein nichtbezahltes Glas nicht aufnotirt oder einem +schlechten Kunden noch einmal gegen den direkt gegebenen Befehl geborgt +hatten. + +Bse Zungen meinten dabei nicht selten, Frau Lobsich sei der einzige Mann +im Hause und Thuegut drfe nur tanzen, wenn sie nicht daheim wre; bse +Zungen erwhnten dann aber nicht dabei, da sie wirklich allein das +Hauswesen in Zucht und Ordnung hielt, und so scharf und heftig sie drauen +in Kche und Wirtschaft, wo sie fremde Leute doch auch eigentlich nur zu +sehen bekamen, sein konnte, und so groe Ursache sie dabei oft hatte +rgerlich zu sein, und die Ursache dann auch fr vollkommen gengend +hielt, es wirklich zu werden, so still und freundlich konnte sie sich +betragen, wenn sie allein mit ihrem Manne war, und so gern gab sie ihm in +Allem nach, was nicht eben zu Ruin und Schaden trieb. Salome Lobsich war +das Muster einer Hausfrau, und was ebensoviel sagen will, eine gute Gattin +dabei -- ob ihr Mann dasselbe auch von sich sagen konnte, stand auf einem +anderen Blatt. + +Heute hatte sich brigens eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft in dem gar +so freundlich gelegenen Garten des rothen Drachen eingefunden, und dicht +vor der Thr desselben, unter der alten breitschattigen Linde, die ihre +Arme so weit nach rechts und links hinberstreckte, da man sie schon +hatte sttzen mssen, nur den Weg zu ihr und den Platz darunter frei zu +behalten, sa Lobsich selber mit einem kleinen Kreis guter Bekannten, +d. h. alter Kunden und quasi Stammgste von ihm, denn er selber kam selten +irgend wo anders hin, und wer also sein Bekannter _bleiben_ wollte, mute +ihn eben besuchen. + +Zu diesen gehrte besonders Jacob Kellmann, ein Krschner und Pelzhndler +aus Heilingen, dann der Aktuar Ledermann von dort, eine lange hagere, +etwas ungeschickte Gestalt, mit aber nicht unangenehmen, gutmthigen +Gesichtszgen, und der Apotheker aus Heilingen, Schollfeld mit Namen, die +es gewhnlich so einzurichten wuten, da sie an einen Tisch mit einander +zu sitzen kamen. Lobsich nahm ebenfalls am Liebsten zwischen dieser +kleinen Gesellschaft Platz, und nur dann und wann, besonders wenn er die +Stimme seiner Frau irgendwo hrte, stand er auf und ging einmal durch den +Garten und die Reihen seiner Gste, zu sehn ob Alle ordentlich bedient +wrden, und keine Klagen einliefen gegen unaufmerksame Kellner, die er in +dem Fall auch wohl gleich an Ort und Stelle mit einem Knuff oder einer +Ohrfeige abstrafte, als warnendes Beispiel. Er mute an irgend Jemand +seinen Aerger auslassen, da er nicht bei seinem Biere konnte sitzen +bleiben. + +Ist doch ein prachtvolles Wetter heute, sagte Kellmann, der eben einen +tchtigen Zug aus seinem Glase gethan, und nun mit vollem zufriedenen +Blick ber das freundliche Bild hinaus schaute, das sich, von der warmen +Nachmittagssonne beschienen, in all seinem blitzenden Glanz und +Farbenschimmer vor ihnen aufrollte und es wchst und gedeiht Alles +drauen so schn und steht so prchtig -- merkwrdig dabei, da Alles so +theuer bleibt, und die Preise, statt herunter zu gehen, immer nur steigen +und steigen. + +Ja das wei Gott, seufzte der Aktuar, dem der Gedanke selbst den +Geschmack am Bier wieder zu verderben schien, denn er setzte das schon zum +Mund gehobene Glas unberhrt vor sich nieder -- und wenn das noch eine +Weile so fort geht, knnen wir alle mit einander verhungern oder +davonlaufen. + +Nun Ihr habt gut reden, sagte Kellmann, Ihr bekommt vom Staat Euer +Gewisses und knnt Euch genau danach einrichten -- Euer Geld mu Euch +werden, wenn der erste jedes Monats kommt, unsereins hngt aber allein von +den Zeiten ab, und wenn die Lebensmittel knapp werden, kauft Niemand einen +Pelz. Holz will auch sein und daran kann sich nachher die ganze Familie +wrmen. + +Ihr redet wie Ihr's versteht, brummte der Aktuar, -- unser Gewisses +bekommen wir, das ist wahr, aber nur deshalb, damit wir gewisses Elend vor +den Augen haben. Ich habe fnfhundert Thaler Gehalt, und Frau und Kind und +Dienstmdchen zu ernhren, und soll anstndig dabei gekleidet gehn, denn +vor zehn und zwanzig Jahren hatte ein Aktuar in meiner Stellung auch nicht +mehr, und machte das Alles mglich, ja befand sich wohl dabei. Jetzt aber +wird Brod, Butter, Fleisch, Holz, Wohnung, kurz Alles was wir nun einmal +zum Leben brauchen, gesteigert von Tag zu Tag, aber meine fnfhundert +Thaler _bleiben_; vor zehn Jahren kaufte ich zwanzig Pfund Brod fr +dasselbe Geld, fr das ich jetzt nicht zehn bekomme -- aber _meine_ +fnfhundert Thaler _bleiben_. Auch mein Hausherr verlangt hheren Zins -- +schon voriges Jahr bin ich hher gegangen, um nicht gesteigert zu werden, +d. h. fr denselben Preis aus der zweiten in die dritte Etage gezogen, +aber dies Jahr mu ich ganz hinaus, denn er will wieder zehn Thaler mehr +haben und ich kann's ihm nicht geben. Ihr Leute habt Euch gut in die +Zeiten schicken, denn wenn das Brod theuer wird, schlagt Ihr desto mehr +auf Euere Waare, der kleine Beamte aber, der Staatsdiener um geringen +Lohn, das ist das geplagte, gefhrdete Geschpf, und jede neue Taxe macht +ihm keine neue Berechnung, sondern schnallt ihm nur den Leibriemen um ein +Loch enger, da er weniger it, bis er in's _letzte_ Loch geworfen wird, +zum ersten Mal von seinen irdischen Strapatzen, ohne Furcht vor rasch +abgelaufenen Ferien, wirklich ungestrt auszuruhen. + +Ach geht mit Eueren erbrmlichen Lamentationen an solch freundlichem +Tag, fiel ihm der Wirth hier in die Rede, der sich erst vor ein paar +Augenblicken wieder mit zum Tisch gesetzt und schon eine ganze Weile +ungeduldig mit dem Kopf geschttelt hatte. Das Reden macht's nicht besser +und Sthnen und Seufzen hilft auch Nichts -- Kopf oben, das ist die +Hauptsache; das andere macht sich von selber -- aber hallo -- unterbrach er +sich pltzlich, von seinem Sitze aufstehend und die Strae +hinunterzeigend, die in das weite Thal fhrte -- was kommt dort fr ein +Trupp den Weg entlang? -- und in der That wurde dort oben ein ganzer Zug +Mnner, Frauen und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspnnigen +Wgelchen sichtbar. + +Das sind Auswanderer! rief Jacob Kellmann, von seinem Stuhl aufspringend +und dem Zug entgegenschauend -- seht nur ein Mensch an, wieder ein ganzer +Schwarm aus dem Hessischen; Heiland der Welt, da mu doch endlich einmal +Platz werden. + +Na nu ist wieder der Frieden beim Henker, rief aber der Apotheker +mrrisch -- hier Lobsich setzt Euch auf Eueren Stuhl und trinkt Euer Bier +aus, und Ihr Kellmann, lat das Volk da drauen laufen, wohin sie wollen -- +unzufriedene Bande, die es ist und die es nirgends gut genug kriegen kann, +wo ihr nicht das Confekt auf goldenen Tellern prsentirt wird. Na kommt +nur hinber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr sticht -- Euch werden sie +schon noch das Fell ber die Ohren ziehn, da Ihr am hellen lichten Tag +die Sterne zu sehn bekommt. + +Nein was fr ein Zug! rief aber Kellmann, die langsam nher kommende +Schaar mit unverkennbarem Interesse betrachtend; die armen Teufel. + +Hrt Kellmann, rief aber Schollfeld rgerlich, tretet mir da ein wenig +aus dem Weg, da ich auch was sehen kann, und setzt Euch wieder, ich +dchte doch wahrhaftig, Auswanderer hier an der Strae wren nichts so +besonders Neues, da Ihr Maul und Nase aufsperrt und thut, als ob Euch so +etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen wre. + +Schollfeld war brigens nicht umsonst so mrrisch; er hatte einen Zorn auf +Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung als eine indirekte +Beleidigung gegen den Staat, gewissermaen als eine Grobheit, die man ihm +geradezu unter die Nase sage -- : ich mag nicht mehr in Dir leben und +wei einen Platz, wo's besser ist. Das _dachten_ sich nmlich die +Tlpel, wie er sie nannte, aber Sie _wuten_ es nicht -- gar Nichts +wuten sie und liefen blind und toll in die Welt hinein. Der Staat htte +auch eigentlich den Skandal gar nicht dulden sollen; hunderte von +Menschen, reine Deserteure aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei +vorbei, Anderen noch obendrein ein bses Beispiel gebend, und er begriff +die Regierung nicht, wie sie dem Volke nur noch einen Pa gestatten +konnte. + +Der Zug war indessen nher gekommen und Lobsich rasch in das Haus gegangen +Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen Trupps gewhnlich eine Menge +junge Burschen befanden, die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst +hatten; um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und den Hals +trocken machte. + + [Capitel 2] + +Die ersten Wgen passirten still vorbei; die Fhrer warfen einen langen, +vielleicht sehnschtigen Blick nach den behaglich hinter ihren Tischen +sitzenden Gsten und dem khlen funkelnden Bier hinber, aber hielten +nicht an, sich lngere Rast dafr auf den Abend versprechend. Nur von den +Fugngern blieben mehre Trupps unfern der Linde, unter der unsere kleine +Gesellschaft sa, und nicht weit von der Gartenthre stehn, und whrend +ein paar der Mnner dem Kellner winkten, ihnen Bier herauszubringen, als +ob sie sich scheuten in ihrer bestaubten schmuzigen Kleidung, mit der +schweibedeckten Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen +herbersehenden Gruppen hineinzugehn, hielt ein Trupp Frauen ebenfalls +dort. Angezogen von der pltzlichen weiten und freien Aussicht, die ihnen +hier nach unten zu das Thal ffnete, durch das sie gekommen, blieben sie +erfreut und berrascht stehn und schauten dabei auf das reizende Bild hin, +das wie mit einem Schlage so vor ihnen in's Leben sprang. + +Heiland der Welt, Lisbeth, rief ein junges, sechzehnjhriges Mdchen +der, vielleicht zwei Jahr lteren Schwester zu -- dort drben liegt +Holstetten, und von da ist's nur noch neun Stunden zu Haus -- dahinter kann +ich den weien Weg durch's schwarze Nadelholz sehn, der hinberfhrt nach +Krisheim. + +Ja Marie, antwortete das Mdchen, und whrend sie sprach, liefen ihr die +groen hellen Zhren an den bleichen Wangen nieder, gleich hinter dem +Berg dort mu die Windmhle liegen, und dann kommt Bachstetten und +nachher -- sie konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll und +sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren Schmerz sah, +noch schwerer machen. Aber zurckdmmen lie sich das auch nicht, die +Wunde war noch zu frisch und blutete zu stark, und beide Mdchen standen +wenige Minuten still und weinend da, die schnen thrnenberstrmten Zge +den ihr nchsten Menschen ab- und der verlassenen Heimath, die sie wohl +nie im Leben wieder schauen sollten, zugekehrt. + +Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich hlt und pflegt, wie sie +es versprochen, brach die Jngste endlich wieder mit leiser kaum hrbarer +Stimme das Schweigen. + +Sie hat's ja versprochen, flsterte fast eben so leise die Schwester +zurck, aber -- -- -- -- so lieb wird sie's doch nicht haben wie wir. + +Komm Lisbeth, sagte die Jngere wieder und ergriff, ohne sie aber dabei +anzusehn, der Schwester Hand -- wir wollen gehn -- die Wagen sind schon ein +Stck voraus. + +Beide Mdchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen Heimath zu +und schritten dann schweigend Hand in Hand den Weg entlang, der nach und +durch Heilingen fhrte, ihre weite, unbekannte Bahn. + +He Marie, Lisbeth! rief sie der Vater an, der eben an der Thr des +Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner erhalten hatte -- wollt Ihr +einmal trinken Kinder? + +Ich danke Vater, sagte Marie zurck, ohne sich umzusehn oder stehn zu +bleiben, wir sind nicht durstig. + +Woher des Wegs Ihr Leute? wandte sich jetzt Kellmann, der trotz +Schollfeld's rgerlichen Worten zu dem Alten getreten war, an diesen. + +Aus Hessen, sagte der Mann ruhig und that einen langen durstigen Zug aus +dem, mit dem trefflichen Bier gefllten, schumenden Glas. + +Und wohin? + +Nach Amerika. + +Hm -- ist ein weiter Weg -- ist Euch wohl schlecht gegangen hier im Lande? +sagte Kellmann, die krftige und doch gramgebeugte Gestalt des alten +Landmanns teilnehmend betrachtend. + +Der Bauer, dessen Blick auch an dem fernen Punkt inde gehangen, wo seine +frhere Heimath lag, lie das Auge einen Moment wie mitrauisch ber den +Frager gleiten und erwiederte dann leise und kopfschttelnd: + +Schlecht? -- lieber Gott wie man's nimmt; man soll g'rad nicht klagen; der +liebe Gott hat geholfen und wird weiter helfen. + +Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben holen die in +Amerika herumfliegen? mischte sich hier der Apotheker in's Gesprch, der +nicht umhin konnte dem Auswanderer, wie er sich ausdrckte, einen Hieb +zu versetzen -- habt Ihr auch Messer und Gabeln mit? + +Der Bauer sah den kleinen, spttisch lchelnden Mann einen Augenblick +ruhig von der Seite an, zahlte dann dem neben ihm stehenden Kellner, dem +er das Glas zurckgab, sein Bier, und ohne irgend etwas auf die Frage zu +erwiedern, oder rgerlich darber zu scheinen, ja als ob er sie nicht +gehrt htte, wandte er sich und folgte mit einem gr Euch Gott Ihr +Herren, seinen vorangegangenen Tchtern. + +Holzkopf, brummte der Apotheker, nur noch mehr gereizt ber diese +anscheinende Misachtung, hinter ihm drein -- dem Volk ist zu wohl hier, +setzte er dann, mit einem krftigen Zug aus seinem Glase hinzu -- der Art +Leute fhlen sich nicht behaglich, wenn sie nicht baumfest unter dem +Daumen gehalten werden. + +Guten Abend miteinander, sagte in diesem Augenblick ein Anderer der +Auswanderer, der, mit einem kurzen Pfeifenstummel in der Hand zu dem Tisch +trat, auf dem in einem schtzenden Kelchglas ein Licht mit darum +gesteckten Fidibus zum Anznden der Cigarren stand -- wenn's erlaubt ist, +mchte ich mir wohl einmal eine Pfeife bei Euch anbrennen. + +Mit Vergngen, sagte Ledermann, ihm einen Fidibus anzndend und +hinreichend. + +Danke schn, nickte der Mann, das Feuer benutzend und den blauen Qualm +in schnellen kurzen Zgen ausblasend. -- + +Und wo geht die Reise hin? frug Ledermann dem Rauchenden. + +Da hinber, sagte dieser; immer noch scharf ziehend, inde er mit dem +linken, zurckgebogenen Daumen ber die linke Achsel wie -- bers groe +Wasser. -- + +Habt Ihr dort schon einen Platz? frug der Aktuar. + +Ja, sagte der Mann freundlich -- mein Bruder hat mir geschrieben aus dem +Wiskonsin heraus; da soll's gut sein. + +Und geht Ihr Alle dorthin? frug ihn Kellmann. + +Die meisten von uns, ja; eine Parthie will aber auch hinber in's +Missuri; da ist's wrmer. + +Es sind wohl lauter Landleute hier miteinander? + +Ja meistens -- ein Schneider ist dabei, und der Schmied aus dem Dorfe und +der Herr Pastor ist schon voraus. + +Der Pastor geht auch mit? frug Kellmann schnell. + +Ahem, nickte der Mann, der ist aber mit der Post gefahren, aber er hat +gesagt er wollte sehn da wir Alle auf ein Schiff kmen. Danke schn Ihr +Herren, adje. + +Glckliche Reise, rief ihm Kellmann nach. + +Danke, nickte der Mann noch einmal zurck, knnens brauchen, und +schlo sich den brigen wieder an, von denen die letzten gerade die Thr +des Wirthshauses passirten. + +Es waren rmliche, viele von ihnen krnklich oder wenigstens bleich +aussehende Gestalten, in die Bauerntracht ihrer Gegend gekleidet; die +meisten Frauen mit Kindern auf dem Arm, Manche sogar deren an der Brust, +und ein Bndel dazu auf dem Rcken, die im Schwei ihres Angesichts, wie +sie bis jetzt gelebt, mhsam der fernen ersehnten Heimath +entgegenstrebten. Hie und da waren auch ein paar krftige junge Burschen +von zwlf bis vierzehn Jahren vor ein kleines leichtes Handwgelchen +gespannt, darauf gepackte Betten, Kleidungsstcke und Lebensmittel die +weite Strae entlang zu ziehen. -- Die Leute hatten kein Geld brig, denn +das wenige, was sie zur Reise aufgespart, muten sie fr das Schiff +aufheben, und ein paar Thaler sollten doch auch noch wenigstens, wenn das +irgend anging, brig bleiben, damit sie nur die ersten Tage in Amerika, +ehe sie Arbeit bekmen, vor Sorge geschtzt wren. Den glnzenden +Schilderungen die ihnen von dem neuen Lande ihrer Hoffnungen gemacht +waren, trauten die armen Frauen am wenigsten in ihrem vollen Umfange; von +Jugend auf, wie ihnen nur eben die Krfte wurden ihre jngeren Geschwister +in der Welt herumzuschleppen, hatten sie arbeiten, hart arbeiten mssen, +und viel anders wrde es auch wohl nicht da drben sein. Der Sorgen waren +hier nur gar so viele angewachsen, mit jedem Jahre mehr, wie sie sich auch +plagten und qulten, und schlechter _konnte_ es dort drben nicht sein. +Das war fr jetzt der einzige Trost den sie mit sich trugen die lange, +heie Strae entlang mit einer kleinen Hoffnung mglicher Besserung +vielleicht, und sie drckten dann die Kinder nur fester an ihr Herz und +kten sie, und flsterten ihnen leise und heimlich zu da sie nicht mehr +schreien sollten, denn sie gingen nach _Amerika_, und da wrde schon Alles +gut werden, wie ihnen der Vater gesagt. + +Die Mnner und Burschen zogen der fernen Welt aber schon mit mehr +Vertrauen entgegen; das Bewutsein der eigenen Fhigkeit und Kraft hob sie +dabei auch ber Manches hinweg das die abhngigen Frauen schwerer zu Boden +drckte. Wer bei einer langen Wanderung voran geht, und fr den Weg zu +_denken_ hat, wird nie so mde als der, der ihm folgt, nur fr sich denken +lt, und hinter drein zieht. Viele von den Mnnern trugen auch +Jagdtaschen und Gewehre auf dem Rcken, Bchsen und Schrotflinten -- was +sollte es da drben nicht Alles zu schieen geben; -- Manche auch +nachgemachte bunte Blumenstrue auf dem Hut. Einzelne, aus Baiern und +Thringen, die sich ihnen angeschlossen, hatten sogar ein paar kleine +gefrbte Maraboutfedern mit ihren Landesfarben, blau und wei, und grn +und wei in ihrem Hutband stecken; die Meisten aber schienen keine solche +Erinnerung an die Heimath mitnehmen zu wollen, in das neue Vaterland. + +Die Leute gingen vorber, und die Gste hatten ihnen schweigend +nachgeschaut, so lange fast, bis sie die nchste Biegung der Strae ihren +Blicken entzog. Auch Lobsich war wieder vor die Thr seines Gartens +getreten, und sich jetzt kopfschttelnd zurck zu seinem Tische wendend, +brummte er vor sich hin. + +S'ist mir doch was Unbedeutendes -- es war dieses eine seiner stehenden +Redensarten, die in der That unbegrenztes Erstaunen ausdrcken sollte -- +was die Leute die Frhjahr wieder an zu ziehen fangen; Tag fr Tag geht +das so fort; Trupp nach Trupp kommt ber die Berge herber, mit Sack und +Pack, mit Weib und Kind -- und Alles fort, Alles fort, und man merkt nicht +einmal von _wo_ sie fort sind. + +Doch, doch, sagte Kellmann, die Augenbrauen in die Hhe ziehend und mit +dem Kopf nickend, doch, doch Lobsich; ob man's wohl merkt? -- geht einmal +da ber die Berge hinber und seht Euch in den Drfern um; da steht +manches alte halbzerfallene _leere_ Haus, an das irgend eine Familie da +drben noch mit Schmerzen zurckdenkt, und in das Niemand anderes mehr +Lust hat einzuziehen, weil er noch eine Menge _bessere_, ebenfalls leer, +in demselben Dorfe findet. Es ist immer ein trauriger Anblick solch ein +leeres Haus, und ich seh's nicht gern. + +Und was fr _Geld_ tragen sie auer Land, fiel der Apotheker hier ein, +der inde, sich zu zerstreuen, im Heilinger Tageblatt gelesen hatte, jetzt +aber nicht umhin konnte auch noch ein Wort mit drein zu werfen -- was sie +nicht mit hinbernehmen knnen, lassen sie wenigstens in den Seestdten, +und zu uns kommt Nichts mehr davon zurck. Wenn ich nur das erst einmal +erlebe, da die Leute zu ihrem Glck frmlich _gezwungen_, und nicht mehr +aus dem Land hinausgelassen werden; geht das aber so fort, so werden sie +so lange auswandern, bis uns hier weiter gar Nichts brig bleibt als +mitzugehen, wenn wir nicht eben allein sitzen wollen in dem verdeten +Land, unseren Acker selber zu bauen. Hol sie der Teufel, wofr hat sie +denn eigentlich der liebe Gott in die Welt gesetzt und ihnen den Holzkopf +gegeben, der sie zu allem Anderen untauglich macht. Ackern und Dngen +mssen sie drben doch auch, und weshalb knnen sie das nicht eben so gut +_hier_? -- Nein Gott bewahre, die paar Thaler die sie sich _hier_ erspart +haben, mssen erst wieder verschleppt und hinausgeworfen werden an +Experimente und reinen Uebermuth, und nachher sitzen sie erst recht da; +dort drben _knnen_ sie Nichts mehr sparen, und _mssen_ schon drben +bleiben, wenn sie auch wieder herber mchten. Die Paar die sich doch noch +ein paar Thaler zusammenscharren, die kommen nachher schnell genug wieder +zurck, aber es sind nur wenige, und die anderen armen Teufel haben die +Brcke muthwillig hinter sich abgebrochen, und sitzen nun auf der +wohlriechenden Haide ohne Unterfutter. Jesus Maria und Joseph, es mu ein +ordentlicher Jammer drben sein. + +Na, _so_ arg nun denn doch wohl noch nicht, Schollfeld, sagte Kellmann +kopfschttelnd, man hrt doch nun auch so Manches von da drben was nicht +gar so schlecht klingt, und wo sich's schon aushalten liee, wenn man -- +wenn man eben einmal einen solchen verzweifelten Schritt absolut thun +mte oder wollte. + +Nicht so arg? rief aber Schollfeld, der hier sein Steckenpferd ritt, und +sich selten eine Gelegenheit entgehen lie auf Amerika zu schimpfen -- +nicht so arg? da, hier lesen Sie einmal das Tageblatt, was der wackere +Dr. Hayde darber schreibt; das ist ein Mann, der hat Haare auf den Zhnen +und mu die Sache verstehn, denn er ist Einer von den Wenigen die drben +gewesen und glcklich wiedergekommen sind. Er bringt kaum eine Nummer in +der er nicht ein oder den anderen Hieb auf die Verhltnisse Ihres +glcklichen Amerika hat -- das mu ja ein wahres Raubnest sein, lesen Sie +nur einmal. + +Hren Sie lieber Schollfeld, ich will Ihnen einmal 'was sagen, +erwiederte ihm Kellmann ruhig, dieser Dr. Hayde, der Ihnen die schnen +Artikel schreibt ist, der Meinung aller ordentlichen Kerle in Heilingen +nach, das wenigste zu sagen eine kleine geschwollene Giftkrte, ein +weggelaufener Advokat, den die Verhltnisse aus Deutschland vertrieben, +und den in Amerika Niemand mit seinen Talenten haben mochte. Zu faul zum +arbeiten, und nicht im Stande etwas Anderes zu thun, wurde er dort +wahrscheinlich vom Schicksal hin- und hergestoen, und wie ein aus einer +Thr geworfener Mops, stellt er sich jetzt drauen hin, wo sich Niemand +die Mhe giebt ihn zu stren, und schimpft und klefft. Ich will Amerika +eben nicht in allem vertheidigen, aber was _der_ gerade darber sagt wrde +mich auch nicht bestimmen. Wie ein Dreckkfer schleppt er sich nur mit +grter Mhe kleine Stckchen Koth herbei, und rollt sie zusammen eine +Kugel zu machen in die er sein Ei legt -- pfui ber den Burschen. + +Na jetzt freut mich aber mein Leben, rief Herr Schollfeld erstaunt aus -- +erst schimpfen Sie selber auf Amerika, und nun auf einmal soll der arme +Doktor die ganze Schuld tragen. + +Ich _schimpfe_ nicht auf Amerika, sagte Kellmann ruhig, ich kann nur +nicht leiden wenn man es auf Kosten unseres eigenen Vaterlandes +herausstreicht, und gegen alle seine Nachtheile blind ist. Es wre +allerdings noch viel gefhrlicher sich die Lichtseiten alle zu bunt +auszumalen; die armen Leute die nachher hinbergehn und es anders finden, +sind dann zu sehr enttuscht, und fallen gewhnlich, wie mir gesagt ist, +aus einem Extrem in's Andere -- aber so taugt's auch Nichts. + +Guten Abend selbander, sagte in dem Augenblick eine andere Stimme dicht +hinter ihnen, und als sie sich danach umschauten, stand ein alter +Bekannter von ihnen, Mathes Vogel, ein reicher junger Bauer aus dem +nchsten Dorf, an ihrem Tisch und streckte ihnen freundlich die Hand +entgegen. + +Hallo Mathes, wie geht's? rief Kellmann die gebotene herzlich schttelnd +-- Wetter noch einmal Mann, wo habt Ihr jetzt gerade in der Saatzeit +gesteckt, da Ihr in der Welt herumreist wie ein Baron, der seine Gter +verpachtet hat? Ihr seid verreist gewesen. + +Ja Herr Kellmann, in Bremen. + +Wo seid Ihr gewesen? frug Schollfeld erstaunt. + +In Bremen, Herr Schollfeld! rief der junge Bauer, gegen diesen gewandt, +oben in der Hafenstadt. + +Guten Abend Mathes, kam hier der Wirth dazwischen, der den alten Kunden +ebenfalls begrte -- lange nicht gesehn, recht gro geworden mein Junge; +hast Du Durst? + +Merkwrdigen, sagte der Bauer lchelnd. + +Na warte, den wollen wir begieen, schmunzelte aber Lobsich, rasch in +den Garten zurckgehend, der soll mir nicht umsonst in den rothen Drachen +gefallen sein. + +Aber was hat Euch nach Bremen gefhrt? wiederholte Kellmann, fast etwas +mitrauisch gemacht durch das wunderliche halb verlegene Benehmen des +jungen Burschen. + +Ja Herr Kellmann, sagte der reiche Bauerssohn, wirklich jetzt verlegen +seinen Hut um den Zeigefinger der linken Hand drehend -- das hat -- das hat +so seine eigene Bewandtni -- Ich bin -- ich bin zu einem Entschlu +gekommen -- ich will -- ich will auswandern. + +Was will er? schrie Schollfeld, der die Worte nicht ganz verstanden, den +ungefhren Sinn aber etwa errathen hatte. Jedenfalls schpfte er Verdacht +und ehe Kellmann nur im Stande war ein Wort darauf zu erwiedern rief er +nochmals laut: wo will er hin? + +Nach Amerika, sagte aber der junge Mann entschlossen und wollte noch +etwas hinzusetzen, aber der Apotheker schlug dermaen auf den Tisch, und +fing so an zu schimpfen und zu fluchen, Niemand wute eigentlich auf was +und gegen wen, da Mathes gar nicht gleich wieder zu Worte kommen konnte, +und vielleicht auch eben nicht bse darber war. + +Hallo, wer ist todt? rief aber in dem Augenblick Lobsich, der mit dem +bestellten Bier fr einen seiner besten Kunden selber ankam -- da Dich +die Milz sticht, was ist denn dem Apotheker eigentlich in die Krone +gefahren? + +Dem Apotheker Nichts, nahm aber Kellmann kopfschttelnd das Wort, doch +hier dem Dings da, dem Mathes -- was meint Ihr, Lobsich was er vor hat? + +_Heirathen_? sagte dieser, und ein breites vergngtes Schmunzeln ber +den so richtig und schnell gerathenen Vorsatz zog sich ber sein dickes +gutmthiges Gesicht. + +Heirathen! schrie aber der Apotheker dazwischen, indem er sich seinen +Hut in die Stirn drckte und seinen Rock anfing zuzuknpfen -- heirathen? +-- ja prost die Mahlzeit; _auswandern_ will der Kerl, wie ein blindes Pferd +das durch die Stallwand bricht, in einen Teich zu fallen. + +_Auswandern_? schrie aber auch jetzt Lobsich in unbegrenztestem +Erstaunen -- na das ist mir aber doch wahrhaftig was Unbedeutendes. + +Oh hol Euch der Teufel mit Eurer albernen Redensart! rief aber der nun +einmal rgerliche Apotheker, und nahm seinen Stock unter den Arm -- sein +stetes Zeichen da er fertig zum Gehen sei -- was Unbedeutendes; ja wohl, +wenn der Raptus erst einmal in _solche_ Kpfe und Geldbeutel fhrt, +nachher werden wir sehn was wir hier anrichten. Ich will mir aber mein +Abendbrod nicht verderben -- gute Nacht Ihr Herren. + +Halt Schollfeld! rief aber Kellmann, ihn am Arm fassend und +zurckhaltend -- brennt mir nicht durch, ich gehe auch gleich mit und +wollte nur erst hren, was Mathes den Gedanken in den Kopf gesetzt hat. +Hol's der Henker, er macht sich entweder einen Spa mit uns, oder es ist +nur so eine Idee von ihm, die wir ihm wieder ausreden knnen. + +Wenn ich das wte blieb ich die ganze Nacht hier, sagte Schollfeld, +seinen Stock wieder auf den Tisch legend und zu dem verlassenen Stuhl +zurckgehend. Mensch, Mathes, seid Ihr denn rein vom Teufel besessen, +oder habt Ihr nur heute, in irgend einer Kneipe, ein wenig des Guten zu +viel gethan, da Ihr so tolles Zeug zusammenfaselt. + +Mathes blieb aber bei allen diesen Ausbrchen des Erstaunens, die erste +Erklrung nur einmal berstanden, vollkommen ruhig, und zog nur, statt +jeder weiteren Antwort, einen Brief aus seiner Brusttasche, den er langsam +auffaltete und vor sich legte, als ob er ihn vorlesen wollte. + +Nun was soll's mit dem Wisch? rief aber der Apotheker rgerlich, Ihr +habt Euere Seele doch noch nicht dem Gott sei bei uns verkauft? + +So schlimm noch nicht, lachte der junge Bursch, das hier ist nur ein +Brief von Caspar Lauber, den Sie ja Alle kennen und der vor etwa sieben +Jahren nach Wisconsin auswanderte. + +Der was that? rief der Apotheker, die Augen zusammenkneifend und das +linke Ohr zu ihm hindrehend -- nuschelt nicht so in den Bart, da Euch ein +Christenmensch noch verstehen kann ehe Ihr unter die Heiden geht. + +Der nach Wisconsin auswanderte, sagte der junge Bauer lchelnd -- er +hatte mir damals versprochen zu schreiben wie es ihm ginge, schlecht oder +gut; -- wenn schlecht, wollte ich ihm helfen, wenn gut, vielleicht +nachkommen. Aber er schrieb nicht Jahr nach Jahr, und da er berhaupt +Nichts von sich hren lie, glaubte ich schon er sei da drben gestorben +oder untergegangen in dem weiten Reich, bis ich vor vier Wochen etwa einen +Brief von ihm erhielt und seit der Zeit habe ich keine Ruhe gehabt bis zu +dem heutigen Tag. + +Nun ja natrlich, brummte der Apotheker. + +Aber so lat ihn doch nur reden, rief jetzt auch rgerlich der Actuar +dazwischen, Ihr raisonnirt nur in einem fort und glaubt nachher, wenn Ihr +recht geschrieen habt, Ihr httet recht. + +So lest den Brief einmal! sagte Kellmann, die Arme auf den Tisch +sttzend, nachher wissen wir ja gleich woran wir sind. + +Aber erst mu ich noch Bier haben, rief Schollfeld dazwischen, ich mag +die Lgen wenigstens nicht trocken mit anhren. + +Lobsich winkte einem der nchsten Kellner, die inde leer gewordenen +Glser wieder zu fllen, denn der Brief interessirte ihn selber zu sehr, +den Tisch jetzt zu verlassen, und Mathes sagte wie entschuldigend: + +Der Brief ist sehr kurz, aber es steht Alles darin was ich zu wissen +verlangte, und er lautet: + +Lieber Mathes -- ich habe bis jetzt mein Versprechen nicht gehalten, Dir +zu schreiben, weil es mir sehr schlecht gegangen ist. + +Na ja, fiel ihm hier der Apotheker in das Wort -- und nun mt Ihr Hals +ber Kopf machen da Ihr auch hinber kommt. + +Kellmann wollte dem ewigen Einredner etwas erwiedern, aber Mathes fuhr, +lchelnd die Hand gegen ihn aufhebend, wieder laut fort: + +Ich wollte aber nicht gern, da mich Jemand Anders untersttzen sollte, +weil das hier im Lande eine Schande ist; ich wollte mir selber helfen, und +habe mir kmmerlich, aber ehrlich und fleiig durchgeholfen. Jetzt habe +ich eine kleine Farm von achtzig Acker, und vier und zwanzig Stck +Rindvieh, und dreiig Schweine und zwei Pferde und es geht mir gut. Ich +habe hart arbeiten mssen, aber ich komme durch. Wenn Du mit Geld hier +herber kommst und willst mich aufsuchen, da ich Dir mit Rath und That an +die Hand gehen kann, dann brauchst Du keine Angst zu haben, da Du nicht +durchkommst. Wenn Du eine Frau hast, bringe sie mit; Kinder sind ein Segen +hier, kein Fluch wie fr manchen armen Mann in Deutschland. Wer arbeiten +will kommt fort, wer faul ist geht zu Grunde. Es grt Dich zehntausend +Mal Dein Caspar Lauber -- Lauber's Farm bei Milwaukie, Wisconsin. + +Und auf den Brief wollt Ihr auswandern? rief aber auch Kellmann jetzt +erstaunt -- Mathes, ist Euch denn das Auswanderungsfieber so pltzlich in +die Glieder geschlagen, da Ihr die Seekrankheit fr das einzige Mittel +haltet die es curiren knnte? + +Mathes schttelte aber gar ernsthaft mit dem Kopf, faltete den Brief +zusammen, den er zurck in seine Tasche schob, und sagte mit fester und +entschlossener Stimme: + +Lange im Sinn hab' ich's schon gehabt, aber der Brief hat es zuletzt zum +Ausbruch gebracht. + +Aber Mathes, Ihr vor allen Anderen habt doch Euer Auskommen hier im +Land, rief jetzt auch Lobsich, whrend der Apotheker das ihm eben +gebrachte Glas auf einen Zug hinuntergo, wie um seinen Ingrimm damit +nieder zu splen -- wenn Ihr nach Amerika auswandern wollt, wer soll denn +noch da bleiben? + +Ich _bliebe_ auch, sagte Mathes rasch und mit vor innerer Bewegung fast +erstickter Stimme, ich bliebe auch, wenn mich mein Vater liee, aber -- +der will nicht in die Heirath willigen mit Roner's Kthchen, des Huslers +Tochter aus Rodnach; hier hlt er mich dabei unter dem Daumen mit seinem +Gut und Geld, und das Mdchen stirbt mir indessen in Arbeit und Gram; dort +drben aber ist ein Platz, wo fleiige Menschen auch durchkommen knnen +mit Gottes Hlfe _ohne_ Geld, _ohne_ Ansehn. Der Lauber hatte gar Nichts +wie er hinberging; nicht das Hemd auf seinem Rcken war sein, und ich +wei da er nicht einen rothen Pfennig mit in das fremde Land gebracht +hat. Aus dem ist jetzt ein rechtschaffener Farmer geworden, mit eigenem +Land, Haus und Vieh, und was der kann -- schwere Noth noch einmal -- das +kann ich auch. Ich gehe hinber, nehme das Kthchen mit -- Geld zur +Ueberfahrt krieg ich schon, und wenn ich meine beiden Schimmel um den +halben Werth verkaufen sollte, und dort hilft der liebe Gott schon weiter. +Verhungern werden wir nicht, und ich brauche mir hier nicht mehr unter die +Nase reiben zu lassen, das sollst Du thun und das nicht, und _die_ sollst +Du heirathen, die Du nicht magst und willst, und die Dich lieb hat und +Dich glcklich machen kann, der sollst Du das Herz brechen -- weil ihr eben +nur der volle Geldsack fehlt. + +Unsinn! sagte der Apotheker, jetzt wieder und zwar im Ernste aufstehend +-- wenn Jemand einmal rein verrckt geworden ist, lt sich auch nicht +mehr mit ihm streiten. Gehn Sie mit Kellmann? + +Ja, gleich, erwiederte der Gefragte -- wei denn aber schon Euer Vater +um den Plan, Mathes? + +Heute hab' ich's ihm gesagt, erwiederte der Gefragte leise -- aber er +glaubt es noch nicht. + +Und ist es denn schon wirklich so fest bestimmt? sagte Kellmann +theilnehmend. + +Meine Passage in Bremen fr mich und -- meine _Frau_ ist schon bezahlt, +rief der junge Bursch da entschlossen -- den funfzehnten geht das Schiff +ab, und ich habe nur noch eben Zeit das Nothwendigste in Ordnung zu +bringen. + +Ja da kmmt freilich jeder gute Rath zu spt, sagte Kellmann, jetzt +ebenfalls aufstehend und seinen Hut ergreifend, wenn der Sprung erst +einmal geschehen ist, braucht man nicht mehr ber das Springen zu streiten +und ich wnsche Euch das Beste in Euerer neuen Heimath. + +Ich wei es, ich wei es, sagte Mathes gerhrt -- aber vielleicht seh +ich Sie selber noch einmal auf freiem Boden drben, mit Axt oder Pflug in +der Hand, wie ein wackerer, richtiger Farmer. + +Wen -- mich? rief aber Kellmann ordentlich erschreckt aus -- ich nach dem +vermaledeiten Lande, da alle unsere besten Brger frit? Nein Mathes, fr +dies Leben nicht -- aber wann geht Ihr fort? vielleicht lt Euer Vater +doch noch mit sich reden, und lenkt ein wenn er sieht da es Euch wirklich +Ernst ist. + +Mathes schttelte mit dem Kopf und der Actuar rief: + +Ein Bauer und einlenken, Kellmann? -- da kennt Ihr unseren deutschen Bauer +nicht; worauf der einmal seinen Dickkopf gesetzt hat, da mu er durch, und +wenn's nicht geht, so zerhaut er sich eben den Schdel, aber er lt nicht +nach. Der alte Vogel und nachgeben; Du lieber Gott, wenn er den eigenen +Sohn mit einem einzigen Wort vom Verderben retten knnte -- er sprch es +nicht. + +Na, da kann ich wohl auch meine Bude hier bald zuschlieen und mitgehn, +sagte Lobsich, sich den Kopf kratzend -- Schwerebrett das ist mir -- hm -- +hm -- ist mir doch was Unbedeutendes, das -- das Amerika. + +Und was sagt denn das Kthchen dazu? frug Kellmann jetzt den Mathes, +whrend die Uebrigen schon aufgestanden waren und sich zum fortgehn +gerstet hatten. + +Die weint und will nicht mit, sagte Mathes leise -- aber sie wird schon +gehen. + +Sie will nicht mit? + +Sie meint, es brche meinem Vater das Herz. + +Das Herz brechen? -- dem alten Vogel? lachte aber dieser verchtlich -- +na Gott sei Dank, die hat einen guten Begriff von ihm -- als ob dem etwas +das Herz brechen knnte. + +Nun, es frgt sich nur jetzt wem sie es lieber bricht, meinte der +Actuar, dem Alten, wenn sie geht, oder dem Jungen, wenn sie bleibt -- die +Wahl wird ihr nicht schwer werden. Aber Schollfeld, Ihr seid ja auf einmal +so still geworden? + +Ach lat mich zufrieden, brummte dieser rgerlich -- wei es Gott, man +mchte am Ende selber mit hinberlaufen, nur Nichts mehr von dem +verwnschten Auswandern reden zu hren. + +Hahahaha! rief da Kellmann, Schollfeld bekmmt auch berseeische +Ideen. + +Ueberseeische -- htte bald was gesagt, knurrte dieser aber, auf der +Strae hingehend, ohne weder Mathes noch Lobsich gute Nacht zu sagen. + +Die Uebrigen wechselten noch kurzen Gru mit ihren Bekannten dort, +zndeten sich frische Cigarren an, und schlenderten langsam, den +freundlichen Abend so viel als mglich zu genieen, die Strae hinab, der +eigenen Heimath zu. + + + + + + Capitel 3. + + + DER DIEBSTAHL. + + +Zehn Minuten mochten sie so etwa schweigend nebeneinander hergegangen +sein, als hinter ihnen auf der Strae eine Equipage und klappernde +Hufschlge gehrt wurden, die sie rasch einholten und an ihnen +vorbeirauschten, eine dicke Staubwolke dabei ber den Weg wlzend. Es war +die Familie Dollinger mit dem, neben dem Wagen hin galoppirenden Fremden, +dem Brutigam der Tochter. + +Die kommen schneller von der Stelle als die armen Auswanderer vorhin, +sagte Kellmann, als sie vorbei waren -- Wetter noch einmal, es ist doch +ein anderes Ding so ein paar flchtige Rappen vor sich zu haben, und wie +im Flug durch die Welt zu jagen, als mit einem schweren Packen auf dem +Rcken und wunden Fen vielleicht, mhselig die staubige Strae entlang +zu keuchen. + +Ja, die Gaben sind ungleich vertheilt in der Welt, seufzte der Actuar, +was der Eine haben mchte, _hat_ der Andere schon, und das ist auch wohl +das ganze Geheimni der socialen Frage, lt sich aber nun einmal nicht +ndern, und wir drfen vielleicht den Kopf darber schtteln, und wnschen +da es anders wre, aber weiter eben Nichts. + +Der auf dem Pferd, war der Dings da von Amerika, sagte der Apotheker +jetzt, der das schmhlige Geld hat und des reichen Dollingers Tochter +noch dazu heirathet. Soll mir noch einmal einer sagen da Eisen der +strkste Magnet sei; Gold ist's, und wo das liegt zieht es anderes hin. + +Und wie steht's mit Actien? lachte Kellmann. + +Bah -- bleibt immer dasselbe, brummte der Apotheker, das Gold steckt +darin, und kann durch einen sehr einfachen chemischen Proce leicht +herausgezogen werden -- wenn man sie hat. + +Es wundert mich brigens da der alte Dollinger sein Kind ber das groe +Wasser hinberziehen lt, meinte der Actuar -- dem htte es doch auch +hier im Lande nicht an einer eben so guten Parthie gefehlt. + +Liebe, meinte Kellmann achselzuckend -- Liebe ist blind sagt ein altes +Sprichwort; dagegen lassen sich eben keine Grnde anbringen. Wr's +brigens auch nicht wegen dem groen Wasser, der Bursche gefllt mir +auerdem nicht, und ich mchte ihm meine Tochter nicht geben und wenn er +bis ber die Ohren in Golde stcke. Er hat ein verschlossenes, +hochfhrtiges Wesen, behandelt den gemeinen Mann wie einen Hund, und +spricht von Allem was wir hier haben, unseren Einrichtungen, unseren +Gesetzen, unseren Vergngungen selber, ja unserem Klima und Land, das doch +zum Henker auch _sein_ Vaterland ist, mit der grten Verachtung. Amerika, +und immer wieder Amerika, hinten und vorn; ei Blitz und Hagel, ich will +gar nicht leugnen da es manche gute Seiten haben mag, das Amerika, wenn +ich sie auch gerade nicht einsehen kann, aber so viel besser wie unser +Deutschland ist es doch auch nicht drben, und wenn's so einem Burschen da +einmal zufllig geglckt ist, sollt' er nicht als Lockvogel sich hier +mitten zwischen uns hineinsetzen, anderen vernnftigen Leuten +unglckselige Ideeen in den Kopf zu pflanzen. + +Wenn sich andere vernnftige Leute solche Ideeen einpflanzen _lassen_, +geschieht's ihnen ganz recht, sagte der Apotheker -- man braucht nicht zu +glauben was jeder dahergelaufene Lump eben sagt. + +Nun _ganz_ ohne kann's aber auch nicht sein, meinte Kellmann +kopfschttelnd, und ich -- ich halt' es immer fr gefhrlich. S'ist +merkwrdig, wie rasch sich das mit der Hochzeit gemacht hat. + +Nun, wer sich die Braut gleich fix und fertig aus dem Wasser zieht hat +leicht freien, sagte der Actuar -- Glck mu der Mensch haben, dann geht +Alles wie am Schnrchen; wer aber _das_ nicht hat, der mag sein Lebtag +fischen und fngt doch Nichts -- am wenigsten aber solch einen Goldfisch. + +Wo stammt er denn eigentlich her? frug der Apotheker jetzt, wie sie +wieder eine Weile schweigend neben einander hingegangen waren, man hrt +doch sonst eigentlich gar Nichts von ihm, und er kommt auch mit keinem +Menschen weiter zusammen -- stolzer aufgeblasener Bursche der. + +Gott wei es, sagte der Actuar; er ist, glaub' ich, mit einem +hollndischen Schiff herbergekommen, und hatte einen Pa von Amsterdam. + +Und der Pa lautete nach Heilingen? + +Nun nicht gerade nach Heilingen, aber doch nach der Residenz, und wie +sich die Sache dann hier mit der Dollingerschen Familie gestaltete, nun +lieber Gott, da drckte der Stadtrath das eine, und die Stadtverordneten +drckten das andere Auge zu, und man sah nicht so genau nach den Papieren. +Ueberdie verzehrte er ja hier viel Geld; wr' es ein armer Teufel +gewesen, htten wir ihn wahrscheinlich schon bald wieder ber die Grenze +gehabt. + +Hm, ja, glaub's, sagte Kellmann mit dem Kopfe nickend, s'ist in +Heilingen eben nicht anders wie -- wie anderswo -- warum auch? + +Das Gesprch drehte sich von da ab, auf die stdtischen Einrichtungen, +deren wrmster Vertheidiger der Apotheker war, und ber die sich der +Actuar natrlich nur sehr vorsichtig auslie, whrend sie Kellmann um so +unnachsichtiger angriff; kam dann auf die Saat und die Preise, und wieder +mit einem Seitensprung auf die jetzige Politik unseres lieben deutschen +Reiches, bis sie das Thor und zwar gerade mit Sonnenuntergang erreichten, +wo Jeder seinen Weg ging, die eigene Heimath aufzusuchen. + +Der Actuar Ledermann besonders, der an dem entgegengesetzten Ende der +Stadt wohnte, beeilte seine Schritte, noch vor einbrechender Dunkelheit +seine Wohnung zu erreichen; das Gercht ging nmlich in der Stadt, da ihn +seine Ehehlfte bei solchen Gelegenheiten oft allerdings sehr unfreundlich +empfange, und ihm einmal sogar schon einige sonst sehr ntzliche, bei +_der_ Gelegenheit aber nichts weniger als passende husliche Gerthe +entgegen und vor die Fe geworfen habe. Thatsache war, da Madame oder +Frau Actuar Ledermann, was auch ihres Gemahls Thtigkeit und Ansehn +auerhalb seiner eigenen vier Pfhlen sein mochte, _innerhalb_ derselben +jedenfalls das Commando, und nicht immer mit Migung fhrte, und der +Actuar suchte den Hausfrieden wenigstens soviel als mglich zu erhalten +und jeden Anla, zu irgend einer Strung desselben, zu vermeiden. + +Mit solchen Gedanken vielleicht im Kopf, wollte Ledermann eben vom +Marktplatz aus in die Strae einbiegen, an deren uersten Ende seine +eigene, sehr bescheidene Wohnung stand, als er seinen Titel genannt und +sich selber gerufen hrte. + +Herr Actuar -- Herr Actuar Ledermann. + +Er drehte sich rasch um und sah einen Gerichtsdiener eilig auf sich +zukommen, der, die Mtze abnehmend, vor ihm stehen blieb und ihm meldete, +da er eben abgeschickt worden ihn zu holen oder aufzusuchen, da ein +Einbruch geschehen sei, ber den an Ort und Stelle Protokoll aufgenommen +werden solle. + +Protokoll aufnehmen? sagte Actuar Ledermann, keineswegs angenehm +berrascht; ja was hab ich denn heute damit zu thun, wo ist mein +_College_? + +Herr Actuar Beller sind unwohl geworden, heute Nachmittag, berichtete +der Polizeidiener, und muten zu Hause gehn; ich bin eben abgeschickt zu +sehn, welchen von den andern Herren ich zuerst treffen knnte. + +Hm -- ist sehr amsant, brummte Ledermann vor sich hin -- kommt mir +gerade apropos. Bei wem ist es denn? + +Bei Herrn Dollinger. + +Was? -- bei Kaufmann Dollinger? rief der Actuar rasch und erstaunt -- am +hellen Tag, whrend er ausgefahren war? + +Er ist, wenn ich nicht irre, eben zu Hause gekommen, berichtete der +Mann, und hat glaub' ich sein Pult geffnet, und eine bedeutende Summe +Geldes entwendet gefunden. + +Hm, hm, hm, sagte der Actuar kopfschttelnd und seinen Rock dabei, den +er der Bequemlichkeit wegen aufgelassen hatte, zuknpfend, es wird immer +besser hier bei uns. Am hellen lichten Tage. Aber die ganze Stadt steckt +auch voll fremden Volkes, das sich natrlich keine Gelegenheit +entschlpfen lt Reisegeld zu bekommen. + +Es mu doch wohl Jemand gewesen sein der mit dem Hause genau bekannt +war, sagte der Polizeidiener -- nach dem wenigstens, was ich bis jetzt +von den Dienstleuten darber gehrt habe, kann's nicht gut anders sein. + +Nun wir werden ja sehn; da mu ich aber erst -- + +Wenn sich der Herr Actuar nur eben an Ort und Stelle bemhen wollen, +sagte jedoch der Diener des Gerichts, alles Nthige ist schon dorthin +geschafft und ich war eben nur fortgelaufen, einen der Herren zu suchen. + +Der Actuar, dem Dienste natrlich Folge leistend, seufzte tief auf und +schritt, im Geist wahrscheinlich des Empfangs gedenkend, der seiner +harrte, wenn seine Frau auf ihn mit dem Abendessen warten mute, rasch die +Poststrae hinaufbiegend, dem gar nicht weit entfernten Dollinger'schen +Hause zu, dort den Thatbestand in Augenschein und zu Protokoll zu nehmen, +etwaige Spuren des Uebelthters zu entdecken und zu verfolgen, und die +Leute im Hause nach mglichem Verdachte zu inquiriren. + + * * * * * + +Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger, in dem Alles sonst so still und +ruhig und wie am Schnrchen zuging, wo Jeder seine angemessene und fest +bestimmte Beschftigung hatte, genau wute was ihm oblag, und das that, +ohne eben viel Lrm darum zu machen, lief und rannte und sprach heute +alles durcheinander, und smmtliche Bande der Ordnung schienen gelst. + +Frau Dollinger vor allen Dingen lag in Krmpfen in ihrem Boudoir, und +beanspruchte die Hlfe ihrer beiden Tchter und der weiblichen Dienstboten +im Haus, ihren Zustand zu bewachen; Herr Dollinger selber war in seinem +Zimmer des obern Stocks, und ging dort mit raschen Schritten und auf den +Rcken gekreuzten Armen auf und ab, whrend dem jungen Henkel indessen die +Bewachung des Platzes selber bertragen war, und die andern Dienstboten, +mit einem nicht unbedeutenden Theil der Nachbarschaft und deren +Verwandten, in den verschiedenen Winkeln und Ecken des Hauses herumstanden +und kopfschttelnd, die Hnde ein ber das andere Mal in Verwunderung +zusammenschlugen. Die verschiedenartigsten Vermuthungen und Beweise wurden +da laut, und die Orte und Stellungen oder Beschftigungen jedes Einzelnen +auf das Genaueste und Peinlichste angegeben, wo und wie sich Jeder gerade +in der Zeit etwa befunden haben mochte, als die entsetzliche, verruchte +That geschehen und vollbracht sein mute. + +Dem Actuar, mit dem ihm folgenden Gerichtsdiener wurde brigens willig und +dienstfertig Platz gemacht; Alle wollten aber hinter drein, und die Frauen +besonders gaben dabei durch die entschiedensten Ausrufe -- Ne Du meine +Gte und Ne so was ihre vollkommenste Misbilligung des Geschehenen zu +erkennen. Nichts desto weniger wurde auch selbst ihnen die Thre vor der +Nase zugemacht, und Einer der Bedienten bekam strenge Ordre die Hausflur +zu rumen, und Niemand mehr, so lange die Untersuchung dauere, die Treppe +hinaufzulassen, ausgenommen, es wisse Jemand noch um den Diebstahl, und +knne irgend einen Fingerzeig geben den Dieben auf die Spur zu kommen; +solche Zeugen sollten nachher vernommen werden. + +Oben an der Treppe empfing sie Herr Henkel, um sie gleich zu dem Ort, wo +der Diebstahl verbt worden, hinzufhren; einer der Leute war indessen +abgeschickt Hrn. Dollinger selber zu rufen, und dieser erschien jetzt, den +Actuar freundlich grend. + +Es war indessen schon ziemlich dunkel, und im Zimmer Licht angezndet +worden. + +Ich bedaure sehr, Herr Dollinger, sagte der Actuar, da, wie ich gehrt +habe, eine so fatale Sache mich hier in Ihr Haus gefhrt haben mu. + +Ja allerdings, erwiederte der alte Herr, ist es sehr unangenehm; +weniger des Verlustes wegen, der sich allenfalls ertragen lie, als wegen +dem Bewutsein getuschten Vertrauens, mit selbst keinem gewissen +Anhaltspunkt auf Verdacht. Ich wollte gern das Doppelte verloren haben, +wenn es htte knnen auf andere Weise geschehn. + +Das Ganze ist brigens mit einer raffinirten Geschicklichkeit +ausgefhrt, fiel Henkel hier ein, und der Thter, wer auch immer, +jedenfalls ein hchst gefhrliches Subject, von dem ich nur hoffen will +da wir ihm auf die Spur kommen. + +Drfte ich Sie bitten mir den Platz zu zeigen? + +Treten Sie hier in das Zimmer meiner Tchter; dort der Secretair ist +erbrochen. + +Hm -- mit einem breiten meielartigen Instrument, sagte der Actuar nach +kurzer Besichtigung der offenen, arg beschdigten Mahagoniplatte -- und +die Thr ebenfalls eingebrochen? + +Nein -- die Thr ist unbeschdigt und mu jedenfalls mit einem +Nachschlssel geffnet sein. + +Und was vermissen Sie in dem Secretair? + +Eine Summe Geldes, die ich erst vor wenigen Stunden, und im Beisein +meiner Familie und eines zuverlssigen Comptoirdieners, im Paket wie ich +sie von der Post erhalten, hier eingeschlossen hatte, und von der der Dieb +auf eine mir unbegreifliche Weise mu Kenntni bekommen haben. + +Wer ist dieser Comptoirdiener? + +Oh, Loenwerder; Sie kennen ihn ja wohl? + +Loenwerder, sagte der Actuar nachdenkend -- ist wohl schon eine ganze +Weile in Ihrem Geschft? + +Schon zwlf Jahr; mit keinem Schatten irgend eines Verdachts; ich nahm +ihn als einen ganz jungen Burschen in mein Haus; er mu aber gegen irgend +Jemand davon gesprochen haben. + +Hm, hm, wollen ihn uns doch einmal nachher besehn; also hier hinein +hatten Sie das Geld gelegt? + +Es ist ein Secretair, den meine Tchter gemeinschaftlich benutzen, und zu +dem jede von ihnen ihren Schlssel hat. Bitte lieber Henkel, lassen Sie +doch einmal Sophie oder Clara einen Augenblick zu uns herber rufen. + +Ich habe schon das Mdchen geschickt, eine der jungen Damen ersuchen zu +lassen, entgegnete der junge Henkel, der indessen im Zimmer umhergegangen +war, und sich berall umgesehen hatte, ob nicht vielleicht doch der Dieb +irgend eine Spur, irgend ein Zeichen hinterlassen habe, an das man sich +spter einmal halten knne. -- + +Und vermissen Sie weiter Nichts als das Geld? frug der Actuar. + +Auch ein Schmuck meiner ltesten Tochter scheint mit geraubt zu sein, +sagte Herr Dollinger -- aber da kommt Clara, die Ihnen das Nhere davon +selber angeben wird. + +Clara betrat in diesem Augenblick das Gemach; sie sah todtenbleich und +angegriffen aus, und Henkel eilte ihr entgegen sie zu untersttzen. + +Clara, mein liebes armes Kind, sagte Herr Dollinger, auf sie zugehend +und die Hand nach ihr ausstreckend, fehlt Dir etwas? -- Der Schreck hat +Dich wohl so angegriffen. Mach Dir doch nur keine Sorge, mein Herz; +vielleicht bekommen wir Alles wieder und wenn nicht -- nun ein _Unglck_ +ist es dann auch nicht; wenn Ihr mir nur Alle gesund bleibt, knnen wir +die paar tausend Thaler schon verschmerzen. + +Es ist nicht der Verlust, lieber Vater, sagte aber das junge Mdchen, +sich gewaltsam zusammennehmend, und des Vaters Hand ergreifend -- nur die +Ueberraschung, der Schreck wahrscheinlich, und das -- das Unheimliche +dabei, als ich mein Zimmer vorhin betrat, und die Spuren des verbten +Verbrechens entdeckte. Ich frchtete die entsetzlichen Menschen noch +irgend wo zu sehn, die vielleicht hinter einer Gardine stehen, unter einem +der Divans liegen, hinter einem Ofen lauern konnten und, wenn entdeckt, zu +verzweifelter Gegenwehr getrieben mich anfallen wrden, und all solch +kindische Gedanken mehr. Dort der auf den Tisch geworfene Regenschirm +dabei, die hinuntergeworfene Stickerei von dem Secretair selber, am +meisten aber der Tabaksgeruch im Zimmer und die verlschte, angerauchte +Cigarre dort auf dem Fensterbret, erfllten mir das Herz mit einem +unbeschreiblichen Grausen. + +Eine Cigarre? sagte Ledermann, sich vergebens nach dem bezeichneten +Gegenstand umschauend -- wo lag sie? + +Dort im Fenster, als ich zurckkam. + +Die alte angerauchte Cigarre? sagte Henkel rasch -- die hab' ich zum +Fenster hinausgeworfen; ich glaubte Einer der Dienerschaft htte sie in +der Aufregung mit hereingebracht und dort abgelegt -- sie mu unten auf der +Strae liegen. + +Bitte schicken Sie doch einmal einen Burschen danach, da er sie +heraufholt, sagte der Actuar; man darf auch das Unbedeutendste nicht +unbeachtet lassen, und wir wollen indessen die vermiten Gegenstnde +aufnehmen. Das Geld? -- + +Davon giebt Ihnen dieser Brief das genaue Verzeichni, sagte Herr +Dollinger, aber ich frchte fast da wir durch das Geld selber nicht auf +die Spur kommen werden, indem das Paket fast nur Gold und kleinere +Banknoten enthielt, die leicht umzusetzen und schwer zu controliren sind. +Eher hoffe ich durch den Schmuck den Dieb verrathen zu sehn, da einige +sehr auffllige Stcke, wie ich hre, dabei gewesen sind. + +Drfte ich Sie um eine genaue Angabe derselben, heute Abend noch, wenn +irgend mglich _schriftlich_ bitten? erwiderte, nach einigem Besinnen, +der Actuar, diese Einzelheiten wrden mich jetzt zu lange aufhalten. + +Kannst Du das geben, Clara? + +Bis auf die kleinste Nadel hinunter, sagte das junge Mdchen rasch, +besonders auffllig war eine kleine, rundum mit Brillanten besetzte +Broche, ein Erbstck unserer Gromutter, und ausgezeichnet vor jedem +andern Schmuck, den ich noch in meinem ganzen Leben gesehen, durch einen, +in der Mitte gefaten, genau dreieckigen, hellblauen und wundervollen +Turquis. Mein Schmuck lag gleich dicht dahinter, den aber mu der Dieb in +der Eile bersehen haben; er ist unangerhrt geblieben. + +Das ist allerdings glcklich, sagte der Actuar, wre wohl auch des +Mitnehmens werth gewesen. Lag gleich dabei? + +Hier in dem rothen Kstchen. + +Aber das ist auch geffnet worden. + +Das? -- nein, das hab ich wohl selbst geffnet, nachzusehen, ob auch Alles +darin sei, und nicht wieder ordentlich geschlossen. Die Haken waren +allerdings auf, wenn ich mich nicht ganz irre, aber der Dieb hat +keinenfalls eine Ahnung gehabt, welchen Werth das kleine unscheinbare +Kstchen enthalte, oder es stnde jetzt nicht mehr da. + +Sehr wahrscheinlich, hm -- aber Sie vergeben wohl nicht, mein Frulein, +alle diese Einzelheiten besonders zu notiren; wer wei ob sie nicht noch +einmal wichtig werden. Ah, da kommt auch Herr Henkel wieder; haben Sie die +Cigarre gefunden? + +Gott wei wo sie ist; lachte dieser, irgend Jemand mu es doch noch der +Mhe werth gehalten haben sie aufzuheben, und in einer Pfeife vielleicht +zu verrauchen -- ich bin selber hinunter gegangen, kann sie aber nirgends +mehr entdecken. Uebrigens ist es auch fast dunkel geworden, und ich werde +morgen ganz frh nachsuchen lassen. Der Stummel wird Ihnen freilich nicht +viel helfen. + +Man wei nicht, sagte der Actuar kopfschttelnd, je nach der Gte des +Tabaks lie sich vielleicht auf die Schicht der menschlichen Gesellschaft +schlieen, in der sich unser heimlicher Besuch herumtriebe. Aber das ist +allerdings Nebensache; wo also ist der Dieb hereingekommen? -- hier durch +diese Thr? + +Doch wohl vom Garten her durch das Fenster Euers Schlafzimmers, sagte +Herr Dollinger, denn durch das Haus wrde er es sich am hellen Tage im +Leben nicht getraut haben. + +Aber ich mchte meine Seligkeit zum Pfande setzen da ich den Schlssel, +der nach unserer Schlafkammer fhrt, ehe wir fortgingen, herumgedreht und +stecken gelassen htte, so da von innen ein Oeffnen unmglich war. + +Und war die Thr noch verschlossen wie wir zurckkamen? + +Nein, nur in's Schlo gedrckt, aber der Schlssel stak darin. + +Hm, hm, hm -- dann ist der Bursche dort wahrscheinlich hinaus -- sagte der +Actuar -- zur Thr hier hereingekommen und dort zur Nothrhre hinaus -- hm, +mu aber genau mit der Gelegenheit bekannt sein. Mein lieber Herr +Dollinger, wir werden Ihre Leute doch ein wenig scharf in's Gebet nehmen +mssen, denn ein ganz Fremder, kann sich die Zeit nicht so abgepat +haben. + +Wo kommt der Blumenstock her? sagte da pltzlich Clara rasch und +erstaunt, auf einen sehr schnen Rosenstock deutend, der in ihrem Fenster, +zunchst der Thre stand -- wer hat den jetzt hier heraufgestellt? + +So lange wir hier sind Niemand -- rief Henkel -- war er vorher nicht da? + +Nicht heute Mittag, das wei ich gewi; aber vielleicht hat ihn eins der +Dienstleute mir heimlich hier hereingesetzt. + +Heimlich? -- so? sagte der Actuar, den freundlichen Geber wollen wir +also vor allen Dingen einmal herauszubekommen suchen. + +Es ist heute mein Geburtstag, sagte Clara leise und errthend. + +Oh? meinte Herr Ledermann mit einem freundlichen Lcheln, da thut es +mir freilich leid, meine ganz ergebensten Gratulationen zu keiner +angenehmeren Zeit vorbringen zu knnen -- will eben nicht passen bei einer +solchen Untersuchung, kann es aber doch auch nicht geradezu +hinunterschlucken -- ich gratulire eben nicht zur Untersuchung. + +Es mu gewi ein gesegnetes Land sein, sagte Henkel mit einem leisen, +halb boshaften Lcheln, wo die Polizei sogar witzig sein kann. + +Hm, meinte der lange Aktuar, sich nach dem Sprecher umdrehend, die +Polizei macht eben keinen Anspruch darauf, und ist das meistens +Privateigenthum. Aber wir wollen die Zeit nicht mit Allotrien vergeuden; +ist nicht herauszubekommen wer den Blumenstock hier, whrend Ihrer +Abwesenheit in das Zimmer gesetzt hat? + +Jedenfalls mssen die Dienstboten darum wissen, sagte der junge Henkel, +und es wird das Beste sein sie einzeln darum zu befragen. + +Allerdings; -- Einzelverhr hat berhaupt viele Vortheile, bitte schicken +Sie einmal die Leute herauf, da man vor allen Dingen ihre Gesichter zu +sehen bekommt. + +Aber nicht hier, Vterchen, nicht wahr nicht hier in meiner Stube? bat +Clara -- ich wrde den fatalen Gedanken im Leben nicht wieder los. + +Wir wollen hinuntergehn in das untere Zimmer, sagte Herr Dollinger, +freundlich dem Wunsch der Tochter nachgebend, es lt sich das dort eben +so gut abmachen als hier. + +Manchmal ist der Platz des Verbrechens selber der geeignetste, warf der +Actuar ein, aber wie Sie wnschen -- nur um eines mchte ich Sie noch +vorher bitten, da ich mir einmal die Stelle oder das Fenster ansehn darf, +durch das sich Ihrer Vermuthung nach, der oder die Diebe entfernt haben +knnten. + +In unserem Schlafzimmer? + +Doch durch diese Thr? + +Lieber Henkel, Sie sind wohl indessen so freundlich, meine Leute unten +zusammenzurufen; wir kommen gleich hinunter. Sie werden heut viel +belstigt. + +Aber ich bitte Sie, bester Herr Dollinger, sagte der junge Mann, rasch +seinen Hut aufgreifend, wenn ich Ihnen nur darin von irgend einem +wirklichen Nutzen sein knnte. Lieber erlauben Sie mir vielleicht mit +Ihnen einer mglichen Spur zu folgen, denn meine Augen sind darin +vielleicht schrfer als manche andere. + +Es wird in der Dunkelheit nicht eben mehr viel zu spren geben, meinte +inde der Actuar; das werden wir uns mssen auf morgen frh aufsparen -- +also jetzt noch das Fenster, wenn ich bitten darf -- ich mchte mir nur die +Gelegenheit einmal von oben besehn. + +Clara selber ffnete die Thr und fhrte dem Actuar mit ihrem Vater in das +kleine freundliche Gemach, dessen beide, schon von Bltter schieenden +Weinranken berzogene Fenster, auf den Garten hinaussahen. Das eine +Fenster war allerdings geffnet gewesen, aber der Rankenwuchs so dicht +zusammengezogen, da sich ein Krper kaum htte hindurchzwingen knnen. +Die Hhe nach dem Garten hinunter, und gerade unter dem Fenster sollte ein +kleiner Rasenplatz sein, war eben nicht betrchtlich, vielleicht zehn oder +zwlf Fu, und unten umgab niederer aber ziemlich dichter Hollunder den +Rasen. Im Zimmer selber lie sich aber nicht das mindeste erkennen, das +einen solchen Verdacht untersttzt htte; das Einzige was dafr sprach, +war die aufgeschlossene Thr. + +Zu der Unterstube des Hauses waren indessen die Dienstleute versammelt +worden, streng examinirt zu werden. Der Hausmagd vor allen andern lag die +Pflicht ob, die Etage, wenn sie nach unten in die Kche ging, in +Abwesenheit der Herrschaft verschlossen zu halten. Diese aber behauptete +steif und fest, und weinte dabei und rief Gott und alle Heiligen zu Zeugen +an, da sie die Vorsaalthr auch ordentlich, zweimal herum abgeschlossen +und den Schlssel zu sich gesteckt htte, und Niemanden in der weiten +Gotteswelt gesehen habe, der das Haus in der Zeit betreten haben knne. +Trotzdem aber sei die Vorsaalthr, als sie wieder nach oben gekommen +offen, wenigstens aufgeschlossen, wenn auch zugeklinkt gewesen, und sie +htte selber im Anfang nicht begreifen knnen wie das mglich wre, aber +auch nicht weiter darber nachgedacht, und es ihrer eigenen +Unaufmerksamkeit zugeschoben. Nach der Abfahrt der Herrschaft sei sie aber +nur eine ganz ganz kurze Zeit unten geblieben um -- sie wollte erst nicht +mit der Sprache heraus, aber der Herr Actuar drngte gar so sehr -- um den +jungen Herrn Henkel fortreiten zu sehn. Nachher mochte sie vielleicht noch +zehn Minuten der Kchin geholfen haben, und war dann nicht wieder von dem +Vorsaal oben fortgekommen, auf dessen Balkon sie gesessen und genht +hatte. In der Zeit habe Niemand mehr den Vorsaal oder des Fruleins Zimmer +betreten, darauf wolle sie das heilige Abendmahl nehmen, und der Diebstahl +msse jedenfalls in den paar Minuten, die zwischen dem Fortreiten des +jungen Herrn und ihrem eigenen Wiederhinaufgehn nach oben gelegen htten, +verbt sein -- anders war es nicht mglich. + +Wer aber hatte den Blumenstock in des Fruleins Zimmer gestellt? + +Einen Blumenstock? -- whrend die Herrschaft fort war? + +Allerdings, eine Monatsrose -- in das Fenster nchst der Thr. + +Der das gethan hat, msse damit zum Fenster, oder in derselben Zeit mit +einem Nachschlssel zur Thr hereingekommen sein, als der Diebstahl verbt +worden, denn sie htte keine Seele im Haus gesehn. + +Die Dienstboten hatten indessen mit einander geflstert, als der Actuar +das Wort nahm und mit langsam bedchtiger, aber ziemlich ernster Stimme +sagte: + +Hrt einmal Leute, ich will Euch etwas sagen; Ihr habt Euch da gut +unschuldig stellen, als ob Ihr eben erst auf die Welt gekommen wrt, damit +dringt Ihr aber nicht durch. Das Geld ist fort -- Ihr seid die Einzigen die +unter der Zeit im Haus waren, und Euere Pflicht wre es gewesen -- + +Aber Herr Actuarius -- + +Ruhe da, wenn ich Euch etwas mitzutheilen habe -- und Euere Pflicht wre +es gewesen, sag' ich, aufzupassen, da niemand Fremdes den Platz betrat, +der Euch anvertraut war, und fr den Ihr also auch in der Zeit zu stehn +hattet. Jemand ist aber in der Zeit da gewesen, und hat etwas gebracht und +etwas geholt, und man wird sich jetzt an _Euch_ halten mssen, bis der +Jemand ausfindig gemacht ist. Was giebt's da hinten -- was ist gekommen? + +Dullmanns Rieke von ber dem Weg drben, sagte die Kchin jetzt, gegen +den Actuar vortretend, will den Loenwerder haben heimlich aus dem Haus +schleichen sehn. Da _haben_ Sie einen; _uns_ brauchen Sie so etwas nicht +unter die Nase zu reiben, Herr Actuar -- wir sind ehrliche Dienstboten die +sich ihr bischen Brot sauer genug im Schweie ihres Angesichts -- + +Ach halt' sie das Maul, fiel ihr aber der Actuar etwas unsanft in die +Rede -- _wer_ ist im Haus gewesen, Loenwerder? -- und heimlich +hinausgeschlichen? -- wer hat ihn gesehn? + +Hier die Rieke von Dullmann's -- + +Wann war das? fragte der Actuar das jetzt vorgeschobene Mdchen, das +feuerroth wurde und ihren einen Schrzenzipfel anfing wie einen Plumpsack +zusammenzudrehen. Erst ganz kurze Zeit vorher hatte sie einer ihrer +Freundinnen im Dollinger'schen Haus, und gewi nicht in der Absicht die +Mittheilung gemacht, gleich damit, ohne weitere Warnung, vor die Polizei +gezogen zu werden. + +Nun Mamsell -- wie hie sie? -- Rieke? -- Wann haben Sie Loenwerder aus dem +Haus kommen sehn, und ist er ruhig hinausgegangen oder _geschlichen_? + +Wenn Loenwerder im Haus war, sagte Herr Dollinger ruhig, so wird er +auch ordentlich hinaus_gegangen_ und nicht geschlichen sein; der wre der +Letzte dem ich so etwas zutrauen mchte. + +Die Rieke behauptet, fiel aber hier die Kchin in dem Bewutsein +unrechtlich gekrnkten Ehrgefhls rasch ein, da sie gar nicht auf ihn +geachtet haben wrde, wenn er sich nicht so schnell und heimlich, und +dicht unter den Fenstern, am Hause hingedrckt htte. Wer kein bses +Gewissen hat, kann gerade und offen gehen. + +Sie sind aber gar nicht gefragt, zum Henker noch einmal, rief der Actuar +jetzt ungeduldig werdend -- wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, lasse ich Sie +so lange hinausfhren, bis wir Sie wieder brauchen. Hier Mamsell Rieke; +wenn Sie sich die Schrze abgedreht haben, dann sein Sie so gut und sagen +Sie uns einmal wo und wie Sie den Herrn Loenwerder gesehen haben. + +Ich -- ich wei nicht gewi߫ -- stammelte das Mdchen verlegen -- aber -- +aber Loenwerder kam -- bald nachher wie die Herrschaft fortgefahren war -- + + +Wie lange nachher? frug der Actuar. + +Etwa eine halbe Stunde denk' ich -- vielleicht nicht so lange -- kam er +viel rascher als es sonst seine Art ist, denn er geht gewhnlich immer +sehr langsam -- kam er -- kam er aus der Thr heraus, die er geschwind +hinter sich zuzog -- und dann -- + +Und dann? -- + +Und dann hielt er den Kopf nieder, als ob er nicht wollte da ihn Jemand, +der vielleicht von oben heruntershe, erkennen mchte -- hielt er den Kopf +nieder und drckte sich -- drckte sich dicht am Haus hin, so schnell er +konnte die Strae hinunter, und um die Ecke. + +Und nachher? frug der Actuar. + +Nu, um die Ecke kann sie doch nicht sehn, sagte die Kchin. + +Ob Sie still sein wird, sagte Herr Ledermann jetzt aber wirklich bse +gemacht -- Wenzel, wenn mir die Person da jetzt noch einmal das -- noch +einmal den Mund aufthut, dann wissen Sie was Sie zu thun haben. + +Sehr wohl, Herr Actuar, sagte der Gerichtsdiener -- + +Und sind Sie dann nachher nicht herbergekommen und haben das den Leuten +im Hause gesagt, was Sie gesehn? frug der Actuar. + +Ich habe ja aber Nichts gesehen, sagte die Rieke. + +Sie haben doch den Loenwerder gesehn -- + +Ja aber der geht doch so oft in das Haus hier herein, und kommt nachher +immer wieder heraus. + +Der Actuar warf sich ungeduldig herber und hinber und sagte endlich +mrrisch: + +Unsinn -- baarer Unsinn -- aber hatte er denn irgend etwas in der Hand? -- +_trug_ er etwas? + +_Trug_? -- ja -- ja sehn Sie Herr Actuar -- das kann ich Sie nicht sagen -- +das wei ich nicht -- + +Nun Sie werden doch gesehen haben, ob er irgend ein schweres Paket in der +Hand hatte oder nicht. + +Ja sehn Sie, das wei ich Sie wahrhaftig nicht, aber ich glaube es fast, +sagte das Mdchen, denn ich habe den Herrn Loenwerder eigentlich noch +gar nicht anders gesehn, als da er irgend 'was getragen htte; und wenn's +nur ein paar Briefe gewesen wren, oder ein Regenschirm. + +Lieber Herr Actuar, ich glaube Sie sind da auf einer falschen Fhrte, +sagte Herr Dollinger jetzt -- man kann einem Menschen allerdings nicht +in's Herz sehen, aber fr den Loenwerder mchte ich fast selber +einstehen. + +Mein bester Herr Dollinger, sagte aber der Actuar kopfschttelnd, es +ist das mit den Untersuchungen eine wunderliche Sache, und Leute auf die +man am allerwenigsten gedacht, von denen man nie das geringste Unrechte +vermuthet hatte, kommen da oft in den sonderbarsten Verwickelungen vor und +-- sind schuldig. Ich selber kenne Loenwerder als einen ordentlichen +braven Menschen, und will zu Gott hoffen, da unser ganzer Verdacht +unbegrndet ist; das heimliche Schleichen aus dem Haus aber, und da ihn +Niemand sonst im Haus gesehen hat macht ihn verdchtig. Meine Pflicht ist +es wenigstens ihn selbst deshalb zu vernehmen und ich werde jedenfalls +noch heute Abend nach ihm schicken mssen -- unsere Eisenbahnverbindungen +sind jetzt zu schnell, und man darf keiner Menschenseele mehr zwlf +Stunden Vorsprung lassen, wenn man nicht oft das leere Nachsehn haben +will. + +Passen Sie auf, sagte Herr Dollinger, der Loenwerder wird den +Blumenstock zum Geburtstag Clara's oben hinaufgetragen haben, und zum Dank +dafr kommt der arme Teufel jetzt noch in den Verdacht des fatalen +Diebstahls. + +Wie aber ist er ohne Nachschlssel in die verschlossene Thr gekommen, +warf der Actuar ein -- + +Hm -- sagte Herr Dollinger, das wei ich freilich nicht -- nun fragen +Sie ihn selber, das wird jedenfalls der krzeste Weg sein. + +Um das Verzeichni der gestohlenen Gegenstnde drfte ich Sie dann +vielleicht nachher noch bitten. + +Meine Tochter wird es gerade jetzt eben schreiben, sagte Herr Dollinger, +wenn Sie nur noch kurze Zeit warten wollen. + +Dann drfte ich Sie wohl bitten, es mir gleich in meine Wohnung zu +schicken, meinte der Actuar nach kurzer Ueberlegung, ich mu vor allen +Dingen erst in meine Wohnung und werde dann von da gleich noch einmal in's +Bureau gehen. Wo ist denn der Loenwerder wohl am leichtesten zu finden? + +Ich habe eben nach seinem Hause geschickt, sagte Herr Dollinger, aber +dort ist er nicht. Paul, der Bursche, behauptet, er ginge manchmal, aber +selten, in eine Bierstube an der Ecke der Rnitzer und Hertzergasse, aber +dort war er auch nicht; es ist brigens an beiden Orten bestellt, ihn +gleich, so wie Jemand seiner ansichtig wird, hierherzuschicken. + +Sehr wohl, sagte der Actuar, seine Papiere zusammenpackend, und sie dem +Gerichtsdiener bergebend; nach kurzer Begrung wollte er sich dann eben +entfernen, als er noch einmal in der Thr stehen blieb und, sich scharf +auf dem Absatz herumdrehend, fragte: + +A prospos -- _raucht_ Loenwerder? + +Soviel ich wei _nicht_, sagte Herr Dollinger. + +Doch ja, manchmal, sagte Einer der Leute -- Sonntags nach Tisch z. B. +regelmig eine Cigarre. + +Hm, so? sagte der Actuar und verlie dann rasch das Zimmer und Haus. + +Er hatte brigens auch alle Ursache sich zu beeilen, denn daheim wartete +ein mit jeder Minute drohender aufsteigendes Unwetter auf ihn, das er mit +einer Art von verzweifelten Hoffnung immer noch mit den, dem +Gerichtsdiener wieder zu dem Zweck abgenommenen, und geschftsmig unter +den Arm geklemmten Streifen Akten abzuleiten gedachte. Jedenfalls mute +ihm der Vorfall im Dollinger'schen Haus, der so viel von seiner Zeit in +Anspruch genommen, entschuldigen. Frau Actuar Ledermann aber hatte sich +schon den ganzen Nachmittag ber, mit immer wachsender Ungeduld, +vorgenommen gehabt mit ihrem Gatten gegen Abend einen der vor der Stadt +gelegenen Grten, wo Concert sein sollte, zu besuchen und die Parthie war +ihr jetzt -- was halfen alle Grnde dagegen -- zu Wasser geworden; es +verstand sich von selbst da Actuar Ledermann die Schuld, und deshalb auch +die Folgen trug. + +Frau Actuar Ledermann hatte sich brigens vor einigen Tagen, wo sie trotz +dem nassen Wetter und allen Vorstellungen ihres Mannes spatzieren gegangen +war, furchtbar erkltet, und brachte keinen lauten Ton ber die Lippen. +Das aber, und da sie ihren gerechtfertigten Ingrimm nicht mit der vollen +Kraft ihrer Stimme hinaus_gieen_ konnte ber den Gatten, wie sie es -- und +er auch -- gewohnt war, sondern alles das was sie ihm zu sagen hatte -- und +sie hatte ihm viel zu sagen -- heraus_flstern_ mute, reizte ihren Zorn +nur noch immer mehr. + +Aber liebes Kind, ich versichere Dich, sagte der Actuar in einem +vergeblichen Versuch den aufsteigenden Sturm zu beschwichtigen, da ich +mich ber anderthalb Stunden bei dem verwnschten Diebstahl im +Dollinger'schen Hause aufgehalten habe und -- + +Und ich versichere Dich, zischte sie, mit einem Gesicht, dem die +Anstrengung die es sie kostete die Worte hrbar zu machen, einen noch viel +unfreundlicheren, ja sogar boshaften Ausdruck gab -- da ich Dich vor +anderthalb Stunden schon gerade so erwartet habe wie jetzt, und seit drei +Stunden vollkommen angezogen dasitze und auf Dich passe. + +Aber Du _bist_ ja gar nicht angezogen, beste Therese. + +Weil ich mich wieder ausgezogen habe, rief die Frau -- glaubst Du ich +soll mir ein Beispiel an einem liederlichen Menschen nehmen, und bei Nacht +und Nebel noch drauen herumstreichen, wie Leute die das Licht zu scheuen +haben? -- Und dann mit meinem Katharr -- da ich mir den Tag ber im warmen +Sonnenschein ein wenig Bewegung machte, das fllt Dir nicht ein; aber +Nachts, wenn der schdliche Thau niederfllt, der fr mich gerade Gift +wre, da mchtest Du mich jetzt wohl noch hinausschleppen nicht wahr? +damit ich nur recht schnell unter die Erde kme -- o ich armes +unglckseliges Weib -- + +Aber Therese Du bist unbillig, ich habe Dir doch angeboten heute +Nachmittag mit mir nach dem rothen Drachen hinauszugehn -- + +Weil Du wutest da das nichtsnutzige Geschpf von einer Wscherin mir +mein Kleid nicht vor vier Uhr bringen wrde, zischte die Frau. + +Aber Du hast ja noch andere -- + +Am Sonntag zum Skandal der andern Menschen mit einer solchen _Fahne_ zu +einem anstndigen Vergngungsort hinausziehn, nicht wahr? -- _Dir_ lge +natrlich Nichts daran was die Leute ber Deine Frau sagten; aber Du bist +auch an anderen Orten lieber wie zu Hause, und statt Deiner Frau einmal +ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten, und nachher mit ihr zusammen +auszugehen, mut Du natrlich g'rad in's Wirthshaus laufen, und ein +Bischen vor Mitternacht dann wieder zu Hause kommen. + +Liebes Kind, es ist halb neun Uhr jetzt -- sagte der Actuar ruhig, dann +aber Therese, fuhr er nach kleinem Zgern, mit einer fast gewaltsamen +Anstrengung etwas herauszubringen, das er auf dem Herzen hatte, fort -- +bist Du theilweise mit selbst Schuld daran, _da_ ich mir eben auer dem +Hause mein Vergngen suchen _mu_. + +Ich? wollte die Frau erstaunt rufen, der etwas zu hoch eingesetzte Ton +blieb aber total aus, und Ledermann sah nur, mit der entsprechenden +Gesticulation, das zum Hchsten erstaunte Gesicht der Gattin. Dadurch aber +vielleicht, und durch die ungewhnliche, freilich erzwungene Stille, etwas +muthiger gemacht, fuhr er entschlossen fort: + +Ja liebes Kind, Du; denn anstatt Deinem Mann, wenn er von seinen +Berufsgeschften ermdet zu Hause kommt den Aufenthalt daheim zu einem +freundlichen zu machen, in dem er gerne bleibt, lt Dich Dein +unglckseliges, heftiges Temperament nicht ruhen noch rasten, sondern Du +mut irgend eine Gelegenheit vom Zaune brechen mit mir zu zanken. Gebricht +es Dir aber vollkommen an Stoff, was jedoch nur in hchst seltenen Fllen +zu sein scheint, so bist Du mrrisch und verschlossen, machst ihm ein +finsteres, verdrieliches Gesicht, und sprichst kein Wort. + +Sprachlos nur vor Zorn und Staunen ber die unerhrte, bodenlose +Frechheit, hatte die Frau indessen dem heute so redseligen Gatten (der +aber nicht dabei zu ihr aufzuschauen wagte, sondern bald die rechte, bald +die linke Ecke der Stube mit den Augen suchte) angesehn. Es war eine +allerdings noch jugendliche schlanke, aber eher magere als volle Gestalt, +die Frau Actuar Ledermann, mit etwas vorstehenden, wenigstens stark +markirten Backenknochen und durchdringend scharfen, wenn auch kleinen +lichtgrauen Augen, die Lippen schmal und um den Mund in vielen kleinen +Fltchen, zusammengezogen, das Kinn jedoch etwas zurckstehend, was ihr +ein besonderes, und nicht eben angenehmes Profil gab. Auch in ihrem Anzug +lie sie sich zuviel gehn; der Zauber reinlicher Kleidung fehlte ihr, der +selbst der rmlichsten Tracht etwas Nettes, Freundliches giebt; die Krause +die das oben am Hals dicht anschlieende Kleid einfate, war schon mehrere +Tage getragen und verdrckt, ebenso zeigten die Manschetten Spuren +lngeren Dienstes, und die Haube sa ihr verschoben und zu viel +zurckgedrngt auf dem, nicht berreich mit Haaren bedeckten Scheitel. +Frau Actuar Ledermann war nicht hbsch, und der Affect der ihre Zge in +diesem Augenblick mehr entstellte als belebte, nahm ihnen leider auch die +letzte Spur sanfter Weiblichkeit, die sonst doch wohl noch hie und da +darin verborgen lag. Der bis jetzt mehr durch Erstaunen als Migung +niedergekmpfte Zorn gewann aber auch endlich die Oberhand, und whrend +die Anstrengung, sich bei ihrer Heiserkeit gehrt zu machen, ihr Antlitz +fast dunkel frbte, keuchte sie, die Arme in die Seite gestemmt, den +Oberkrper gegen den berrascht einen Schritt zurckweichenden Gatten +vorgebeugt: + +Spreche kein Wort, _heh_? sagt der Herr? -- prahlt da, wenn er von +Berufsgeschften nach Hause kommt -- spreche kein Wort? -- sitzt in der +Kneipe den ganzen gesegneten Nachmittag -- im rothen Drachen und das nennt +er Berufsgeschfte; vertrinkt das Geld das wir hier zum nothwendigsten +Leben brauchten, und wirft mir jetzt meine Heiserkeit vor, die mir der +Himmel geschickt hat, oder mein bses Glck, dem ich auch einen solchen +Mann verdanke -- da ich kein Wort spreche und verdrielich bin. Ich soll +wohl _tanzen_? eh? -- wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist vor Jammer +und Elend daheim, und wenn ich den ganzen Tag da sitze, und brte und +denke wie wir auskommen wollen mit den paar Groschen, die zum Sterben und +Verhungern zu viel, zum Leben aber zu wenig sind. Dann soll ich nachher, +wenn der gestrenge Herr sein Gesicht zeigt, lachen und vergngt und lustig +sein, nur damit der Haustyrann sich nicht unbehaglich fhlt in _seinen_ +vier Wnden. + +Heftiger Husten unterbrach hier die Zornesrede der Frau, der die bermig +angestrengte Luftrhre den Dienst versagte, und der Actuar Ledermann nahm +still und schweigend, den Moment benutzend, ein Licht von dem kleinen +Seitenschrank, zndete es an der Lampe an, und verlie kopfschttelnd und +seufzend das Gemach, sich auf sein eigenes kleines Stbchen zurckzuziehn. + + + + + + Capitel 4. + + + FRANZ LOSSENWERDER. + + +In Heilingen, in der Glockenstrae, stand ein vortreffliches Weinhaus, in +dem die wohlhabenderen Brger Abends gewhnlich zusammenkamen und ihr +Flschchen, aus denen auch oft zwei und drei wurden, tranken. Das Lokal +war ziemlich gemtlich, und dem Zweck entsprechend, in eine Menge kleiner +Zimmerchen abgetheilt, die theils durch wirkliche Thren und Verschlge, +theils durch Vorhnge von einander getrennt lagen, einzelnen +Gesellschaften zu gestatten eben einzeln zu bleiben, und ihr Glas, +ungestrt von dem Nachbar, zu trinken. + +Das Haus hie der Pechkranz nach einer alten Sage, die der Wirth sehr +gern mit der Heilinger Chronik belegte, und die noch in dem +dreiigjhrigen Kriege spielte; ein, ber der Eingangsthr in neuerer Zeit +erst aus Stein gehauener Bachus, hielt auch in der einen Hand einen +Tyrsusstab, und in der anderen einen Pechkranz, in hchst wunderlicher +Weise Sage und Geschft mit einander vereinigend. Die Allegorie war aber +gar nicht so bel angebracht, und htte sich auch schon ohne Tilly recht +leidlich und gengend erklren lassen, denn Bachus hatte hier schon in der +That in manchen Kopf seinen Pechkranz hineingeworfen, da es lichterloh +zum Dache hinausbrannte, ohne weiter eben greren Schaden anzurichten, +als der alte Pechkranz in damaliger Zeit angerichtet haben sollte. + +Der Wirth war brigens nicht in Heilingen geboren und erzogen, sondern ein +Rheinlnder, der sich hier erst vor einigen Jahren niedergelassen, und +durch gute Getrnke auch bald gute und schlechte Kunden genug bekommen +hatte. Seine Preise waren allerdings ein wenig theuer, aber, sagten die +Heilinger, wer einmal Wein trinkt, dem darf es auch nicht auf einen +Groschen dabei ankommen, wenn er nur cht und rein ist, und Wirth und +Gste befanden sich wohl dabei. + +Es war am Abend des nmlichen Tages, an welchem ich meine Erzhlung +begann, als die Gste, die den Tag ber meist auf Spaziergngen im Freien +gewesen waren, anfingen einzutreffen, und die Kellner geschftig herber +und hinber sprangen, Wein und Speisen den Hungrigen und Durstigen zu +bringen. Die kleinen Rumlichkeiten fllten sich nach und nach, und selbst +in dem groen Mittelsaal, der ungefhr das Centrum des Ganzen bildete, +hatten sich schon hie und da einzelne Gruppen gebildet, oder auch einzelne +Gste saen in irgend einer Ecke, ihre Flasche Wein vor sich, und auf +eigene Hand, in ungeselliger Gemthlosigkeit, langsam Glas nach Glas zu +leeren. Es ist das aber nicht die rechte Art; zu einer schnen Landschaft +und einer guten Flasche Wein gehren mindestens zwei Personen, um Beides +recht und ordentlich zu genieen, die eine sich _darber_, die andere sich +_dabei_ auszusprechen; wenn man allein ist, geht mehr als der halbe Genu +von Beiden verloren. Es giebt allerdings Menschen, die sich zufriedener +fhlen wenn sie Alles allein genieen knnen, aber denen geh' aus dem Weg; +es sind Hypochonder oder Schlimmere, und der einzige Dank, den Du ihnen +schuldig bist ist dafr, da sie sich eben auch von Dir zurckziehn. Nur +wer Niemanden hat an den er sich anschlieen darf, wer allein und +freundlos in der Welt dasteht und das Leid das ihn drckt, allein tragen, +die wenigen frohen Momente seines Lebens allein genieen mu, den bedauere +und hilf ihm, wenn Du kannst, denn er ist der Unglcklichste von Allen. + +Es mochte neun Uhr Abends sein, als ein Bekannter von uns, der +Krschnermeister Kellmann, die Weinstube betrat und, sich berall +umschauend, ob er nicht irgend einen Freund trfe zu dem er sich setzen +knnte, in einer der Ecken eine bekannte Gestalt entdeckte. Aber er sah +erst ein paar Secunden wirklich aufmerksam dorthin, ehe er seinen Augen +traute, und sagte dann, auf Jenen losgehend und neben dem Tisch stehen +bleibend: + +Hallo, _Loenwerder_? Ihr hier im Pechkranz? na da mchte man doch, wie +die Schwaben sagen, den Ofen einschlagen. Alle Wetter Mann und vor einer +Flasche Rdesheimer; nun das la ich gelten und es freut mich wahrhaftig, +da Ihr endlich einmal aufthaut und unter Menschen kommt. Aber was ist +denn heute los bei Euch? denn einen ganz besonderen Grund mu doch die +Festlichkeit haben. + +Ha -- ha -- ha -- hat sie auch He -- he -- he -- he -- herr Ke -- ke -- ke -- +kellmann, sagte der kleine Mann verlegen lchelnd und sich etwas +schchtern dabei umschauend, denn es schien ihm nicht angenehm, die +Aufmerksamkeit der brigen Gste so direkt auf sich gelenkt zu sehn. + +Jetzt kann ich aber auch den Leuten widersprechen, sagte Kellmann, +seinen Hut und Stock an einen der nchsten Haken hngend und sich neben +ihn setzend, wenn sie behaupten Ihr trnkt nur Wasser, und Sonntags +hchstens einmal ein Glas Dnnbier -- ich kriege Leibschneiden, wenn ich +nur an das Zeug denke -- und sonst lebtet, als ob Ihr die Woche mit einem +halben Thaler auskommen mtet. Alle Wetter Mann, das ist recht, da Ihr +Euch auch manchmal ein Glas Rheinwein gnnt; das hlt Leib und Seele +zusammen, und strkt die Nerven und Muskeln mehr wie Rindfleisch. Wrde +mir schwer ankommen, wenn ich unseren vaterlndischen Wein entbehren +mte, setzte er mit einem halbunterdrckten Seufzer hinzu. + +Ha -- ha -- ha -- haben Sie a -- a -- a -- auch wohl ni -- ni -- nicht n -- n -- +n -- n -- n -- nthig, be -- be -- be -- bester He -- he -- he -- he -- he -- he. + +Ih nun wer wei was Einem noch Alles bevorsteht, unterbrach ihn Kellmann +-- hier Kellner -- mir auch eine Flasche von dem Rdesheimer; der Duft hat +mir Appetit gemacht. + +Hallo Loenwerder bei einer Flasche Rdesheimer, rief aber jetzt noch +eine andere Stimme aus dem nchsten Stbchen, wo ein paar junge Kaufleute +bei ihrem Glase zusammensaen -- da mssen wir auch dabei sein; +Loenwerder hat vielleicht heute seinen splendiden Tag und traktirt -- +haben Sie was in der Lotterie gewonnen? + +Die jungen Leute, die Kellmann und Loenwerder begrten, kamen mit ihrer +Flasche heraus, und setzten sich an denselben Tisch, mit dem immer +verlegener werdenden kleinen Mann anstoend und trinkend. Denen gesellten +sich aber noch bald darauf Andre zu; Loenwerder war in der ganzen Stadt +bekannt und oft auch, seiner krperlichen Mngel wegen, zum Besten +gehalten. Vertheidigen konnte er sich aber schon seines Stotterns wegen +nicht, was den Gegnern gleich nur noch mehr Anla und Stoff gegeben htte; +so wurde denn diese freilich gezwungene Zurckhaltung endlich fr +Gutmtigkeit ausgelegt, mit der er sich Scherz und Stichelrede ruhig +gefallen lie, und was die schrfste Erwiderung nicht vermocht, erreichte +er unfreiwillig dadurch, da man es endlich mde wurde, den sich nicht +Verteidigenden zum Besten zu haben, und ihn eben zufrieden lie. Aber in +des Verwachsenen Betragen nderte das Nichts; abgestoen und verhhnt -- in +nur sehr wenigen Ausnahmen -- von Allen, mit denen er in Berhrung kam, zog +er sich mehr und mehr in sich selbst zurck, ging, auer den nthigen +Geschftswegen und auer der Geschftszeit, fast nirgends hin, und lebte +so einfach, ja fast drftig, wie nur ein Mensch leben kann, der eben _nur_ +Geld ausgiebt, um zu existiren. In einem Weinkeller hatte ihn aber noch +Niemand gesehn, und die Gste dort, die berdies keinen weiteren Zweck da +hatten als sich zu amsiren, glaubten das einmal einen Abend mit dem +kleinen Stotterberg, wie er spottweis, seines Stotterns und Hckers +wegen genannt wurde, am Besten thun zu knnen. + +Im Anfang wollte sich Loenwerder aber auf Nichts einlassen, ja machte +sogar zwei oder drei, wenn gleich vergebliche Versuche, sich zu entfernen, +denn von allen Seiten wurde er gehalten, und Jeder wollte und mute mit +ihm trinken. Nach und nach aber fing er an aufzuthauen; der ungewohnte +krftige Wein mochte ihm das Blut leichter und rascher durch die Adern +jagen. Nun sollte er erzhlen, aber das ging nicht, sein Stottern wurde, +mit der schwereren Zunge, kaum verstndlich, bis Einer, im Spott eben, auf +den Gedanken kam, ihn zum Singen aufzufordern. Loenwerder weigerte sich +erst ganz verschmt; das aber kam den Anderen zu komisch vor, und mit +Lachen und Toben, whrend ein paar schon Champagner bestellten, den Genu +wrdig zu feiern, rusperte sich Loenwerder pltzlich und stieg, von dem +Wein erregt, und jetzt unter dem lauten Jubel der ihn umdrngenden Gste, +auf einen Stuhl. + + [Capitel 4] + +Was aber, wie sich die Uebrigen gedacht, Spott und Scherz hatte werden +sollen, das erstarb in athemlosem Schweigen, nur von leisen Ausrufungen +des Staunens und der Bewunderung unterbrochen, als der kleine verkrppelte +Mensch, mit einer hellen, glockenreinen Stimme, und Tnen, die zum +innersten Herzen drangen, erst noch scheu, dann aber immer +zuversichtlicher werdend, und wie von dem Inhalt des Liedes mit +fortgerissen, dieses also begann: + + Ich habe schon zu oft geschaut + In Deiner Augen Glanz, Du Holde, + Auf meine Kraft zu fest vertraut, + Viel mehr, als ich vertrauen sollte. + + Doch nein, fr Dich Geliebte sind + Des Lebens schnste, reinste Blthen, + Von keinem Schmerz getrbt, bestimmt, + Und was knnt' ich dafr Dir bieten? + + Nichts -- gar Nichts, als ein treues Herz; + Doch nimmer sollst Du es erfahren -- + Ich kann, wie frher, meinen Schmerz + In tiefer, innerer Brust bewahren. + + Sei glcklich! -- wenn auch ohne mich, + Ich will Dich lieben, aber schweigen + Und mein Gebet nur soll fr Dich + Empor, zum Thron des Hchsten steigen. + + Wenn dann mein Herz im Grabe liegt, + Und austrumt seine stillen Leiden, + Dann soll der Geist zum Himmel nicht + Entfliehn, und zu der Seel'gen Freuden. -- + + Ein schn'res Loos werd' ihm zu Theil, + Umschwebend Dich in trben Tagen, + Soll er, zu Deinem Schutz und Heil, + Selbst seiner Seligkeit entsagen. + +Loenwerder war ganz gerhrt geworden beim Schlu des Liedes, und die +Thrnen standen ihm in den Augen; whrend sein wirklich hliches Gesicht +durch den Schmerz aber eher einen komischen als ernsten Ausdruck bekam, +jubelte die Schaar jetzt um ihn her, die wirklich erst wieder Athem und +Laut gewann, als der wundersame Zauber dieser Stimme von ihnen genommen +war. + +Bravo -- bravo Loenwerder -- bravo dacapo! Donnerwetter Mann, Ihr habt ja +eine Stimme wie eine Nachtigall, und stottert nicht die Probe dabei -- wie +am Schnrchen geht das! + +Es ist erstaunlich! rief Kellmann, vor lauter Verwunderung ber das eben +Gehrte wirklich fast sprachlos. + +Nun aber auch trinken -- hier Loenwerder -- hier, riefen sie, ihm das +Glas bis zum Rand mit dem schumenden Trank fllend, und dann noch ein +Lied; bei Gott, das zuckt und prickelt Einem ordentlich durch die Adern, +und klingt wie Glockenton so rein und voll; Loenwerder wo habt Ihr das +Singen gelernt? + +Vo -- vo -- vo -- vo -- vo -- von mi -- mi -- mir se -- se -- se -- se -- selb -- +bber, stotterte der kleine Mann, kaum im Stande jetzt mit immer schwerer +werdender Zunge nur die paar Worte vorzubringen, whrend ihm im Gesang die +Strophen wie der Lerche das schmetternde Lied; aus der Kehle wirbelten. + +Und da hat bis jetzt noch gar kein Mensch etwas davon erfahren, rief +Kellmann wieder -- behlt die liebe Gottesgabe da ebenfalls fr sich +allein, kommt nirgends hin, spricht mit Niemand, trinkt und singt mit +Niemand, und hat eine Stimme in der Luftrhre sitzen, die Einer, wer es +darauf anzulegen verstnde, in reines Gold verwandeln knnte. + +Von allen Seiten tranken sie jetzt dem kleinen Mann zu, und berschtteten +ihn mit Lob und Jubel, und dieser schwamm wirklich in einem wahren Meer +von Wonne. So wohl war ihm auch noch nie geworden -- Niemand hatte sich bis +jetzt um ihn bekmmert, Jeder ihn verspottet und verhhnt, und zum ersten +Mal, vielleicht seit langen, langen Jahren, fhlte er sich unter Menschen +einem Menschen gleich, wute sich nicht mehr verachtet und unter die Fe +getreten, und sah freundliche Augen um sich her, die ihn wie ihres +Gleichen anschauten. + +Dem lste sich auch endlich seine Zunge, oder wenigstens sein guter Wille +zu reden, so weit, da er beginnen wollte Geschichten zu erzhlen. Das +ging aber unter keiner Bedingung; beim Singen ja, aber beim Sprechen +brachte er kein Wort mehr ber die Lippen, und selbst das Singen versagte +ihm zuletzt den Dienst; die Augenlider wurden ihm schwer, er fing an zu +lallen, und war eben zurck auf seinen Stuhl und dem Schlaf in die Arme +gesunken, als die Thr aufging und zwei Gerichtsdiener in's Zimmer traten. +Es war etwa elf Uhr Abends und die meisten Gste, mit Ausnahme des einen +Tisches, hatten das Haus schon verlassen. + +Hallo was ist das? sagte Herr Kellmann, der die beiden Leute zuerst +bemerkte, das ist wunderlicher Besuch -- es wird doch nicht etwa eine +Polizeistunde eingefhrt in Heilingen? + +Aber auch der Wirth war die Diener der Gerechtigkeit, wie sie meist +etwas poetisch genannt werden, gewahr geworden und ging auf sie zu, sich +zu erkundigen was sie hierher gefhrt. + +Ein kleiner buckliger Mann soll hier heute Abend bei Ihnen sein, sagte +der Erste -- er ist aus dem Dollingerschen Geschft. + +Dort sitzt er in der Ecke, sagte der Wirth vom Pechkranz nach +Loenwerder hinberzeigend, hat er etwas verbrochen? + +Ich wei nicht, erwiederte der Zweite ziemlich kurz -- wir sollen ihn +abholen. -- + +Wird schwer sein, meinte der Wirth -- sie haben ihm heute Abend hier +ordentlich zugetrunken, und der Wein hat jetzt das Uebergewicht -- wenn er +aufsteht kippt er wieder um. + +Hm -- da wird wohl auch nicht viel mit Fragen aus ihm herauszubringen +sein, Meier; was meinst Du, nehmen wir ihn mit? + +Ich denke das Beste wird sein wir fhren ihn zu Haus, und Einer bleibt +bei ihm bis er morgen frh wieder zu Verstande kommt; jetzt ist doch +Nichts mit ihm anzufangen. + +Aber um Gottes Willen was ist denn vorgefallen? frug Kellmann bestrzt; +der arme Teufel hat doch nicht etwa irgend 'was verbrochen? + +Noch ist nichts Gewisses bekannt, erwiederte der erste Polizeidiener, +nur bei Dollinger's ist heute Nachmittag eingebrochen, und die +Untersuchung mu jetzt erst ergeben, wer schuldig sei. + +Bei Dollinger's eingebrochen? riefen Mehrere, heute Abend? + +Nein heute am hellen Tag, sagte der Mann. + +Alle Wetter das mu dann gewesen sein whrend sie nach dem rothen Drachen +gefahren waren, sagte Kellmann rasch -- sie kamen an uns vorbei mit dem +jungen Henkel. + +In der Zeit war's, besttigte der Polizeidiener, denn wie sie zu Hause +kamen, wurde es entdeckt -- hier da Loenwerder -- Sie da -- wachen Sie auf. + +Ja wenn Sie den stoen wollen bis er munter wird, lachte Einer der +jungen Leute, da haben Sie Arbeit. + +Sie -- Loenwerder -- hren Sie? + +Ja -- ja -- stammelte der von dem ungewohnten Weine, von dem er eigentlich +gar nicht so sehr viel getrunken, Betubte -- me -- me -- me -- mehr We -- we +-- wein; ich za -- za -- za -- zahle A -- a -- a -- a -- a -- alles! + +So? sagte der Polizeidiener ruhig -- nun fr heute mcht' es doch wohl +genug sein; komm, fa ihn da drben unter den Arm, er wohnt ja auch nicht +so sehr weit von hier -- wo ist sein Hut? + +Hier -- armer Teufel, das wird ein bses Erwachen werden. + +Wie man sich bettet so schlft man, sagte der zweite Polizeidiener, und +den Betrunkenen in die Hhe richtend, der dabei unverstndliche Sachen +stammelte und sogar einen total misglckenden Versuch machte wieder zu +singen, fhrten sie ihn hinaus und seiner Wohnung zu, inde die Gste noch +das fr und wider der Schuld des Mannes, von dem sie nie etwas Uebles +gehrt bei einer anderen Flasche besprachen. + +Und es _war_ ein bses Erwachen fr den Mann; von dem Weindunst betubt +schlief er, wie ein Todter, bis zum lichten Tag, und als er die Augen +aufschlug und ihm der Kopf schmerzte zum Zerspringen, fiel sein erster +Blick auf den ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gehenden +Polizeidiener, den er einen Moment bestrzt anstarrte, und dann die Augen +wieder schlo, wie vor einem unangenehmen Traumbild. + +Nun Loenwerder, ausgeschlafen? sagte der Mann aber, froh endlich einmal +zu einem Resultat zu kommen -- das hat lange gedauert -- kommen Sie, stehn +Sie auf und ziehn Sie sich an. + +Die Stimme war _kein_ Traum, und der kleine Mann richtete sich erschreckt +von seinem Bett, auf dem er noch mit den Kleidern vom vorigen Abend lag, +empor. Wo war er? -- wie war er hierher gekommen? er drckte sich mit +beiden Hnden die Stirn und der klare Angstschwei brach ihm aus ber den +ganzen Krper; er _wute_ nicht mehr was gestern Alles geschehn, und die +unheimliche finstere Gestalt vor ihm fllte sein Herz mit einer wilden +Ahnung von Unheil, die alles Blut dorthin in jhem Strom zurcktrieb. + +Wie ein Schlag da hinein traf ihn die Nachricht von dem entdecktem +Diebstahl, das Gefhl, da der Verdacht auf ihm laste, und die nchste +Stunde -- whrend ein anderer Polizeibeamter bei ihm visitirte und man +nichts weiter, als in einem Winkel seines kleinen Schreibtisches, unter +dreifachem Schlo, ein Pckchen mit 200 Thalern in fnf und zwanzig Thaler +Cassenanweisungen, wie noch einige Goldstcke fand, wie seine Abfhrung +dann nach dem Dollingerschen Hause, da Herr Dollinger gebeten hatte den +Mann, an dessen Schuld er nicht glauben wollte, erst einmal an Ort und +Stelle selber zu befragen -- lag wie ein Alp auf seiner Seele, unter dessen +Last er auch kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, ja nicht einmal +eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten vermochte. + +In dem Dollingerschen Hause angekommen, wurde er gleich in Herrn +Dollinger's Zimmer hinaufgefhrt, und der alte Herr ging, als Loenwerder +die Stube betrat, mit auf dem Rcken gekreuzten Hnden in seinem Zimmer +auf und ab. Der junge Henkel sa in der einen Ecke des Sophas, das rechte +Knie ber das linke geschlagen, mit einem Buch in der Hand, ber das hin +er aufmerksam den Gefangenen betrachtete. + +Loenwerder war bleich wie ein Todter -- jeder Blutstropfen hatte sein +Antlitz verlassen, und bei dem Versuch den er zum Reden machte, kam kein +Laut ber seine Lippen. + +Loenwerder, sagte Herr Dollinger endlich, nach einer kleinen Weile vor +ihm stehen bleibend und ihn ernst, ja traurig betrachtend -- ein bser +Mensch ist gestern, whrend unserer Abwesenheit, in unser Haus geschlichen +und hat, auer einigen Juwelen, auch noch das Geld entwendet, das Du mir +gestern Mittag gebracht und das ich, wie Du weit, in den Secretair dort +schlo. Warst Du whrend unserer Abwesenheit wieder im Haus und in dem +Zimmer meiner Tchter? + +He -- he -- he -- he -- he -- he -- he -- rr Do -- Do -- Do -- Do. + +Schon gut Loenwerder, Du bist jetzt aufgeregt und das Sprechen wird Dir +schwer; beschrnke Dich auf ein einfaches ja und nein. + +Ja -- a -- ! + +In dem Zimmer meiner Tchter? + +J -- a -- a -- a aber -- i -- i -- i -- i -- ich wo -- wo -- wollte -- + +Sie haben einen Blumentopf dort hineingesetzt? sagte Herr Henkel jetzt +ruhig. + +Das Blut stieg dem kleinen Mann rasch bis in die Schlfe hinauf, aber der +nchste Moment lie sein Antlitz wieder so wei als vorher; er nickte nur, +zur Bettigung des eben Gesagten, mit dem Kopf. + +Loenwerder, sagte der Herr Dollinger mit leiser, bewegter Stimme und +dicht zu dem kleinen Mann hinantretend, wobei er die Hand auf dessen +Schulter legte, Loenwerder, noch gestern wrde ich eben so leicht +geglaubt haben, da eines von meinen eigenen Kindern eines schlechten, +unrechtlichen Streiches fhig wre, bis mich leider die immer deutlicher +sprechenden Thatsachen in meinem Glauben an Dich _wankend_ gemacht haben. + +He -- he -- he -- he -- he -- herr Do -- Do -- Do -- Do -- -- Dollinger -- + +Ich will Dir klar und einfach unseren ganzen Verdacht vorlegen, sagte da +der alte Herr, dem Angeklagten jedes unntze Wort zu ersparen -- gestern, +whrend unserer Abwesenheit, ist der Secretair meiner Tchter erbrochen +und das Dir bekannte Geld entwendet worden -- drben ber der Strae hat +Dich ein Mdchen gesehn, wie Du heimlich aus dem Hause geschlichen bist. +Ebenso besttigt Wilhelm, der Stalljunge, Dich gesehn zu haben, wie Du +httest das Haus durch die nach dem Hofe zu fhrende Thr verlassen +wollen, bei seinem Anblick aber, was selbst dem Jungen aufgefallen ist, +zurckgefahren, und dann auch nicht ber den Hof gekommen wrst. Das +Stubenmdchen, die keine Ahnung davon haben konnte da Geld in dem +Secretair lag, ist bereit den schwersten Eid abzulegen, da sie, wenige +Minuten spter, nachdem man Dich hatte aus dem Hause schleichen sehen, die +Vorsaalthr nicht mehr aus den Augen gelassen, und gewi wre, da Niemand +die Schwelle mehr berschritten habe, bis sie den zurckkehrenden Wagen in +den Hof einfahren gehrt. Heimlich bist Du im Haus gerade in der Zeit, in +welcher das Geld entwendet wurde, gewesen, und die gestrige Ausschweifung, +die man an Dir nicht gewhnt ist, wie die bei Dir gefundene Summe, lassen +allerdings das Schlimmste frchten. Loenwerder -- ich brauche Dir nicht zu +sagen, wie weh -- wie weh mir das gerade von _Dir_ thut, und ich wollte die +doppelte Summe, so bedeutend sie ist, gern verschmerzen, wenn es _nicht_ +geschehen wre. Mache aber jetzt Deinen Fehler, wenigstens so weit das +noch in Deinen Krften steht, wieder gut; gestehe was Du mit dem brigen +Gelde gemacht, wo Du es verborgen hast, und ich selber will dann auch +Alles thun was in meinen Krften steht, Deine Strafe zu erleichtern. Ein +anderer Welttheil mag Dir nachher in spterer Zeit Gelegenheit geben +Deinen Fehltritt zu bereuen, und das wieder zu werden, fr was ich Dich, +selbst bis diesen Morgen noch, gehalten habe. + +Loenwerder hatte whrend dieser Auseinandersetzung wie aus Stein gehauen +vor seinem Prinzipale gestanden, nur das Zittern seiner Glieder verrieth +da er lebe; jetzt aber brach er in die Knie, und zum ersten Mal +vielleicht mit dem vollen Bewutsein der gegen ihn erhobenen Anklage -- +oder auch von Schuld und Angst zu Boden gedrckt, denn wer konnte in den +stieren, berdies nicht geraden Augen und in den todtenbleichen, mit +groen Schweiperlen bedeckten Zgen das richtige lesen -- umfate er die +Knie des alten Herrn und bat mit wild stotternder Stimme, aus der dieser +nur mit uerster Anstrengung einen Sinn herausfinden mute -- ihn nicht +unglcklich zu machen -- Nichts so Schreckliches von ihm zu denken. + +Ein aufrichtiges Gestndni, Loenwerder, entgegnete darauf Herr +Dollinger, ist das Einzige, was Deine Schuld jetzt noch in etwas +erleichtern kann. Das Gericht wird einen unbewachten Augenblick, dem die +Reue auf dem Fue folgt, nicht so schwer strafen, wie den hartnckigen +Uebelthter. + +A -- a -- a -- a -- a -- aber ich bi -- bi -- bin ni -- ni -- ni -- nicht schu -- +schu -- schu -- schuldig, -- stotterte der Unglckliche -- ich we -- we -- we +-- we -- wei vo -- vo -- vo -- von Ni -- ni -- ni -- nichts -- + +Du weit von Nichts, Loenwerder? sagte Herr Dollinger leise mit dem +Kopf schttelnd -- und woher ist das Geld das man bei Dir gefunden, woher +die Fnfundzwanzig Thaler-Note, die Du locker in der Tasche getragen, und +die Dir der Polizeidiener gestern Abend noch herausgenommen hat? + +Ge -- spa -- pa -- pa -- pa -- partes Geld -- e -- e -- e -- e -- e -- ehrlich ge -- +ge -- gespartes G -- g -- g -- geld! stammelte der arme Teufel. + +Herr Henkel stand jetzt auf und ging langsam auf Herr Dollinger zu, dem er +ein paar Worte in's Ohr flsterte und dann, whrend dieser leise und +traurig mit dem Kopf nickte, das Zimmer verlie. Loenwerder aber, der ihm +ngstlich mit den Augen folgte und vielleicht in einer unbestimmten Ahnung +fhlte da man ihn fortfhren -- in ein Gefngni bringen werde, ergriff +wieder und jetzt aber wie in Todesangst des alten Mannes Hand, und bat ihn +um Gottes -- um seiner Seligkeit willen, soweit es ihm die, jetzt in der +Aufregung nur noch mehr fehlende Sprache immer gestattete, da er ihm nur +das nicht anthun -- da er ihn in kein Gefngni mge fhren lassen. Herr +Dollinger erklrte aber natrlich darin Nichts thun zu knnen, denn wenn +er Nichts gestehen wolle oder zu gestehen habe, so msse allerdings das +Gericht, bei so stark vorliegendem Verdacht, die Untersuchung aufnehmen, +wonach sich bald seine Schuld oder Unschuld herausstellen wrde. + +Hab' ich aber einmal erst auf solchen Verdacht gesessen, stotterte der +Unglckliche, so bin ich gebrandmarkt mein Lebelang -- + +Herr Dollinger zuckte die Achseln, und die Thr ffnete sich in diesem +Augenblick, den einen Polizeidiener zeigend, der Loenwerder leise auf die +Achsel klopfte und freundlich sagte: + +Wenn's gefllig wre. + +Loenwerder zuckte zusammen als ob er einen Schlag bekommen, und wandte +sich noch einmal, wie Hlfe suchend, an Herrn Dollinger, aber ein Blick +auf diesen berzeugte ihn, da er schon nicht mehr helfen knne, wo das +Gericht die Sache in die Hand genommen, und sein Gesicht in den Hnden +bergend, folgte er dem Gerichtsdiener fast willenlos hinaus. + +Gerade als er durch die Thr schritt begegnete ihm, noch auf der Schwelle, +Frau Dollinger, und rasch bei Seite tretend, als ob sie selbst durch seine +Berhrung angesteckt zu werden frchte, warf sie ihm einen zornigen, +verchtlichen Blick zu und ging an ihm vorber. + +Loenwerder seufzte tief auf, sagte aber kein Wort, denn wie er den Kopf +hob, sah er am andern Ende des Vorsaals Clara mit dem jungen Henkel in +eifrigem Gesprch, und auch dort mute er vorbei. Das war zu viel und wie +unschlssig blieb er stehn und sah sich um, als ob er einen Weg zur Flucht +suche. + +Na kommen Sie, Loenwerder, machen Sie keine Dummheiten, sagte aber, ihm +ermunternd auf die Schulter klopfend, der Polizeidiener -- es ist Alles +ein Uebergang, wie der Fuchs sagte, als sie ihm das Fell ber die Ohren +zogen. + +Loenwerder nahm sich zusammen und schritt festen Trittes an dem jungen +Mdchen vorber, das ihn mitleidig betrachtete. + +Etwas ber zweihundert Thaler hat man schon bei ihm gefunden, flsterte +der junge Henkel ihr leise zu -- ich hoffe da Vater Dollinger das andere +auch noch wieder bekommen soll. + +Ach Loenwerder, warum habt Ihr das gethan? sagte Clara, leise und +mitleidig den Gefangenen ansehend, als er an ihr vorberging. + +U -- u -- u -- und Si -- si -- si -- si -- sie g -- g -- g -- glau -- ben d -- d -- +das a -- a -- a -- a -- auch? rief Loenwerder und die groen hellen Thrnen +standen ihm dabei in den Augen, aber der Polizeidiener hatte sich schon +lnger mit ihm aufgehalten, als er meinte verantworten zu drfen, nahm ihn +leise an der Hand und fhrte ihn die Treppe hinunter. Loenwerder folgte +ihm wie in einem Traum. + +Das Polizeigebude war nur hchstens fnfhundert Schritt von dort +entfernt, und stand an der andern Seite einer kleinen steinernen Brcke +die ber den, mitten durch die Stadt und hufig berbrckten kleinen Flu +fhrte. Als sie hinunter auf die Strae kamen, lie der Polizeidiener +seinen Gefangenen los, kein Aufsehn zu erregen, und flsterte ihm zu nur +ruhig neben ihm hinzugehn. Loenwerder verstand ihn wohl gar nicht, denn +er sah verstrt zu ihm auf, und dann um sich her, und fand die Augen der +Vorbergehenden alle neugierig auf sich geheftet; sich aber doch, wenn +auch nur dunkel, des Zwanges bewut der auf ihm lag, nahm er sein +Taschentuch heraus, trocknete sich die feuchte Stirn damit ab, und ging +mit krampfhaft zusammenengebissenen Zhnen neben seinem Wchter her. So +erreichten sie die Brcke, wo vier oder fnf Jungen standen, die neugierig +die Ankommenden betrachteten; Loenwerder's Blick schweifte ber sie hin, +aber er sah sie nicht, bis er dicht bei ihnen war und einer derselben +spottend rief: + +Hoho, hoho -- Stotterberg hat gestohlen, Stotterberg hat gestohlen! + +Die Anderen stimmten lachend mit in den Ruf ein, und der Polizeidiener +drehte sich rgerlich und drohend gegen die Buben um, die scheu +auseinander stoben; Loenwerder aber fuhr sich mit beiden Hnden +krampfhaft gegen die Stirn -- hat gestohlen! schrie er dabei, ohne zu +stottern, mit gellendem wilden Schrei, und ehe sein Wchter es verhindern +konnte, ja nur eine Ahnung davon hatte, warf er sich mit einem +verzweifelten Sprung, ber die niedere Ballustrade hin in den unten +vorbeilaufenden Strom. Noch ber dem Gelnder erfate ihn der +Polizeidiener an einem Rockzipfel, das Gewicht des niederfallenden Krpers +war aber zu gro, als da er es mit einer Hand htte aufhalten knnen, ja +er mute sogar loslassen, nicht selber das Gleichgewicht zu verlieren, und +der Unglckliche schlug gleich darauf auf das Wasser, unter dessen +Oberflche er im nchsten Augenblick verschwand. + +Der Flu war inde hier weder breit noch tief, und auf der ziemlich +belebten Strae fanden sich gleich mehre Leute, die unterhalb der Brcke +in's Wasser sprangen, das ihnen etwa bis unter die Arme reichte, den +niedertreibenden Krper aufzufangen. Sie hatten ihn auch bald erreicht und +gefat, und von krftigen Armen wurde derselbe an die Oberflche gehoben +und zum Ufer gezogen. Wenn ihm jedoch auch das Wasser selber noch nichts +geschadet hatte, war der Unglckliche doch durch den Sturz, in dem er +wahrscheinlich durch das Zurckhalten seines Rockes gegen einen der +Brckenpfeiler geworfen worden, schwer am Kopf verletzt -- die Wunde +blutete stark, und die Mnner trugen den Bewutlosen zuerst auf die +Polizei, und von dort, auf den Ausspruch eines rasch herbeigerufenen +Arztes, in die Charit. + + + + + + Capitel 5. + + + DIE AUSWANDERUNGS-AGENTUR. + + +Am Marktplatz zu Heilingen, und an der Ecke eines kleinen, auf diesen +auslaufenden Gchens, stand ein ziemlich groes, grn gemaltes und gewi +sehr altes Erkerhaus, dessen Giebel und Sttzbalken geschnitzt, und mit +wunderlichen Kpfen und Gesichtern verziert, und braun angestrichen waren, +und sich so weit dabei nach vorn berneigten, da es ordentlich aussah, +als ob der ganze Bau mit dem spitzen, wettergrauen Dach nchstens einmal +ohne weitere Meldung nach vorn ber, und gerade mitten zwischen die Tpfer +und Fleischer hineinspringen wrde, die an Markttagen dort unten ihre +Waare feil hielten. + +Nichtsdestoweniger wurde es noch immer, bis fast unter das Dach hinauf +bewohnt, und der untere Theil desselben ganz besonders zu kleinen +Waarenstnden und Lden benutzt. Die Ecke desselben nun, hatte seit langen +Jahren ein Kaufmann oder Krmer in Besitz, der sich zu seinen +Materialwaaren, Kaffee, Zucker, Tabak, Lichten, Grtze &c. auch noch in +der letzten Zeit die Agentur mehrer Bremer und Hamburger Schiffsmakler zu +verschaffen gewut, und damit bald in einer Zeit, wo die Auswanderungslust +so berhand nahm, solch brillante Geschfte machte, da er die +Materialwaarenhandlung seiner Frau, wie seinem ltesten Sohn bertrug, und +fr sich selber nur ein kleines Stbchen, ebenfalls nach dem Markt hinaus, +behielt, ber dessen Thre ein riesiges, sehr buntgemaltes Schild jetzt +prangte. Dies Schild verdient brigens mit einigen Worten beschrieben zu +werden, da die Heilinger in den ersten Tagen -- als es eben erst +aufgehangen worden -- in wirklichen Schaaren davor stehen blieben und es +anstaunten. + +Es war ein breites, lnglich viereckiges Gemlde, ein groes, dreimastiges +Schiff vorstellend, wie es sich unter vollen Segeln der fremden, ersehnten +Kste nherte. Die See selber war hellgrn gemalt, mit einer Unmasse von +sichtbar darin herumschwimmenden Fischen, die den Beschauer wirklich etwas +besorgt um die Sicherheit des Fahrzeugs selber machen konnten. Dessen +wackerer Kiel schumte aber mitten hindurch, und der, dem Anschein nach +vollkommen runde, nur nach hinten zu etwas lnglich auslaufende Rumpf, +prete eine groe grn und wei gestreifte Welle vorne auf, die sich wie +eine breite Falte quer vor seinen Bug legte. Die Segel standen dazu fast +ein wenig zu sackartig, und nur an den vier Zipfeln festgehalten, stramm +und steif von den Raaen ab, und die langen blutrothen Wimpel mit roth und +weier Bremer Flagge hinten an der Gaffel, strmten und flatterten lustig +nach hinten aus, wahrscheinlich den raschen Durchgang des Schiffes durch +das Wasser anzuzeigen, das derart, durch den Wind getrieben, selbst diesen +berflgelte. Ueber Deck war aber auch die Mannschaft, und Kopf an Kopf +eine volle Reihe bunter Passagiere sichtbar, mit sehr dicken rothen +Gesichtern, die Gesundheit an Bord des Schiffes besttigend, und mit sehr +hellgelben und sehr breitrndigen, rothbebnderten Strohhten auf, whrend +hinten auf Deck der Capitain des Schiffes mit einem dreieckigen Hut, wie +einem Fernglas in der einen und einem Dreizack in der andern Hand stand. +Was der Maler mit dem Dreizack andeuten wollte wei nur er und Gott; er +mte denn gemeint haben da der Capitain, wie frher Neptun, das Meer +beherrsche. Uebrigens war es auch mglich da er fischen wolle, und sich +mit dem Fernrohr nur eben den strksten und fettesten der ihn reichlich +umschwimmenden Fische ausgesucht habe. + +Den Hintergrund dieses prachtvollen Seestcks bildete ein schmaler +Streifen mit einzelnen Palmen bedeckter Kste, an der eine Anzahl +pechschwarzer, nackter Mnner standen, die nur einen gelb und blauen +Schurz um die Hfte und einen grnen Busch in der Hand trugen. -- Diese +sahen brigens gerade so aus, als ob sie die Ankunft des Schiffes schon +sehnschtig und vielleicht sehr lange Zeit erhofft htten, und nun die +Zeit nicht erwarten knnten da die Fremden an Land stiegen, damit sie +geschwind fr sie arbeiten, und ihnen den Boden urbar machen drften. + +Neben dem Bild, und zu beiden Seiten der Thr, wie sogar noch an dem +innern Theile des Fensterschalters, hingen lange Listen der verschiedenen +anzupreisenden Pltze fr Auswanderung. Obenan New-York, Philadelphia und +Boston, dann Quebeck und New-Orleans, Galveston; in Brasilien, Rio de +Janeiro und Rio Grande; in Australien Adelaide, dann Chile, Valdivia und +Valparaiso, und Buenos Ayres mit einer Menge neu entdeckter verschiedener +Kolonien und Ansiedlungen, wohin berall die besten kupferfesten Schiffe +A, in unglaublich kurzer Zeit und mit Allem versehen ausliefen, was dem +glcklichen Passagier das Leben an Bord eines solchen Schiffes nur in der +That zu einer Vergngungsfahrt machen msse und wrde. + +Weigel, wie der Eigentmer dieser auslndischen Versorgungsanstalt (ein +Spottname den die Heilinger der Weigelschen Agentur gaben) hie, war ein +dicker, vollgenhrt und blhend aussehender Mann, ungefhr sechs bis +achtunddreiig Jahr alt, mit ein wenig fest umgeschnrter Cravatte, was +seinen Augen etwas Stieres gab, und sonst einem leisen Anflug von Grau in +den sonst braunen, widerspenstigen Haaren. Die Augen waren gro, blau und +ziemlich ausdruckslos; ein fast mitleidiges Lcheln aber, das oft, und +besonders dann wenn er irgend Jemandes Meinung bestritt, um seine +Mundwinkel spielte, gab dem Ausdruck seiner Zge jene scheinbare +Ueberlegenheit, die sich zuversichtliche Menschen oft ber Andere, wenn +mann es ihnen gestattet, anzumaen wissen. Ganz vorzglich wute er diese +Miene anzunehmen, wenn er ber Amerika, oder irgend einen berseeischen +Fleck Landes sprach, ber dem fr ihn ein gewisser heiliger und +unantastbarer Zauber schwamm, und Jemand dann irgend einen Zweifel gegen +das Gesagte zu hegen wagte. Er schwrmte besonders fr Amerika, und es gab +deshalb auch, seiner Aussage nach, keinen greren Lgner in der Stadt, +als den Redacteur des Tageblatts, den Advokaten und Doctor Hayde in +Heilingen. Dieser und er waren denn auch, wie das sich leicht denken lt, +grimme und erbitterte Feinde und Gegner, woselbst sich nur irgend eine +Gelegenheit dazu fand. + +Weigel bekam, wie das gewhnlich bei den Agenturen der Schiffsbefrderung +blich und der Fall ist, fr jede Person die er einem Bremer oder +Hamburger Rheder sicher an Bord lieferte, einen Thaler, kurzweg genannt +fr den Kopf und er theilte deshalb die Leute -- seine Mitbrger sowohl +wie smmtliche brige Bewohner Deutschland's, in solche ein die Energie +hatten, d. h. zu ihm kamen und sich bei ihm einen Platz nach Amerika +besorgen lieen, wo sie nachher drben selber sehn konnten wie sie fertig +wurden, und in solche, die im alten Schlendrian hinkrochen, und hier +lieber verfaulten, ehe sie einen mnnlichen entscheidenden Schritt thaten, +ihrer Existenz auf die Beine zu helfen. Jeder der hier blieb betrog ihn +aber wissentlich und mit kaltem Blut um seinen, ihm in ehrlichem Verdienst +zustehenden Thaler, und es verstand sich von selbst, da er vor einem +solchen Menschen keine Achtung haben konnte. + +Er selber kannte die Verhltnisse Amerika's nur aus Bchern die das Land +lobten, denn andere las er gar nicht, und bekam er sie einmal zufllig in +die Hand, so warf er sie auch gewi mit einem Kernfluch ber den +nichtswrdigen Literaten, der wieder einmal einen ganzen Band voll Lgen +zusammengeschmiert in die Ecke. Sein grter Aerger war aber jedenfalls -- +und so regelmig wie die Uhr Morgens acht schlug -- das Tageblatt, das er +der hufigen Annoncen wegen halten _mute_, und das ebenso regelmig +kleine gehssige und schmutzige Artikel gegen Amerika wie berhaupt gegen +Alles brachte, was sich frei und selbststndig bewegte. + +Zehnmal hatte er sich schon vorgenommen den kleinen erbrmlichen Doctor +zu prgeln, und sehr vielen Leuten wrde er dadurch ein groes Vergngen +bereitet haben; aber er unterlie es doch jedesmal auch wieder, wenn sich +ihm gleich oft genug die Gelegenheit dazu bot; Beide muten jedenfalls +schon einmal frher etwas mit einander gehabt haben, vielleicht mehr von +einander wissen als Beiden zutrglich war, und ein solcher Bruch wre da +nicht rthlich gewesen. + +Sonst lebte Weigel still, und anscheinend als ein vollkommen guter und +achtbarer Brger, vor sich hin, aber im Stillen wirkte und whlte er +seinem Ziel entgegen, und richtete in der That viel Unheil an. Seine +Beschreibungen Amerika's, die er sich selber in kleinen Brochren aus +anderen Bchern zusammentrug, und um ein Billiges verkaufte, waren ein +langsames Gift, das er in manche friedliche und glckliche Familie warf, +ein Saatkorn das dort wucherte und Wurzel schlug, und whrend es die Leser +anreizte nur gleich ohne weiteres ihr Bndel zu schnren und jenen +herrlichen Lnderstrichen zuzueilen, wo von da an ihr Leben nur einem +murmelnden Bache gleichen wrde, der zwischen Blumen dahin fliet, fllte +er ihre Kpfe mit falschen Ideen und Begriffen von dem Land, das ihre neue +Heimath werden sollte, und machte viele, viele Menschen unglcklich. In +der neuen Heimath dann angekommen, die ihnen, mit migen Ansprchen, +wirklich Manches geboten haben wrde was ihre Lage, im Vergleich mit dem +alten Vaterland gebessert haben knnte, fanden sie sich jetzt pltzlich in +all den wilden extravaganten Ideen, die sie durch solche Lectre +eingesogen, enttuscht, fanden die Hoffnungen nicht realisirt, die man +ihnen gemacht, hielten sich fr schlecht behandelt und unglcklich, und +verfielen nun oft in das Extrem trostloser und eben so unbegrndeter +Verzweiflung, wobei sie den Mann verwnschten, der sie hierverlockt, und +sie verleitet hatte, Heimath und eigenen Heerd zu verlassen, einem Phantom +zu folgen. Weigel aber hatte seinen Thaler fr den richtig abgelieferten +Kopf bekommen, und dachte schon gar nicht mehr an die frher +Befrderten, die seiner Meinung nach jetzt in einem Meer von Behagen +schwammen und unter Palmen wandelten. + +Herr Weigel war allein in seinem kleinen Bureau, einem niederen, etwas +dumpfen und nicht berhellen Stbchen, dessen eines breites Fenster mit +durch Zeit und Rauch arg mitgenommenen Gardinen verziert war, whrend die +Wnde durch Karten und statistische Tabellen-Anzeigen von Schiffen und +Gasthusern, Plnen von neuangelegten Stdten oder zu verkaufenden Farmen +fast vllig bedeckt hingen. Er sa an einem hohen, ziemlich breiten Pult, +das einen mchtigen Kamm von Gefachen und Schiebladen trug und las, mit +einer Tasse Kaffee neben sich, eben seinen tglichen Aerger, das +Tageblatt, als es an die Thr klopfte, und auf sein lautes Herein ein +junger, sehr anstndig, aber trotzdem etwas rmlich gekleideter Mann das +Zimmer betrat. + +Herr Weigel? sagte der Fremde mit einer leichten Verbeugung. + +Bitte -- ja wohl, sagte Herr Weigel, seine Brille rasch in die Hhe +schiebend und auf seinem Drehstuhl herumfahrend, seinen Besuch besser in's +Auge zu fassen -- womit kann ich Ihnen dienen? + +Sie befrdern Passagiere nach Amerika? + +Nach Amerika? -- denke so, hehehe, lachte Herr Weigel, sich vergngt die +Hnd reibend, habe schon ganze Colonien hinber geschafft, Mnner und +Frauen, Weiber und Kinder; sitzen jetzt drben in der Wolle und schreiben +einen Brief ber den andern an mich, wie gut es ihnen geht -- da nur den +einen hier, den ich vor ein paar Tagen bekommen habe -- der Mann ist blos +mit zwei tausend Dollarn hinbergegangen und hat schon eine eigene Farm, +achtzig Acker Land, vierundzwanzig Stck Rindvieh, einige sechzig +Schweine, fnf Pferde und will jetzt eine Schferei anlegen -- schreibt an +mich ich soll ihm einen Schfer hinber schicken, aber einen der die Sache +aus dem Grund versteht, kommt ihm auf ein paar Dollar Lohn nicht dabei an +-- bitte lesen Sie einmal den Brief. + +Sie sind sehr freundlich Herr Weigel, sagte der junge Fremde mit einem +verlegenen wie schmerzhaften Zug um den Mund -- aber der Brief wrde +gerade nicht magebend fr mich sein, da ich mich gegenwrtig nicht in den +Verhltnissen befinde, gleich einen Platz zu _kaufen_. Sind die +Passagierpreise jetzt theuer? + +Theuer? spottbillig, lachte Herr Weigel, den Brief offen wieder zurck +auf sein Pult, und seine Brille darauf legend, ihn zu weiterem Gebrauch +bereit zu haben; spottbillig sag' ich Ihnen, man knnte wahrhaftig auf +dem festen Land nicht einmal dafr leben -- _so_ nicht; und unter uns -- ich +wei wahrhaftig nicht wie die Leute dabei auskommen, aber es mu eben die +rasende _Menge_ von Passagieren machen, die sie jetzt wchentlich, ja fast +tglich hinber spediren. Es ist fabelhaft was jetzt fr Menschen +auswandern; auf einmal werden sie Alle gescheidt, und merken endlich was +sie hier haben, und was sie dort erwartet -- ist doch ein famoses Land, das +Amerika. + +Und wie viel betrgt die Passage nach dem _nchsten_ Hafen der Vereinigten +Staaten, wenn ich fragen darf, fr -- fr eine erwachsene Person und ein +Kind? + +_Nchsten_ Hafen? -- hehehe, frchten sich wohl vor der Seekrankheit? +lieber Gott, daran gewhnt man sich bald; ist auch gar nicht so arg wie's +eigentlich gemacht wird. Der Mensch, der Doctor Hayde hier im Tageblatt, +hat neulich einen Artikel ber die Seekrankheit gebracht den er +wahrscheinlich auch selber geschrieben, und wonach Einem gleich ach und +weh zu Muthe werden mte; der ist aber nur dazu bezweckt den Leuten das +Auswandern zu verleiden. Sie mchten sie gern hier behalten, damit sie sie +nur recht ordentlich plagen und schinden knnen, weiter Nichts; davor +braucht sich kein Mensch zu frchten. + +Sie wollten mir aber den _Preis_ der Passage nennen. + +Den Preis? -- ja so -- warten Sie einmal -- sein Blick fiel auf die +Glachandschuhe und die schneeweie Wsche des Fremden, dessen etwas +abgetragene Kleider er in dem halbdunklen Raum nicht so leicht erkennen +konnte, oder auch bersah -- der Preis -- Dampfschiff oder Segelschiff? + +Segelschiff. + +Segelschiff -- wird -- sein -- Preis in erster Cajte vier und achtzig +Thaler Gold. + +Und die -- die billigeren Pltze? + +Billigeren Pltze -- zweite Cajte oder Steerage fnfundsechzig Thaler +Gold -- + +Und Zwischendeck? sagte der Fremde leise und verlegen. + +Zwischendeck wrde ich Ihnen nicht rathen, meinte Herr Weigel, seine +Brille jetzt abwischend und wieder aufsetzend; besonders wenn man eine +Frau und ein Kind bei sich hat und es nur irgend ermachen kann, sollte man +nie Zwischendeck gehn, man ruinirt sich's und den Seinigen an der +Gesundheit herunter, was die paar Thaler mehr kosten. + +Aber Sie knnen mir wohl den Preis des Zwischendecks sagen? + +Ja wohl, mit dem grten Vergngen -- Zwischendeck nach New-York kostet -- +warten Sie einmal, ich habe ja hier die letzten Briefe von meinen Husern. +Zwischendeck nach New-York kostet vierundvierzig Thaler Gold. + +Vierundvierzig Thaler? + +Ja es ist seit ein paar Tagen erst wieder um vier Thaler aufgeschlagen, +weil die Leute eben nicht Schiffe genug anschaffen knnen fr die +Auswanderer. Ist fabelhaft was besonders dieses Jahr fr Leute +bersiedeln. Soll ich Sie vielleicht einschreiben? es trifft sich jetzt +gerade glcklich, denn am 15ten geht ein ganz vortreffliches Schiff ab, +die _Diana_, Dreimaster, gut gekupfert, mit allen nur mglichen +Bequemlichkeiten versehn und einem Capitain, ich sage Ihnen ein wahrer +Schentelmann, wie er sich gerade nicht immer auf den Schiffen findet. + +Ich danke Ihnen fr jetzt noch bestens, lieber Herr Weigel, sagte der +junge Mann -- ich mu doch nun erst mit meiner Frau Rcksprache ber die +nehmen, denn erst seit gestern ist mir die Idee berhaupt gekommen +auszuwandern; aber -- noch eine Bitte htte ich an Sie, und er drehte +dabei den Hut den er in der Hand hielt, fast wie verlegen zwischen den +Fingern -- + +Ja? womit knnte ich Ihnen dienen? frug Herr Weigel. + +Knnten Sie mir wohl sagen, ob die Capitaine der Segelschiffe -- ich habe +einmal irgendwo gelesen da das manchmal geschhe -- auch Leute -- +Passagiere mitnhmen, die unterwegs ihre Passage -- abarbeiten drften und +also -- auch keine Ueberfahrt zu bezahlen brauchten? + +Keine Passage zahlen? sagte Herr Weigel, die Lippen vordrckend und die +Augenbrauen in die Hhe ziehend, whrend er langsam und halb lchelnd mit +dem Kopfe schttelte -- keine Passage bezahlen? -- ne lieber Herr -- ja so +wie heien Sie denn gleich -- + +Eltrich, sagte der junge Mann etwas zgernd -- + +So? -- ne mein lieber Herr Eltrich, davon steht Nichts in unseren +Verzeichnissen und Contracten; im Gegentheil, _da_ kommen wir zusammen; +das ist der Hauptpunkt, der Nervum Rehrum, der die ganze Geschichte +eigentlich zusammenhlt, Amerika und Europa und die umliegenden +Dorfschaften, heh, heh, heh. + +Aber wenn nun irgend ein armer Teufel, fuhr der Fremde etwas lauter, +fast wie ngstlich fort -- irgend ein armer Teufel sein ganzes Hoffen eben +auf eine Reise nach Amerika gesetzt htte, und bestimmt wte da er dort, +wenn auch nicht gerade sein Glck machen, doch sein Auskommen finden +wrde? -- + +Nun dann soll er gehn -- um Gottes Willen gehn, und am 15ten dieses wird +wieder das neue, kupferfeste -- ja so, aber er mu bezahlen, unterbrach er +sich rasch als ihm einfiel von was sie vor erst wenigen Secunden +gesprochen, er mu bezahlen, sonst nimmt ihn kein Capitain der Welt mit +ber See. + +Und Sie glauben nicht da da jemals eine Ausnahme stattfinden drfte? +sagte Herr Eltrich -- es werden doch Leute auf See gebraucht zu den +nothwendigsten sowohl, wie den geringeren Arbeiten, und die Capitaine +mssen gewi dafr _bezahlen_. Wenn sich also nun Jemand erbte alle diese +Verrichtungen ganz _umsonst_, nur um Passage und die einfachste +Matrosenkost zu machen, sollte das nicht mglich sein zu erlangen? + +Lieber Herr, sagte der Herr Weigel, dem es jetzt so vorkommen mochte als +ob er mit dem Fremden da kein besonders groes Geschft machen wrde, und +der anfing ungeduldig zu werden, zu den Arbeiten an Bord eines Schiffes +werden _Matrosen_ gebraucht, und wer kein Matrose ist, kann die auch nicht +verrichten. Das ist keine kleine Kunst, lieber Herr Schelbig, in den Tauen +den ganzen Tag herumzuklettern und zwischen den Segeln, wenn das Schiff +bald so herberschlenkert und bald so -- und er begleitete dabei seine +Erklrung mit einer entsprechenden Bewegung der vor sich gerade +aufgehaltenen Hand -- da mssen die Leute fest stehen knnen wie die +Mauern, sonst kann man sie nicht gebrauchen. + +Aber glauben Sie nicht, wenn man einmal an einen Capitain schriebe, ob er +sich doch nicht am Ende bewegen lie; oder -- setzte er rasch hinzu, wie +von einem pltzlichen Gedanken ergriffen, wenn man sich nun verbindlich +machte die Passage nach einer bestimmten Zeit in Amerika nachzuzahlen -- +sie dort abzuverdienen? + +Ja da knnte Jeder kommen, sagte Herr Weigel kopfschttelnd, wenn die +Leute erst einmal drben sind, thun sie was sie wollen. Das ist ein freies +Land da drben, Herr Wellrich, und da knnte man nachher jedem Einzelnen +nachlaufen, und sehen da man sein Geld wieder kriegte. Ne, damit ist's +faul, und ich nun einmal vor allen Dingen, mchte mich nicht auf solch +eine Qungelei einlassen; daran hat man keine Freude, und das ist auch +kein rundes Geschft. + +Es ist nur ein armer Verwandter, der sich auf solche Weise gern +forthelfen wrde, sagte Herr Eltrich errthend -- er ist sehr fleiig und +wrde arbeiten wie ein Sclave, die Zeit ber. + +Ja das glaub' ich, meinte Herr Weigel gleichgltig -- versprechen thun +die Art Herren gewhnlich Alles was man von ihnen haben will. + +Knnten Sie mir denn vielleicht die Adresse irgend eines Schiffes oder +Rheders geben, der bald ein Schiff hinberschickt, sagte der junge +Fremde, sich schon wieder zum Gehen rstend -- wenn ich vielleicht selber +einmal dorthin schriebe, um Sie nicht weiter mit der Sache zu belstigen. + +Ja, schreiben knnen Sie, sagte Herr Weigel, hehehe; aber Sie werden +keine Antwort bekommen; darauf knnen Sie sich verlassen. Die Leute da +haben mehr zu thun, als sich eines Passagiers wegen, fr den sie noch +umsonst die Kost hergeben mten, in eine Correspondenz einzulassen; kann +ich ihnen auch gar nicht so sehr verdenken. + +Und die Adresse? + +Die Adresse? -- da, hier liegt die neueste Auswanderer-Zeitung; wenn Sie +wollen, knnen Sie sich da ein oder zwei Adressen herausschreiben. Da +hinten, auf der letzten Seite stehen sie. + +Herr Weigel sah nach der Uhr, drehte sich wieder auf seinem Drehstuhl, der +beim Aufschrauben etwas quietschte, herum, schob das Tageblatt zur Seite +und rckte sich einen Bogen Papier zurecht, als ob er irgend einen +nothwendigen Brief zu schreiben htte. + +Wieder klopfte es da an die Thr, und diemal, ohne ein ermunterndes +Herein zu erwarten, ffnete sie sich, und drei Bauern, denen die groen +silbernen Knpfe auf Weste und Rock und das feine Tuch der letzteren, die +jedoch ganz nach ihrem alten burischen Schnitt gemacht waren, etwas +ungemein solides gaben, traten, die Hte erst unter der Thr und schon im +Zimmer abziehend, herein, und grten die beiden Leute die sie hier +beisammen fanden, mit einem herzlichen Guten Morgen miteinander. + +Das waren die Leute die Herr Weigel gern kommen sah, die wuten wehalb +sie die eine Hand immer in der Tasche trugen, denn sie hatten dort etwas +zu verlieren, und waren nicht selten dabei die Vorboten eines grern +Trupps, oft einer ganzen Schiffsladung voll die aus ein und derselben +Gegend auswandern wollte, und ein paar der Angesehensten inde +vorausgeschickt hatte, Platz fr sie zu bestellen. Wie der Blitz war er +denn auch von seinem Stuhle herunter, schttelte ihnen nacheinander die +Hand, und frug sie wie es ihnen ginge und was sie hier zu ihm gefhrt. + +Seid Ihr der Mensch der die Leute nach Amerika schickt? sagte da der +Eine von ihnen, eine breitkrftige, sonngebrunte Gestalt mit vollkommen +lichtblonden Haaren und Augenbrauen, aber dabei gutmthigen vollen und +frischen Zgen, dem das Ganze brigens etwas fremd und unheimlich +vorkommen mochte, denn er warf den Blick whrend er sprach wie scheu von +einer der Schiffszeichnungen zur anderen, und schien sich ordentlich dazu +zwingen zu mssen das zu sagen, was er eben hier zu sagen hatte. + +Nun nach Amerika _schicken_ thu' ich sie gerade nicht, lchelte Herr +Weigel, die Anderen dabei ansehend, und etwas verlegen ber die vielleicht +ein wenig plumpe Anrede. + +Nicht? sagte der Bauer rasch und erstaunt -- aber hier hngen doch all +die vielen Schiffe. + +Nun ja, ich besorge den Leuten Schiffsgelegenheit die hinber _wollen_, +sagte Herr Weigel, jetzt geradezu herauslachend, weil er glaubte da sich +der Mann mit ihm einen Scherz gemacht, auf den er natrlich einzugehen +wnschte. + +Ja aber wir _wollen_ eigentlich noch nicht hinber, sagte der zweite von +den Bauern, seinen Hut auf seinen langen Stock stellend, und sich dabei +verlegen hinter den Ohren kratzend -- wir wollten uns nur erst einmal hier +erkundigen ob denn das auch wirklich da drben so ist, wie es jetzt immer +in den Auswanderungszeitungen steht, und ob man blos hinberzugehn und +zuzulangen braucht, wenn man eine gut eingerichtete Farm mit ein paar +hundert Morgen Land haben will. + +Ja wenn man Geld hat, lachte Herr Weigel. + +I nu -- Geld htten wir, sagte der Bauer, und sah seine Nachbarn an. + +Ich bin Ihnen sehr dankbar, unterbrach den Sprecher hier der junge Mann, +der indessen die Zeitung nachgesehn, und sich Einzelnes daraus notirt +hatte. Bitte, sagte Herr Weigel, und nahm ihm das Blatt, ohne sich +weiter um ihn zu bekmmern, aus der Hand, und wandte sich wieder zu den +Bauern, als der junge Fremde sich mit einem artigen: + +Guten Morgen meine Herren empfahl. + +Adje Herr -- Herr Schnellig, rief der Agent ziemlich laut hinter ihm her, +ohne sich weiter nach ihm umzudrehen, whrend die Bauern freundlich den +Gru in ihrer Art erwiederten. + +Wer war der junge Herr? frug der erste Sprecher aber, als er die Thr +rasch hinter sich in's Schlo gedrckt. + +Ach, ein armer Teufel, der gern mit umsonst nach Amerika hinber mchte, +sagte Herr Weigel -- er thut zwar als wr' es nur fr einen armen +Verwandten, aber, hehehe, derlei Ausreden kennen wir schon -- kommen alle +Wochen vor. + +Umsonst mit nach Amerika? sagte der erste Sprecher verwundert, _der_ +sieht doch nicht aus als ob er etwas umsonst haben wollte, der ging ja +_so_ fein gekleidet; Donnerwetter -- mit Handschuhen und allem -- + +Ja auswendig sind die Leute in der Stadt meist alle schwarz und sauber +angestrichen, lachte Herr Weigel, aber inwendig, in den Taschen, da +hapert's nachher. Wer aber ein Bischen Uebung darin hat, kann auch schon +oben auf erkennen, ob der Lack cht, oder blos nachgemacht ist, hehehe. + +Bei dem war er wohl nachgemacht? sagte der zweite Bauer, dem Anschein +nach gerade nicht unzufrieden damit, da der glatte Stadtmensch nicht so +viel galt wie sie, und da der Auswanderungsmann das sogleich durchschaut +hatte. Herr Weigel nickte, seine Zeit war ihm aber kostbarer, als sie noch +lnger an Jemanden zu verschwenden, bei dem er doch voraussah, da er von +ihm keinen Nutzen haben wrde, und er suchte das Gesprch wieder dem mehr +praktischen Anliegen der drei Bauern zuzulenken. + +Also Sie wollten mitsammen nach Amerika gehn und sich eine ordentliche +Farm, gleich mit Land, Vieh, Husern und was dazu gehrt, ankaufen heh? -- +'wr keine so schlechte Idee. + +Ja erst mchten wir aber einmal wissen wie die Sache steht; sagte der +Erste wieder, der Menzel hie, wenn man ber einen Zaun springen will, +ist es viel vernnftiger da man erst einmal hinber guckt was drben ist, +und wenn man das nicht kann, da man Jemanden fragt der es genau wei. +Sind denn die Farmen da drben wirklich so billig? -- ist das wahr, da man +dort noch gutes frisches Land fr ein und einen Viertel Thaler kaufen +kann? + +Thaler? -- nein, sagte Herr Weigel, _Dollar_. Ja nun, das ist aber +auch nicht viel mehr, meinte der Zweite, Mller. + +Nun ein Dollar ist ungefhr ein Speciesthaler, sagte Herr Weigel -- +lassen Sie mich einmal sehn -- die stehn jetzt -- stehn jetzt 1 Thlr. 12 +Silber- oder Neugroschen. + +Nu ja, sagte Menzel wieder, das ist aber immer kein Geld -- und fr +tausend Dollar kauft man da eine fix und fertig eingerichtete Farm, wie +sie's glaub' ich nennen? mit Allem was dazu gehrt? + +Ich habe hier gerade, sagte Herr Weigel in seinen Papieren suchend, ein +paar Anerbietungen von hchst achtbaren Leuten -- wirklichen Amerikanern -- +die mir Farmen zu hchst migen Bedingungen offeriren. -- Die Leute wissen +da drben da hier Viele zu mir kommen und sich nach solchen Pltzen +erkundigen, und wenn sie dann 'was Gutes haben, schicken sie's mir. -- Wo +hab' ich denn die verwnschten Plne jetzt hingelegt -- ah, hier ist der +eine -- sehn Sie, Gebude und Alles sind darauf angegeben -- und der andere +kann nun auch nicht weit sein; ich habe sie erst vorgestern meinem Bruder +gezeigt, der gar nicht bel Lust hatte eine davon fr sich zu kaufen -- da +ist er. + +Die drei Bauern drngten sich um den kleinen Tisch herum auf dem Herr +Weigel die Plne jetzt ausbreitete, und suchten sich in den kreuz und quer +laufenden Strichen zu orientiren, wie der Platz eigentlich liege, und was +darauf stnde. + +Ja aber wo ist denn das nun eigentlich, und wie sieht's dort aus? sagte +Menzel endlich, nach einigen vergeblichen Versuchen deshalb -- aus der +Geschichte hier wird man nicht klug. + +Ja sehn Sie, sagte Weigel, mit seinem Finger den Plan erklrend, und den +angegebenen Zahlen folgend, das hier, Nr. 1 ist das Wohnhaus, ein +Doppelgebude, der Zeichnung nach mit einer offenen Veranda dazwischen, +des warmen Klima's wegen, denn drum herum stehen Baumwollenbume +angegeben; Nr. 2 da ist ein anderes Gebude, bis jetzt zu Negerwohnungen +benutzt, denn der bisherige Besitzer scheint Sclaven gehalten zu haben; +Nr. 3 ist eine Scheune; Nr. 4 ist ein Rauchhaus, die Leute verschicken von +dort aus viel getrocknetes Fleisch; Nr. 5 ist, wie es scheint, ein +Waschhaus, und Nr. 6 ein anderes Wohnhaus, was dem ersten gegenbersteht, +und wahrscheinlich den ganzen Hofraum, da die Front nach dem Flusse zu +liegt, abschliet. + +Und welcher Flu ist das? + +Der Missouri, einer der grten Strme Amerika's, ber eine englische +Meile breit, und viel hundert Meilen hinauf schiffbar; alle Wetter meine +Herren, von den dortigen Strmen knnen wir uns hier gar keinen Begriff +machen. + +Hm -- und wieviel Land gehrt dazu? + +Dazu gehrt ein Died von 40 Acker, was frher als Congreland gekauft +und schon bezahlt ist, und natrlich mit bernommen wird, und um den Platz +herum kann noch so viel Congreland dazu genommen werden, wie man haben +will -- nur die vierzig Acker, von denen aber ein Theil schon urbar gemacht +ist, mssen natrlich hher bezahlt werden. + +Und was soll die ganze Geschichte kosten? frug Mller. -- Der dritte, +dessen Name Brauhede war, hatte noch kein einziges Wort zu der ganzen +Verhandlung gesagt. + +Die ganze Geschichte, erwiederte Weigel, sich das Kinn streichend, wie +ich sie Ihnen hier gleich an Ort und Stelle berlassen kann, mit Husern +und Grundstck und dazu noch einem kleinen Viehstand von vielleicht +einigen achtzig Stck Rindvieh, und fnfundfunfzig oder sechzig Schweinen, +wrde -- etwa -- ein tausend und einige sechzig spanische Dollar betragen -- + + +Und das wre nach unserem Geld? sagte Menzel, Mller dabei heimlich +unter dem Tisch anstoend -- + +Nach unserem Geld? wiederholte Herr Weigel, mit einem Stck dort +liegender Kreide die Summen rasch auf dem Tisch selber aufaddirend -- +wrde es in einer runden Zahl etwa 1000 -- 400 -- eine Kleinigkeit ber +1400 Thlr. Preu. Courant betragen. + +Wieviel Stck Rindvieh? sagte Mller. + +Einige achtzig Stck sind angegeben, sagte Weigel, und mssen auch +berliefert werden; aber gewhnlich sind es noch mehr, denn das Vieh luft +drauen im Freien herum und bekommt Klber und man wei es oft nicht +einmal -- die Klber werden berhaupt nie mitgezhlt. + +Und die Passage hinber kostet? frug Menzel -- + +Zwischendeck oder Cajte? + +Zwischendeck -- immer wo's am Billigten ist, lachte Menzel, und strich +sich wohlgefllig ber die silbernen Knpfe. + +Ja, kann mir's denken, rief Herr Weigel, auf den Scherz eingehend, und +ihn leise gegen den Arm von sich stoend -- Sie sehn mir auch gerade aus, +als ob's Ihnen auf ein paar Thaler ankme. + +Ja, wo man's kann mu man's zusammennehmen, betheuerte aber auch Mller +-- also wieviel kostet's im Zwischendeck Person? + +Vierundvierzig Thaler fr die Person -- Kinder zahlen die Hlfte. + +Aber ganz kleine Kinder? sagte Mller. + +Nun Suglinge gehen ein, lachte Herr Weigel, das ist die Beilage, die +doch auch nur vom Schiff aus indirecte Nahrung bekommen. + +Leichten Zwieback? frug Menzel. + +Ja wohl, sagte Herr Weigel, etwas verlegen lchelnd, da er nicht wute +ob der Bauer das im Spa oder Ernst gemeint -- wie viel Personen sind Sie +denn aber wohl etwa? + +Nu, so eine sechzig mchten wir immer zusammen herausbekommen, meinte +Mller -- + +Aber Alle auf ein Schiff mtet Ihr uns bringen, sagte Menzel. + +Nun das versteht sich von selbst, rief Herr Weigel, und ein famoses +Schiff geht gerade den funfzehnten ab -- ich glaube das beste, das von +Bremen und Hamburg berhaupt luft -- die Diana. + +Ne das wr' uns noch zu frh -- + +Am ersten nchsten Monats geht ein noch besseres, sagte Herr Weigel -- +wenigstens gerumiger und ein besserer Segler. + +Ne das wr' uns auch noch zu frh, sagte Menzel. + +Gut, dann trfen Sie es gerade ausgezeichnet mit dem Meteor, versicherte +Herr Weigel, keineswegs auer Fassung gebracht; ich wollte Ihnen den im +Anfang nicht anbieten, weil ich frchtete da Sie frher zu reisen +wnschten, wenn Sie aber _so_ lange Zeit haben, dann kann ich Ihnen +allerdings die vorzglichste Reisegelegenheit bieten, die sich nur +berhaupt denken lt. + +So -- na das pate schon besser -- sagte Mller -- wie hie das Schiff +gleich? + +Meteor. + +Hm -- werd' es mir merken -- aber nicht wahr, beim _Dutzend_ kriegen wir +die Passage doch auch was billiger. + +Ne, das geht nicht, lachte aber Herr Weigel da gerade heraus; es ist ja +nicht so, da ein Schiff nur eben so viel Menschen an Bord nehmen kann wie +darauf Platz haben, sondern es mu auch genug Raum, und ber und ber +genug Essen und Trinken fr sie dabei sein, wenn einmal die Reise, in +einem unglcklichen Fall lnger dauerte als gewhnlich. So ein Schiff hat +deshalb auch nur eine bestimmte Zahl von Auswanderern, die es an Bord +nehmen kann, und nach Amerikanischen Gesetzen nehmen _darf_, und auf die +ist Alles mit Kosten und Preis ausgerechnet, auf's tz. Die kleinen Kinder +werden eingegeben, aber die groen men bezahlen. Und wie war's mit der +Farm? + +Wo ist denn der andere Platz -- zu dem da der lange Zettel gehrt? sagte +Menzel, der sich diesen indessen genau betrachtet, und nach allen Ecken +herum und herumgedreht hatte, ohne, wie er meinte, einen Handgriff dran +bekommen zu knnen. + +Der hier? der ist in Wisconsin; auch ein guter Platz, aber kein so groer +Strom dabei, sagte Herr Weigel -- ist aber auch billiger. Dort kann ich +Ihnen eine Farm, allerdings nur mit einigen vierzig Khen, fr etwa +siebenhundertundfunfzehn Dollar berlassen, und dann habe ich noch fnf +andere von sechs, acht, elf, neun und ich glaube zwlfhundert Dollar -- die +letztere ist aber eine wirkliche Musterwirthschaft mit importirtem +Schweizervieh, und Backsteingebuden, und einer prachtvollen Lage Milch +und Butter in die nicht zu entfernte Stadt zu bringen; wird Ihnen aber +auch freilich wohl zu theuer sein? + +Zu theuer? -- warum? sagte Menzel -- wenn man sich einmal etwas kauft, +soll man sich auch gleich 'was ordentliches anschaffen. Ich habe mir +brigens die Sache immer viel schwieriger vorgestellt mit dem Ankaufen, +und gedacht, da man da erst lange in der Welt umher fahren und sein Geld +verreisen mte. Wenn man das gleich hier an Ort und Stelle abmachen kann, +ist das ja weit bequemer. + +Auf eins mchte ich Sie brigens noch aufmerksam machen, meine Herren, +was Sie ja nicht versumen drfen, sagte Herr Weigel -- nmlich sich hier +gleich Ihre Billets zur Weiterfahrt in's Innere, wohin Sie auch immer +wollen, zu lsen. + +Von Neu-York aus? sagte Menzel verwundert. + +Ja wohl von Neu-York oder Philadelphia oder wohin Ihr Reiseziel liegt. + +Ja aber kann man denn die _hier_ bekommen? frug Mller. + +Gewi kann man das, lchelte Herr Weigel, und das ist gerade der +ungeheure Vortheil unserer jetzigen Verbindung, die den Auswanderer von +der Thr seiner alten Heimath fort, vor die seiner neuen setzt, ohne da +er ein einziges Mal in die Tasche zu greifen und mehr zu bezahlen braucht, +als was er gleich von allem Anfang entrichtet hat. Das eben macht auch das +Reisen jetzt so billig, da man mit _einem_ Blick im Stande ist smmtliche +Kosten zu bersehn; die Extra-Ausgaben fallen ganz weg. + +Das wre freilich ein Glck, sagte Mller, von dem erst vor einigen +Monaten ein Bruder hinber gegangen war -- die Extra-Ausgaben fressen +sonst das meiste Geld. + +Ob sie's fressen, bester Herr, ob sie's fressen, sagte Herr Weigel, sich +wieder vergngt die Hnde reibend. + +Und wo kann man die Billete also bekommen? frug Menzel. + +Bei mir hier, versteht sich, sagte Herr Weigel -- alle bei mir. + +Und die gelten dann drben? + +Nun versteht sich doch von selbst, lachte der freundliche Agent, ich +wrde sie ja Ihnen doch sonst nicht verkaufen. Sehn Sie, wenn die +Deutschen hinber kommen, dann sprechen sie gewhnlich noch kein Englisch +-- oder haben Sie das etwa schon gelernt? + +Ne -- + +Nun sehn Sie, und dann werden sie dort von ihren Landsleuten -- denn der +Amerikaner ist nicht halb so schlimm -- die sich das richtig zu Nutze zu +machen wissen, tchtig ber's Ohr gehauen, und mssen gewhnlich gerade +noch einmal so viel bezahlen, als die Sachen eigentlich kosten. + +Aber es soll doch eine Deutsche Gesellschaft drben in Neu-York sein, +sagte jetzt Brauhede, der zum ersten Mal bei der ganzen Verhandlung den +Mund aufthat -- die sich eben der Deutschen annimmt und Nichts dafr +verlangt. + +Leben wollen wir _Alle_, sagte Herr Weigel achselzuckend -- umsonst ist +der Tod, und da die Leute, wenn sie ihre Zeit darauf verwenden fr die +Deutschen zu sorgen, auch etwas dafr nehmen werden, lt sich wohl an den +fnf Fingern abzhlen. Neu-York ist aber ein theures Pflaster, die Leute +_brauchen_ dort mehr wie wir hier, und wer es daher _billiger_ thun kann +ist auch wieder leicht einzusehn. Ich will mich auch keineswegs empfehlen; +lieber Gott es giebt noch eine Menge Leute in Deutschland, die sich +demselben schwierigen und undankbaren Geschft unterzogen haben wie ich, +und die es sich vielleicht eben so sauer werden lassen gerade und ehrlich +durch die Welt zu kommen; aber Einen der es besser _meint_ dabei, werden +Sie wohl schwerlich finden, und ich berrede gewi Niemanden nach Amerika +auszuwandern. Jeder Mensch mu seinen freien Willen haben, und auch am +Besten selber wissen was ihm gut ist. + +Ne gewi, sagte Menzel -- da habt Ihr ganz recht, das ist auch mein +Grundsatz; aber das mit dem Amerika leuchtet mir auch ein, und umsonst +thut da gewi Niemand etwas -- das sind verflixte Kerle da, hab' ich mir +sagen lassen, besonders die Deutschen, und wo die nicht wollen gucken sie +nicht 'raus. + +Also die Billete kann man hier bei Euch kriegen? sagte Mller. + +Wohin Sie wollen, und ich stehe Ihnen dafr da sie nicht allein cht +sind, sondern da die hier in Deutschland gelsten Pltze auch noch den +Vorrang haben vor allen in Amerika genommenen, wenn einmal Eisenbahn oder +Dampfboote zu sehr besetzt sein sollten. Es ist ja hier gerade so mit der +Post, wo Die, die sich zuerst, und auf der lngsten Station haben +einschreiben lassen, den Vorrang behalten mssen vor denen die nachher +kommen. + +Ahem, das ist klar, sagte Menzel; na also da dcht' ich lieen wir uns +gleich einmal Pltze belegen und gben das D'raufgeld, damit wir die Sache +richtig htten, und nachher knnen wir ja einmal ber die Farmen sprechen; +ich habe verwnschte Lust. + +Du, das hat noch Zeit, sagte aber jetzt Brauhede wieder, Menzel am Rocke +zupfend; erst mssen wir es uns doch einmal mit den Anderen zu Hause +berlegen. + +Wenn aber nachher die Pltze auf dem ganz guten Schiffe fort sind, sagte +Mller mit einem sehr bedenklichen Gesicht. + +Ja, _stehen_ kann ich Ihnen _nicht_ dafr, versicherte Herr Weigel die +Achseln zuckend, da sie beinah seine Ohrlppchen berhrten. + +Na mein'twegen, sagte Brauhede, der allerdings auch in der Absicht +hierher gekommen war, ihre Passage fest zu accordiren, jetzt aber, da es +dazu kam Geld zu zahlen, nur ungern damit herausrckte -- aber von wegen +der Farm mssen wir noch erst mit den Anderen sprechen, und eine Farm +kriegen wir auch noch immer. + +Ja aber was fr eine, sagte Herr Weigel. + +Brauhede blieb brigens bei seiner Meinung, und Menzel bestand jetzt nur +wenigstens darauf die beiden Plne einmal mitzunehmen, damit sie sich zu +Hause ordentlich hinein denken knnten. Wenn auch Herr Weigel sie im +Anfang nicht auer Hnden geben mochte, ja sogar versicherte er habe nicht +bel Lust die eine Farm fr sich selber auf Spekulation zu kaufen, lie er +sich doch zuletzt berreden ihnen, aber allerdings nur auf zwei Tage, die +Plne zu berlassen, und dann das Weitere ber den Ankauf mit einer +zweiten Deputation der Gesellschaft zu besprechen. + +Menzel bezahlte dann das Aufgeld auf ihre Passage im _Meteor_ fr +siebenundfunfzig Personen und dreizehn Kinder, die smmtlich aus _einer_ +Ortschaft auswandern wollten, und nahm dann auch noch, nach einer kurzen +Berathung mit den beiden anderen, die nthigen Billete auf der Eisenbahn +von Neu-York aus, oder machte wenigstens eine Anzahlung darauf, da sie +ihnen der Agent aufbewahrte, da dieser sie versicherte er sei nur noch im +Besitz einer sehr kleinen Anzahl, und wisse nicht, wann er gleich wieder +andere bekommen wrde, whrend die Anfrage darnach sehr stark wre. + +Auerdem kauften sie sich auch noch ein halbes Dutzend kleine Brochren, +die Herr Weigel, wie er sagte, gerade frisch aus der Druckerei als etwas +_ganz Neues_ bekommen hatte -- ein Datum stand nicht darauf -- und die drei +Mnner verlieen dann wieder, von dem schmunzelnden Agenten bis an die auf +den Markt fhrende Thr begleitet, das Haus. + +Hre Du, sagte aber Brauhede als sie wieder vor dem Haus und auf der +Strae waren, und langsam ber den Markt weggingen, mit dem Landkaufen +wollen wir uns doch lieber hier noch nicht einlassen, das ist eine +wunderliche Geschichte und will mir nicht recht in den Kopf. + +Nicht in den Kopf? rief aber Menzel -- und warum nicht? -- der Mann +bekommt alle Tage Briefe aus Amerika, warum soll der nicht wissen was dort +zu verkaufen ist? + +Wenn's aber so gut und billig wre, brauchten sie's doch nicht hier +herberzuschicken, meinte Brauhede kopfschttelnd. + +Das ist Alles was Du davon verstehst, sagte Mller, Amerikaner knnten +sie gewi genug zu Kufern kriegen, aber deutsche Bauern wollen sie, die +ihnen zeigen wie man das Land behandeln mu, und darum schicken sie +herber -- die sind froh drben, wenn unsereins hinber kommt. + +Nun, mag sein, brummte Brauhede -- aber sicher ist doch sicher, und wenn +ich mein Geld hier weggegeben habe, und kann das Land was mein sein soll +nachher nicht finden, wie's dem Niklas seinem Bruder gegangen ist, nachher +wre die Geschichte aber faul. + +Dem Niklas sein Bruder war aber auch ein Esel, sagte der Andere, der +sich hier Land von einem herumziehenden Vagabunden gekauft; da sollt' er +nachher wohl suchen. Aber _der_ Mann hier ist in der Stadt ansssig und +hat ein Geschft; was der verkauft das mu gut sein, sonst wr' er ja gar +nicht sicher da man ihn einmal deshalb beim Kragen kriegte. + +Ja krieg' ihn einmal wenn Du drben in Amerika bist, sagte Brauhede +ruhig -- das ist ein verwnscht weiter und umstndlicher Weg und -- wenn +man sich einmal hat anfhren lassen, will man auch nicht gern noch dazu +ausgelacht werden. + +Papperlapapp! sagte Menzel -- dafr hat Jeder seine Augen da er sie +offen hlt, und ehe ich ihm mein gutes Geld gebe, werd' ich mich schon +sicher stellen da er mir Nichts aufbindet. + +Und die Mnner schritten, Jeder von jetzt an mit seinen eigenen Gedanken +ber die nahe Auswanderung beschftigt, langsam die Strae hinunter, +whrend in seinem kleinen Bureau, vergngt die Hnde zusammenreibend, Herr +Weigel auf und ab spazieren ging, und sich im Geist die nchst zu +ziehenden Summen zusammenaddirte, die er in kurzer Zeit, nach eifriger +Aussaat, einzuerndten hoffte. Die Geschfte gingen vortrefflich; Lust zur +Auswanderung hatte in der That ein Drittel der smmtlichen Bevlkerung, +und es bedurfte nur manchmal wirklich einer leisen Anregung, die Leute zu +etwas zu bewegen, zu dem sie schon halb und halb selber entschlossen +gewesen waren. + +Herr Weigel war sehr guter Laune; er legte jetzt die Hnde auf den Rcken +und summte ein leises Lied vor sich hin, seinen Marsch dabei fortsetzend. +Aber er sang falsch; er hatte keine Idee von irgend einer Melodie; doch +das schadete nichts, er _meinte_ wenigstens eine, und da er selber nicht +hrte was er sang, gengte es ihm vollkommen. + +Die Thr ging jetzt auf und der Tischler oder Schreiner kam herein, irgend +etwas an dem Pult auszubessern -- er hatte zweimal angeklopft ohne da der +vergngte Agent darauf geantwortet htte. + +Guten Morgen Herr Weigel. + +Ah guten Morgen Meister -- nun kommen Sie endlich? ich hatte schon ein +paar Mal nach Ihnen hinbergeschickt -- + +Ja lieber Gott Herr Weigel, ich war gerade drben beim Herrn Geheimen +Rath Brlich beschftigt -- die Leute sind so eigen wenn man von der Arbeit +fort geht -- + +Sehn Sie, hier das Bein mcht' ich gemacht haben; der Tisch wackelt da +immer, und wenn man etwas darunter legt, verschiebt sich das doch jedesmal +wieder. Knnen Sie es mir wohl bis heute Nachmittag in Ordnung bringen? + +Ja gewi, sagte der Mann, das ist ja nur eine Kleinigkeit. + +Und wie ist es mit den Auswandererkisten die ich bestellt habe? -- werden +die bis heute Abend fertig? + +Ja wohl Herr Weigel; sechs habe ich schon in das Gasthaus Stadt +Breslau, wie Sie mir sagten, abgeliefert. + +Nun das ist gut, denn der ganze Zug wird noch heute Vormittag ankommen, +und will morgen frh wieder fort -- es sind doch noch keine Auswanderer +heute Morgen hier eingetroffen? -- + +Nicht da ich gesehen htte -- aber gestern Abend zogen Viele durch. + +Ja ich wei -- von Hessen herber -- die armen Teufel; denen wird's einmal +wohl drben werden. Nun wie gehn denn bei Ihnen die Geschfte jetzt? + +Ih nu gut, Herr Weigel, ich kann gerade nicht klagen; das Brod wird +freilich immer theuerer, aber man schlgt sich so durch -- Kinder haben wir +nicht, und was verdient wird reicht eben ordentlich aus. + +Ich begreife nicht, sagte Herr Weigel da kopfschttelnd vor dem Mann, +der seine Mtze eben wieder aufgegriffen hatte und sich zum Fortgehen +anschickte, stehen bleibend -- wie Ihr Leute Euch hier vom Morgen bis +Abend plagt und schindet, eben nur das liebe Brod zu verdienen, wo Ihr in +ein paar Wochen drben sein knntet und so viel Dollare fr Euere Arbeit +bekmt, wie hier Groschen. + +Drben, wo? + +Nun in Amerika -- + +Hm, ja, sagte der Mann, sich nachdenkend das Kinn streichend, und einen +leichten Seufzer unterdrckend -- gedacht hab' ich auch schon ein paar Mal +daran, aber -- das geht nicht gut und -- es ist auch so eine unsichere Sache +mit da drben. Hier wei ich einmal was ich habe und da ich auskomme, und +wie mir's da drben geht wei ich _nicht_. + +Aber Freund, rief Herr Weigel verwundert -- ein Mann der fleiig +arbeitet bringt es dort immer zu was. Wetter noch einmal, Meister, Amerika +ist gerade der Platz fr Euch, wo Ihr Euch rhren und ausbreiten knntet -- +wenn Ihr dort wret, ein geschickter Arbeiter wie Ihr! in fnf Jahren +httet Ihr zwanzig Gesellen. + +Meister Leupold nickte langsam mit dem Kopf, und sah ein paar Secunden +still vor sich nieder, als ob das Bild mit der groen Werksttte und dem +regen Treiben sich vor seinem inneren Geist eben auszubreiten beginne, +dann aber sagte er, jetzt herzhaft aufseufzend -- + +Und es geht doch nicht, Herr Weigel -- ich habe die alte Mutter zu Hause, +die ich unmglich hier allein zurck lassen knnte -- + +Hierlassen? das fehlte auch noch, rief der Agent -- die nehmt Ihr mit, +Mann -- knnt Ihr der denn eine grere Freude machen, als wenn sie noch +vor ihrem Ende she wie wohl es Euch geht auf der Welt, und wie sich Euer +Zustand mit jeder Woche, mit jedem Tage fast bessert? -- Mu sie hier nicht +in Sorge und Kummer leben da Ihr einmal krank werdet und Nichts verdienen +knnt, und wie sieht's dann aus? + +Wenn ich aber nun dort drben krank werde? sagte der Meister leise. + +Wenn das nur nicht gleich die ersten Monate geschieht und fr ein Unglck +kann Niemand -- warf dagegen Herr Weigel ein, so knnt Ihr Euch auch +schon so viel gespart haben, das eine Weile mit ruhig anzusehn; und wenn +Ihr nicht krank werdet, seid Ihr in ein paar Jahren ein wohlhabender +Mann. + +Es ist eine verwnschte Geschichte mit dem Amerika, seufzte der Mann +wieder, sich hinter dem Ohr kratzend -- man hrt so viel davon, und sieht +eine solche Masse Menschen hinberziehen, die alle voller Hoffnung sind +da es ihnen gut geht -- und mchte am Ende ebenfalls gern mit -- wenn man +nur erst so einmal hinbergucken knnte wie es eigentlich aussieht. + +Dazu ist es ein Bischen zu weit, meinte Herr Weigel. + +Ja nun eben, sagte der Tischler -- und so auf's gerathewohl -- + +Das knnt Ihr aber nicht auf's gerathewohl nennen, wo wir alle Tage +Briefe von drben herber bekommen, von denen einer immer besser lautet +als der andere. Da -- hier liegt gleich einer, der letzte den ich bekommen +habe, wo ein Deutscher, den ich selber hinberbefrdert, und dem es jetzt +ausgezeichnet gut geht, an mich schreibt, und ein oder zwei gute gelernte +Schaafknechte haben will; lesen Sie einmal den Brief. + +Leupold legte seine Mtze wieder hin, nahm den Brief und las ihn +aufmerksam durch; er nickte dabei mehrmals mit dem Kopf, und sah dann +wieder zu dem Agenten auf, der ihn indessen mit einem triumphirenden +Lcheln betrachtet hatte. + +Nun? frug der Letztere, als Jener das Schreiben beendet und wieder +zusammenfaltete -- wie klingt das? + +_Sehr_ gut sagte Leupold leise, aber -- es hilft mir doch Nichts. Wenn +ich jetzt mein kleines Huschen, das ich mir mit Mhe und Noth +zusammengespart und aufgebaut, auch verkaufen wollte; fnde ich erstlich +keinen Kufer, und dann bekm ich auch das nicht dafr wieder, was es mich +selber gekostet; wie gesagt, der Sperling in der Hand ist doch wohl besser +wie die Taube auf dem Dache. + +Bah, Taube, sagte Herr Weigel mrrisch -- wenn die Taube auf dem Dach +eben so fest und sicher sitzen bleibt bis man sie holen kann, wie Amerika +ruhig liegt, und auf die wartet die hinber kommen, so ist sie mir lieber +wie ein erbrmlicher Sperling, zum Sterben zu viel, und zum Leben zu +wenig; aber -- berlegt's Euch -- ah da kommt der Brieftrger -- 'was fr +mich? + +Nun guten Morgen Herr Weigel, sagte der Tischler und wollte sich eben +entfernen, whrend der Brieftrger dem Agenten mehrere fr ihn gekommene +Briefe berreichte. + +Siebzehn Silbergroschen drei Pfennige sagte er dabei. + +_Siebzehn_ Silbergroschen? rief Herr Weigel verwundert -- aha da ist ein +Amerikaner dabei -- halt, wartet noch einmal einen Augenblick Leupold -- da +ist vielleicht gleich noch was fr uns, und was ganz Neues -- wollen gleich +einmal sehn was die Leute schreiben. Wahrscheinlich wieder von Jemand den +ich hinber befrdert habe, und der sich jetzt bedankt -- das kostet aber +viel Geld -- + +Apropos Neues, sagte Leupold, whrend der Agent den Brieftrger bezahlt +hatte und seine Papierscheere vom Tisch nahm, den Amerikanischen Brief +aufzuschneiden -- haben Sie schon gehrt da gestern Nachmittag bei Herrn +Dollinger eingebrochen und fr sieben tausend Thaler Gold und Juwelen +gestohlen sind? + +Alle Wetter, rief Herr Weigel, mit der zum Schnitt ausgehaltenen Scheere +in der Hand -- gestern Nachmittag? + +Am hellen Tage, besttigte Leupold. + +Und wei man nicht wer der Thter ist? + +Sie haben den einen Comptoirdiener in Verdacht und auch schon +eingezogen, sagte der Tischler. + +Gewi den Loenwerder, rief Weigel. + +Ich glaube so heit er -- er ist ein wenig verwachsen -- + +Und schielt -- derselbe, ich habe den Burschen von jeher nicht leiden +knnen; hat mir auch schon ein paar Mal Kunden abspenstig gemacht, aus +reinem Brodneid; ich wte wenigstens sonst nicht weshalb, und habe ihn +dabei stark in Verdacht, da er selber damit umgeht eine Agentur fr +Auswanderer zu errichten. Da knnte Jeder hergelaufen kommen, ohne Briefe, +ohne Connexionen und ohne Kenntni vom Land -- schickte nachher die Leute +in's Blaue hinein, da sie dort sen und nicht wten wo aus noch ein. Na +nun, wird ihm das Handwerk wohl gelegt werden; ich gnne nicht gern einem +Menschen etwas Uebles, aber bei dem freut mich's da sie's wenigstens +herausbekommen haben, und er seine Schurkerei nicht mehr heimlich +forttreiben darf. Ist denn das Geld schon wieder gefunden? + +So viel ich wei nicht, einige hundert Thaler ausgenommen, von denen aber +der Mann betheuert da er sie sich gespart htte; es ist brigens Manches +dabei zusammengekommen was ihn verdchtig macht; das Nhere wei ich +freilich nicht. + +Hm, hm, hm, sagte Herr Weigel, kopfschttelnd den Brief, den er noch +immer in der Hand hielt, anschneidend -- bse Geschichten -- bse +Geschichten, was man nicht Alles hrt auf der Welt. -- Nun wollen wir also +einmal sehen was der Herr da aus Amerika schreibt -- hm -- Washington +County, Tennessee den siebenten Januar 18 -- alle Wetter der Brief ist +lange unterwegs gewesen -- Herrn F. G. Weigel in Heilingen, Hauptagent der +Central-Auswanderungs- und Colonisations-Gesellschaft in Deutschland -- +ahem -- Sie nichtsw -- hm -- Sie haben -- hm -- vor allen Dingen -- hm -- hm -- +hm -- hm -- Herrn Weigels Gesicht verlngerte sich immer mehr, je weiter er +in seiner, wie es schien nicht eben angenehmen Lectre vorrckte, aber er +brach mit dem Lautlesen des Inhalts, dessen Einleitung unerwarteter Weise +hchst derber Art war, schon gleich nach den ersten Sylben ab, und +murmelte, das Ganze nur flchtig berfliegend, blos einzelne +unzusammenhngende Worte, aus denen Leupold Nichts herausfinden konnte, +vor sich hin. + +Nun, was schreiben sie? sagte dieser endlich lchelnd; er wre schon +lange gegangen, wenn ihn Weigel nicht eben zurckgehalten htte -- gute +Neuigkeiten? + +Bah! sagte Herr Weigel, den Brief zurck auf seinen Schreibtisch werfend +-- Jemand der seine Geschwister will hinbergeschickt haben und mich +ersucht das Geld fr ihn auszulegen. Da mt' ich schne Capitale +herumstehn haben, wenn ich allen Leuten umsonst wollte die Familie +nachschicken. Nachher sitzt der mitten im Land drin, und ich kann ihn dann +suchen. + +Ne, das ist ein Bischen viel verlangt, sagte der Meister, wieder nach +der Klinke greifend -- und diemal hielt ihn Herr Weigel nicht zurck -- +aber nun leben Sie auch recht wohl, und verlaen Sie sich darauf ich +besorge Ihnen das heute noch. + +Sein Sie so gut, sagte der Agent -- er war auf einmal ganz einsylbig +geworden, und Meister Leupold verlie mit nochmaligem Gru das Zimmer, in +dem jetzt Herr Weigel mit in die Tasche geschobenen Hnden, aber +keineswegs mehr so guter Laune als vorher, raschen, heftigen Schrittes auf +und ab ging. + +Und vierzehn Groschen bezahlt fr den Wisch -- es ist eine Frechheit +wahrhaftig, die in's Bodenlose geht. Lumpengesindel! glaubt die gebratenen +Tauben sollen ihm da in's Maul fliegen, so bald sie's nur aufsperren. Und +wieder ri er den Brief vom Pult, rckte sich die Brille zurecht, und las +mit halblauter, aber heftiger Stimme den Inhalt noch einmal, und zwar +aufmerksamer durch als vorher. + +Sie nichtswrdiger Hallunke -- wenn ich Dich nur hier htte mein Bursche, +dafr solltest Du mir brummen -- schndlich betrogen und angefhrt -- wozu +hat Dir denn der liebe Gott die groen Glotzaugen gegeben, wenn Du sie +nicht aufsperren willst -- Land eine Wste -- na versteht sich, ein +Gewchshaus hab' ich ihm nicht verkauft -- Hlfte gar nicht zu bekommen -- +Holzkopf -- kein Mensch wollte die Billete nehmen -- bah, geschieht Dir +recht -- Wohngebude zu schlecht fr einen Hund -- fr Dich noch immer +viel zu gut, mein Schatz -- wenn Sie nur einmal herber kmen, Sie +miserabeler -- bah -- unterbrach sich Herr Weigel in dieser nichts weniger +als schmeichelhaften Lectre, indem er den Brief in zwei Hlften ri, und +sich dann ein Streichhlzchen mit einem Gewaltstrich an der Thr +entzndete so viel fr den Wisch! und das Papier anbrennend, warf er das +auflodernde in den Ofen, und schlo die Klappe so heftig er konnte. + +Allerdings wollte er sich nun ber den Brief hinwegsetzen, aber gergert +hatte er sich doch, und Rock und Stiefeln anziehend drckte er sich seinen +Hut in die Stirn, griff seinen Stock aus der Ecke, und verlie sein +Bureau, das er sorgfltig hinter sich abschlo, und eine kleine Pappe +mitten an die Thr hing, auf der die Worte standen. + +Kommt um elf Uhr wieder. + + + + + + Capitel 6. + + + DIE WEBERFAMILIE. + + +Nicht weit von Heilingen, und in Hrweite der Domglocke selbst, in +ziemlich bergigem, aber unendlich malerischem Land, lag ein kleines armes +Dorf, dessen Bewohner, da ihre Felder gerade nicht zu den besten gehrten, +sich kmmerlich, aber meist ehrlich, mit verschiedenen Handwerken und +Gewerben, mit Holzschnitzen wie auch hie und da mit dem Webstuhl, +ernhrten. Das Dorf hie eigentlich Zur Stelle, welchen Namen aber die +Bewohner im Laufe der Zeit, und mit Hlfe ihres Dialekts, zu dem von +_Zurschtel_ umgearbeitet hatten, und mochte etwa dreiig Huser und +Htten, mit der doppelten Anzahl von Familien, wie der sechsfachen von +Kindern zhlen. Es ist eine wunderliche Thatsache, da man in den +rmlichsten Distrikten stets die meisten Kinder findet. + +Mitten im Dorf lag eins der besseren Huser; es war wei getncht, und +hinter den sauber gehaltenen Fenstern hingen weie, reinliche Gardinen. +Vor dem Hause, ber dessen Thre ein frommer Spruch mit rothen und grnen +Buchstaben angeschrieben war, stand ein Brunnen- und Rhrtrog, und ein +kleiner Koven an der Seite desselben, zeigte in der nach auen befestigten +Klappe des Futterkastens dann und wann den schmuzigen Rssel eines seine +Kartoffelschalen kauenden Schweines. Auch ein ordentlich gehaltenes Staket +umgab das Haus wie den kleinen Hofraum, und die Wohnung stach sehr zu +ihrem Vortheil gegen manche der Nachbarhuser ab. + +Im Inneren selber sah es ebenfalls sehr reinlich, aber nichtsdestoweniger +sehr rmlich aus. In der einen Ecke stand ein groer, viereckiger, sauber +gescheuerter Tisch aus Tannenholz, an zweien der Wnde waren Bnke aus dem +nmlichen Material befestigt, und um den groen viereckigen Kachelofen, +der fast den achten Theil der Stube einnahm, hingen verschiedene +Kochgerthschaften, whrend auf darber angebrachten Regalen die braunen +Kaffeekannen und geblmten Tassen gewissermaen mit als Zierrath zur Schau +ausstanden. Die dritte Ecke fllte der Webstuhl des Mannes aus, und dem +gegenber stand eine riesengroe, braunangestrichene Kommode, mit +Messinghenkeln und Griffen und fnf Schiebladen, die, mit wirklich +rhrender Eitelkeit als eine Art von Nipptisch benutzt, zwei mit bunten +Blumen bemalte Henkelglser, eine vergoldete Tasse mit der Aufschrift der +guten Mutter -- ein Geschenk aus frherer Zeit -- und ein gelb irdenes aber +allerdings sehr wenig benutztes Dintenfa trug, whrend dahinter, in zwei +ordinairen Stangenglsern, in dem einen Schilfblthenbschel, und in dem +anderen groe stattliche Aehren von Roggen, Waizen, Gerste und Hafer +standen, zur Erinnerung an eine frhere segensreiche Erndte. + +Die Bewohner der kleinen Stube paten genau in ihre Umgebung; es war eine, +nicht mehr ganz junge aber doch rstige Frau, in die nicht unschne +Bauertracht der dortigen Gegend gekleidet, die an ihrem Spinnrad sa und +eifrig das Rdchen schnurren lie, whrend die rechte Hand manchmal eine +neben ihr stehende Wiege berhrte, den darin ruhenden kleinen Sugling, +der immer wieder die groen dunklen Augen zu ihr aufschlug, endlich in +Schlaf zu bringen. Sie war reinlich, aber in die grbsten Stoffe +gekleidet, ebenso der Bube von etwa vier Jahren, der ihr zu Fen mit +einer kleinen Mulde auf dem ber die Diele gestreuten Sand Schiff +spielte. + +Auerdem war noch eine vierte Person im Zimmer, die alte Mutter der Frau, +eine Greisin von nahe an siebzig Jahren, die auch noch ihr Spinnrad +drehte, sich aber mit dem hinter den noch warmen Ofen gesetzt hatte, weil +ihr das heutige nakalte, unfreundliche Wetter frstelnd durch die alten +Glieder zog. Es war eine gutmthige, aber mrrische alte Frau, selten +zufrieden mit dem was sich ihr gerade bot, und unermdlich darin, sich und +ihren Kindern die Last vorzuwerfen die sie ihnen mache, und den lieben +Gott tglich zu bitten da er sie doch bald zu sich nhme. Nur eine +kleine, ganz kurze Frist erbat sie sich immer noch -- dann wollte sie gerne +sterben. Erst; wie das Aelteste geboren war, wollte sie das noch gerne +laufen sehn; dann htte sie gern erlebt wie es zum ersten Mal in die +Schule ging; dann war es Frhjahr geworden und sie hoffte nur noch einmal +neue Kartoffeln zu essen, zu Jacobi aber wollte sie noch einmal von dem +Pflaumenbaum die Frchte kosten, den ihr Seliger noch gepflanzt. Wie der +Herbst kam wnschte sie im Frhjahr begraben zu werden, und die knospenden +Maiblumen weckten den Wunsch nach den Astern, ihrer Lieblingsblume, von +denen sie sich eigenhndig ein schmales Beet in den kleinen Garten dicht +am Hause gepflanzt. So lebt und webt die Hoffnung in unseren Herzen mit +immer neuer, nie sterbender Kraft, und je lter wir werden, desto mehr +lernen wir die schne Erde lieb gewinnen, desto mehr klammern wir uns an +sie, und wollen uns gar nicht mehr von ihr trennen. + +Der Tag neigte sich dem Abend zu; der Mann war in die Stadt gegangen seine +Steuern zu zahlen, und Manches einzukaufen was sie nothwendig im Hause +brauchten -- zum Ersatz dafr hatte er das zweite Schwein, das sie bis +dahin gehalten, hineingetrieben, und der Erls sollte seine Ausgaben +bestreiten. + +Der Regen wurde jetzt wieder heftiger, die groen schweren Tropfen +schlugen gegen das Fenster, und das Kind wurde vollstndig munter und fing +an zu schreien. Die Mutter schob ihr Spinnrad zurck, nahm das Kleine aus +der Wiege, und ging damit trllernd im Zimmer auf und ab. Die Alte spann +inde ruhig weiter, und suchte mit zitternder leiser Stimme ein +geistliches Lied zu singen, und mit dem Rad trat sie den Takt dazu. Sonst +sprach keine ein Wort. + +Endlich wurde die Hausthr geffnet, Jemand kam von drauen herein, und +strich sich die Fe auf den Steinen und der Strohdecke ab, und sie hrten +gleich darauf wie der zurckkehrende Vater und Gatte seinen groen +rothblauwollenen Schirm auf die Steine stie, das Wasser so viel wie +mglich davon abzuschtteln, und den Mantel auszog und ber den groen +Schleifstein hing der drauen im Flur stand, wie er das gewhnlich that. +Die Frau ffnete rasch die Thr den Mann zu begren, der den Hut abnahm, +sich die nassen Haare aus der Stirn strich, und das Kind kte, das sie +ihm entgegenhielt. + +Jesus ist das ein Wetter, Gottlieb, sagte sie dabei, als sie ihm den Hut +aus der Hand nahm und neben den Ofen an den Nagel hing, komm nur herein, +da Du 'was Trockenes auf den Leib bekommst; wo hast Du denn den Jungen? -- +ist er nicht bei Dir? setzte sie, fast ngstlich, hinzu. + +Er ist drauen bei Lehmann's hineingegangen, denen wir ein paar Sachen +aus der Stadt mitgebracht, sagte der Mann -- wird wohl gleich kommen -- +wie geht's Frau? -- wie geht's Mutter? -- ha, das regnet einmal heute was +vom Himmel herunter will; was nur d'raus werden soll wenn das Wetter so +fort bleibt. Ein paar gute trockene Tage haben wir gehabt, und jetzt +wieder Gu auf Gu -- Gu auf Gu, als ob sie uns unsere paar Stcken Feld +noch hinunter in die Wiesen waschen wollten. Von dem einen Acker ist die +Saat schon halb fortgesplt -- wenn dasmal das Korn misrth, wei ich nicht +wo der arme Mann das Brod hernehmen soll. + +Klag nicht, Gottlieb, sagte aber die Frau freundlich -- es geht noch +Vielen schlechter wie uns, und was sollen da die _ganz_ armen Leute sagen. +Lieber Gott, es ist viel Noth in der Welt, und wer heut zu Tage eben sein +Auskommen und ein Dach ber dem Kopf hat und gesund ist, sollte sich nicht +versndigen. + +Sie hatte dabei das Kind auf die Erde gesetzt, holte den Topf aus der +Rhre, in der, trotz der vorgerckten Jahreszeit, noch ein Feuer brannte, +der alten, frstelnden Mutter wegen, und go den darin hei gehaltenen +Kaffee -- sie nannten das braune Getrnk von gebrannten gelben Rben und +Gerste wenigstens so -- in die eine braune Kanne, damit sich der Mann, der +den ganzen Tag drauen im Regen herumgezogen war, daran erquicken knne. +Zugleich auch deckte sie ein weies Tuch ber den Tisch, auf den sie noch +Butter und Brod stellte, die versumte Mittagsmahlzeit wenigstens in etwas +nachzuholen. Der Mann setzte sich an den Tisch, schenkte sich eine Tasse +Kaffee ein, in den ihm die Frau die Milch go, und schnitt sich ein groes +Stck Brod ab, das er mit Butter bestrich und verzehrte. Er sprach kein +Wort dabei, und beendete still seine Mahlzeit, schob dann die Tasse und +den Butterteller zurck, nahm das Kleinste, das die Mutter zu ihm auf die +Erde gesetzt hatte, herauf auf sein linkes Knie, blieb, den rechten +Ellbogen auf den Tisch gesttzt, den Kopf gegen die Wand gelehnt, +regungslos sitzen, und schaute still und schweigend nach dem Fenster +hinber, an das die Regentropfen immer noch, vom Wind drauen gepeitscht, +hohl und heftig anschlugen. + +Die Frau hatte ihn eine ganze Zeit lang mit scheuem Blick betrachtet; es +war irgend etwas vorgefallen, aber sie wagte nicht zu fragen, denn +Gottlieb, so seelensgut er auch sonst sein mochte, hatte doch auch seine +verdrielichen Stunden und war dann, wenn gestrt, oft rauh und +unfreundlich; aber eine eigene Angst berkam sie pltzlich. Ihr ltester +Sohn -- der Hans -- war nicht mit zu Hause gekommen -- konnte dem -- heiliger +Gott, wie ein Stich traf es sie in's Herz und sie sprang erschreckt von +ihrem Stuhl auf und auf den Mann zu. + +Gottlieb -- um aller Heiligen Willen wo ist der Hans? -- es ist -- es ist +ihm doch nicht etwa ein Unglck geschehn? + +Der Hans? sagte der Mann aber ruhig und sah erstaunt zu ihr auf, was +fllt Dir denn ein? was soll denn dem Hans zugestoen sein? ich habe Dir +ja gesagt da er bei Lehmann's etwas abgegeben hat, und dort +wahrscheinlich das Wetter abwarten wird. + +Ich wei nicht, sagte die Frau, der dadurch allerdings eine Centnerlast +von der Seele gewlzt wurde -- aber Du bist so sonderbar heut Abend, so +still und ernst, und da schlugs mir wie ein Schreck in die Glieder, ber +den Hans. Ist etwas vorgefallen Gottlieb? -- + +Gottlieb schttelte den Kopf langsam und sagte. -- Nicht da ich wte -- +nichts Besonderes wenigstens, oder nichts Anderes, als was jetzt alle Tage +vorfllt -- Geld zahlen. + +War es denn so viel? sagte die Frau leise und schchtern. + +Der Mann schwieg einen Augenblick und sah still vor sich nieder; endlich +erwiederte er seufzend: + +Das Schwein ist d'rauf gegangen, und vier Thaler Siebzehn Groschen sind +immer noch mit Gerichtskosten und der alten Procegeschichte mit der +Brckenplanke, mit der ich eigentlich gar Nichts mehr zu thun hatte, +stehen geblieben, und ich mu sie bis zum ersten Juli nachzahlen, unter +Androhung von Pfndung. + +Nun lieber Gott, sagte die Frau trstend -- wenn das das Schlimmste ist, +lt sich's noch ertragen; da verkaufen wir eben das andere Schwein und +behelfen uns so. Wie wenig Leute im Dorf haben berhaupt eins zu +schlachten, und leben doch; warum sollen wir nicht eben so gut ohne eins +leben knnen als die. + +Ja, sagte der Mann leise und still vor sich hin brtend -- verkaufen und +immer nur verkaufen, ein Stck nach dem anderen, und whrend wo anders die +Leute mit jedem Jahr ihr kleines Besitzthum vergrern, und fr ihre +Kinder etwas zurcklegen knnen, sieht man es hier mehr und mehr +zusammenschmelzen, unter Mh und Plack das ganze Jahr lang. + +Aber kannst Du's ndern? sagte die Frau leise und fuhr, wie der Mann +schwieg und mit der Faust die Stirn sttzend vor sich nieder starrte, +schchtern fort -- arbeitest Du nicht von frh bis spt fleiig und +unverdrossen? gnnst Du Dir eine Zeit der Ruhe, wo Dich irgend eine +nthige Beschftigung ruft, und haben wir uns etwa das Geringste +vorzuwerfen? + +Nein, sagte der Mann, whrend er die Hand auf den Tisch sinken lie und +die Frau voll und fest ansah -- nein, aber das ist es ja eben, was mir am +Leben frit. Wir knnen nicht mehr arbeiten, nicht mehr verdienen wie wir +jetzt thun, und jetzt sind wir noch jung und krftig, unsere Kinder noch +klein und gesund, und dennoch geht es mit jedem Jahr zurck, wird es mit +jedem Jahr schlechter und schlimmer. Wie nun soll das werden, wenn uns +erst einmal Krankheit heimsuchte, wenn die Kinder heranwachsen und mehr +brauchen, wenn wir selber lter werden und nicht mehr so zugreifen knnen +wie jetzt? -- Schon jetzt knnen wir uns nicht mehr in der theueren Zeit +oben halten -- das eine Schwein ist verkauft, das andere wird noch fort +mssen; unser Acker ist kleiner geworden in den letzten zehn Jahren, +unsere Bedrfnisse aber sind gewachsen -- wie soll das enden? + +Aber Gottlieb, sagte die Frau freundlich -- wie kommen Dir jetzt doch +nur solche Grillen? haben Dir die paar Thaler Steuern den Kopf verdreht? +Mann, Mann, Du bist doch sonst so ruhig, und hast immer vertrauungsvoll in +die Zukunft gesehn, wie sind Dir auf einmal solche schwarze Gedanken durch +den Sinn gefahren? + +Die alte Mutter hatte, schon so lange wie die Beiden mit einander +gesprochen, ihr Spinnrad ruhen lassen, und dem Gesprch aufmerksam +zugehrt; dabei schttelte sie fortwhrend mit dem Kopf, und sagte endlich +mit ihrer schrillen, scharf klingenden Stimme: + +Ja wohl, ja wohl -- das Geld wird rar und das Brod theuer, und mehr Muler +kommen -- mehr Muler sind da zum Verzehren, wie zum Verdienen. Schlagt +mich todt; schlagt mich todt da ich weg komme aus dem Weg und Euch Platz +mache -- schlagt mich todt. + +Mutter, bat die Frau, in Todesangst da sie dem Manne mit solcher Rede +wehe thun wrde, denn _er_ gerade hatte sie immer auf das Freundlichste +behandelt, und Alles gethan was in seinen Krften stand, ihr jede +Erleichterung, die ihr Alter bedurfte, zu verschaffen -- wie drft Ihr nur +so etwas reden; versndigt Ihr Euch denn nicht? + +Wir haben noch genug fr uns Alle Mutter, sagte aber der Mann +freundlich, der ihre Launen kannte und der alten Frau nicht wehe thun +mochte -- nur fr sptere Zeit ist mir bange; Sie aber wren die Letzte +die darunter leiden sollte. Wir werden Alle alt, und wenn wir unsere +Schuldigkeit in unserer Jugend gethan, wie Sie, dann ist es nicht mehr wie +Pflicht und Schuldigkeit der Jngeren fr ihre Eltern zu sorgen -- wenn sie +nicht auch einmal wieder von ihren Kindern wollen verlassen werden. + +Die Alte war wieder still geworden, sah noch eine Zeit lang vor sich +nieder, und begann dann auf's Neue ihre Arbeit, aber die Frau fuhr fort +und sagte, fast mit einem leisen Vorwurf im Ton zu ihrem Mann. + +Siehst Du Gottlieb, das hast Du nun davon mit Deinen trben und traurigen +Ideen; Du machst Dir und mir und der Mutter nur das Herz schwer, und +ntzest und hilfst doch Nichts. Der liebe Herr Gott da oben wird's schon +machen und lenken; Er hat die Welt so viele Jahrhunderte hindurch in ihrer +Bahn gehalten, und die Menschen darauf geschirmt und gepflegt, wie unser +Herr Pastor sagt, Er wird's auch schon weiter thun, und wir drfen uns +eigentlich gar nicht sorgen und kmmern um den nchsten Tag. + +Doch, doch Frau, sagte aber der Mann, aufstehend und jetzt, die Hnde in +den Hosentaschen, in der Stube auf und ab gehend -- doch Frau, der Mann +_mu_, denn wenn er's _nicht_ thte, wr er ein schlechter Hausvater, und +ihm allein fielen dann all die schweren Folgen zur Last, die daraus +entstnden. Ich kann Dir das nicht so mit Worten deutlich machen, wie +mir's neulich der Schulmeister, mit dem ich darber sprach, erklrte, aber +der meinte es wre etwa so wie wenn Einer im Wasser wre. Da sei es auch +nicht genug da man sich oben hielte an der Luft, und im Kreis herum +schwmme eben nur nicht zu ertrinken, das thte nicht einmal ein +unvernnftiges Stck Vieh; nein des Menschen, des verstndigen Menschen +Pflicht sei es sich schon im Wasser nach dem festen Lande umzusehn, ob man +das nirgends erreichen knne, denn zuletzt wrde man da im Wasser, man +mchte noch so tapfer schwimmen, doch mde, und lieen erst einmal die +Krfte nach, dann hlfe auch zuletzt das Schwimmen Nichts mehr, und man +snke eben langsam zu Boden. + +Ich verstehe nicht recht was Du damit meinst, sagte die Frau, aber Du +siehst mich so sonderbar dabei an -- hast Du noch 'was anderes dahinter? + +Nein und Ja, sagte der Mann nach kleiner Pause, indem er sich mit dem +Rcken an den Ofen lehnte, und langsam dazu mit dem Kopfe nickte, +eigentlich nicht, denn Gott da oben wei da es wahr ist, und wei wie, +und ob's einmal enden kann; aber dann -- dann hab' ich allerdings noch was +dahinter, denn ich meine -- ich meine -- er schwieg und es war +augenscheinlich, er hatte etwas auf dem Herzen, das er sich scheue so mit +blanken klaren Worten heraus zu sagen, die Frau aber, die eben damit +beschftigt war das Geschirr hinaus zu rumen, setzte die Kanne wieder auf +den Tisch, sah den Mann erstaunt an, ging dann langsam zu ihm an den Ofen +und sagte leise, vor ihm stehen bleibend: + +Geh her, Gottlieb -- Du hast 'was, was Dich drckt und willst nicht mit +der Sprache heraus -- es ist irgend noch etwas vorgefallen in der Stadt, +was Du nicht sagen magst. Du darfst doch nicht _sitzen_? + +_Sitzen_? -- weshalb? lchelte der Mann kopfschttelnd -- ich habe nie +etwas Bses gethan. + +Nun was ist's denn, so sprich doch nur, denn Du ngstigst mich ja mehr +mit Deinem Schweigen, als wenn Du mir das Schlimmste gleich vornheraus +erzhlst -- dem Hans fehlt doch Nichts? + +Was soll dem Hans fehlen, nrrische Frau -- wenn's aufhrt zu gieen wird +er schon kommen. + +Und was ist's denn? -- gelt, Du sagst mir's? + +Ich mu Dir's wohl sagen; seufzte der Mann, nun sieh Hanne, ich meine -- +ich habe so darber nachgedacht, da es jetzt hier in Deutschland immer +schlechter wird mit uns -- und da wir's zu Nichts mehr bringen knnen, +trotz aller Arbeit, trotz allem Flei, und da jetzt -- da jetzt doch so +viele Menschen hinber ziehen -- + +Hinber ziehen? frug die Frau erstaunt, fast erschreckt, und legte die +Hand fest auf's Herz, als ob sie die aufsteigende Angst und Ahnung ber +etwas Groes, Schreckliches da hinunter und zurckdrcken wolle, eh sie zu +Tage kme -- wo hinber Gottlieb? + +Nach Amerika; sagte der Mann leise -- so leise da sie das Wort wohl +nicht einmal verstand, und nur an der Bewegung der Lippen es sah und +errieth. Wie ein Schlag aber traf sie die Wirklichkeit ihres Verdachts, +und ohne ein Wort zu erwiedern, ohne eine Sylbe weiter zu sagen, setzte +sie sich auf den, dicht am Ofen stehenden Stuhl, deckte ihr Gesicht mit +der Schrze zu und sa eine lange, lange Weile still und regungslos. Auch +der Mann wagte nicht zu sprechen -- er hatte den Gedanken wohl schon eine +Zeit lang mit sich herumgetragen, aber sich immer davor gefrchtet ihm +Worte zu geben, sogar gegen sich selbst, wie viel weniger denn gegen die +Frau. Jetzt war es heraus, und er betrachtete nur scheu die Wirkung die er +hervorgebracht. + +Auch die alte Mutter sa, mit der Hand auf dem Rad das sie im Drehen +aufgehalten, und horchte nach den Beiden hinber, was sie mitsammen +hatten, und wie die so still waren und kein Wort mehr sprachen, mochte es +ihr auch unheimlich vorkommen und sie sagte laut und mrrisch: + +Nun Gottlieb was giebt's -- was hast wieder Du mit der Hanne -- was habt +Ihr denn da Ihr so still und heimlich thut -- macht Einem nicht auch noch +Angst unntzer Weise -- was ist nun wieder los? + +Ja Mutter, sagte der Mann jetzt, der sich gewaltsam Muth fate ber das, +was nun doch nicht lnger mehr verschwiegen bleiben konnte und besprochen +werden _mute_, auch laut zu reden, da er's vom Herzen herunter bekam -- +es geht mit uns hier den Krebsgang, und ich habe eben zu Hannen gesagt +da uns zuletzt nichts anderes brig bleiben wrde als -- als es eben auch +wie andere zu machen, und -- + +Und? -- und was zu machen? frug die alte Frau gespannt -- + +Als _auszuwandern_, sagte der Mann mit einem pltzlichen Ruck und +seufzte dann tief auf, als ob er selber froh wre es los zu sein. + +Herr Du meine Gte! rief die alte Frau, lie die Hnde erschreckt in den +Schoo sinken und lehnte sich in ihren Stuhl zurck, whrend ihr alle +Glieder am Leibe flogen -- Herr Du meine Gte! wiederholte sie noch +einmal, und die Finger falteten sich unwillkrlich zusammen, so hatte sie +der Schreck getroffen. + +Auswandern, sagte aber auch jetzt Gottliebs Frau mit tonloser Stimme, +und lie die Schrze vom Gesicht herunterfallen -- auswandern, das ist ein +schweres -- schweres Wort Gottlieb -- hast Du Dir das auch recht -- recht +reiflich berlegt? + +Tag und Nacht die ganze letzte Woche hindurch, rief aber der Mann, der +jetzt, da das Eis einmal gebrochen war, wieder Leben und Wrme gewann. +Wie ein Mhlstein hat's mir auf der Seele gelegen, und ich habe lange und +tapfer dagegen angekmpft, aber es wre das Beste fr uns, was wir auf der +weiten Gotteswelt thun knnten; und wenn auch nicht einmal fr uns, wenn +wir selber auch schwere und bittere Zeiten durchzumachen htten, doch fr +die Kinder, die einmal den Segen erndten, den wir mit unserem Schwei, +unseren Thrnen geset. + +Auswandern? ja, sagte aber jetzt die Gromutter, mit dem Kopfe nickend +und schttelnd, als ob sie den schrecklichen Gedanken wieder von sich +abwerfen wollte -- ja wohin es euch lstet, aber erst wenn ich todt bin. +Die paar Tage mt Ihr noch hier bleiben die ich noch zu leben habe, oder +sonst schlagt mich todt, werft mich in's Wasser, oder schlagt mich mit dem +Beil auf den Kopf da ich fortkomme, und hier auf dem Kirchhof unter der +alten Linde liegen kann, wo der Leberecht liegt. In der Welt knnt Ihr +mich doch nicht mehr umherschleppen, und nutz bin ich auch Nichts mehr, +wie das mit zu verzehren was andere verdienen. Wenn Ihr jetzt fort wollt +schlagt mich vorher todt. + +Ach Mutter wenn Sie nur nicht gar so hlich reden wollten, sagte die +Frau traurig, whrend der Mann wieder zum Tisch ging, sich dort auf den +Stuhl setzte, und den Kopf in die Hand sttzte -- Sie sind noch wohl und +rstig und werden, will's Gott, noch manches Jahr leben und sich Ihrer +Kinder freuen. Wo die dann hin ziehen und sich ihr Brod suchen mssen, da +gehren Sie auch hin, und was die verdienen, das haben Sie auch verdient +mit Mhe und Noth und banger Sorge schon vor langen Jahren, wie wir noch +klein und unbehlflich waren, wie unsere Kinder jetzt. + +Wozu mich mitnehmen, sagte aber die Frau, strrisch dabei mit dem +Oberkrper herber und hinber schwankend, unterwegs mtet Ihr mich doch +aus dem groen Schiff hinaus in's Wasser werfen, die Fische zu fttern. +Bleibe im Lande und nhre Dich redlich, das ist _mein_ Spruch und meines +Leberecht Spruch von alter Zeit her gewesen, und wir haben uns wohl dabei +befunden, aber das junge Volk jetzt will immer alles anders haben, will +oben zur Decke 'naus und fliegen und schwimmen, anstatt hbsch auf der +Erde und im alten Gleis zu bleiben. Warum ist's denn frher gegangen? -- +nein Gott bewahre, jetzt soll Alles mit Eisenbahnen und Dampf gehen und +keine Geduld, keine Ausdauer mehr; nur fort, immer gleich fort, in die +Welt hinein und mit dem Kopf gegen die Wand -- schlagt mich todt, dann seid +Ihr mich los und knnt hingehn wohin Ihr wollt. + +Und die alte Mutter stand auf, rckte ihr Spinnrad bei Seite, und +humpelte, noch immer vor sich hin murmelnd und grollend, aus der Stube +hinaus. + +Sie meint es nicht so bs, Gottlieb, sagte die Frau zu dem Mann tretend +und ihre Hand auf seine Schulter legend, es ist eine alte Frau die an +ihrer Heimath mit ganzem Herzen hngt und sich vor der Reise frchtet. + +Und Du nicht, Hanne? rief der Mann sich rasch nach ihr umdrehend, und +ihre Hand ergreifend -- Du nicht? Du wrdest Dich dazu entschlieen knnen +unsere Heimath hier, unser Huschen, unser Feld zu verlassen, und mit mir +und den Kindern ber das weite Meer zu fahren, in eine fremde Welt? + +Die Frau schwieg und ihre Hand zitterte in der des Mannes -- endlich sagte +sie leise -- So weit fort? -- und mu es denn sein, ist es denn gar nicht +mglich mehr, da wir hier gut und ehrlich durchkommen durch die Welt, +wenn wir uns auch ein Bischen knapper einrichten wie bisher? Ach Gottlieb, +es ist gar hart so von zu Hause fortzugehn, die Thr zuzuschlieen und zu +denken da man nun nie und nimmer wieder dahin zurckkommt -- + +Der Mann nickte traurig mit dem Kopf und sagte endlich: + +Du hast recht Hanne; es ist ein schwerer, recht schwerer Schritt, und man +sollte ihn sich wohl vorher berlegen ehe man ihn thut, denn zurck kann +man nicht wieder, wenn man nicht wenigstens Alles opfern will, was Einem +bis dahin noch zu eigen gehrt hat. Thun wir aber recht nur allein an uns +zu denken? -- Sieh, wir schleppen uns vielleicht noch wenn auch kmmerlich, +doch ehrlich, durch, bis wir einmal sterben, und wenn es auch hart ist, +da es Einem nachher im Alter schlechter gehn soll wie in der Jugend, +brauchten wir doch gerade keine Furcht zu haben da wir verhungerten; aber +die Kinder -- die Kinder -- was wird aus denen? Unser kleines Grundstck ist +die Jahre ber kleiner und kleiner geworden; mit dem Geschft geht's auch +kmmerlicher wie bisher -- neue, geschicktere Arbeiter, junge Burschen die +noch keine Familie haben und weniger brauchen, sitzen in den Drfern +herum, und die Fabriken und Maschinen geben uns ohnedies den Todessto. +Stahl und Holz braucht Nichts zu essen und arbeitet unermdet Tag und +Nacht durch, und die Rder und Walzen und Hmmer klopfen und drehen und +schwingen ununterbrochen fort gegen den Schwei des armen Arbeiters der +darber zu Grunde geht. Ich murre auch nicht darber, es mu wohl schon so +recht sein, denn Gott hat's den Menschen selber gelehrt und die Welt mu +vorwrts gehn -- wir lteren Leute knnen uns aber eben nicht mehr darein +schicken, knnen nichts Anderes mehr ergreifen, und wieder von vorne +anfangen, wenigstens hier im Lande nicht wo Einem die Hnde nach allen +Seiten hin gebunden sind, und darum ist mir der Gedanke gekommen +auszuwandern. Da drben ber dem Weltmeere hat der liebe Herr Gott noch +einen groen gewaltigen Fleck Erde liegen, fr uns arme Leute bestimmt, +den Maschinen und Rderwerken zu entgehn; dort haben wir Platz uns zu +bewegen, und wer nur da ordentlich arbeiten will hat nicht allein zu +leben, sondern kann auch vielleicht fr sich und die Kinder was vorwrts +bringen und braucht sich nicht mehr vor der Zukunft zu frchten und vor +Hunger und Noth. Wenn wir nicht auswandern, was bleibt unsern Kindern da +einmal anders brig, als in Dienst zu gehn und sich bei fremden Leuten +doch herumzuschlagen ihr Lebelang. + +Und die Mutter? sagte die Frau, sich ngstlich nach der Thre umsehend -- +was wrde aus der alten Frau auf dem Meere? + +Was aus so vielen alten Frauen da wird, liebes Herz, sagte aber der +Mann, augenscheinlich mit froherem, freudigeren Herzen, als er bei dem +eigenen Weib nicht den Widerstand fand, den er vielleicht gefrchtet -- +sie gewhnen sich an das neue Leben, sobald sie das alte nicht mehr um +sich sehen, und die Seeluft soll krftigen und strken. + +Aber sie wird nicht mit uns wollen. + +Sie wird ihre Kinder nicht verlassen, trstete sie der Mann, und ohne +sie drften wir ja auch gar nicht fort. + +Die Frau reichte ihm schweigend die Hand, die er herzlich drckte, und +wandte sich dann, und wollte eben das Zimmer verlassen, als drauen Jemand +die Thr aufri und in das Haus trat. Das Unwetter hatte jetzt seinen +hchsten Grad erreicht, und der Regen schlug in ordentlichen Gssen gegen +die Fenster an, whrend der Wind die Wipfel der Bume herber und hinber +schttelte und die Blthen von den Zweigen ri mit rauher Hand. + + [Capitel 6] + +Schnen Gru mit einander, sagte dabei eine rauhe Stimme, whrend die +Stubenthr halb geffnet wurde -- darf man hinein kommen? + +Gott gr Euch, sagte die Frau -- kommt nur herein, bei dem Wetter ist's +bs drauen sein -- es tobt ja, als ob der letzte Tag hereinbrechen +sollte. + +Der Fremde hing seinen Hut und Mantel drauen ab und trat mit nochmaligem +Gru in die Stube. + +Gott gr Euch, sagte auch Gottlieb -- da, nehmt Euch einen Stuhl und +setzt Euch zum Ofen; es ist heut unfreundlich drauen, und man kann ein +Bischen Feuer brauchen. + +Sauwetter verdammtes, fluchte der Mann, als er der Einladung Folge +geleitet und sich die nassen Haare aus der Stirne strich -- ich wollte +erst sehen da ich die Schenke erreichte; hier um die Ecke herum kam der +Wind aber so gepfiffen da er mich bald von den Fen hob, und es war +gerade als ob sie Einem von da oben einen Eimer voll Wasser nach dem +andern entgegen gossen. Schnes Wetter fr Enten, aber fr keine +Menschen. + +Es war eine rauhe, krftige Gestalt, der Mann, mit krausem dicken +schwarzen Bart und ein paar tiefliegenden unstten Augen, in einen groben +braunen Tuchrock gekleidet, wie ihn die Fleischer nicht selten auf dem +Lande tragen. Die ebenfalls braunen Hosen hatte er dabei heraufgekrempelt, +bis fast unter das Knie, mit seinen derben Wasserstiefeln besser durch +alle Pftzen und Schlammwege hindurch zu knnen; die aus ungeborenem +Kalbfell gemachte Weste war ihm bis an den Hals hinauf zugeknpft, und +eine lange silberne Kette, an der die in der Westentasche steckende Uhr +befindlich war, hing ihm darber hin. + +Ihr seid wohl weit von hier zu Haus? frug Gottlieb nach einer lngeren +Pause, in der er den Mann und dessen Aeueres flchtig nur betrachtet +hatte -- hab' Euch wenigstens noch nicht hier bei uns gesehen. + +Zehn Stunden etwa, sagte der Fremde, seine Pfeife jetzt aus der +Brusttasche seines Rockes nehmend und mit Stahl und Schwamm, den er bei +sich fhrte, entzndend -- wie weit ist's noch bis Heilingen. + +Eine tchtige Stunde -- wenn der Weg jetzt nicht so schrecklich wre, +knnte man's recht bequem in krzerer Zeit gehn. + +Hm -- ist noch verdammt weit, puh wie das drauen strmt; und die +Pflaumenblthen pflckt's beim Armvoll herunter -- Pflaumenmu wird theuer +werden nchsten Herbst. + +Das wei Gott, sagte Gottlieb -- es wird Alles theuer, immer mehr jedes +Jahr, langsam aber Sicher. + +Bah, es geschieht denen recht die hier bleiben, wenn sie nicht hier +bleiben mssen; 's giebt Pltze die besser sind. + +Wollt Ihr auch auswandern? sagte Gottlieb rasch. + +Auswandern? -- nach Amerika? -- hm -- ich wei noch nicht, brummte der +Fremde, sich den Bart streichend -- es wre aber mglich da sie Einen +noch dazu trieben. Sind das Euere Kinder? + +Ja. -- + +Habt Ihr noch mehr? + +Noch einen Jungen von elf und ein halb Jahr. + +Und Ihr seid ein Weber? sagte der Fremde mit einem Blick auf den +Webstuhl -- auch schwere Zeiten fr derlei Arbeit, mit einer Familie +durchzukommen. + +Ja wohl, schwere Zeiten, seufzte Gottlieb, als in diesem Augenblick die +Thr drauen wieder aufging und die Mutter laut ausrief: -- + +Der Hans, lieber Himmel kommt der in dem Wetter. + +Es war Hans, der lteste Sohn des Webers, durch und durch na, aber mit +frischem gesunden Gesicht und rothen Backen, auf denen das Regenwasser in +groen Perlen stand. + +Guten Tag mit einander, sagte er, als er in's Zimmer trat und die +triefende Mtze vom Kopf ri -- guten Tag Mutter. + +Guten Tag Hans, aber wo um Gottes Willen kommst Du in dem Regen her; +warum hast Du das Wetter nicht bei Lehmann's abgewartet? + +Es wurde mir zu spt Mutter und ich war hungrig geworden; habe auch noch +heute Abend dem Vater etwas zu helfen. + +Ein derber Junge, sagte der Fremde, der sich den Knaben inde mit +finsterem Blick betrachtet hatte -- kann wohl schon ordentlich mit +arbeiten. + +Ach ja, er packt tchtig mit zu, sagte der Vater -- lieber Gott in +jetziger Zeit mu Alles mit Brod verdienen helfen. + +Die Kinder fressen Einen arm, sagte der Fremde. + +Habt Ihr Kinder? frug Gottlieb. + +Ich? -- hm, ja, sagte der Fremde nach einer Pause -- knnte noch Jemandem +abgeben davon. + +Ich mchte keins hergeben, sagte die Frau rasch, und kte das Jngste, +das sie eben wieder aufgenommen hatte um es zu fttern, Kinder sind ein +Segen Gottes. + +Ja -- so sprechen die Leute wenigstens, sagte der Fremde trocken, aber +ich glaube es lt nach mit Regnen; ich werde die Schenke wohl jetzt +erreichen knnen. + +Wollt Ihr nicht vielleicht erst eine heie Tasse Kaffee trinken? frug +die Frau, das Kind auf dem linken Arm, zum Ofen gehend, die dort +warmgestellte Kanne wieder vorzuholen. + +Danke, danke, sagte aber der Fremde abwehrend -- kann das warme Zeug +nicht vertragen; ein Glas Branntwein ist mir lieber. + +Das thut mir leid, sagte der Mann, den kann ich Euch nicht anbieten; +ich habe keinen im Hause. + +Thut auch Nichts, lachte der Fremde; so lange halt ich's schon noch +aus. Sind doch hlflose Dinger so junge Menschen, ehe sie die Kinderschuh +ausgetreten haben, setzte er dann hinzu, als das Jngste das Mulchen +nach dem schon einmal gereichten Lffel vorstreckte -- was machte nun so +ein jung Ding, wenn man es hinsetzte und sich selber berliee. + +Ach Du lieber Gott, sagte die Frau bedauernd -- so ein armer Wurm mte +ja elendiglich umkommen. + +Bis den Nachbarn das Geschrei zu arg wrde und sie kmen und es +ftterten, lachte der Andere. + +Dafr haben die Kinder Eltern, sagte die Frau, das kleine, die Aermchen +zu ihr ausstreckende Mdchen liebkosend und kssend, die sorgen schon +dafr da kein Nachbar danach zu sehen braucht. + +Wenn die aber einmal pltzlich strben, wie dann? frug der Fremde, mit +einem Seitenblick auf die Frau, indem er seinen Rock wieder zuknpfte und +sich zum Gehen rstete. + +Dann ist Gott im Himmel, sagte Hanne, mit einem frommen +vertrauungsvollen Blick nach oben. + +Ja, das ist wahr; sagte der Fremde mit einem leichtfertigen Lcheln, +der hat allerdings die groe Kinderbewahranstalt. Aber es hat wirklich +aufgehrt mit Gieen, unterbrach er sich rasch, den Augenblick will ich +doch lieber benutzen. So schn Dank fr gegebenes Quartier Ihr Leute, und +gut Glck. + +Bitte, Ihr habt fr Nichts zu danken, beht' Euch Gott, sagte Gottlieb +freundlich. + +Beht' Euch Gott; sagte auch die Frau, und der Mann, ihnen noch einmal +zunickend, nahm drauen wieder den nassen Mantel um, drckte sich den +breitrndigen Hut in die Stirn, griff einen derben Knotenstock, der +daneben in der Ecke lehnte, auf, und verlie rasch das Haus, die Richtung +nach der Schenke einschlagend. + +Mich freut's da er fort ist, sagte die Frau, die dem Knaben gerade das +Essen auf den Tisch setzte und den Kaffee einschenkte -- bewahr uns Gott, +was hatte der Mann fr ein finstres Gesicht und ein barsches Wesen; nicht +schlafen knnt' ich die Nacht, wenn ich den unter einem Dach mit mir +wte. In dem Gesicht liegt auch nichts Gutes -- und wie er fluchte und +ber die Kinder sprach -- ob er nur wirklich selber welche hat. + +Er sagt's ja, besttigte Gottlieb -- aber mir schien's ein Fleischer zu +sein, seinem Gewerbe nach, und die sind immer rauh und derb, meinen's aber +nicht immer so bs. + +So bess're ihn Gott, sagte die Frau mit einem Seufzer, und je seltener +er unseren Weg kreuzt, desto besser. + + + + + + Capitel 7. + + + NACH AMERIKA. + + +Nach Amerika! -- Leser, erinnerst Du Dich noch der Mrchen in Tausend +und eine Nacht, wo das kleine Wrtchen Sesam dem, der es wei, die +Thore zu ungezhlten Schtzen ffnet? hast Du von den Zaubersprchen +gehrt, die vor alten Zeiten weise Mnner gekannt, Geister heraufzurufen +aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu +machen? -- Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe schlugen, wie sich die +Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner +zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkhne Menschenkind das sie +gesprochen, bebte zurck vor der furchtbaren Gewalt die es +heraufbeschworen. + +Die Zeiten sind vorber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht +gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das +rechte Wort vergessen sie zu rufen -- aber ein anderes dafr gefunden, das +kaum minder stark mit _einem_ Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, +den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhltnissen und +Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reit, in dem es bis dahin mit +seinen strksten, innigsten Fasern treulich festgehalten. + +Nach Amerika, leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten +schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prfen sollte, seinen +Muth sthlen -- nach Amerika, flstert der Verzweifelte der hier am Rand +des Verderbens dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde -- +nach Amerika, sagt still und entschlossen der Arme, der mit mnnlicher +Kraft und doch immer und immer wieder vergebens, gegen die Macht der +Verhltnisse angekmpft, der um sein tgliches Brod mit blutigem Schwei +gebeten -- und es nicht erhalten, der keine Hlfe fr sich und die Seinen +hier im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln _will_, nicht stehlen +_kann_ -- nach Amerika lacht der Verbrecher nach glcklich verbtem Raub, +frohlockend der fernen Kste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt +vor dem Arm des beleidigten Rechts -- nach Amerika, jubelt der Idealist, +der wirklichen Welt zrnend, weil sie eben wirklich ist, und ber den +Ocean drben ein Bild erhoffend, das dem, in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht -- nach Amerika und mit dem einen Wort liegt hinter +ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes frheres Leben, Wirken, Schaffen -- liegen +die Bande die Blut oder Freundschaft hier geknpft, liegen die Hoffnungen +die sie fr hier gehegt, die Sorgen die sie gedrckt -- _nach Amerika!_ + +So ghrt und keimt der Saame um uns her -- hier noch als leiser, kaum +verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft +und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und +Kasten. Der Bauer drauen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain der +ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so schwer +gergert, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit +ber dem Meer drben, in dem fetten, herrlichen Land; -- der Handwerker in +seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt +mit Neuerungen und groen, marktschreierischen Firmen, die wenigen Kunden +die ihm bis dahin noch geblieben in _seine_ Thr zu locken; der Knstler +in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, der ber einer freieren +Entwickelung brtet, und von einem Lande schwrmt wo Nahrungssorgen ihm +nicht Geist und Hnde binden; -- der Kaufmann hinter seinem Pult, der +Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Bchern zieht und, das +sorgenschwere Haupt in die Hand gesttzt, von einem neuen, andern Leben, +von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefllten Waarenhusern trumt; +in Tausenden von ihnen drngt's und treibt's und qult's, und wenn sie +auch noch vielleicht Jahre lang nach auen die alte frhere Ruhe wahren, +in ihren Herzen glht und glimmt der Funke schon -- ein stiller aber ein +gefhrlicher Brand. Jeder Bericht ber das ferne Land wird gelesen und +berdacht, neue Arzenei, neues Gift bringend fr den Kranken. Vorsichtig +und ngstlich, und weit herum um ihr Ziel, da man die Absicht nicht +errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding -- nach Leuten +die vordem hinber gezogen und denen es gut gegangen -- nach Land- und +Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk -- fr Andere natrlich, nicht fr sich +etwa -- sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinber, ein +entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wnschen da es dem wohl +geht, und hufen mehr und mehr Zunder fr sich selber auf. + +So ringt und drngt und whlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem +nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den _salto mortale_ gethan, +und Alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und theuer war -- aus +dem, aus jenem Grund -- und tglich, stndlich noch hren wir von anderen, +von denen wir im Leben nie geglaubt da _sie_ je an Amerika gedacht, wie +sie mit Weib und Kind, mit Hab' und Gut hinberziehn. Und _dort_? -- noch +liegt ein dichter Schleier ber ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne +scheint ja berall -- Dir aber lieber Leser, greif ich aus dem Leben noch +hie und da ein paar Freunde heraus, die wir begleiten wollen auf dem +weiten Weg. + + * * * * * + +Oben in der Brandstrae -- nicht weit vom Brandthor entfernt, und dem +Gasthaus zum Lwen schrg gegenber, wohnte Professor Lobenstein mit +seiner Familie, in der ersten Etage eines, zwar sehr alten, aber auch sehr +wohnlich eingerichteten Hauses, das ihm eigen gehrte. + +Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen Seite der besseren +Jahre, etwa einundfnfzig alt, aber rstig und gesund, nur erst mit +einzelnen grauen Haaren zwischen den rabenschwarzen Locken, die ihm ber +die bleiche, aber hohe und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast +jugendlichem, elastischem Gang und Wesen. Ein tchtiger Kopf dabei, hatte +er _jura_ und _cameralia_ studirt, und einen groen Schatz von Kenntnissen +aufgehuft; auch in manchem, mit schweren mhsamen Nachtwachen erkauften +Werk der Welt, der undankbaren Welt das Resultat seiner Studien und +Forschungen gebracht und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg, und +der kalten Aufnahme die es gefunden, wandte er sich spter wieder von den +bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz ab und allein +seinem Lieblingsstudium den Cameralien zu, in denen er besonders der +Gewerbskunde seine Thtigkeit widmete, auch mit einem Buchhndler in +Heilingen eine Gewerbszeitung grndete und herausgab. + +Hierin hatte er Unglck; der Buchhndler machte bankerott und er bernahm +die Zeitung, mit ziemlich groen Verlusten schon, allein. + +So vortrefflich aber Professor Lobenstein in der Theorie seiner +Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest war er es in der +Praxis, und seine Zeitung wollte und wollte keinen Boden gewinnen. Mit +fabelhaftem Flei suchte er dem zu begegnen, umsonst -- umsonst auch da er +Capital nach Capital in das, zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene +Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypothek und mit einer +hchst ungnstigen politischen Periode, in der ihm eine groe Anzahl +Abonnenten absprang, trafen ihn auch so bedeutende pecunire Verluste, da +er sich endlich genthigt sah sein Blatt vollstndig aufzugeben. Es war +das das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht. + +Professor Lobenstein hatte eine ziemlich starke Familie, eine Frau, zwei +erwachsene Tchter von siebzehn und zwanzig Jahren, einen Sohn von +achtzehn, und zwei kleinere Kinder, einen Knaben von acht und ein Mdchen +von sieben Jahren. Wenn auch nicht in Reichthum doch in einem gewissen +Wohlstand erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort +_Nahrungssorgen_ fremd geblieben; der Professor hatte immer, was man so +nennt, ein Haus gemacht, und sich in einem Umgangskreis bewegt, der ihnen +schon an und fr sich eine gewisse Verpflichtung auferlegte Manches +mitzumachen, was seinen, sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht +Bedrfni schien. Das Alles sollte, ja _mute_ sich jetzt ndern, denn +wenn er auch aus den Trmmern seines Vermgens, nach allen erlittenen +Verlusten, einen kleinen Theil zu retten vermochte, gengte der nicht, das +bisherige Leben fortzufhren. Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem +eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen, und sich und den Seinen +schwere und ungewohnte Entbehrungen an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn +Alles und Jedes an frhere und bessere Zeiten erinnerte oder -- es war eine +schwere Stunde in der ihm das Bild zum ersten Mal vor die Seele stieg -- in +einem anderen Welttheil, ungekannt, aber auch nicht bemitleidet oder +verspottet, ein vollkommen neues _Leben_ zu beginnen. + +Aber die Frauen? -- wrden sie den Mhseligkeiten einer so langen Reise, +einer Ansiedlung drben in einem noch wilden Lande gewachsen sein? -- Da +er selber die Beschwerden eines solchen Lebens leicht ertragen wrde, +daran zweifelte er keinen Augenblick; er hatte so viel ber Amerika +gelesen, sich mit den dortigen Verhltnissen aus allen erschienenen +Schriften so vertraut gemacht, da er Alles kannte was ihn dort erwartete, +und einem derartigen Wirken eher mit Freude und Lust, als Bangen +entgegenging; aber durfte er seine Frau all den sie erwartenden +Unbequemlichkeiten und Strapatzen aussetzen? durfte er seine Tchter aus +ihrem geselligen glcklichen Leben reien, und ihnen mit einem Schlage +alle jene Vergngungen entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, +die ihnen fast Bedrfni geworden? + +Einen langen und schweren Kampf kmpfte er mit sich selber, Monate lang, +und er wurde alt in der Zeit; die Augen lagen tief in ihren Hhlen und +seine Zge bekamen etwas Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner +schwersten Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder dabei sich +leicht mit einem vorgeschtzten Unwohlsein beruhigen lieen, dem scharfen +Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die an seinem Herzen heimlich, +aber desto gewaltiger nagte, und ihren dringenden, ngstlichen Bitten +konnte er zuletzt nicht lnger widerstehen. Was sie doch zuletzt htte +erfahren _mssen_, vertraute er ihr an und wenn es die arme Frau auch wie +ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das Ganze doch viel ruhiger +auf als er erwartet, gefrchtet, und damit eine schwere Last von _seinem_ +Herzen -- auf das ihre. Aber leichter trgt sich die getheilte, und bereden +konnten sie jetzt zusammen was zu thun, welchen Weg zu gehen, die +Mglichkeit besprechen die sich hier ihrem Leben bot, die Mglichkeit +errwgen, die ihnen dort eine andere freiere Zukunft ffnete. Und die +Kinder? wohin Mtter und Vater gingen folgten die ja gern; nur die Scene +wechselte fr sie, anderen, vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu +geben, und Kummer und Sorge kannten die ja nicht. + +An demselben Abend waren die beiden ltesten Tchter zu einem kleinen +Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen und hatten schon den +ganzen Tag mit rastlosen Fingern an dem bunten blitzenden Ballstaat +genht. Der Vater begleitete sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, +Kopfschmerz vorschtzend, und die Sorge um das jngste Kind, das mit einem +leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn Uhr +schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager ein, und daneben, das +sorgenschwere Haupt in die Hand gesttzt, sa die Mutter und weinte -- +weinte als ob sie mit dieser Thrnenfluth all den Gram und Kummer +fortwaschen wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizonte ihres +Glcks erschien, und wild und drohend hher und hher stieg. + +Lachend und plaudernd kehrten die Tchter, mit dem Vater spt in der Nacht +zurck; den leichten, sorglosen Herzen lag die Welt noch, ein weiter +Garten offen da, und was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, +mischte noch sein fastgrnes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, mit +Blum' und Blthenpracht. + +Aber der Moment nherte sich auch, wo mit der vorgerckten Jahreszeit all' +die nthigen und mannichfaltigen Vorbereitungen zu einer so langen Reise, +zu einer gnzlichen Umgestaltung aller ihrer Verhltnisse, getroffen +werden _muten_; auch schien die Zeit eine passende fr den Sohn, der, von +der Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturienten-Examen glcklich +bestanden hatte. Der Vater wnschte allerdings da er hier erst studiren, +und ihnen dann spter, wenn er etwas Tchtiges gelernt, vielleicht folgen +sollte, dachte ihm aber doch die freie Wahl zu lassen, und seinem Herzen +keinen Zwang aufzuerlegen. + +Am nchsten Morgen nach dem Balle nun -- es war spt mit Aufstehn geworden +nach der durchschwrmten Nacht und die zweite Tochter Marie eben erst zum +Kaffee herbergekommen, whrend der Sohn das Haus schon, irgend eines +notwendigen Ganges wegen verlassen hatte -- sa der Vater, ungewohnter +Weise nicht in seiner Studirstube an der Arbeit, sondern im Sopha, aus der +langen Pfeife den Dampf in weien Kruelwolken von sich blasend, und die +Mutter am Nhtisch, Kleider ausbessernd fr das Jngste, das in seinem +herbergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe +schaukelte. + +Schon ausgeschlafen, Vterchen? sagte Marie als sie, etwas beschmt, die +Letzte am Kaffeetische Platz genommen, ich habe wohl recht lange heut +geschlafen, aber -- was ist Dir denn? -- und der Mutter auch? -- rief sie +vom Stuhl wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der +Eltern gewahrte -- bist Du bse auf mich, Mtterchen? + +Nein mein Kind, sagte diese und zwang ein Lcheln auf die Lippen, aber +der Vater hat Euch etwas recht Ernstes heute zu sagen, etwas von dem wir +noch nicht wissen, ob es Euch betrben wird oder nicht. + +Der Vater? rief Marie erschreckt, und auch Anna, die lteste Tochter, +sah ngstlich zu ihm auf; Professor Lobenstein aber, so in die Enge und +zum Aeuersten getrieben, hustete, paffte den Dampf ein paar Mal scharf +vor sich hin, die Pfeife ordentlich in Gluth zu bringen, und sagte: + +Ja Kinder, Ihr wit -- wir -- wir haben doch in den letzten Tagen viel ber +Nord-Amerika gesprochen, und auch Manches gelesen -- + +Ja, die herrlichen Romane von Cooper, rief Marie rasch. + +Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt, lchelte Anna. + +Der Doctor Haide ist ein Esel, sagte der Professor, den Rauch wieder ein +paar Mal rasch ausstoend -- wenn der htte in Amerika ordentlich arbeiten +wollen, brauchte er sich jetzt nicht von einer Winkeladvocatur und vom +Schimpfen auf freisinnige Leute zu ernhren; ber dessen Berichte wollen +wir uns keine Sorgen machen, aber -- er schwieg wieder einen Augenblick +und sah, wie furchtsam, nach der Frau hinber. Die jedoch arbeitete um so +emsiger weiter, und selber mit dem Bedrfni dem, was ihn schon so lange +gedrckt, endlich einmal Worte zu geben, fuhr er rasch fort -- ich habe +eine Frage an Euch zu thun, Kinder -- Httet Ihr -- httet Ihr wohl selber +Lust hinber nach -- nach Amerika zu gehn? + +Nach Amerika? rief Anna rasch und auch wohl erschreckt. Marie aber +sprang auf, schlug in die Hnde und rief jubelnd: + +Nach Amerika? oh das wre ja prchtig -- das wre herrlich -- nicht wahr da +sind auch Blle, Vterchen? + +Die Mutter seufzte tief auf und der Vater zog wieder, etwas verlegen an +der Bernsteinspitze. + +Hm -- ich wei nicht, sagte er langsam mit dem Kopf schttelnd -- wo wir +im Anfang hinwollten, werden wohl keine sein. Hngst Du so an Bllen, +Marie? + +Ich tanze gern, lchelte das junge frhliche Mdchen etwas verlegen und +schchtern. + +Nun tanzen wirst Du dort hoffentlich auch knnen, mein Kind, sagte der +Vater freundlich -- wenn auch nicht gerade gleich auf solchen Bllen wie +wir sie hier gewohnt sind -- das Leben ist dort einfacher. + +Oh, und bis zum nchsten Fasching sind wir gewi auch wieder zurck, +rief Marie. + +Der Vater schwieg erst eine kleine Weile, und sagte dann leise aber +entschlossen. + +Wir wollen _ganz_ hinberziehn, mein Kind. + +Auswandern? rief die ltere Schwester fast erschreckt -- das Wort, dessen +Bedeutung sie noch gar nicht vollkommen verstand, traf sie mit einem +unbekannten ahnenden Gefhl von Schmerz und Leid -- und die Mutter? + +Ihr werdet mich doch nicht wollen allein zurcklassen? lchelte die +Frau, sich gewaltsam zwingend ber den Schmerz dieser Stunde. + +Mutter! sagte Anna, warf die Arme um ihren Nacken und kte sie. + +Und Eduard? frug Marie. + +Bleibt, wenn er meinem Rathe folgt, noch hier bis er ausstudirt und etwas +ordentliches gelernt hat, sagte der Vater -- wo nicht, hat er seinen +freien Willen und mag uns begleiten; sowie er zu Hause kommt werde ich mit +ihm sprechen. + +Aber -- rief Marie -- wer verwaltet unterdessen unser Haus? + +Wenn wir einmal fort sind von hier, sagte der Professor ausweichend, +kann uns auch das Haus nichts mehr ntzen, und ich werde es verkaufen. + +_Verkaufen_? -- unser Haus und den Garten? riefen Maria und Anna fast wie +aus einem Munde erschreckt und rasch -- + +Unser freundliches Stbchen, wo wir als Kinder gespielt, setzte Marie +traurig hinzu. + +Und die Bume die Vater alle gepflanzt -- die Laube, die wir uns selbst +gebaut, und die so schn geworden ist in diesem Jahr, sagte Anna leise -- +verlassen wollt' ich es ja gern, wenn wir Alle gehn, aber da fremde +Menschen jetzt darin hausen sollen, die vielleicht gar nicht wissen wie +wir das Alles gehegt und gepflegt und -- ihr Blick fiel in diesem +Augenblick auf der Mutter, halb von ihr abgewandte bleiche Zge, und fate +das Blitzen einer heimlich fallenden Thrne. Anna erschrak und wurde +todtenbleich -- hier lag mehr verborgen als man ihnen gesagt, und +heimlicher Gram, heimliche Sorge nagte an der Eltern Herzen, durfte sie +die vermehren? Sie schwieg einen Augenblick und sah sinnend vor sich +nieder, dann aber Mariens Hand ergreifend sagte sie mit leichterem +vielleicht gezwungen frhlicherem Ton: + +Aber wir wollen nicht klagen; Vater und Mutter wissen am Besten was sie +zu thun haben, und was uns gut ist, und dort baut uns Vater dann ein +anderes Haus, und wir selber pflanzen uns ein neues Grtchen, schner als +das unsere hier. + +Aber ich bliebe hier, wenn ich an Vaters Stelle wre, schmollte Marie, +und was wird Herr Kellmann dazu sagen, wenn er es erfhrt? der ist so +immer gegen Amerika, und hat sich schon oft mit Vater darber gezankt. + +Ach der macht mir die geringste Sorge, sagte Anna in ihrem Schmerz +lchelnd -- wenn man _fr_ Amerika spricht, schimpft er aus Leibeskrften, +und citirt Gott wei was fr Stellen aus Briefen und Zeitungen, alles +Gnstige zu widerlegen, oder wenigstens stark zu bezweifeln, und kommt +Jemand der das Land ordentlich angreift, dann hab' ich auch schon gesehn, +da er den Handschuh wacker dafr aufnimmt, und man wirklich glauben +sollte er bekme so und so viel fr den Kopf, Leute zu bereden +hinberzuziehn. Das ist ein wunderlicher Kauz, der die meiste Zeit selber +nicht wei was er will, und ich glaube, wenn es Jemand recht ordentlich +bei ihm darauf anlegte, knnte man ihn selber, nur durch Widersprechen, +dahin bringen, da er in eigener Person hinberginge. + +Herr Kellmann? lachte Marie -- nun _den_ mcht' ich in Amerika sehn. + +Und wer wei, ob Dir das nicht noch passirt, besttigte der Vater, mit +dem Kopfe nickend. + +Und darf ich mein neues seidenes Kleid mitnehmen, Mama? frug das junge +lebenslustige Mdchen jetzt die Mutter -- hier lassen mcht' ich es doch +nicht gern, und drben im Wald -- + +Liebes Kind, wir werden auch nicht mitten in den Wald gehn, sagte die +Mutter, die indessen heimlich die verrtherische Thrne aus dem Auge +geschttelt, freundlich dabei der zu ihr getretenen Tochter die Stirn +streichend und kssend, denkt es Euch nicht so schlimm. Der Vater wird +uns schon einen Platz aussuchen, wo wir wenigstens unter Menschen und der +Cultur nicht ganz verschlossen sind -- er hielte es ja dort sonst selber +nicht aus. + +Aber warum gehst Du nur, Vterchen? bat Marie -- es ist doch hier so +wunderhbsch in Heilingen, und was wir da drben haben, wissen wir noch +nicht. + +Der Professor, zu dem Anna ngstlich aufsah, hatte seinen Sitz verlassen +und ging, langsam dabei mit dem Kopf nickend, im Zimmer auf und ab; er +fhlte da er, auch den Tchtern gegenber, diesen eine Erklrung seines +Handelns schuldig sei, denn er ri sie aus einem liebgewonnenen Leben +heraus, und fhrte sie vielen, vielen Entbehrungen -- er durfte sich das +nicht leugnen -- entgegen. Von ihrer spteren Haltung dabei hing auch viel +ihrer Aller Glck, ihrer Aller Zufriedenheit ab, und sie waren alt genug +ihrem Urtheil zu vertrauen. Aber es kostete ihm der Entschlu einen +schweren Kampf, und wo ihm die Frau war auf halbem Weg entgegen gekommen, +frchtete er hier gerade, nicht Widerstand zu finden, denn dafr hatten +sie ihn zu lieb, aber Schmerz und Sorge zu wecken in den jungen Herzen, +denen er die ungebetenen Gste gern noch fern gehalten htte so lang als +mglich. Sie standen jedoch an einem wichtigen, bedeutungsvollen Abschnitt +ihres Lebens, und muten _sehen_, wohin der Weg sie fhrte. + +In kurzen, einfachen Worten, frei vom Herzen weg, und zu den Herzen +sprechend, weil sie aus dem Herzen kamen, schilderte er ihnen jetzt die +vernderte Lage in die er, durch das gezwungene Aufgeben seiner +Zeitschrift sowohl, wie durch manche schwere, ihn betroffene Verluste +gekommen. Er verheimlichte ihnen nicht lnger da er einen Theil -- einen +groen Theil seines Vermgens eingebt, und das ihm selber liebe Haus +nicht verkaufen wrde, wenn ihn eben nicht -- die Verhltnisse dazu +_zwngen_. Aber noch blieb ihnen genug nach einem fernen Welttheil +berzusiedeln und dort, mit bescheideneren Bedrfnissen, von Neuem zu +beginnen; Amerika mit seiner ungeheuren Lebenskraft bot ihnen nach allen +Seiten hin die Mglichkeit der Existenz, und das gut und zweckmig +angelegte kleine Capital konnte dort gute Zinsen tragen fr sptere Zeit. +Hatten sie sich dann etwas verdient, waren die Hoffnungen, mit denen sie +hinber gingen, Wahrheit geworden, und sehnte sich ihr Herz noch nach dem +Vaterland, wer hinderte sie dann zurckzukehren zu den theueren Pltzen, +die ihnen ewig lieb bleiben wrden in der Erinnerung? + +Dem Professor war es leichter um die Brust geworden, wie er das Eis nur +erst gebrochen. Selbst berzeugt von dem was er sprach, wurde er warm, +indem er den Gedanken weiter dachte, und seine Phantasie verlor sich +zuletzt sogar, Luftschlsser aufbauend, zauberschnell in weiter Ferne. Der +Professor ging mit dem Menschen durch, und die leicht gertheten Wangen +belebte ein eigenes, inneres Feuer. Und die Mutter sa dabei, still und +schweigend, und ngstlich bemht, in der wiederaufgenommenen Arbeit die +eigene Bewegung zu verbergen. Marie und Anna aber, die des Vaters Hnde +erfat und in den ihren hielten, schmiegten ihre Hupter an seine +Schultern und flsterten; die groen, zu ihm aufgeschlagenen Augen voll +von Thrnen. + +Genug, genug, Vterchen; mal' uns das Alles nicht so prchtig aus -- wohin +Du und Mutter gehn, gehn auch wir, und wr' es mitten hinein in den +wildesten Wald. Kein unzufriedenes Wort sollst Du dabei von uns hren, +keine Klage, kein bses Gesicht weiter -- keine Thrne -- nur die hier sind +uns so ganz von selber ber die Backen gelaufen, weil wir die Mutter +weinen sahen. Mit Lieb und Lust wollen wir das Leben dort beginnen -- + +Und Khe und Hhner schaffen wir uns an! rief Marie, und die Khe +melken wir selber und machen Butter und Kse. + +Wie gut, sagte Anna, da wir im vorigen Jahr auf dem Land bei der Tante +waren, und dort das Alles zum Spa gelernt haben; jetzt wird es uns +ntzen. + +Aber nicht wahr, Mtterchen, nun weinst Du auch nicht mehr, rief Marie, +zur Mutter hinbergleitend, ihren Arm um deren Nacken legend und sie +kssend -- drben wird schon Alles hbsch werden. Und ein paar von den +groen Holzschuhen nehm' ich mir mit, wie sie die Bauern tragen, fr +drauen bei nassem Wetter; hei wie wir da herumpatschen wollen und +schaffen und arbeiten; und pltten thun wir auch selbst, dafr nimmst Du +kein Mdchen mehr. + +Den frohen, leichten Herzen schwammen schon die gewaltigen Umrisse ihrer +ganzen fernen, so ungewissen Zukunft, in den einzelnen bunten +Kleinigkeiten zusammen, die ihrem Geist, von dem Reiz der Neuheit mit +frischem Duft berhaucht, entstiegen. Nur die Lichtpunkte ersphte der, in +die Ferne arglos hinausschauende Blick, und die go er sich lustig +zusammen zu einem Ganzen: was dahinter lag, der dstere Hintergrund, den +das erfahrenere Mutterauge wohl erkannt, diente ihnen nur dazu die +einzelnen Lichter strker hervorzuheben, deutlicher erkennen zu knnen, +und der Himmel spannte sich blau und rein ber ihren glcklichen Huptern. + + + + + + Capitel 8. + + + DER TANZ IM ROTHEN DRACHEN. + + +Drei volle Monat waren nach den, in den vorigen Capiteln betriebenen +Scenen verflossen, und der Diebstahl im Dollingerschen Hause zu Heilingen, +der eine ganze Woche lang fast das alleinige Stadtgesprch gebildet, wurde +kaum noch erwhnt. Der vermuthete Dieb (gegen den aber allerdings +nachtrglich keine weiteren Beweise aufgefunden worden), war zwei Tage +nach dem Sturz von der Brcke an seiner Kopfwunde gestorben; er hatte die +beiden Tage vollkommen bewutlos gelegen, und kein Wort mehr gesprochen. +Das brige Geld aber -- auer den zweihundert und einigen Thalern -- wie die +vermiten Pretiosen, konnten, trotz den genausten Nachforschungen nirgends +aufgefunden werden, und hatte er es wirklich gestohlen, so lie sich jetzt +gar nichts Anderes vermuthen, als da er es irgendwo an einer heimlichen +Stelle vergraben, und auer Sicht gebracht habe. + +Actuar Ledermann hatte dabei ganze Actenste ber den Fall geschrieben -- +man wute wirklich nicht wo er nur den Stoff dazu herbekommen; aber mit +dem blichen Canzleistyl wurde die Sache, der jede grndliche Vorlage +mangelte, nach Mglichkeit gereckt und ausgedehnt und dann, als sich +Nichts weiter darber ergab, mit starkem Bindfaden umschnrt und +etiquettirt, um spter vielleicht, mit Jahreszahl und Nummer versehn, in +irgend ein staubiges Gefach geschoben zu werden, dort ein Jahrhundert +fortzutrumen, -- wie der Verstorbene unter dem Rasen, dicht an der +Kirchhofsmauer, an die er, ohne Sang und Klang damals, noch vor Tag, still +und heimlich hinausgeschafft worden. + +Die Geistlichkeit von Heilingen hatte dem Unglcklichen allerdings sogar +dies ehrliche Begrbni߫ versagen und den Krper der Anatomie +berantworten wollen, da er unter dem Verdacht eines schweren Diebstahls +und gewissermaen als Selbstmrder seinen Tod gefunden -- was kmmerte die +stolzen Geistlichen die duldende Liebe die Christus gelehrt, wo _ihre_ +Autoritt Gefahr leiden konnte gekrnkt zu werden, und sie hatten einmal +verordnet, da solchen Sndern ein christliches Begrbni߫ versagt werden +solle; aber die Polizei war milder und verstndiger als die Diener des +Hchsten und erklrte den Tod des Armen fr keinen Selbstmord, indem er +nur auf der Flucht umgekommen, whrend wahrscheinlich der ihm +beigegebene Wchter die allerdings unschuldige, und nicht zur +Verantwortung zu ziehende direkte Ursache, seines Todes gewesen sei. + +Aber fort -- fort mit den traurigen Bildern; das menschliche Leben hat der +dunklen Seiten so viele, und sie drngen sich uns doch auf, wohin wir +gehen -- nur der Augenblick gehret uns, und nicht muthwillig wollen wir +den Schmerz suchen. So mag mir der Leser denn noch einmal zum rothen +Drachen hinaus folgen -- es dauert vielleicht lange, ehe wir den Platz +wieder zu sehn bekommen -- und dort tnt heut frhliche Musik aus dem +hellerleuchteten Saal des groen Hauses, der mit Guirlanden und Blumen und +jungen Birkenreisern festlich geschmckt ist, inde ihn eine muntere, laut +und lustig durcheinander wogende Schaar belebt. + +Kaum eine Viertelstunde -- oder eine halbe Pfeife Tabak, wie die Bauern +sagten -- vom rothen Drachen entfernt, lag Schlo Hohleck an der anderen +Seite des nmlichen Hgelrckens, das gegenber liegende Thal +berschauend, und der Besitzer desselben, Graf von Hohleck, feierte heute +die Vermhlung seines ltesten Sohnes, der dabei das Gut selber bernahm, +und nun seinen Leuten dem Tag zu Ehren ein Fest in der Schenke gab. Bier +und Branntwein waren dabei zu freier Verfgung gestellt, und ein starkes +Musikchor aus der Stadt engagirt worden, den Leuten die ganze Nacht +hindurch zum Tanze aufzuspielen -- und sie machten Gebrauch davon. + +Aber auch aus Heilingen selber hatten sich eine Menge Gste eingefunden, +dem muntern Leben und Treiben der frhlichen Menschen zuzuschauen, und +whrend der untere Gartensaal einzig und allein den Dienstleuten des +Rittergutes eingerumt war, zu dem den Stadtleuten jedoch gastlich der +Zutritt gestattet wurde, hatten sich die letzteren noch besonders in einem +paar der kleineren Stuben festgesetzt, wo sie ihren Wein oder ihr Bier +tranken oder auch eine Parthie spielten, die Zeit auszufllen. + +Zu den Gsten aus der Stadt gehrten auch mehre unserer alten Bekannten, +unter ihnen Kellmann und Schollfeld, zwei Stammgste des rothen Drachen. +Ledermann war ebenfalls, wenn auch spter, herausgekommen und ihnen hatte +sich noch der Auswanderungsagent Weigel -- sehr zum Aerger Schollfeld's, +der ihn nicht ausstehen konnte -- zugesellt. Weigel blieb aber nicht ruhig +an ihrem Tisch sitzen, sondern ging ab und zu, und hatte sein Glas nur mit +bei ihnen stehn, gewissermaen seinen Platz zu belegen. + +Ledermann war brigens heute sehr still und niedergeschlagen, er hatte +sein einziges Kind vor etwa vierzehn Tagen verloren, und schien sich das +sehr zu Herzen zu nehmen, erklrte auch nur herausgekommen zu sein, sich +ein wenig zu zerstreuen und die Gedanken los zu werden, die ihn in der +Stadt drin peinigten. + +Uebrigens war ihm in den letzten Tagen hchst unerwarteter Weise eine +kleine Erbschaft von 600 Thalern zugefallen und Schollfeld, der heute +Abend auergewhnlich gut aufgerumt schien, versuchte jetzt sein Bestes +des Freundes Grillen oder trbe Gedanken ebenfalls zu verscheuchen. + +Hren Sie einmal Ledermann, begann er, mit dem Deckel seines Kruges +klappend und mehr Bier verlangend -- wie ist denn die Geschichte nun mit +den 600 Thalern? -- beilufig gesagt schneiden Sie ein Gesicht dabei, als +ob Sie Schwefelsure verschluckt htten. + +Er hrt nicht einmal, sagte Kellmann, als der Actuar kein Wort darauf +erwiederte, und die Anrede in der That gar nicht verstanden zu haben +schien -- Ledermann, Mensch, wo sind Sie jetzt mit Ihren Gedanken, im +rothen Drachen bei Heilingen, im Monde, oder in Amerika? + +Wo? sagte der Actuar, rasch und fast verstrt aufschauend, als aber die +Anderen laut lachten, schttelte er mit dem Kopf und seinen Krug nehmend +und trinkend sagte er ruhig und ernst: + +Ach lat mich zufrieden Kinder -- ich habe den Kopf voll, und bin +wahrhaftig heute Abend nicht zum Spaen aufgelegt. + +Nicht zum Spaen aufgelegt? rief aber Schollfeld, Kellmann unter dem +Tisch anstoend -- ist auch gar nicht nthig mein lieber Actuar -- wir +spaen auch hier gar nicht; Jemand aber, der eine Erbschaft macht und +irgendwo Stammgast ist, berkommt dabei die moralische Verpflichtung +irgend etwas zum Besten zu geben, und es bleibt ein Skandal, da man einen +solchen Glckspilz auch nur noch daran erinnern mu. Hat der Henker da +wieder den Schleicher, den Weigel, unterbrach er sich aber pltzlich mit +etwas leiserer Stimme, als er sah wie dieser das Zimmer wieder betrat, und +sich ihrem Tische zuwandte -- ich hatte schon gehofft wir wrden ihn heute +Abend los sein; jetzt ist _mein_ Vergngen beim Teufel. + +Nun meine Herren, noch so frhlich beisammen? sagte Weigel jetzt, indem +er zum Tisch trat -- ah, da sind ja der Herr Actuar auch noch dazu +gekommen -- bitte behalten Sie ja Platz, ich rcke ein klein wenig hier +herber -- so -- das geht vortrefflich. Nun, der Herr Actuar haben in diesen +Tagen ein groes Glck gehabt -- da darf man ja wohl gratuliren. + +Danke herzlich, sagte Ledermann ruhig; es wird brigens so viel von den +paar hundert Thalern gesprochen, als ob's eben so viel Tausende wren. + +Ih nun, das lassen Sie gut sein, sagte aber Weigel, mit dem Kopf +schttelnd -- sechshundert Thaler richtig angewandt knnten in der That in +kurzer Zeit zu so viel Tausenden werden. + +Wenn man sich Schsische Lbau-Zittauer Eisenbahnactien dafr kaufte, +nicht wahr? sagte Schollfeld, das Gesicht halb in den ebengebrachten Krug +versteckt, und einen grimmigen Blick ber den Rand desselben hin, nach dem +Auswanderungsagenten schieend. + +Nun das gerade nicht, schmunzelte Herr Weigel, sein Glas ein wenig +weiter auf den Tisch schiebend, und sich die Hnde reibend, da wte ich +doch noch eine bessere Speculation. + +Und die wre, sagte der Actuar, seitwrts zu ihm aufschauend. + +Wenn Sie sich eine kleine Farm in Amerika kauften. + +Puh! rief Schollfeld, verchtlich den Kopf abwendend, jetzt sein Sie so +gut, kommen Sie uns hier nicht mit Ihrer alten Leier von dem verdammten +Amerika, und verderben Sie uns das Bier nicht -- hier ist auch Nichts zu +verdienen, denn von uns geht doch keiner hinber. + +Lieber Herr Schollfeld, sagte aber Weigel mit groer Ruhe, von _uns_ +wei noch Niemand was er nchstes Jahr thun wird, und verschwren lt +sich so eine Sache nun einmal gar nicht -- Amerika ist immer noch ein +Zufluchtsort. + +Ja fr die Spitzbuben und Hallunken, _da_ haben Sie recht! rief der +Apotheker. + +Ne lieber Herr Weigel! rief aber auch Kellmann jetzt -- mit sechshundert +Thalern kann ich da drben auch Nichts anfangen, und bin dann noch +obendrein bei jedem Schritt und Tritt der Gefahr ausgesetzt, da ich +betrogen und hintergangen werde. Man kann dort ja nicht einmal seinem +eigenen Bruder trauen. + +Aber mein bester Herr Kellmann, das sind die unglckseligen Ideen, die +von -- na, ich will keinen Namen nennen -- ausgesprengt werden, um die Leute +blind zu machen, rein blind. Sie sollen eben nicht sehen was fr +Vortheile, fr fabelhafte Vortheile dort gerade fr sie zu Tage liegen, +und die Gerchte von dort verbten Betrgereien hngen eben als +Vogelscheuche ber den Erbsen. Wir haben _hier_ eben so viele schlechte +Charaktere wie in Amerika. + +Ob eben so _viel_, will ich dahingestellt sein lassen, sagte Schollfeld +mit einem nichts weniger als freundlichen Seitenblick auf den Agenten -- +aber eben so schlechte gewi. + +Nun also, erwiederte Weigel freundlich, ohne auf den Hieb einzugehn, ja +im Gegentheil die Waffe lchelnd umdrehend -- sehn Sie, selber Herr +Schollfeld stimmt mir darin bei. + +Ja aber nicht wie _Sie_ es meinen! rief da Schollfeld entrstet, +keineswegs gesonnen sich die Worte so im Munde verdrehen zu lassen. + +Von den Betrgereien will ich noch gar Nichts sagen, unterbrach ihn aber +Kellmann, ziemlich in Eifer -- was ich dagegen sehr guten Grund habe zu +bezweifeln, sind die billigen Landkufe, sind dabei die Erleichterungen, +welche diese republikanische Regierung allen mglichen Gewerken und +Unternehmungen bietet, die geringen Taxen, der freie Verkehr und Umsatz im +Innern. Das wird Alles ausgemalt mit Gold und Silber und Himmelblau, und +kommt man am Ende hinber, so hat man die ganze nmliche Geschichte wie +bei uns. Da all das nichtsnutzige Gesindel dort ohne _Pa_ herumlaufen +darf, mag wahr sein, das halte _ich_ aber eben fr keinen Fortschritt. + +Verehrtester Herr Kellmann! rief aber Weigel in Eifer -- gegen +_Thatsachen_ knnen wir doch nicht anstreiten; wir wollen doch nicht blind +und taub mit dem Kopf gegen die nchste, und womglich hrteste Wand +rennen? wir sind doch vernnftige Menschen, aber haben Sie nicht alle die +neueren Schriften jetzt gelesen, die -- + +Ach gehn Sie mit Ihren Schmierereien, rief aber Schollfeld, dem das +Gesprch jetzt zur Last wurde, fr einen Thaler den Bogen malen ihnen die +lumpigen Literaten selbst die Hlle himmelblau an, und kleben von oben bis +unten Sterne drber. Lat mir jetzt Euer Geschwtz von Amerika hier, oder +ich stehe, Gott straf mich, auf, und setze mich wo anders hin. + +Nun, jeder darf sich hinsetzen wo es ihn gerade freut, sagte Weigel, +wirklich etwas beleidigt, obgleich er sonst einen ziemlichen Theil +vertragen konnte. + +Ja leider, sagte aber Schollfeld, mit wieder einem Seitenblick auf den +Agenten, der diesen doch jetzt vermochte aufzustehn und sein Bier +auszutrinken. + +Herr Schollfeld, sagte er dabei, Sie sind in der Stadt als ein +Antiamerikaner bekannt, und ich glaube Sie wrden den Leuten eher zu einer +Auswanderung nach Sibirien wie nach Nordamerika rathen. + +Wrde ich auch, sagte Herr Schollfeld trotzig, sich den Hut noch fester +in die Stirn drckend. + +Nun ja, der Geschmack ist verschieden -- Jeder wei am Besten wohin er +gehrt, und dahin treibt ihn der Instinkt, sagte Herr Weigel +achselzuckend, indem er den Tisch verlie, und Kellmann erwischte eben +noch zur rechten Zeit Schollfeld hinten am Frackzipfel, der aufspringen +und dem sich rasch entfernenden Weigel nach wollte. + +Aber so fangen Sie hier doch um Gottes Willen keinen Skandal mit dem +Menschen an! rief Kellmann leise und bittend. + +Instinkt treibt? rief aber Schollfeld jetzt, da er sich hinten, +vielleicht gern, gehalten fhlte -- laut hinter dem Davoneilenden her -- +Sie wird bald 'was anders treiben Sie -- Sie _Seelenverkufer_ Sie! + +Pst! rief aber auch der Actuar jetzt, ihn rasch zu sich niederziehend -- +Sind Sie denn ganz vom Bsen besessen Apotheker? auf das Wort knnte er +Ihnen, wenn er's noch gehrt htte, die schnste Injurienklage an den Hals +hngen. + +S'ist aber wahr -- der Lump! rief Schollfeld rgerlich, den leeren Krug +zum hastigen Trunk aufhebend, und denselben dann laut auf den Tisch +aufstoend -- es ist ein Seelenverkufer, der Kerl, und um einen Thaler +beschwatzt er das Kind, da es die Eltern, den Mann, da er die Frau +verlt -- hier Kellner, noch ein Glas Bier. -- Sprecht mir von Raubmrdern +und Straenrubern, gegen die das Gericht einschreitet und ihnen das +Handwerk legt -- allen Respect vor einem Mann, der es den Leuten geradezu +in's Gesicht wirft, ich _bin_ ein schlechter Kerl -- ich stehle wo ich's +bekommen kann, und wo ich's nicht gutwillig kriege mord' ich auch; aber +solche heimliche Hallunken sind die Upasbume der menschlichen +Gesellschaft -- sie vergiften was sie erreichen knnen, und von auen geben +sie sich das Ansehen eines ehrlichen Baumes und haben grne Bltter und +glatte Rinde. Gegen _die_ Schufte sollte eingeschritten werden, nicht mit +Geldstrafen oder Gefngni, nein mit Knute und Strang -- +Himmeldonnerwetter, wenn ich da 'was in der Regierung zu befehlen htte. + +Sie wrden schne Geschichten anrichten, kann ich mir etwa denken, sagte +der Actuar trocken, s'ist so schon manchmal wie's ist. Lassen Sie doch +jeden seinen Weg gehn in der Welt; der liebe Gott wei wohl wozu's gut +ist. Blutigel sind auch unangenehme Geschpfe in der Naturgeschichte, und +doch verwendet sie die Natur wieder zu hchst ntzlichen und nothwendigen +Zwecken; denken Sie sich so ein Individuum wre ein menschlicher +Blutigel. + +Dann trink' ich aber nicht mein Bier an einem Tisch mit ihm, rief der +Apotheker. + +Bah, das ist wieder zu weit gegangen, sagte Kellmann, viel zu weit +gegangen. 'Was Schlechtes knnen Sie dem Mann berhaupt nicht nachsagen, +denn da er fr Amerika wirbt, ist einesteils sein Geschft, anderntheils +seine Ansicht, und er knnte Ihnen von _seinem_ Standpunkt aus dann +ebensogut wieder vorwerfen, da Sie eine Menge Menschen absichtlich +unglcklich machten, die sie von einer Auswanderung nach jenem Lande +abhielten. + +Unsinn -- baarer Unsinn! rief aber Schollfeld, unwillig den Kopf herber +und hinber werfend -- Jemand unglcklich machen, da man ihm von einer +Auswanderung nach Amerika abrth, wre gerade so, als ob ich als eines +Menschen Mrder betrachtet wrde, den ich abhalte aus dem dritten Stock +auf die Strae zu springen. Aber hol den Lump der Henker, brach er kurz +und rgerlich ab, ich war so guter Laune und jetzt hat er mir den ganzen +Abend verdorben. -- Nach Sibirien auswandern -- brummte er dabei, +whrend er eine neue Cigarre aus der Tasche nahm und sie an dem, auf dem +Tisch stehenden Licht entzndete -- Holzkopf der -- nach Sibirien +auswandern -- ich will nur einmal in den Saal gehn und sehn wie sie's da +treiben, da man auf andere Gedanken kmmt -- ich bin bald wieder da. Und +von seinem Stuhl aufstehend verlie er langsam, und immer noch vor sich +hin murmelnd, das Zimmer. + +Der Actuar stand ebenfalls auf und nahm seinen Hut. + +Na nu? sagte aber Kellmann erstaunt -- was ist das fr eine Wirthschaft +heut Abend? Schollfeld luft fort, Lobsich hat sich gar nicht sehen +lassen, und Sie wollen jetzt auch Fersengeld geben? wo bleibt denn da +heute Abend unser Solo? -- wir knnen doch nicht wie die Pferde zu Bette +gehn, ohne unsere Parthie gespielt zu haben? + +Mir ist heute nicht wie spielen, sagte der Actuar, langsam mit dem Kopfe +schttelnd, ich habe auch Kopfschmerzen, und an der frischen Luft wird +mir wohl besser werden. + +Fort drfen Sie aber noch nicht, sagte Kellmann, indem er sein Bier +austrank, und ebenfalls aufstand, da wollen wir lieber einmal unten im +Garten auf und ab gehn. + +Der Actuar zgerte einen Augenblick, dann aber legte er schweigend seinen +Arm in den Kellmann's und beide Freunde gingen mitsammen die Treppe +hinunter. + +Es war indessen vollkommen dunkel geworden, und die Leute hatten sich, des +feuchten Abends, wie des im Saal wogenden Tanzes wegen, meist alle aus dem +Garten hinaus, und in die mehr geschtzten Rume der Gebude gezogen. Nur +hie und da sa noch irgend ein kosendes Prchen in einer Laube, oder +schwrmte auch wohl auf dem Vorbau des Gartens nach dem, gerade ber dem +nebelgefllten Thal jetzt aufzeigenden Vollmond hinber, dessen groe +rothe Scheibe sich glhend aus den Bergen hob, und das weite, +thaublitzende Thal berschaute. + +Kellmann ging ruhig neben dem still vor sich nieder schauenden Freund her, +bis sie den breiten Fuweg der schnen ebenen Chaussee erreichten, und +eine kleine Strecke derselben hinauf gewandert waren; dann aber blieb er, +diesen zurck haltend, pltzlich stehen, und sagte mit freundlichem, +herzlichen Ton: + +Aber lieber Ledermann, Sie drfen sich Ihrem Schmerz um das Kind nicht so +ganz und rcksichtslos hingeben; lieber Gott ich begreife da es ein +schwerer, recht schwerer Verlust ist, aber Gott hat's gegeben und Gott +hat's genommen, und wer wei ob dem kleinen lieben Wesen dadurch nicht +vielleicht ein recht trbes und schmerzliches Dasein erspart wurde. + +Es ist nicht das Kind, Kellmann, sagte aber der Actuar, leise mit dem +Kopf schttelnd, nicht der Tod meiner kleinen Adele nagt mir jetzt am +Herzen, obgleich der da oben wei wie weh er mir gethan -- nein, ich halte +ihn sogar unter den jetzigen Verhltnissen, in denen ich lebe, fr ein +_Glck_, und es ist _furchtbar_, da ich gezwungen bin so etwas von dem +Tod meines eigenen, einzigen Kindes zu sagen. + +Aber was, um Gottes Willen, haben Sie _denn_? rief Kellmann, verwundert +vor ihm stehen bleibend und ihn anschauend. Irgend etwas _ist_ +vorgefallen, aber was? -- etwa wieder zu Hause der alte wunde Fleck? + +Ledermann nickte finster und schweigend mit dem Kopf. + +Aber was _will_ sie denn eigentlich, rief Kellmann finster die Brauen +zusammen und seinen Arm aus dem des Freundes ziehend, um besser +gesticuliren zu knnen -- Wetter noch einmal, Ledermann, Sie htten da +schon lange ernst und entschieden auftreten sollen, die Sache ist jetzt +schon viel zu weit eingerissen, und die Frau bringt sie, wenn das so fort +geht, wahrhaftig noch unter die Erde. + +Ernst und entschieden auftreten? -- lieber Gott, sthnte der Actuar +kopfschttelnd -- soll ich mir denn die letzte leiseste Hoffnung auf +einen, nur mglichen Hausfrieden selber muthwillig vernichten? -- _Sie_ +haben gut reden; _Ihr_ Geschft ist in Ihrer eignen Wohnung, und Ihre +Erholung gestattet Ihnen, _die_ auerhalb desselben zu suchen, ich aber +sitze und schwitze den ganzen lieben ausgeschlagenen Tag auf dem +verwnschten Bureau, und komme ich dann Abends zu Hause, und sehne mich +nach einer halbstndigen gemthlichen Ruhe, so beginnt die Frau, und wenn +sie eine Ursache aus der Luft greifen sollte, mir das Leben zu einer Hlle +zu machen. Lieber Gott, es fiele mir ja gar nicht ein Abends in ein +Wirthshaus zu gehn, wenn ich Frieden daheim htte; es giebt vielleicht +wenig Menschen in der Welt, die sich so nach einem stillen, huslichen +Leben sehnen, wie gerade ich, und keinen, Kellmann, keinen weiter, dem es +_so_ verbittert, so gnzlich aus dem Fenster geworfen wird, jeden Abend +wieder von Frischem, wie gerade mir. + +Aber was ist denn nur vorgefallen? + +Das Ganze ist mit wenig Worten erzhlt, sagte der Actuar nach kurzer +Ueberlegung entschlossen, und Sie sollen mir rathen, wie ich im Stande +bin mich einem Zustand zu entziehn, der mir unertrglich wird. Sie haben +gehrt da ich von einem entfernten Verwandten sechshundert Thaler geerbt, +die ich in den nchsten Wochen ausgezahlt bekomme. Das Vernnftigste nun +wre das Geld in irgend einem _sichern_ Staatspapier, oder in guten Actien +anzulegen, und mit den wenigen, aber gewissen Zinsen meinen, berdies +rmlichen Gehalt zu erhhen -- ich habe fnfhundert Thaler jhrlich und +wei bei Gott oft nicht wie ich auskommen soll. + +Nun gut, das ist ja Alles so schn und glatt wie es nur sein kann. + +Jawohl, aber meine Frau besteht darauf das Capital ihrem Bruder geben zu +wollen, der ein Geschft hat und mir _fnf_ Procent verspricht. + +Ih nun, wenn es da sicher angelegt ist -- fnf Procent wre aller Ehren +werth. + +Aber es _ist_ nicht sicher angelegt; der Bursche ist ein liederlicher +leichtsinniger Mensch, der schon einmal Bankerott gemacht hat und -- wie +ich ziemlich guten Grund habe zu vermuthen -- an der Grenze eines zweiten +steht. + +Ahem, sagte Kellmann nachdenkend. + +Geb ich _ihm_ das Geld, fuhr der Actuar fort, so ist es ber Jahr und +Tag, so sicher wie dort drben der Mond aufgeht, verloren, und geb' ich es +ihm _nicht_, so wei ich da mir die Frau zu Hause den eignen Heerd zur +Hlle macht. + +Aber Donnerwetter, Ledermann, nehmen Sie mir das nicht bel, sagte +Kellmann stehen bleibend, da wrde ich denn doch einmal einen Trumpf +darauf setzen und mein Recht als Mann und Herr im Hause wahren; nur durch +Ihr ewiges Nachgeben haben Sie die Geschichte schon so, in Grund hinein +verdorben. + +Aber was _soll_ ich thun? rief der Actuar verzweifelnd -- mit Worten +_kann_ ich nicht gegen sie anstreiten, nicht sechs Mnner knnten das; in +Ruhe und Gte ist Nichts anzufangen mit ihr, und schlagen darf und will +ich sie ebenfalls nicht. + +So lassen Sie sich scheiden, zum Wetter noch einmal; rief Kellmann, +lieber doch eine trockne Brodrinde kauen, als mit solchem Drachen das +ganze Leben, eine ganze Existenz, mhselig und qualvoll hinzuschleppen. + +Heute Abend zum ersten Mal, sagte der Actuar seufzend, habe ich ihr +selber damit gedroht; ich habe ihr vorgehalten, da sie sich mit mir nicht +glcklich fhlen _knne_, weil sie fortwhrend, und ohne auch nur einen +einzigen Tag Frieden zu gestatten, zanke, und das Beste sein wrde, wir +lieen uns, einem Leben zu entgehen das auf die Lnge der Zeit doch nicht +durchgefhrt werden knne, gerichtlich scheiden. + +Nun? -- und was hat sie darauf erwiedert? + +Ich bin fortgelaufen, sagte der Actuar, seufzend den Kopf von dem Freund +abwendend, denn sie wurde -- sie wurde so heftig, und betrug sich -- betrug +sich so unvernnftig, da ich mich vor den Nachbarn schmte, und lieber +Hut und Stock nahm, den Frieden wieder, wie schon so oft, auswrts zu +suchen. + +Also sie weigert eine Scheidung? + +Sie schwur sie wolle mir die Augen auskratzen, wenn ich noch einmal ein +derartiges Wort erwhne, zerbrach dann in ihrer Wuth Gott wei was Alles, +und -- ich glaube sie bekam nachher Krmpfe -- ihr altes Leiden. Erst hatte +ich gehofft der Tod des Kindes wrde sie milder stimmen, aber nein, und +wenn mich etwas ber den Verlust des kleinen lieben Wesens trsten knnte, +so ist es gerade der Gedanke, es dem bsen Beispiel, das ihm die eigene +Mutter tglich gab, entrissen zu sehn -- was htte zuletzt aus ihr werden +sollen, als eben eine solche Frau. + +Und so ist gar keine Hoffnung, mit Gte durchzukommen? -- + +Der Actuar schttelte schweigend mit dem Kopf. + +Hm, das ist eine verfluchte Geschichte, sagte Kellmann, da -- da wei +ich wahrhaftig auch nicht was ich rathen soll. Das Geld vertraute ich aber +-- wenn die Sache _so_ steht -- meinem Schwager auch nicht an, soviel ist +sicher -- Sie sind das sich selber und Ihrer eigenen Existenz schuldig. + +Der Actuar seufzte tief auf und die beiden Mnner gingen wieder eine +Zeitlang, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschftigt, nebeneinander +hin. Sie waren inde die Strae ein Stck hinauf- und wieder +zurckgegangen, und blieben jetzt mehre Minuten nicht weit von dem Eingang +des Gartens stehn, den Rcken diesem, und ihr Gesicht dem sich gerade ber +die Berge hebenden Monde zugewandt, als ein junges Mdchen, noch ein Kind +fast und augenscheinlich auf der Wanderung, ganz allein mit einem kleinen +Bndel in der linken Hand, und einem groen dunklen Tuch ber dem rechten +Arm, die Strae herunter kam und ziemlich dicht an ihnen vorberging. So +viel sie im Mondenlicht erkennen konnten, war sie nur rmlich gekleidet, +und auch wohl ermdet von einem vielleicht langen Marsch, denn sie blieb +zweimal stehen und trocknete sich dabei den Schwei von der Stirn. + +Das zweite Mal als sie Halt machte geschah das fast dicht vor den beiden, +hier im Schatten eines Hollunderbusches stehenden Mnnern, die sie im +Anfang gar nicht bemerkte, und sie schien den Tnen zu lauschen die aus +dem etwa zweihundert Schritt davon gelegenen hellerleuchteten Gartenhaus +wild und lustig heraustnten. + +Frhliche Menschen, flsterte sie dabei -- _Glckliche_; wie sie aber +den Kopf dem Lichte zuwandte, fiel ihr Blick auch auf die beiden dunklen +Schatten unter der Mauer, und wie unwillkrlich fuhr sie zurck; dabei +glitt ihr das Bndel aus der Hand und fiel zu Boden. + +Wir thun Dir Nichts, Kind, sagte Kellmann, der die Bewegung gesehen +hatte, gutmthig; wo willst Du denn noch so spt hin? + +Nach Heilingen, antwortete das fremde Mdchen, ihr Bndel wieder +aufnehmend -- ist es noch weit bis dorthin? + +Eine halbe Stunde etwa, wenn Du rstig zugingst; aber Du scheinst mde zu +sein und wirst wohl lnger brauchen. + +Ich komme weit her, sagte die Fremde, aber sie zgerte dabei und es war +als ob sie noch nach irgend etwas fragen oder um etwas bitten wolle, und +sich auch wieder scheue es zu thun. + +Du bist wohl hungrig, Kind? frug sie da Kellmann, dessen gutes Herz ihn +zu helfen drngte, wo das in seinen Krften stand -- sag's gerad' heraus; +und wenn Du kein Geld hast macht das nichts, ich schaffe Dir was. + +Das Mdchen schwieg und drehte seufzend den Kopf ab und Kellmann, dem +richtigen Princip der Gastlichkeit und Menschenliebe treu, nicht viel zu +fragen erst, wo man gern giebt, sagte ihr sich einen Augenblick auf die +kleine Bank am Thor zu setzen, und er werde ihr einen Imbi holen -- sie +knne dann Heilingen bald erreichen. Ohne erst eine Antwort abzuwarten +ging er darauf rasch in's Haus, und das Mdchen zgerte noch einen +Augenblick und folgte dann, augenscheinlich zum Tod ermdet, der +freundlichen Einladung. + +Du kommst weit her? sagte der Actuar endlich, der neben ihr stehn +geblieben, im Anfang aber noch zu sehr mit seinen eigenen Gedanken +beschftigt war, viel auf die Fremde zu achten. + +Von Erfurt. + +Von Erfurt? hm -- das ist eine lange Strecke; zu Fu den ganzen Weg? + +Ja. + +Und willst in Heilingen bleiben? + +Ich wei es noch nicht. + +Hast Du Verwandte dort? + +Einen Bruder. + +Hast Du denn einen Pa bei Dir? + +Ja, sagte das Mdchen und holte, mit einem scheuen Blick auf den Frager, +ihr kleines Bndel vor, das sie Miene machte aufzuknpfen, der Actuar +aber, der die Bewegung verstehen mochte, sagte rasch: + +Nein nein -- la nur sein -- ich will ihn nicht sehen -- ich frug nur +Deinethalben, damit Du hier in der Stadt in keine Verlegenheit kmest. Da +ist auch Freund Kellmann schon mit dem Essen -- nun la Dir's schmecken. + +Da, sagte der kleine Krschner, der schnellen Schrittes mit einem groen +gestrichenen Weibrod und einem hohen Glas Milch herankam und es der +Fremden reichte -- das wird Dir gut thun. + +Das junge Mdchen nahm das Glas mit schchternem Danke an und trank -- erst +ein wenig, dann aber herzhafter -- sie mochte wohl recht durstig gewesen +sein. Wie sie fertig war setzte sie das Glas auf die Bank zurck und nahm +ihr Bndel wieder auf. + +Ich danke Ihnen auch noch viel tausend Mal, sagte sie dabei mit weicher, +ergriffener Stimme -- ich hatte seit heute Morgen Nichts gegessen und war +recht matt geworden. + +Armes Kind, sagte Kellmann mitleidig -- aber hast Du denn schon einen +Platz in der Stadt wo Du bernachtest? + +Ja, sagte die Kleine -- ich denke so -- knnen Sie mir aber wohl noch +sagen ob das Haus des reichen Herrn Dollinger nahe am Thore ist, oder weit +in der Stadt drin? + +Dollinger's Haus? oh nicht so weit in der Stadt drin -- aber was willst +Du dort? + +Mein Bruder ist in Herrn Dollinger's Geschft -- wohnen auch die Leute bei +ihm im Hause? + +Nicht da ich wte, sagte Kellmann. + +Aber man kann es doch dort erfahren wo sie wohnen? + +Gewi -- gleich unten im Haus bei dem Hausmann; frage nur nach der +Poststrae, wenn Du in's Thor kommst. + +Gute Nacht Ihr Herren, und nochmals schnsten Dank -- Gott mag es Ihnen +vergelten. + +Gute Nacht Kind, guten Weg, sagte Kellmann, aber -- wie heit denn Dein +Bruder? + +Franz Loenwerder, sagte das Mdchen und ging langsam die Strae hinab. + +Oh Du mein Gott, rief der Actuar leise und erschreckt vor sich hin, wie +er den Namen hrte -- das ist ja schrecklich. + +Du lieber Gott, das arme Ding mu von dem Schicksal des Bruders gar +Nichts wissen, seufzte auch Kellmann -- und wenn sie das jetzt heute +Abend erfhrt -- o wo wird sie nur die Nacht bleiben? + +Armes, armes Kind, sagte der Actuar, und selbst ohne Geld in der +fremden Stadt. + +Ich geb' ihr etwas, rief Kellmann, rasch entschlossen, und eilte heh! -- +pst! rufend die Strae hinab dem Mdchen nach, das stehen blieb und nach +Bndel und Tuch fhlte als sie den Ruf hrte, weil sie glaubte da sie +vielleicht etwas vergessen htte. + +Liebes Kind, stotterte aber Kellmann verlegen, als er sie eingeholt, +denn er konnte es nicht ber's Herz bringen ihr die Wahrheit zu sagen -- +ich -- ich kenne Deinen Bruder, aber -- er ist jetzt nicht in Heilingen -- +Du -- Du wirst es morgen schon hren, und im Dollingerschen Hause knnen +sie Dir auch heute nichts weiter sagen, es ist sogar sehr die Frage ob der +Mann unten im Haus noch auf ist. Gleich wenn Du in's Thor hineinkommst, +das dritte Haus an der rechten Seite, vor dem die beiden Laternen stecken, +ist ein Gasthaus -- ein gutes anstndiges Haus, wo sie Dir Quartier geben +werden -- da gieb ihnen diese Karte, der Wirth kennt mich, und sage ihm nur +ich htte Dich hingeschickt. + +Aber bester Herr, sagte das Mdchen bestrzt, als ihr der gutmthige +Krschnermeister mit der Karte zwei groe Stcken Geld -- es waren zwei +Thaler -- in die Hand drckte -- ich wei gar nicht -- + +Kellmann lie sie aber gar nicht zu Worte kommen. + +Schon gut -- schon gut, rief er, drehte sich um, und kehrte, das Mdchen +allein auf der Strae zurcklassend, eben so rasch nach dem Platz zurck, +wo der Actuar noch seiner harrend stand. + +Haben Sie es ihr gesagt? frug dieser ihn. + +Nein -- um Gottes Willen nein; das mgen Andere thun, _ich_ knnte es +nicht. + +Aber was soll jetzt aus ihr werden? + +Ich werde mich im Lwen schon nach ihr erkundigen, sagte Kellmann nach +kurzer Ueberlegung -- und wenn es ein ordentliches Mdchen ist, hab ich +Bekannte genug hier in der Stadt, ihr einen Dienst zu verschaffen. Aber +wie ist es denn mit der Loenwerderschen oder Dollingerschen Geschichte +geworden? ist denn noch etwas von dem gestohlenen Gut zu Tage gekommen? -- +man hrt ja keine Sterbenssylbe mehr darber. + +Nichts -- gar nichts weiter, sagte der Actuar; im Gegentheil hat der +arme Teufel von Loenwerder ein kleines Tagebuch gefhrt gehabt, was sich +unter den confiscirten oder mit Beschlag belegten Sachen fand, und worin +er jeden bis dahin eingenommenen Groschen sorgfltig und ordentlich, mit +seinen hchst bescheidenen Ausgaben, aufnotirt. Das aber als gltig +angenommen -- und wir haben nicht die mindeste Ursache es zu bezweifeln da +es fast zwlf Jahre zurckfhrt -- wre im Gegentheil der Beweis geliefert +da die aufgefundenen zweihundert Thaler mhsam und redlich gespartes Geld +gewesen wren. + +Und _kein_ anderer Beweis hat sich gegen ihn herausgestellt? + +Keiner, als da er im Hause war und sich auffllig heimlich daraus +entfernt hat; aber auch selbst das findet nach den Acten eine +wahrscheinliche, wenn auch etwas wunderliche Erklrung. Nach einer Zahl +vieler hchst mittelmiger, oft aber auch ziemlich guter Gedichte, in +denen sich besonders viel Gemth ausspricht, scheint der arme verwachsene +und hlflose Mensch eine Art von -- Liebe -- ich kann es nicht anders +nennen, gegen Dollinger's jngste Tochter und Henkel's Braut in seinem +unschnen Krper mit herumgetragen, und nur, seinen Standpunkt gar wohl +erkennend, den einzelnen, in seinem Pult verschlossenen Blttern +anvertraut zu haben -- doch das unter uns. Diese unglckselige und +hoffnungslose Neigung _kann_ ihn mglicher Weise dazu getrieben haben, dem +jungen Mdchen zu ihrem Geburtstag einen Blumenstock zu schenken -- er hat +sogar ein Gedicht geschrieben was den Punkt berhrt, und worin er sich +glcklich fhlt da sie eine Blume pflegen knnte die er gezogen, wenn sie +auch nicht wte von wem sie kme. Da er unter solchen Umstnden nicht +wollte im Hause gesehen sein lt sich denken, und ein Diebstahl in ihrem +eigenen Zimmer verliert, diesen Thatsachen gegenber, an +Wahrscheinlichkeit, wenn er auch nicht eben zu einer Unmglichkeit +gehrte. Das Menschenherz ist schwach, und Mancher schon ist geringerer +Verfhrung erlegen. + +Hm, hm, hm, sagte Kellmann vor sich hin -- das ist ja eine rechte, +rechte bse Geschichte, und der arme Teufel da am Ende ganz und gar +unschuldig in sein Verderben gesprungen. + +Ja, und eine Sache die mir selber schon manche schlaflose Nacht gemacht +hat, sagte der Actuar, denn ich _kann_ den Gedanken nicht los werden, +welchen Antheil ich selber daran gehabt, den Unglcklichen dahin zu +treiben -- obgleich ich eben nicht mehr als meine Pflicht gethan, und an +einen solchen verzweifelten Schritt nicht denken konnte; war er +unschuldig, htte sich das ja bald in der Untersuchung herausgestellt. + +Ja, und die Untersuchung rechnet Ihr Herrn vom Gericht eben fr Nichts, +sagte Kellmann finster -- aber wenn das sein erspartes, und Gott wei dann +_wie_ mhsam erspartes Geld war, wird es doch auch seinen Erben nicht +knnen vorenthalten werden. + +Die Untersuchung ist noch nicht ganz geschlossen, sagte der Actuar, +aber ich glaube auch nicht da irgend Jemand anders einen Anspruch darauf +wird geltend machen knnen. Diese Schwester erwhnte er berhaupt mehrmals +in seinen Notizen, und hat sie auch dann und wann untersttzt, das Geld +wird ihr spter allerdings zugesprochen werden. + +Und keine Spur ist sonst aufgefunden von dem mglichen, von dem +wirklichen Dieb? + +Keine -- die Dienstboten sind Alle mehrmals scharf inquirirt und auf das +Genauste die ganze Zeit beobachtet, zu sehen ob eins von ihnen vielleicht +grere Ausgaben als gewhnlich mache, oder sich durch irgend etwas +anderes verrathen wrde; ja die Leute haben untereinander fast eben so +scharfe Wacht gehalten, den Verdacht von sich abzuwlzen und den +Schuldigen aufzufinden, aber es hat sich bis jetzt nicht das Mindeste +herausstellen wollen. Mit Geld ist das eine bse Sache, und wenn der Dieb +die Juwelen nur vorsichtig ein paar Jahr an sich hlt, und dann vielleicht +noch gar auer Landes schafft, wer soll ihn da aufspren? allwissend sind +wir auch nicht. + +Das wei Gott, sagte Kellmann -- wie damals mit der Pelzdecke, die mir +Jemand von der Ladenthr weggestohlen, und die ich zwei Jahr spter ganz +gemthlich im Polizeibureau, beim Polizeidirector selber in der Stube +wiederfand; da hrt denn doch Alles auf. Aber mir ist wahrhaftig jetzt +nicht wie spaen zu Muth; der Anblick des armen Mdchens hat einen +wehmthigen Eindruck auf mich gemacht; lieber Himmel, was es doch fr +Elend auf der Welt giebt, und still und bewutlos gehen wir meist daran +vorber. + +Und die Musik da drinnen, whrend das arme Kind dort allein und freundlos +seine Strae geht, und trotzdem jetzt noch glcklich ist gegen den +Augenblick, wo es das Furchtbare doch erfahren _mu_. Mich leidet's heute +nicht lnger hier drauen, Kellmann, brach er kurz ab -- ich mag die +Tanzmusik nicht hren -- wollen wir zurck in die Stadt gehn? es ist +berdies schon spt. + +Ich habe Nichts dagegen, sagte Kellmann, tief aufseufzend -- mir ist +der Abend heute auch verdorben, aber wir wollen Schollfeld erst abrufen. + +Da drin ist wohl Prgelei? sagte da Ledermann, als aus dem Hause wilder +Lrm zu ihnen heraus tnte. + +Das wre frh, meinte Kellmann -- die kommt gewhnlich sonst erst +spter, oder ganz zum Schlu. Es ist doch sonderbar, da ein deutscher +Tanz nie ohne eine Schlgerei enden kann; es scheint auch ungefhr +dasselbe, wie der Cotillon bei einem Ball, nur da sich die jungen Mdchen +nicht dabei betheiligen -- hchstens verheirathete Frauen, ihre Eheherren +zu schtzen, und die Verwirrung womglich noch grer zu machen -- hallo +aber das kommt hier heraus. + +Sie werden Jemanden hinauswerfen, sagte der Actuar ruhig -- lassen Sie +uns an die Seite treten da wir nicht in das Gewirr gerathen. + +Der Actuar hatte allerdings recht, denn unter dem Lachen, Schreien und +Jubeln der Menge, durch das einzelne wilde Flche einer, ihnen keineswegs +unbekannten Stimme tnten, wlzte sich ein Haufen Menschen aus dem Saal +heraus, in der Mitte einen Mann schleppend, der sich mit Hnden und Fen, +wenn auch umsonst, gegen solche unwrdige Behandlung strubte, und in dem +die beiden Freunde sehr zu ihrem Erstaunen den Auswanderungsagenten Weigel +erkannten. + +Lat mich los! schrie dieser dabei, mit den wildesten, ungemessensten +Flchen und Schimpfreden -- lat mich los oder ich rufe die Polizei -- +Hlfe! -- Mrder! Feuer! + +Brll nur mein Herzchen! sagte aber der Verwalter von Hohleck, eine +riesige breitschultrige Gestalt, der den machtlos dagegen Ankmpfenden wie +in einer eisernen Klammer am Kragen gepackt hielt -- Dich knnten wir hier +brauchen, die Leute heimlich beschwatzen da sie Hof und Dienst verlassen +und nach Amerika liefen -- ei Du Hallunke, Du kommst mir einmal wieder vor +die Fuste. + +Halt da -- Hohmeier! lat ihn los! rief aber in diesem Augenblick eine +andere, etwas schwer klingende Stimme, die dem also Gefhrdeten zu Hlfe +zu eilen schien -- der hier -- Homeier -- der hier ist mein Freund -- mein +ganz intimer Freund und den la ich mir -- Homeier, den la ich mir nicht +aus dem Hause werfen. + +Es war Niemand anderes als der Wirth, Lobsich, selber, aber, wie es die +Seeleute nennen, halb im Wind, mit schwerer Zunge und schon etwas +taumelndem Gang, da sich der Zustand in dem er sich befand, nicht gut +verkennen lie. Er versuchte dabei den Agenten zu halten und aus den +Hnden derer die ihn gefat hatten fortzuziehn; Hohmeier, der Verwalter +schob ihn aber mit seinem linken Arm bei Seite, als ob es ein Kind gewesen +wre, und sagte ruhig: + +Geht zu Bett Lobsich, das wr' Euch viel besser heut Abend, aber mischt +Euch nicht in Sachen die Euch Nichts kmmern. + +Nichts kmmern? rief aber der Wirth gereizt, indem er den Verwalter mit +groen stieren Augen ansah -- nichts kmmern _Hoh_meier? -- oh _Hoh_meier +wem gehrt denn dies Haus, heh? -- nichts _kmmern_? wem gehrt denn der +rothe Drache, heh, _Hoh_meier. + +Die Schaar war indessen bis grade dorthin gekommen, wo Kellmann und der +Actuar standen, und wo sie den Agenten zwischen zwei ziemlich nah zusammen +wachsenden Akazienbumen durchtragen wollten als dieser, solche letzte +Gelegenheit vielleicht, benutzend, Arm und Beine auseinanderspreitzte, da +sie ihn nicht hindurchbringen konnten, whrend er von Neuem sein Hlfe! +Mrder! Feuer! aus voller Kehle schrie. + +Wenn ihm nur Jemand die Beine ausheben wollte! sagte Herr Schollfeld, +der ein hchst vergngter Zeuge der Scene war, ohne jedoch seines +schwchlichen Krpers wegen selber Theil daran zu nehmen, jetzt +wohlmeinend. Ein paar Knechte vom Hof, die ihren Verwalter in seinem +Richteramt untersttzten, lieen sich das auch nicht zweimal sagen, und +der wthend, aber vergebens dagegen Antretende fand sich bald in der +vollkommnen Gewalt der Leute, ohne im Stande zu sein auch nur den +geringsten erfolgreichen Widerstand zu leisten. + +Heh _Hoh_meier! schrie aber Lobsich, der sich inde durch die im Garten +stehenden Sthle und Tische wieder nach vorn gedrngt hatte den Mann frei +zu machen, von dem er sich pltzlich einbildete da er sein Freund sei, +lat mir den Menschen los, sag ich Euch _Hoh_meier -- Donnerwetter ich +will doch einmal sehn wer hier in meinem eigenen Hause zu befehlen hat. +Ihr oder ich -- _Hoh_meier. Es ist mir doch was Unbedeutendes! Er schien +sich auch in der That den Leuten entgegenwerfen zu wollen; im Vorspringen, +und das viele Getrnk im Kopf, blieb er aber mit dem einen Fu in einer +dort stehenden Fubank hngen, und schlug der Lnge lang in den Garten, +whrend die Knechte den jetzt wthend um sich schlagenden Agenten rasch +aufgriffen und, lachend ber des Wirthes Unfall, aus der Gartenthr auf +die Strae warfen. + +Ein furchtbarer Lrm entstand jetzt, die Leute jubelten und lachten, und +erzhlten sich untereinander wie der Auswanderungsmann einen +Schaafknecht vom Gut htte bereden wollen als Schaafmeister nach Amerika +auszuwandern, und vom Verwalter dabei erwischt wre, und der +Auswanderungsmann stand vor dem Gartenthor und schimpfte und wthete, +bis einer der Knechte das Schlo wieder aufdrckte und hinaus und ihm nach +wollte, und dann auf der Chaussee stehen blieb und hinter dem davon +Laufenden herfluchte, und Steine hinter ihm drein warf. + +Drinnen im Saal tnte die Musik aber wieder rauschender als vorher, und +die jungen Burschen durften die Zeit hier nicht lnger im Garten +versumen. Whrend die aber wieder in den Saal drngten, Tnzerinnen zu +bekommen, und Schollfeld von Kellmann angerufen war, mit ihnen zurck nach +der Stadt zu gehn, blieb Lobsich noch im Garten, an dessen Thre er trat, +und nach der Strae hinaus mit lauter und immer rgerlicher werdender +Stimme Weigel's Namen schrie. Lobsich war jedenfalls stark angetrunken und +wollte sehr wahrscheinlich den Mann zurck holen, um ihm jetzt ernstlich +beizustehn und den Skandal noch einmal von Neuem zu beginnen. + +Die drei Freunde hielten sich dabei im Schatten eines dichten +Fliederbusches, von dem aufgeregten und jetzt doch nicht +zurechnungsfhigen Menschen nicht bemerkt zu werden, und dann unbelstigt +den Garten zu verlassen, als Lobsich's Frau, die das Toben ihres Mannes +wohl im Haus gehrt, von dort her und den Mittelweg herunter eilte. Ohne +da er sie bemerkte kam sie auch bis dicht an ihn hinan, und hier seinen +Arm ergreifend sagte sie mit leiser, bittender Stimme. + +Lobsich -- Vater -- komm sei vernnftig, la das Schreien und Toben hier +auf der Landstrae und geh zu Bette -- thu _mir's_ zu Liebe Lobsich, wenn +ich Dich darum bitte. + +Lamchfrieden, stammelte aber der Betrunkene mit schwerer Zunge und +suchte sie von sich abzuschtteln -- la mchfrieden sag ich -- Dnrrwttrrr -- +ich wei -- ich wei was ich ss -- se thun habe -- + +Aber Lobsich, ich bitte Dich um Gottes Willen, flsterte die Frau in +Todesangst -- Du machst Dich und mich unglcklich wenn Du Dich nicht +nderst -- was soll daraus werden? -- + +Lamch -- frieden, stammelte aber der Mann, sie unwillig von sich +abschttelnd, aber er verlie den Thorweg wenigstens und taumelte durch +den Garten fort, seitwrts vom Hause ab -- Weibervolk, murmelte und +fluchte er dabei -- Himmelsakkrments Weibervolk -- Unsinn -- violettblaues -- +ist mir doch -- ist mir doch was Unbe -- Unbedeutendes -- und er +verschwand damit hinter den Bschen. Die Frau aber blieb, den Ellbogen auf +das Thrschlo gesttzt und das Gesicht in den Hnden bergend, allein +zurck, richtete sich aber rasch wieder auf, als sie Schritte auf sich +zukommen hrte, und wollte nach dem Haus zurck. + +Frau Lobsich, sagte Kellmann, der es war, gutmthig, ja fast herzlich -- +macht denn das Lobsich jetzt fter da er so ber die Schnur haut? + +Ach Sie sind es Herr Kellmann, sagte die arme Frau beruhigt. Lieber +Gott, ich wei meinem Herzen keinen Rath mehr, wenn er's so fort treibt; +wie soll das enden? + +Aber ich habe Ihren Mann so doch noch in meinem Leben nicht gesehn, +sagte Kellmann verwundert. + +Ach ja, seufzte die Frau -- es ist nicht das erste Mal, aber ich habe +immer gesucht es so viel als mglich zu verheimlichen, es giebt gar solch +ein bses Beispiel fr die Leute. Es sind auch eigentlich nur einige +Wochen erst da er so scharf zu trinken anfngt. Lieber Gott, im Kopf hat +er frher schon manchmal eins gehabt, aber er artete doch nie aus, jetzt +jedoch geht der Spiritus mit ihm durch, und er wird zum Thier. Ach guter +Herr Kellmann, wenn Sie einmal ein recht ernstes aber doch freundliches +Wort mit ihm sprechen wollten; auf Sie hlt er etwas. Mir verspricht er's +wohl auch, setzte sie leiser hinzu, aber -- er vergit es immer nur zu +rasch wieder. + +Ich will mein Mglichstes mit ihm versuchen, Frau Lobsich, sagte +Kellmann freundlich -- aber, setzte er rascher und leiser hinzu -- dort +glaub' ich kommt er schon wieder zurck, es wird besser sein wenn Sie +versuchen ihn heute Abend zu Bett zu bringen; mit einem betrunkenen +Menschen lt sich Nichts anfangen. + +Na? -- Donnrrwttrrr, stammelte aber in diesem Augenblick der Wirth, der +auf seinem Zickzack Cours wieder nach der Thr zurckkam, und die Arme +einstemmend einen, wenn auch vergebenen Versuch machte, mit gespreitzten +Beinen vor seiner Frau stehen zu bleiben -- Dnnrrrwttrrr, wiederholte er, +herber und hinber schwankend -- was's das vor Wirthschaft heh? wo gehrt +die -- gehrt die Frau hin, heh? -- in die Hofthr mit fremden Kerlen +schwatzen heh? -- ist mir doch -- ist mir doch was Unbe -- Unbedeutendes. + +Aber lieber Lobsich, nahm hier der jetzt auch hinzugetretene Schollfeld +das Wort, sein Sie doch vernnftig und gehn Sie -- + +Hallo? rief aber der Wirth, sich halb nach dem Redner herumdrehend, in +dessen hell vom Mond beschienenen Zgen er den Apotheker erkannte -- sin' +wir auch hier? heh? -- haben auch mit g'holfen mein' besten Freund -- mein' +besten Freund mit hinaus zu werfen -- heh? Sie -- Sie Giftmischer Sie -- Sie +-- + +Herr Lobsich! rief Schollfeld rgerlich, Sie sind heute nicht +zurechnungsfhig, sonst -- + +Was? -- Pillendreher will noch -- will noch raiss -- raiss'niren -- heh? +rief aber der gereizte Wirth und that einen Schritt gegen den Mann an. + +Aber Lobsich so bedenke doch um Gottes Willen was Du sprichst, bat ihn +die Frau, seinen Arm ergreifend -- komm mit mir in's Haus -- wir haben +noch so viel zu thun. + +Viel zu thun? -- heh? -- habe keine Zeit mehr heut Abend -- hickup -- +stammelte aber der Mann gegen den Schlucken ankmpfend -- mu noch -- mu +noch -- hickup -- mu noch Wein abziehn und -- und Bier trinken -- hickup -- +und -- und hahahahaha -- da ist -- da ist ja die ganze Gesellschaft -- ja wohl +-- hickup -- ja wohl, komme schon -- komme schon meine Herrn -- Lobsich ist +immer da -- ein verfluchter Kerl, der -- der -- hickup -- der Lobsich -- ist +mir doch -- ist mir doch was Unbedeutendes; -- und in einer unbestimmten +Idee da ihn vom Haus aus Jemand gerufen htte, wobei er seine Umgebung +ganz verga, taumelte er dem Saal wieder zu, wohin ihm die Frau ngstlich +folgte. Sie mute ihn ja zurckhalten, da er so seinen Gsten und Leuten +nicht wieder unter die Augen kam. + + + + + + Capitel 9. + + + RSTUNGEN. + + +Nach New-Orleans! + +Das ausgezeichnet schne, 360 Last groe, schnellsegelnde, kupferfeste +und gekupferte dreimastige Bremer Schiff erster Klasse: + +_Die Haidschnucke_, Capitain _E. Siebelt_, mit vorzglicher Gelegenheit +fr Cajts- und Zwischendecks-Passagiere -- wird am 30. August expedirt. + +Agent dafr, I. G. Weigel, + +Hauptagent des Central-Bureau's fr Norddeutsche Auswanderung in +Heilingen, am Markt Nr. 17. + +Diese Anzeige stand am Morgen nach den, im letzten Capitel beschriebenen +Vorfllen im Heilinger Tageblatt, und Dr. Haide, der Redacteur desselben, +hatte die Gelegenheit nicht unbenutzt wollen vorbergehen lassen, einige +entsetzliche Mordgeschichten und falsche Bankerotte aus den Vereinigten +Staaten, wie zur Entmuthigung aller Auswanderungslustigen, in der +nmlichen Nummer seines Blattes abzudrucken. + +Weigel war wthend darber, und schrieb augenblicklich einen anderen +Artikel dagegen; den nahm Doctor Haide aber nicht auf, weil er, wie er +ganz naiv erklrte, sich dadurch selber blamiren wrde. Uebrigens sei +die Sache auch schon erledigt, indem die Schiffsanzeige _fr_, sein +Artikel aber _gegen_ Amerika und die Auswanderung wre, und er es sich zum +Grundsatz gemacht htte, jeden Artikel nach beiden Seiten hin zu +beleuchten -- wenn Herr Weigel etwas gegen ihn wolle einrcken lassen, sei +er keineswegs verpflichtet es aufzunehmen, und er mge ihn deshalb, wenn +er damit durchzukommen glaube, nur ganz einfach darauf verklagen. + +Die Abfahrt dieses Schiffes war aber fr Heilingen in so fern von nicht +unbedeutender Wichtigkeit, als sich mehre Familien dieser Stadt ernstlich +dahin entschlossen hatten, mit demselben nach Amerika auszuwandern. So +unter Anderen Professor Lobenstein, der sein Haus jetzt verkauft, und der +Stadt berhaupt durch seine beabsichtigte Auswanderung hchst willkommenen +Stoff zu den mannichfaltigsten Vermuthungen und Errterungen geliefert +hatte. Ja mehrere Kaffeegesellschaften der nheren Bekannten Lobenstein's +waren wirklich nur einzig und allein zu dem Zweck gegeben worden, sich +einmal ordentlich ber die Sache aussprechen zu knnen. + +Auch in dem Dollinger'schen Haus hatten die letzten Wochen bedeutende +Vernderungen hervorgebracht, indem der junge Henkel Briefe von Amerika +erhielt, nach denen seine Anwesenheit dort, dringend nothwendig geworden. +Zwei Wechsel trafen zugleich fr ihn ein, wie ziemlich starke Auftrge zu +Ankufen in Tuchen und Seidenwaaren von seinem Haus, welches Geschft er +mit Herrn Dollinger in Gemeinschaft auszufhren gedachte. + +Der alte Herr Dollinger, so schwer es ihm auch wurde, und so lange er sich +dagegen gestrubt, mute da wohl endlich seine Einwilligung zu der +Verbindung Clara's mit dem jungen Amerikanischen Kaufmann, ber dessen +Familie und Geschft in New-Orleans er von einem dortigen Geschftsfreund +das Beste erfahren hatte, geben. Nur wunderte man sich dort, da der junge +Henkel in Nord-Deutschland sei, whrend man ihn auf einer grern Tour +durch Italien und Griechenland vermuthet. Die Leute dort konnten nicht +wissen da der junge Mann auf dem Rhein andere Plne fr seine Zukunft +geschaffen, als er sie frher vielleicht ausgesonnen. + +Am letzten Sonntag war also, ganz in der Stille, die Trauung vollzogen und +Clara, das liebe holde Mdchen, die Frau des jungen reichen Amerikaners -- +wie man ihn berall in der Stadt nannte, geworden. Jetzt galt es nun +freilich noch, in der kurzen Zeit all die nthigen und so mannichfachen +Vorbereitungen zu einer Reise nach Amerika fr die junge Frau zu treffen. +Es sollte aber wirklich auch nicht viel mehr als eine Reise werden, denn +Henkel hatte sich schon selber fest erklrt, seinen knftigen Wohnsitz +keineswegs in Amerika, sondern in Havre nehmen zu wollen, wo berdies, der +bedeutenden Geschftsverbindung wegen mit diesem Hafen, ein Associ des +Hauses sich aufhalten mute. Ein oder zwei Monate gedachten die jungen +Eheleute dann jedes Jahr in dem reizend gelegenen Heilingen zuzubringen, +was ihnen, wie den Eltern, die jetzige Trennung sehr erleichterte, und +sptestens im Mrz oder April schon wieder nach Europa zurckkehren zu +knnen. Die ganze Reise war dadurch wirklich fast nur zu einer etwas +lngeren Vergngungsfahrt geworden. + +Auch fr Clara's Mutter war das Bewutsein, ihr Kind nicht fr immer zu +verlieren und bald wieder in die Arme schlieen zu knnen, eine unendliche +Beruhigung, und selbst hierzu hatte es ihr einen groen Kampf gekostet, +ihre Einwilligung zu geben. Clara selbst aber hing mit ganzem Herzen an +dem theuren Mann, und fhlte sich vollkommen glcklich in einer +Verbindung, die seit sie den Fremden kennen und lieben gelernt, ihr das +Ziel ihrer irdischen Wnsche geschienen. + +Was war ihr die Reise, was die Gefahr und Mhseligkeit derselben? sie wre +ihm in eine Wildni gefolgt, und htte sich doch glcklich an seiner Seite +gefhlt. + +Der junge Henkel wnschte nun die Ueberfahrt in einem Englischen Dampfer +nach New-York, und von da mit einem Amerikanischen Dampfschiff nach +New-Orleans zu bewerkstelligen, Clara frchtete sich aber an Bord eines +Dampfers zu gehn, theils der doppelten Gefahr, theils der unangenehmen +Bewegung derselben in schwerem Wetter wegen, von der sie viel gehrt, und +da es sich jetzt gerade so traf da eine ihr befreundete Familie, +Professor Lobenstein's, ebenfalls nach New-Orleans, und in einem +Segelschiff von Bremen ab auswanderte, bat sie mit diesen reisen zu +drfen. Henkel selber schien nicht recht damit einverstanden, fgte sich +aber doch endlich den Bitten seiner jungen Frau. + +Wenn aber bei Dollinger's im Haus wenig mehr als Wsche und Kleider +herzurichten waren, nur zu einer Reise nicht zu einer Uebersiedlung nach +Amerika, und man diese schon groenteils gepackt und vorausgeschickt +hatte, die letzten Stunden in der Heimath durch kein Aussuchen und Packen +gestrt zu haben, so schien dagegen bei Professor Lobenstein das ganze +Haus von innen nach auen gekehrt zu sein. + +Der Professor nmlich hatte auf keinerlei Weise bewogen werden knnen mit +seinen Sachen eine Auction anzustellen, und nur das Nothwendigste +mitzunehmen, da Fracht und Spesen unterwegs ein wirkliches Capital +auffressen wrden, fr das er sich Alles was er dort brauchte auch an Ort +und Stelle neu anschaffen knnte. Allen die ihm dies riethen zeigte er aus +verschiedenen Schriften die statistisch aufgestellten Arbeitslhne der +verschiedenen Handwerker, wie die Preise der Provisionen, und bewie ihnen +auf das Klarste und Unumstlichste was jedes einzelne Stck Meublen und +Hausgerth in notwendiger Folgerung in Amerika kosten msse. Eben so hatte +er sich mit unendlicher Ausdauer einen Ueberschlag der verschiedenen +Frachtpreise nach New-Orleans, und von da in's Innere gemacht, bis er +endlich zu dem obigen Resultat gekommen, und nun auch augenblicklich eine +Anzahl Tischler in Arbeit setzte, lauter neue Kisten fr seine Sachen +anzufertigen. + +Eine groe Anzahl von diesen war nun schon, gepackt und mit eisernen +Reifen beschlagen, als Fracht vorausgeschickt, eine andere Sendung sollte +heute abgehn, und die letzten dann in den nchsten Tagen befrdert werden, +noch zur rechten Zeit an Ort und Stelle zu sein. Kellmann selbst, dem +Hause eng befreundet, hatte dahin mehrere Auftrge bernommen, und kam +heute Morgen, Bericht ber die Ausfhrung derselben abzustatten. + +Er selber war natrlich mit der ganzen Uebersiedlung gar nicht +einverstanden, hatte aber doch, als er alle Grnde des Professors dafr +gehrt, weit weniger dagegen gesagt, als die Familie im Anfang vermuthet +und auch wohl gefrchtet haben mochte. Der Professor sei eben ein +Professor, meinte er nur, und wo der einmal seinen Kopf aufgesetzt habe, +lie sich auch Nichts mehr abstreiten oder gar dagegen beweisen, man msse +ihn eben sich selber berlassen, und -- es thue ihm nur um die Familie +leid. Nichtsdestoweniger gab er sich jede erdenkliche Mhe ihnen, wo er es +nur irgend vermochte, beizustehn, wobei er den Professor doch von manchem +unberlegten oder unpraktischen Schritt zurckhielt. So kmpfte er, und +zwar glcklicher Weise mit Erfolg, gegen die unglckselige Idee des +Professors an, sich hier, trotz Allem was er darber schon gelesen, von +dem Auswanderungsagenten Land und eine Farm zu kaufen. Er wollte drben +nicht in Gefahr kommen von Amerikanischen und betrgerischen +Landspeculanten hintergangen zu werden, und seine Berechnung smmtlicher +Kosten gleich hier an Ort und Stelle machen knnen, was ihm nicht mglich +sei, wenn er die Contracte nicht in der Tasche habe. + +Kellmann, auf dessen praktisches und gesundes Urtheil er sonst berhaupt +viel gab, machte ihn mit seinen ernstlichen Vorstellungen aber doch +stutzig, und noch eine authentische Person ber die dortigen Verhltnis zu +hren, wandte er sich zuletzt an den jungen Henkel, und bat diesen um +Meinung und Rath ber die, ihm allerdings sehr am Herzen liegende Sache. +Dieser rieth ihm aber ebenfalls auf das Entschiedenste ab, sein Geld hier +an eine solche Speculation wegzuwerfen, denn dieser Weigel scheine ihm, +was er bis jetzt von ihm gesehn, eine keineswegs volles Vertrauen +verdienende Persnlichkeit. Er solle warten bis sie drben wren, dort +habe er Zeit genug (Kellmann hatte ihm dasselbe gesagt), und finde er in +New-Orleans oder Missouri nichts Besseres, so sei er selber vielleicht im +Stande ihm ein kleines reizendes Gut abzutreten, das er einmal auf einem +Jagdzug in's innere Land gekauft, und jetzt noch verpachtet htte. + +Und der Preis? + +Er wrde zufrieden sein. Damit war die Sache fr jetzt abgemacht; +freilich zu Weigels Verdru, der die Farm, wie er sich ausdrckte, nun +noch zur Verfgung behielt. + +Es mochte etwa Morgens um elf sein, als Kellmann Professor Lobensteins +besuchte. Das Haus war am vorigen Tag ffentlich verauctionirt und von +einem reichen Weinhndler in Heilingen erstanden worden, die Familie aber +jetzt in angestrengter Arbeit eifrig bemht das unangenehme Gefhl nicht +allein zu verscheuchen, sondern auch eines vor dem anderen zu verbergen, +zum _ersten_ Male in der _eigenen_ Heimath _fremd_ zu sein; zum ersten +Mal fremd in den Rumen, die ihrer Kindheit Spiele gesehn, und Zeuge +gewesen waren ihrer keimenden Hoffnungen und Trume. + +Der erste schwere Schritt zu einem neuen Leben und Wirken war aber damit +geschehn; freilich auch zu gleicher Zeit die Brcke abgebrochen, die noch +zurck htte fhren knnen in das Vaterland. Das Band war damit zerrissen, +das sie noch an dieses knpfte, und wunderbarer Weise hatte sich jetzt, +wie sie sich gestern noch fast Alle gefrchtet vor dem Gedanken die lieben +theueren Rume zu verlassen, ein fremdes unheimliches Gefhl zwischen sie +und das Haus geworfen, und sie _ersehnten_ den Augenblick wo sie hinaus +konnten, fort, nur fort von hier -- aus den Erinnerungen fort. Und doch +sprachen sie das nicht aus gegen einander; Jedes hielt sich nur allein fr +so thricht und kindisch, mit den qulenden Gedanken; keines wute da das +Gefhl in ihrer Aller inneres Leben verwoben sei, und in des Herzens +feinsten Fasern Wurzel schlug. + +Die Stimmung Aller, so sehr sie sich auch hteten dem was sie dachten +Worte zu geben, war denn auch an dem ganzen Morgen schon eine stille, +gedrckte gewesen, und Kellmann's Erscheinen befreite Alle wie von einer +Last. Unten auf der Treppe wurde der aber schon laut. + +Na, ist das ein Vergngen zu so einer Auswanderungsfamilie in's Haus zu +kommen, rief er, als er sich mit zusammengehaltenen Schen zwischen +einer Reihe Kistendeckel hindurchdrckte, die, mit den Ngeln nach auen, +an der Wand lehnten, und dabei noch ber eine Unzahl Krbe und Schachteln +wegsteigen mute, nur in die Stube zu kommen. + +Nehmen Sie sich in Acht, lieber Kellmann, rief ihm der Professor, der +seine Stimme gehrt hatte, aus der halbgeffneten Thre entgegen (er +konnte diese nicht ganz aufmachen da ebenfalls eine Kiste dahinter stand). +Sie mchten sich da drauen die Kleider zerreien. + +Ist schon bereits geschehen, brummte Kellmann, indem er versuchte einen +Blick nach seinem, allerdings beschdigten Rcktheil zu gewinnen, meine +Gte, wie sieht das bei Ihnen aus -- ah guten Morgen meine Damen -- und +schon so fleiig? -- was um Gottes Willen nhen Sie denn da? -- +Getraidescke fr die nchste Erndte? + +Fehlgeschossen Herr Kellmann, rief ihm aber Marie, die sich gern mit dem +freundlichen Mann neckte, entgegen -- Jacken sind das fr uns, in den +Busch, zwischen den Dornen und Schlingpflanzen, die uns sonst das leichte +Zeug von den Schultern rissen. Warten Sie einen Augenblick, da knnen Sie +uns gleich Ihre Meinung sagen; die meinige ist gerade fertig, und ich will +sie eben anprobiren. Lassen Sie nur, ich werde schon allein fertig, dort +drben mssen wir berdies Alles allein machen -- So -- nun, wie gefalle ich +Ihnen darin? + +Gar nicht, sagte Kellmann mrrisch, ich she Sie weit lieber in einem +leichten Ballkleid und mit Ihrem gewhnlichen heiteren Gesicht, als in der +Sackleinwand und -- hm -- das verdammte Amerika. Geht denn Eduard jetzt +noch mit, oder bleibt er da? wo steckt er denn wieder? -- der ist immer +fort wenn ich komme. + +Der geht mit, lieber Kellmann, rief der Professor, er konnte sich nicht +dazu entschlieen, seine Eltern und Geschwister allein in die Welt ziehn +zu lassen, wo er ihnen vielleicht, zum ersten Mal in seinem Leben, +ntzlich sein wrde, und ist jetzt noch in der Geschwindigkeit zu einem +Tischler gegangen, die paar Wochen wenigstens zu benutzen, und doch eine +Idee von dem Handwerk zu gewinnen; wer wei was wir da Alles zu thun +bekommen. + +Wird auch was recht's davon in den paar Tagen profitiren, brummte +Kellmann -- bei wem ist er denn, bei Leupold? + +Leupold? rief der Professor, der geht ja mit unserem Schiff nach +New-Orleans. + +Der Tischlermeister Leupold wandert auch aus? rief Kellmann laut und +verwundert. + +Hat sein Huschen und seine Werksttte verkauft, und ist jetzt +wahrscheinlich schon unterwegs nach Bremen, bettigte ihm der Professor. + +Na nu ist mir's aber doch ber den Spa, rief Kellmann -- da luft ja +halb Heilingen fort; jetzt freut mich mein Leben; nchstens werden wir uns +unsere Schrnke und Schuhe und Rcke selber machen knnen wenn wir 'was +haben wollen; ich darf nur gleich den meinigen zum Schneider schicken da +er ihn mir noch ausbessert, ehe er auch durchbrennt. S'ist wirklich zum +Verzweifeln. + +Lieber Gott, sagte der Professor -- die Leute verlangen nur Ellbogenraum +sich zu rhren; sie wollen einen Platz haben, der ihren Bedrfnissen +Befriedigung verspricht. + +Da haben Sie gleich den faulen Fleck, rief Kellmann, _Bedrfnisse +befriedigen_, wenn die Leute lebten wie ihre Voreltern gelebt haben, und +nicht mit jedem Jahre auch neue Bedrfnisse kennen lernten und befriedigt +haben wollten, so htten wir alle Platz, und das verwnschte Amerika +knnte sehen wo es Hnde und Fuste bekm zuzupacken und ihm den Boden zu +bestellen. Aber ich will mich nicht lnger rgern -- lat sie laufen, +nachher wird's hier erst recht gemthlich -- apropos -- Ihren Freund Weigel +haben sie gestern Abend im rothen Drachen hinausgeworfen -- er wollte +Dienstleute, ich glaube einen Schfer, verlocken nach seinem gerhmten +Amerika auszuwandern. + +Meinen _Freund_? sagte der Professor achselzuckend, ich habe mit Herrn +Weigel nie in einer solchen Beziehung gestanden, aber ich achte ihn als +einen Mann der ein gutes Herz mit einer tchtigen Portion gesundem +Menschenverstand verbindet, und besonders schtzenswerthe statistische +Kenntnisse Amerika's besitzt. + +Bah! sagte Kellmann, den Kopf auf die Seite werfend, und mit den Fingern +schnalzend, so viel fr seine statistischen Kenntnisse; _unverschmt_ ist +er, das halt' ich fr seine Hauptforce, und er wirft Ihnen da mit der +grten Kaltbltigkeit eine Masse Zahlen in den Bart, denen man nicht +gleich widersprechen kann, weil sich der Gegenbeweis eben nicht fhren +lt. Wenn das Alles wahr ist was er ber Amerika sagt, wre _er_ der +grte Esel wenn er nicht selber hinberginge. + +Seine Verhltnisse gestatten es ihm nicht, wie er mich oft versichert +hat, vertheidigte ihn aber der Professor. + +Ja, das kennen wir schon, sagte Kellmann, und wenn mich irgend etwas +glauben machen knnte da _er_ wirklich Amerika kennt, so wre es der +Umstand da er selber nicht hinbergeht. + +Im rothen Drachen war ja wohl gestern ein kleines Fest? frug die Frau +Professorin dazwischen, die das unerquickliche Gesprch abzubrechen +wnschte. + +Ja, fr die Dienstleute von Hohleck, sagte Kellmann, und Schollfeld und +ich waren ebenfalls hinausgegangen um den Spa mit anzusehn. + +Und ihr Freund, der lange Actuar war nicht dabei? lachte Marie. + +Er kam spter nach, sagte Kellmann -- der arme Teufel ist jetzt auch +immer verdrielich und niederschlagen. + +Er hat sein Kind verloren, sagte Anna mitleidig. + +Ja, und zu Hause fhlt er sich auch wohl nicht so recht wohl und +behaglich. + +Wir haben davon gehrt, sagte die Professorin -- seine Frau soll +eigenwillig und heftig sein, und ihm oft gar unangenehme Scenen bereiten. + +Seine Frau ist -- fuhr Kellmann auf, aber er unterbrach sich selber +wieder, und trommelte eine Weile mit den Fingern auf dem vor ihm stehenden +Tisch. + +Was ist Ihnen denn nur heute, Herr Kellmann? sagte aber Marie, jetzt zu +ihm tretend und seinen Arm berhrend -- Sie schneiden ja heut Morgen ein +so bitterbses Gesicht, wie ich noch fast in meinem Leben nicht an Ihnen +gesehn. Ist Ihnen irgend etwas Aergerliches begegnet? -- oder -- Sie sind +doch nicht bse mit uns? + +Bse mit Ihnen? lieber Gott Mariechen, sagte Kellmann herzlich ihre Hand +ergreifend -- ich mte bse mit Ihnen sein da Sie fortgehn und mich hier +allein zurcklassen; sonst wt' ich wahrhaftig nicht weshalb. + +So kommen Sie mit, lachte Marie, indem sie neckisch zu ihm aufsah. + +Kellmann seufzte tief auf, sagte dann aber kopfschttelnd, und mit der +Hand ber seine Stirn streichend, als ob er sich daraus all' die trben +Gedanken verscheuchen wollte -- + +Nach Amerika? -- ja, weiter fehlte mir gar Nichts; aber heute sind es +wirklich andere Sachen die mir im Kopf herumgehn. + +Ist etwas vorgefallen, und knnen wir Ihnen helfen, lieber Herr +Kellmann? sagte Anna freundlich. + +Ach Gott nein, sagte der kleine Mann seufzend -- es ist ein Stck von +dem allgemeinen Elend, das ber den ganzen Erdball hinspielt, und das uns +gewhnlich mit einem unheimlichen Gefhl, auch nicht auer dem Bereich +desselben zu liegen, durchschauert, wenn wir ihm einmal auf unserem +Lebenspfad begegnen. Sie sahen mich als ich vor dritthalb Stunden etwa +drben aus dem Lwen kam? + +Ja, Sie grten ja herauf, sagte die Professorin -- + +Nun gut; ich war dort, einem armen Mdchen nachzufragen, das wir gestern +Abend spt auf der Strae trafen, und das ich dorthin schickte +Nachtquartier zu suchen -- Und nun erzhlte ihnen Kellmann mit kurzen +Worten das gestrige Zusammentreffen mit des unglcklichen Loenwerder +Schwester, und ebenfalls da sich schon jetzt herauszustellen scheine, wie +der arme Teufel von Loenwerder unschuldig in Verdacht gerathen sei. Nur +in reiner Verzweiflung mochte er sich den Tod gegeben haben, als man ihm +das letzte, einzige das er auf der Welt hatte -- seinen ehrlichen Namen -- +nehmen wollte -- oder eigentlich schon von Gerichts wegen genommen hatte. +Unsere wackeren Polizeigesetze halten ja nun einmal jeden Menschen fr +einen Spitzbuben, bis er nicht durch Atteste gengend dargethan hat da -- +gegen ihn noch nichts Gravirendes bekannt geworden. + +Und was geschieht jetzt mit dem armen, armen Mdchen? frugen fast +gleichzeitig Marie und Anna -- lieber Gott, hier in der fremden Stadt, +allein, ohne Mittel, ohne Freunde, wie entsetzlich mte es da sein, wenn +sie vielleicht aus rohem Munde zuerst die furchtbare Nachricht vernhme. + +Gestern Abend, sagte Herr Kellmann etwas verlegen, kam uns das Ganze +wirklich so schnell und berraschend, da wir nicht die geringste Zeit zum +Ueberlegen behielten; wir -- wir gaben ihr nur ein paar Groschen und +schickten sie in den Lwen, hier gegenber, um da zu bernachten, damit +sie nicht in der Stadt nach ihrem Bruder frge, und die entsetzliche +Geschichte gleich in der ersten Viertelstunde erfhre; heute Morgen wollte +ich dann selber herkommen und sehn was sich thun lie -- + +Und jetzt? -- wei sie was geschehen ist? frug die Professorin mitleidig +die Hnde faltend -- Herr Kellmann zuckte mit den Achseln und sagte: + +Sie ist fort -- + +Fort? -- wohin? riefen die Frauen. + +Kein Mensch konnte mir darber Auskunft geben, gestern Abend war sie +richtig dort angekommen, und ihres drftigen Aussehns wegen in die +Gesindestube gewiesen, und dort mu sie unglckseliger Weise ihren Namen +genannt, vielleicht nach ihrem Bruder gefragt und das Schrecklichste +gleich erfahren haben, denn sie war, selbst ihr Bndel im Stich lassend, +hinausgelaufen in Nacht und Nebel und -- und nicht wieder zurckgekehrt. + +Du lieber Gott, sagte Anna, wenn sie sich nur kein Leides gethan. + +Ich bin gleich zu Ledermann und dann auf die Polizei gegangen, diese +aufmerksam zu machen, sagte Kellmann etwas kleinlaut, werde auch selber +noch mein mglichstes thun das arme Ding wieder aufzufinden, aber -- ich +wei wahrhaftig nicht wo man die eigentlich suchen soll, denn sie kennt ja +keinen einzigen Menschen in der Stadt. + +Und in ihres Bruders frherem Logis? -- + +Hat sie Niemand gesehn -- ich war dort. + +Waren Sie auch schon -- auf dem Kirchhof? frug ihn Marie jetzt leise und +schchtern. + +Wahrhaftig, daran hatte ich gar nicht gedacht, sagte Kellmann rasch +seinen Stuhl zurckschiebend, die Mglichkeit ist da, und ich will keinen +Augenblick mehr versumen -- vielleicht ist es jetzt noch nicht zu spt. + +Und Sie sagen uns Antwort? + +Sowie ich etwas Bestimmtes ber sie wei -- aber -- aber was dann mit ihr +anfangen? -- hier in der Stadt _kann_ sie nicht bleiben, sagte Kellmann, +die Thrklinke schon in der Hand, und berhaupt scheint mir ihr +schwchlicher Krper zu grober Handarbeit gar nicht geeignet. + +Vielleicht bietet sich da fr die Schwester in demselben Haus ein +Ausweg, rief Anna pltzlich, das fr den Bruder ja so viel gut zu +machen, wenn er wirklich unschuldig gelitten. Gestern Nachmittag noch +klagte mir Clara ihr Leid, da ihre Kammerjungfer, mit der sie sehr +zufrieden ist, und die ihr bis dahin fest versprochen mitzugehn, pltzlich +anderes Sinnes geworden wre, und sich jetzt weigerte Heilingen zu +verlassen. Clara ist so seelensgut, sie wrde gewi Alles thun was nur in +ihren Krften steht, das arme Kind den herben Verlust vergessen zu machen. + +Aber wird sich das Mdchen selber dazu eignen? sagte Kellmann. + +Weshalb nicht, rief aber auch jetzt Marie -- bringen Sie die Arme nur +hierher, sobald Sie sie finden, und nehmen sie Henkel's nicht mit, findet +Papa gewi einen Ausweg. + +Ja, Papa einen Ausweg, sagte aber der Professor -- ich kann _Niemanden_ +mehr mitnehmen Kinder, so viel solltet Ihr eigentlich jetzt schon wissen, +denn wir sind Leute genug. + +Ach wenn sie berhaupt gehen will, rief Kellmann, die Passage bringen +wir hier schon zusammen, und wenn sich Frulein Anna bei Frau Henkel fr +sie verwenden will, wr' es ein Glck fr das arme Mdchen, den hiesigen +fr sie so trben Verhltnissen so rasch wieder entrissen zu werden. Doch +jetzt leben Sie wohl -- ich habe da nicht lange Zeit mehr zu verlieren, und +hoffe Ihnen bald gnstige Nachrichten bringen zu knnen. + + * * * * * + +Actuar Ledermann hatte die Nacht einen heftigen Fieberanfall bekommen, und +sich am anderen Morgen auf seinem Bureau entschuldigen lassen. Erst um +zehn Uhr etwa fhlte er sich etwas besser, und beschlo ein wenig an die +frische Luft zu gehn, in dem sonnigen Morgen drauen die trben qulenden +Gedanken zu verscheuchen. + +Er ging auf den Kirchhof, das Grab seines kleinen Lieblings zu besuchen, +und nahm einen Monatsrosenstock mit hinaus, ihn darauf zu pflanzen. + +Der Weg der zu dem Grab, zwischen den andern Hgeln hin, fhrte, lief eine +kurze Strecke die Mauer entlang, die bis jetzt leer gelassen und von +Unkraut berwuchert lag. Nur ein einziger, unter Gras und Unkraut fast +versteckter flacher Hgel war dort aufgeworfen, ber dem kein Kreuz den +Namen des Hingeschiedenen kndete, keine Blume ein sorgendes Herz +verrieth, das dem Entschlafenen die stille Thrne nachgeweint. Und dort? -- +in das hohe, feuchte Gras geschmiegt, lag eine schlanke Mdchengestalt, +Stirn und Antlitz in dem wuchernden Unkraut verborgen, auf dem die vollen +aufgelsten Locken ruhten. + +Lieber Gott, sagte der Actuar, mit dem Blumenstock im Arm neben ihr +stehen bleibend, leise vor sich hin -- es ist doch noch viel, viel Elend +in der Welt, und wenn Einem recht traurig und weh um's Herz ist, sollte +man eigentlich immer hinaus auf den Kirchhof gehn. Da haben die Leute +nicht ihre glatten unbewegten Alltagsgesichter vor, sondern geben sich wie +sie sind, und wenn es auch eben kein Trost sein sollte andere Menschen +unglcklich zu sehn, ist es doch jedenfalls einer, zu wissen da man es +nicht allein ist. Und sich langsam abwendend schritt er dem Grabe seines +Kindes zu, setzte den Blumentopf auf den kleinen Hgel, und sich selber +dann auf eine dicht daneben liegende Marmorplatte, die das Grab eines +anderen Menschen deckte. + +Dort blieb er lange, das Gesicht mit den Hnden bedeckt, und regungslos in +seiner Stellung verharrend, seinen schmerzlichen Gedanken berlassen, bis +die Sonne hher und hher stieg, und ein stechender Kopfschmerz ihn mahnte +den, den heien Strahlen vollkommen ausgesetzten Platz zu verlassen, wenn +er sich nicht noch krnker machen wollte als er schon war. Er stand auf, +und sah sich nach dem Todtengrber um, diesen zu bitten den Blumenstock +fr ihn einzusetzen, und fand ihn auch, nicht weit von dort entfernt, mit +einem neuen Grabe beschftigt. Langsam seinen Spaten schulternd ging er +mit ihm zu dem verlangten Platz, und dort sein Handwerksgerth neben sich +in den Boden stoend und sich den Schwei von der glhenden Stirne +trocknend, sagte er freundlich: + +Warmer Tag heute, Herr Actuar -- sehn Sie einmal was fr ein schnes +Stckchen; das mssen wir aber ordentlich angieen, sonst vertrocknet es +gleich in der lockeren Erde -- werde Ihnen das schon besorgen. + +Bitte sein Sie so gut, sagte Ledermann, und der Mann nahm den Stock auf, +drehte ihn um und schlug mit der flachen Hand unter den Topf, diesen +locker und los zu bekommen. + +Kennen Sie das junge Mdchen was da auf dem Grabe an der Mauer liegt? +frug der Actuar jetzt, als sein Blick wieder zufllig dort hinber +streifte -- dort drben meine ich. + +Ja ich wei schon, sagte der Mann, ohne den Kopf zu wenden und mit +seiner Arbeit beschftigt -- nein -- sie sa vor dem Kirchhofsgitter schon +heut' Morgen wie ich ffnete, um drei Uhr frh, und mu die ganze Nacht da +zugebracht haben. Wie ich das Thor aufmachte frug sie mich nur nach dem +Grabe eines armen Teufels, den wir hier vor kurzer Zeit zu Ruh gebracht, +und ist seit der Zeit nicht von dort weggegangen. Das kommt manchmal vor. + +Und wer liegt da begraben? frug Ledermann schnell, dem ein pltzlicher +Gedanke an das Mdchen von gestern Abend aufstieg. + + [Capitel 9] + +Dort an der Mauer? sagte der Todtengrber, ih Sie wissen ja, der kleine +bucklige Bursche, der von der Brcke gesprungen war, und sich den Kopf +aufgeschlagen hatte. + +Dem Actuar fuhr es mit einem eisigen Stich durchs Herz, aber er erwiederte +Nichts, gab dem Mann eine Kleinigkeit fr seine Dienstleistung, und ging +dann langsam, als ihn dieser wieder verlassen und seine frhere Arbeit +aufgenommen hatte, zu Loenwerder's Grab, wo die Trauernde noch still und +regungslos in ihrem Jammer lag. Nur das krampfhafte Zittern des Krpers +verrieth das darin wohnende Leben. + +Liebes Kind, sagte Ledermann leise -- das Mdchen bewegte sich nicht -- +mein liebes Kind, sagte er lauter, und berhrte ihre Schulter mit seinem +Finger. Langsam hob sie das bleiche, Thrnen berstrmte Gesicht zu ihm +empor, und als sie den fremden Mann neben sich sah, richtete sie sich +verwirrt, beschmt aus ihrer Stellung auf. + +Aber wie knnen Sie sich hier so Stunden lang in das feuchte Gras +werfen, sagte der Actuar mit freundlichem Vorwurf -- Sie _mssen_ ja +krank werden -- nicht wahr, Sie kennen mich nicht mehr? + +Das Mdchen sah ihn gro und verwundert an, und schttelte dann langsam +mit dem Kopf. + +Ich sprach gestern Abend mit Ihnen, drauen vor dem Thor, wo die Musik in +dem Hause war, sagte Ledermann -- hatten Sie gar keine Ahnung von dem +Schicksal des Bruders? + +Keine, sagte die Arme leise, das Kpfchen wieder senkend. + +Und wo erfuhren Sie seinen Tod? + +Das Mdchen schauderte zusammen als sie des Augenblicks gedachte, und +sagte endlich, wie mit angstgepreter Stimme: + +Gestern Abend in dem Haus -- die Leute in der Gesindestube frugen mich wo +ich herkme und um meinen Namen, und dann -- + +Und dann? frug der Actuar mitleidig, als das Mdchen schwieg und ihr +Antlitz wieder zitternd in den Hnden barg -- + +Dann sagten sie -- setzte das Mdchen, am ganzen Krper bebend hinzu -- +da Einer der so hie -- und sie spotteten dabei ber sein Gebrechen -- da +Einer -- hier -- sie vermochte nicht auszureden und warf sich, +rcksichtslos um den neben ihr stehenden Fremden, und in krampfhafter +Verzweiflung, wieder auf das Grab nieder, das sie laut schluchzend mit +ihren Armen umschlang, und den Bruder rief, sie zu sich zu nehmen in sein +stilles, khles Bett. + +Nur mit Mhe, und herzlichen trstenden Worten die er zu ihr sprach, +brachte sie Ledermann, als sich ihr Schmerz in etwas ausgetobt, endlich +dahin sich etwas zu fassen und zu beruhigen, und ihm mehr ber ihr +Schicksal und sich selber zu sagen. Sie hie Hedwig, war funfzehn Jahr alt +und hatte bis zu ihrem elften Jahr bei einer entfernten armen Verwandten +zugebracht, nach deren Tode sie, ein Kind noch, bei fremden Leuten in +Dienst gehen mute. Ihre Elteren schienen in besseren Verhltnissen gelebt +zu haben, waren aber frh gestorben, und die Waisen sich selber berlassen +gewesen. Ihr um zehn Jahr lterer Bruder Franz hatte sie dabei noch immer +dann und wann von dem Wenigen was er selber verdiente, untersttzt, auch +ihr vor einigen Monaten -- und das mute etwa grade vor seinem Tode gewesen +sein, geschrieben, da er recht sparsam lebe, und bald so viel zusammen zu +haben hoffe mit ihr, der Schwester, nach Amerika auszuwandern, dort +vielleicht ein kleines Geschft oder irgend etwas Anderes anzufangen, +ehrlich durch die Welt zu kommen. Hedwigs Aussage nach mute er ihr auch +die genaue Summe geschrieben haben, die er besa, und als sie der Actuar +dringend bat ihm den Brief zu verschaffen, wenn es irgend mglich sei, da +der vielleicht vollstndig des Bruders Unschuld beweisen konnte, zog sie +aus ihrer Brust das zusammengefaltete und dort bis jetzt sorgfltig +bewahrte Papier. Es war das letzte was sie von ihm bekommen, und als Monat +nach Monat verstrich und keine neue Nachricht kam, wurde sie zuletzt +unruhig und schrieb nach Heilingen. Aber auch hierauf erhielt sie keine +Antwort und nicht mehr im Stande die Ungewiheit zu ertragen, verlie sie +ihren Dienst und machte sich, mit wenigen Groschen in der Tasche auf, den +weiten Weg zu Fu zurckzulegen. Und ihr Empfang? groer Gott mit Spott +und Hohn wurde ihr Bruder -- das einzige noch auf der Welt ihr gehrende +Wesen, das sie mehr als sich selber liebte -- eines furchtbaren Verbrechens +beschuldigt, in Folge dessen er sich selber das Leben genommen, und +schlimmer, gewaltiger noch als die Nachricht seines Todes, erschtterte +das reine, vertrauensvolle Herz des armen Kindes der erste _Zweifel_ an +den Hingeschiedenen, der doch heimlich und qulend in ihr aufsteigen +wollte, wie sie sich auch dagegen strubte; und doch _wute_ sie da er +keiner schlechten Handlung fhig gewesen sei. + +Whrend dieser Erzhlung flossen ihre Thrnen strker; wenn aber der +Schmerz auch nur mehr aufgerttelt wurde durch das Wiederdurchleben +vergangener Scenen, fand sie doch auch einen Trost in dem Aussprechen ber +ihren Verlust. Der Actuar berlas inde flchtig den Brief, und den Datum +mit dem verbten Raub vergleichend sah er, ob Loenwerder nun schuldig +oder unschuldig sei, da jenes, bei ihm gefundene Geld sein Eigenthum +gewesen sein msse, schon vor dem Tag, und nicht mehr als Beweis gegen ihn +gelten konnte. + +So traf sie Kellmann, der von Lobensteins direct auf den Gottesacker +gegangen war, das arme Mdchen aufzusuchen. Mit wenigen Worten sagte ihm +der Actuar was er von ihr erfahren, und der gutmthige kleine Krschner +setzte sich neben sie auf das Grab des Bruders, nahm ihre Hand in die +seine, und diese streichelnd sprach er ihr Muth und Hoffnung in das arme +gequlte Herz. Sie sollte nicht mehr allein stehn auf der Welt; er wollte +Freunde fr sie finden, die sich ihrer annhmen, und sie Beide, Ledermann +und er, wollten nicht ruhen noch rasten bis ihres Bruders Name wieder +ehrlich gemacht sei vor der ganzen Stadt; lieber Gott, sie konnten ja +nichts mehr fr den Armen thun. + +Hedwig weinte, whrend er sprach; aber die Thrnen lsten ihren Schmerz -- +die freundlichen Worte; oh die ersten wieder seit so langer, langer Zeit +die sie gehrt, thaten ihr wohl und bannten die Verzweiflung aus ihrem +Herzen, der sie ja sonst wohl rettungslos verfallen wre. Wieviel Segen +hat schon ein herzliches Wort gebracht, dem Unglcklichen gespendet -- wie +viele Thrnen getrocknet, wie manches Weh, wenn es nicht heilen konnte, +doch gelindert. + +Kellmann erbot sich dann auch, sie zu seiner Mutter zu fhren, wo sie +wenigstens bleiben konnte bis sich etwas Weiteres entschieden. Von Amerika +sagte er ihr noch Nichts, die nchsten Tage mochten sie erst mit dem +Gedanken vertrauter machen, wenn sie hrte wie viel Leute die auch ihren +Bruder gekannt und liebe Freunde von ihm selber seien, gerade jetzt nach +dort hinbergingen. + +Hedwig zgerte noch schchtern das gtige Erbieten anzunehmen, aber die +Worte klangen so herzlich, so gut gemeint, sie stand so hlflos, so allein +in der weiten Welt, der fremde Mann erschien ihr wie ein Engel des Himmels +in ihrem Schmerz, und unter Thrnen nahm sie seine Hand und dankte ihm, +und sagte da sie ihm folgen wrde, wohin er sie fhre. + + + + + + Capitel 10. + + + DIE BEIDEN FAMILIEN. + + +Der Leser mu mir noch, ehe wir unsere weitere Wanderung zusammen +antreten, zu zwei Stellen folgen, in Lage und Art freilich gar sehr +verschieden. Den Characteren, die wir dort finden, begegnen wir spter +wieder, theils auf der Reise, theils in ihrem neugewhlten Vaterland. + +An der Hannverschen Grenze lag ein kleines Dorf, Waldenhayn mit Namen, +und fast versteckt zwischen mchtigen Linden und Fruchtbumen, die es von +allen Seiten dicht umgaben. + +Mitten im Dorf auf einem flachen, aber die ganze Ortschaft berschauenden +Hgel stand die Kirche, und daneben das kleine freundliche Pfarrhaus, das +sein Dach ber gute und glckliche Menschen gespannt hatte, Jahrzehnte +lang -- und heute? -- Guter Gott welche Vernderung in dem Haus -- der Vater, +Pastor Donner, still und ernst in seinem Sorgenstuhl, und, ganz gegen +seine sonstige Gewohnheit, ordentlich eingehllt in eine dichte +Tabakswolke, die Mutter mit verweinten Augen, und doch immer geschftig +herber- und hinbergehend, bald aus der in jene Stube, Kleinigkeiten zu +besorgen die sie immer wieder verga, ehe sie nur das andere Zimmer +betreten. + +Der lteste Sohn Georg ging zu Schiff -- ging nach Amerika ber das weite, +wilde Weltmeer nach einem anderen Vaterland, dort fr den unruhigen Geist +das Glck zu suchen, das er hier nicht fand, und wann wrden sie ihn -- ja +wrden sie ihn je wieder sehen? Oh es ist ein groer Schmerz fr ein +Elternherz ein Kind in der Blthe der Jahre zu verlieren -- wie viel Sorge, +wie viel schlaflose Nchte hat es gemacht, bis es wuchs und gedieh; welche +Hoffnungen knpften sich an das junge Wesen, und blhten und reisten mit +ihm; wie treulich wurde da nicht jeder Schritt bewacht, den noch +unsicheren Fu vor Sto und Fall zu schtzen, wie ngstlich jedem bsen +Eindruck gewehrt, der Herz oder Geist htte vergiften knnen. Und nun das +Alles preiszugeben der Welt, ihren Verfhrungen, ihren Gefahren fr Geist +und Krper, das Alles preiszugeben und hinausgeworfen zu sehn auf die +strmischen Wogen des Lebens -- sich selbst berlassen, und der eigenen, +vielleicht doch noch zu schwachen Kraft. Wie viele heimliche Thrnen +werden da geweint, wie trb und traurig liegt da oft des Kindes Zukunft +vor dem ahnenden Blick des Vaters und der Mutter -- Krankheit wird es +erfassen und halten, und keine liebende Hand in der Nhe sein, es zu +pflegen und ihm den Schwei von der heien, glhenden Stirn zu trocknen, +die Verfhrung ihre falschen, goldblinkenden Netze nach ihm auswerfen, und +keine treu warnende Stimme ihm zur Seite stehn -- Noth und Mangel +vielleicht in bitterem Weh auf ihm lasten, und Niemand da sein, der ihm +Hlfe bringt, und den Unglcklichen trstet und untersttzt -- Mutter und +Vater sind fern, fern von dem Geliebten, seine Klage dringt nicht herber +zu ihnen -- ihr Trost und Hlfswort nicht zurck zu ihm. + +Und ein solcher Abschied dann -- der Tod pocht nicht viel hrter an des +Glckes Thor, und das Bewutsein den Geschiedenen still und geschtzt in +khler Erde zu wissen, auf der die treu gepflegten Blumen keimen, ist oft +noch weniger bitter als dieser _freiwillige_ Tod -- der Fortgang ber's +Meer, in eine fremde, ungekannte Welt -- vielleicht so ohne Wiederkehr wie +jener, und ohne jedes beruhigende Gefhl der Sicherheit. Der Scheidende +ist da noch immer besser, weit besser daran als die Zurckbleibenden; ihm +liegt die Welt jetzt frei und offen da, jede Stunde drauen, jede Meile +Wegs bringt ihm Neues, Unbekanntes, und wehrt dem Blick nur an dem einen +Schmerz zu haften. Er hat auch zu sorgen, fr sich und sein Gepck, seine +ganze Zukunft ist ihm in der einen Stunde in die eigene Hand gegeben -- ein +ungewohnt Geschft bis jetzt -- und fremde Landschaft, fremde Scenen +wechseln so rasch an ihm vorber, da jedes Bild einen Theil des alten +Schmerzes fortfhrt mit sich. Selbst der Gedanke an die Verlassenen hat +nicht das Herbe, Bittere fr ihn, als es fr diese hat, wenn sie sein +gedenken, und sich mit Vermuthungen qulen mssen wie es jetzt ihm geht, +was er thut, was er treibt, wo er jetzt gerade weilt. _Er wei_ in welchem +Kreis die Seinen sich bewegen, kennt in jeder Tageszeit ihre kleinen, +huslichen Beschftigungen, ihr gleichmiges Wirken und Schaffen, und +sein Herz, das immer noch daheim bei ihnen weilt, wahrt seinen festen +Anhaltspunkt an sie sich unverkmmert fort, bis das Bild, von anderen +dicht umdrngt in weiter immer weiterer Ferne langsam erbleicht, und nur +noch auf dem Hintergrund des Herzens wie schlummernd liegt, in seinen +Trumen ihn zu segnen, oder dereinst, wenn die Welt ihn kalt und rauh von +sich stt, und er allein und freundlos sich da fhlt, wieder aufzuglhen +in aller Frische und Wrme, ein Trost und Hoffnungsziel, dem armen, +einsamen Wanderer. + +Georg war ein junger lebenskrftiger Mann von dreiundzwanzig Jahren, mit +dunkelbraunen, vollen, ihm frei und ungescheitelt ber die offene +sonngebrunte Stirn fallenden Locken, schwarzen klaren Augen und freien, +gutmthigen Zgen, die selbst eine breite dunkle Narbe ber den rechten +Backen, der Autograph eines Commilitonen, nicht entstellen konnte. Er +hatte Medicin studirt, und sich das Doctordiplom mit eifrigem Flei +verdient, aber die Aussichten fr einen jungen Arzt waren trb und +unversprechend in seiner Heimath, und jene fremde Welt, von der er schon +so viel gelesen und gehrt, zog ihn mchtig an. Sein Vater konnte und +wollte dieses Streben nicht bei ihm unterdrcken; auch er erkannte die +Banden, die hier einen krftigen Geist so leicht in Fesseln legen, und +ehrte den Wunsch und Drang der jungen, nach Thaten drstenden Brust, einen +Schauplatz zu finden fr ihr Sehnen und Wirken, wenn er sich auch wohl +selber dann wieder mit einem schweren Seufzer gestehen mute, wie manche +Hoffnung der Sohn zertrmmert, wie manche Erwartung er getuscht sehn +wrde in dem neuen Leben, das jetzt ihm freilich im vollen Glanz einer +aufsteigenden Sonne, von warmem Lichte bergossen winkte. Und wie wrde +sich sein Herz dann bewhren, das jetzt jubelnd zu den blinkenden, +Flaggen- und Blumengeschmckten Wllen seiner eigenen Luftschlsser +aufschaute, wenn es an deren Trmmern stand? oh da er dann htte an +seiner Seite stehen und ihn leiten drfen den dunklen, schmalen Pfad zum +wahren Glck -- retten ihn dann vor sich selbst und seinem bittern Weh. + +Aber die Zeit lag noch fern, und weshalb sich selbst den Augenblick +vergiften, wo sich der Himmel noch blau und rein ber seiner Zukunft +spannte. Georg selbst sah auch Nichts von solchen trben Bildern, die das +Herz des Vaters oft mit banger Trauer fllten; ihm war das Thor jetzt weit +und frei geffnet, das hinaus in's Leben fhrte und an dessen Schwelle er +stand, und nur die Trennung noch vom Vaterhaus lag schwer auf seiner +Seele. + +Am schwersten freilich trug gerade diese Stunde, weil ganz und ungetheilt, +das Mutterherz. Nicht dachte _sie_ in diesem Augenblick an die Hoffnungen +die dem Sohne in der Welt drauen blhen, an die Gefahren die ihm drohen +knnten; sie sah und fhlte Nichts, als die Trennung von dem _Kind_, den +Abschied von dem Heigeliebten, und wie im Traum hatte sie schon den +ganzen Tag ihren gewhnlichen Beschftigungen obgelegen, wie im Traum noch +einmal seine Lieblingsgerichte bereitet fr den Abend, den letzten Abend, +den er im Vaterhause zubringen wrde. + +Lieber Gott, die Speisen kamen Abends auf den Tisch und wurden gegessen, +aber Keiner von allen, die jngsten Geschwister ausgenommen, schmeckten +was sie aen; man sprach dabei ber das an dem Nachmittag fortgesandte +Gepck, ber das Wetter, ber die Uhr die zehn Minuten vorging -- Georg +trug Gre auf an alle seine Bekannte, die sich noch seiner erinnerten. Er +hatte an dem Tag noch selber ein paar Briefe schreiben wollen, war aber +nicht dazu gekommen -- Vieles Andere war ihm ebenfalls entfallen; so wollte +er einen Absenker von dem Rosenstock mitnehmen der vor der Mutter Fenster +blhte, und jetzt blieb ihm doch keine Zeit mehr; aber whrend dem Essen +stand die Schwester -- unvermit -- vom Tische auf, ging hinaus, grub einen +Absenker aus, und brachte ihn in einem kleinen Topf dem Bruder, dem sich +die Thrnen in die Augen zwangen -- er mochte kmpfen dagegen wie er wollte +als er die Gabe sah. Die Mutter stand vom Tisch auf und ging hinaus -- +nicht ein Wort wurde gesprochen so lange sie fort war. Die Speisen +verschwanden dabei von den Tellern und der Wein wurde getrunken, und die +Mutter kam zurck und nahm ihren Platz wieder ein, lautlos wie vorher; man +konnte den langsamen Gang der Uhr hren, an der Wand. + +Da endlich fllte der Vater sein Glas bis zum Rand, hob es mit der Linken +und ergriff mit der anderen Georgs Hand. Er hatte etwas zum Herzen des +Sohnes, zum Trost vielleicht der Mutter sprechen wollen, aber die Worte +schwollen ihm im Mund -- er brachte eine volle Minute keine Sylbe ber die +Lippen, und sich gewaltsam fassend und zusammennehmend sagte er endlich. + +Auf ein frohes Wiedersehn Georg! + +Georg prete des Vaters Hand und trank ihm und der Mutter und den +Geschwistern zu -- und die Mutter hob ihr Glas und stie mit dem Sohne an, +aber mehr vermochte das Mutterherz nicht -- zu lange hatte sie jetzt +gewaltsam gegen ihr eigenes Gefhl an- und den Schmerz niedergekmpft, den +Anderen zu Liebe; lnger war sie es nicht im Stande, und das Glas mit +zitternder Hand niedersetzend, da der Wein ber und auf das Tischtuch +flo, stand sie auf, warf die Arme krampfhaft um den Hals des Sohnes und +schluchzte laut. + +Mutter, liebe -- liebe Mutter -- + +Mein Kind -- mein Kind, jammerte die Frau und der Schmerz wuchs an +Heftigkeit, wie der mchtig aber still dahinwlzende Strom schumend +hinausdonnert in's Freie, wo er sich erst einmal Bahn gebrochen aus seinem +Bett -- mein liebes -- liebes Kind. + +Aber Mutter, bat der Pastor, fasse Dich; es ist ja doch nur vielleicht +auf kurze Zeit, bis sich der Junge drauen die Hrner abgelaufen, und ihm +die Heimath anders aussieht wie jetzt; dann kommt er wieder. + +Liebe -- liebe Mutter, flsterte Georg, sie innig an sich schlieend, und +auch ihm erstickten unaufhaltsam flieende Thrnen die Stimme. + +Die Geschwister weinten auch, und der Vater war aufgestanden und ein paar +Mal mit raschen Schritten, wie um den Anderen Zeit zu geben, eigentlich +aber nur seine eigene Fassung wiederzugewinnen, im Zimmer auf- und +abgegangen. Jetzt blieb er neben der Gattin und dem Sohne stehn, und sie +langsam trennend sagte er mit sanfter, bittender Stimme: + +Kommt Kinder, kommt -- macht Euch selber nicht das Herz zum Brechen +schwer; das ist unrecht. Ueberdies qult Ihr Euch zweimal, und habt morgen +frh noch dasselbe Leid. Es ist eine lange Trennung, aber keine Trennung +fr's Leben -- wir sind Alle noch rstig und gesund, und werden uns, will +es Gott, hoffentlich Alle einmal froh und freudig in die Arme schlieen +knnen. + +Aber Du schreibst bald, Georg, flsterte die Mutter sich mit aller Kraft +zusammennehmend -- Du lt uns nie lange ohne Nachricht, nicht wahr Du +versprichst mir das? + +Gewi Mutter, gewi -- so oft ich kann -- aber ngstigt Euch nur auch +nicht, wenn einmal ein Brief lnger ausbleibt als gewhnlich; der Weg ist +weit, und ein Brief kann leicht verloren gehn. + +So, und jetzt zu Bett Kinder, mahnte der Vater -- es ist spt geworden, +sehr spt, und Du mut frh wieder heraus Georg, die Post nicht zu +versumen; sind Deine Koffer hinbergeschafft? + +Es ist Alles drben, sagte die Mutter, sich aus den Armen des Sohnes +windend und ihre Thrnen trocknend, nur sein Ueberrock ist noch hier, den +er anzieht, und die kleine Tasche in die er morgen frh sein Nacht- und +Waschzeug steckt -- doch das besorg' ich schon selber und werd' es nicht +vergessen. Ich bin frh auf, Georg, Du mut ja doch auch noch Deinen +Kaffee haben bevor Du gehst. + +Gute Nacht Mutter! rief Georg, umschlang sie noch einmal und kte ihr +Lippen, Augen und Stirn, gute Nacht meine gute, gute Mutter -- gute +Nacht! + +Gute Nacht mein Georg, mein Kind, sagte die arme Frau unter Thrnen -- +schlaf nur jetzt recht aus -- zum letzten Mal unter unserem Dach -- fr die +nchste Zeit wenigstens, setzte sie rasch hinzu -- denn mit Gottes +Beistand hoff' ich soll es nicht das letzte Mal gewesen sein -- und -- und +meinen Segen nimm mit Dir, wohin Du gehst -- wo Du weilst -- was Du thust -- +-- er ruhe auf Dir, mein gutes, gutes Kind! + +Georg beugte sich unwillkrlich dem ernsten heiligen Wort -- seine ganze +Gestalt zitterte dabei, und die Mutter mute sich endlich mit freundlicher +Gewalt aus seinen Armen winden; dann aber floh sie auch hastigen Schrittes +aus dem Zimmer, sich in dem eigenen Kmmerlein recht, recht herzlich +auszuweinen. + +Die Geschwister sagten dem Bruder jetzt gute Nacht -- die lteste Schwester +Louise hing lange an seinem Hals, aber ri sich los, den Schmerz der +Eltern nicht zu vermehren. Die Jngeren kten ihn auf die Wangen und +sagten. Gute Nacht Georg -- weck' uns nicht zu spt morgen frh, da wir +Dir auch noch knnen glckliche Reise wnschen. + +Georg kte sie herzlich und bat sie brav und gut zu sein, und Vater und +Mutter Freude -- viel Freude zu machen, denn er selber ginge nun fort, und +die Eltern wrden deshalb recht traurig sein. + +Gute Nacht Georg, sagte der Vater, als die Kinder zu Bett gegangen +waren, und Alle, auer ihm, das Zimmer verlassen hatten, habe keine Angst +da Du die Post morgen verschlfst, ich wache schon auf zur rechten Zeit -- +gute Nacht mein Sohn. Komm komm, fange nicht selber wieder an, und mach' +mir das Herz nicht schwer vor der Zeit -- aber Georg, um Gottes Willen was +ist Dir? -- sei ein Mann -- Nun ja -- so lange die Frauen da waren hat es mir +auch das Herz fast abgedrckt -- man darf es sie ja nicht so merken lassen, +sonst zerflieen sie ganz -- + +Mein lieber -- lieber Vater, schluchzte Georg an seinem Halse. + +Mein guter, guter Sohn! flsterte der Pastor, des Kindes Stirne kssend, +und jetzt selber im Innersten ergriffen und bewegt -- bleibe brav -- bleibe +so brav wie Du bist -- ich kann Dir nichts Besseres wnschen -- trage Gott +im Herzen und Dich selbst, und -- Deiner alten Eltern Bild, deren Segen Dir +folgt auf allen Deinen Wegen. + +Mein Vater! + +So mein Sohn -- jetzt gute Nacht und bete zu Deinem Schpfer da er uns +morgen in der schweren Abschiedsstunde strkt -- gute Nacht mein Georg -- +gute Nacht. + +Leise machte er sich los aus des Sohnes Arm, kte ihn noch einmal, und +verlie dann rasch das Zimmer. Georg aber blieb lange, lange Minuten auf +dem Stuhle sitzen wo ihn der Vater verlassen, das Gesicht in seinen Hnden +bergend. + +Gute Nacht, flsterte er endlich leise und kaum hrbar, als Alles schon +im Hause still war, und zu Ruhe gegangen -- gute Nacht Ihr Lieben und Gott +schtze Euch und mich; aber nicht mglich wre es mir, die furchtbare +Trennungsstunde noch einmal durchzuleben, nicht mcht' ich Dir Vater, Dir +Mutter den Schmerz, das bittere Weh zum zweiten Mal bereiten. Es ist +vorbei -- Alles vorbei, und wenig Stunden noch und die Heimath selber +liegt, ein schner Traum nur, in der Erinnerung Tiefe. So denn an's Werk +setzte er fest und entschlossen hinzu, und ob das Herz darber brechen +will, durch ist mein Wahlspruch jetzt, durch Nacht zum Licht -- _durch_. + +Und mit den, fest zwischen den zusammengebissenen Zhnen gemurmelten +Worten stand er auf, und sein Schlafzimmer ffnend warf er den Rock ab, +und badete Gesicht und Nacken in khlem Wasser. Dann, als er die Glut die +ihn durchtobte, in etwas gelscht, packte er den kleinen Nachtsack mit +den, sorglich fr ihn auf dem Waschtisch ausgebreiteten Gegenstnden, zog +sich wieder an, knpfte den Ueberrock bis an den Hals zu, denn die Nacht +war kalt, und nach der gehabten Aufregung frstelten ihn die Glieder, und +im Zimmer umherschauend fiel sein Blick auf den, unter dem Spiegel +stehenden, fr ihn eingeschlagenen Rosenstock. Rasch barg er ihn in der +weiten Tasche seines Ueberrocks, ffnete dann das Fenster, das in den +Garten hinaus und von da ber den Kirchhof fhrte, der Landstrae zu, und +schwang sich auf das Fensterbret. + +Ade! flsterte er, ade Du trautes, liebes Haus, ade -- Gott halte seine +Hand ber Dir, und schtze die lieben Menschen -- ade, ade. Und von dem +Bret hinunterspringend in den Garten, durcheilte er diesen, schwang sich +leicht ber die Kirchhofmauer, die er als Kind unzhlige Male +berklettert, und schritt dann langsam und traurig seinen einsam dunklen +Weg entlang. + + * * * * * + +Noch hob sich die Sonne nicht ber den stlichen Fichtenhang, und der +dmmernde Tag grte eben die schlummernde Erde, als sich die Mutter von +ihrem Lager hob, das Mdchen weckte da es Feuer in der Kche mache, den +Kaffee bereit zu halten, und dann den Mann rief, dem Sohn ade zu sagen. +Pastor Donner hatte aber auch nur in unruhigem Schlaf gelegen -- die +Gedanken und Sorgen lieen ihn nicht ruhen, und wie aus bsem Traum fuhr +er oft empor, mit einem wehen Stich durch's Herz zurckzusinken, _da_ es +eben kein Traum sei, der ihn bedrcke und qule. + +Er stand auf, zog sich an, und whrend die Mutter drauen in der Kche +sorgte, dem Sohn ein rasches Frhstck zu bereiten, ging der Vater hin ihn +zu wecken. + +Georg! sagte er, als er die Thr ffnete, die in des Sohnes Kammer +fhrte -- Georg -- es wird Zeit -- heiliger Gott! unterbrach er sich aber +rasch und erschreckt als er das Gemach leer, das Bett unberhrt und keine +Spur mehr von dem Kinde fand -- heiliger, erbarmender Gott -- er ist fort. +Und wie er sich auch vorgenommen sich zu fassen, und der Frau, dem Kind, +die letzten Augenblicke nicht mehr zu erschweren, durch seine eigene +Schwche, traf ihn _der_ Schlag doch zu hart -- zu unerwartet. In diesem +Augenblick betrat die Mutter das Zimmer, und sah wie der Vater sich +erschttert von der Thr abwandte und das Antlitz in den Hnden barg. + +Mein Sohn -- mein Kind! stammelte sie, in der sie durchzuckenden Ahnung +des Geschehenen, der sie wie ein jher Schlag in's Herz traf -- wo ist -- +wo ist Georg? Aber der Vater zog sie an die Brust, und ihre Stirn, auf +die seine heien Thrnen fielen, kssend, flsterte er leise: + +Er hat uns den Schmerz des Abschiedes sparen wollen, Louise -- er ist +fort. + +_Fort!_ hauchte die Frau -- kaum noch den Sinn der Worte fassend, und +brach bewutlos in den Armen des Gatten zusammen. + + * * * * * + +Auerhalb Waldenhayn, wenn auch noch zu demselben Kirchspiel gehrend, und +dicht an der Grenze des bis hier herniederlaufenden Holzes, stand ein +kleines, schon halb verfallenes Haus, das frher einmal von einem +Forstgehlfen des herrschaftlichen Waldes bewohnt, dann aber nicht mehr +benutzt, und um ein Billiges, eigentlich auf Abbruch, verkauft worden war. +Der Mann der es kaufte aber, hatte frher ebenfalls in herrschaftlichen +Diensten gestanden, und dann das Metzger-Handwerk getrieben; sein wildes, +liederliches Leben jedoch lie sein Geschft nicht frdern, noch vorwrts +gehn. Er schien auch keine rechte Lust an einer regelmigen Arbeit zu +haben, heirathete dann, als er Alles was er sein nannte, durchgebracht, +ein Mdchen vom herrschaftlichen Gut, das den Dienst dort verlassen mute +und von dem Herrn selber eine Abstandssumme bekam, und kaufte mit dem +Gelde eben das kleine unwohnliche Gebude, das er nichtsdestoweniger +bezog, und sich jetzt angeblich vom Viehhandel ernhrte. Er zog im Lande +herber und hinber, und kaufte und verkaufte Vieh, mehr aber noch trieb +er sich in den Wirthshusern herum, wo er trank und spielte, und den +schlimmsten Ruf im Lande hatte, den ein Mensch haben kann, ohne da jedoch +die Polizei den mindesten Halt an ihn bekommen konnte. Aber die +ordentlichen Leute zogen sich von ihm zurck; Niemand mochte Umgang mit +ihm oder seinem Weibe haben, und auf dem Weg zu seinem Hause wuchs Gras; +wen dort nicht ein besonderes Geschft hinfhrte, betrat ihn nimmer. + +So hatte der schwarze Steffen, wie er im Lande seines dunklen Haares und +Aussehns wegen hie, sechs Jahre in dem kleinen Haus gewohnt, und sein +Weib ihm, auer dem Kind das sie in die Ehe gebracht, noch drei andere +geboren. In der letzten Zeit tauchte dabei ein anderer Verdacht gegen ihn +auf, da er sich nmlich unter der Hand mit Wilddieben einlasse, und -- +wenn auch vielleicht nicht selber wildere, doch das Gestohlene kaufe und +unterbringe. + +Sicher ist, da nicht alles Fleisch was er zu Markte fhrte, im Stall +gemstet worden, und als nun auch gar einmal, und vor nicht so sehr langer +Zeit, ein Forstgehlfe, in Ausbung seiner Pflicht, erschossen worden, +wurde die Aufsicht ber den schwarzen Steffen, dem man aber doch nicht zu +Kragen konnte, so scharf gefhrt, und diesem zuletzt so unertrglich, da +er schon ein paar Mal mit den Forstbeamten im Wirthshaus Streit gesucht +und gefunden, und ihm zuletzt von der Herrschaft, nach lange gebter +Nachsicht, der Befehl zugestellt wurde, das auf den Abbruch damals +erstandene Haus, von dem brigens kein Ziegel mehr sein gehrte, zu rumen +und abzutragen oder stehen zu lassen, wie es ihm gefalle, seinen Wohnsitz +aber, wider ihn eingelaufener Klagen wegen, wo anders zu nehmen, vom +ersten des nchsten Monats an. + +Steffen war heute einmal ausnahmsweise den ganzen Tag zu Haus geblieben, +und hatte manche von seinen Sachen, wobei ihm die Frau half, +zusammengetragen und in einen Ranzen gepackt. Die Kinder aber achteten +wenig darauf; sie waren gewohnt da der Vater oft fortging, und dann immer +mehre, manchmal sogar acht Tage fortblieb, ehe sie ihn wieder zu sehen +bekamen, oder auch nur von ihm hrten. Fragen, wohin er ging, durften sie +nie. + +Der Vater war brigens mrrischer heute als je -- er sprach fast kein Wort, +trank aber oft aus der Flasche, die zum ersten Mal offen in der Stube +stand, und woraus sich auch die Mutter zweimal einschenkte, und sich dann +zu dem jngsten Kinde setzte, und es auf den Schoos nahm und kte. + +Weshalb weinst Du, Mama? sagte das zweite Kind, ein Junge von etwas ber +fnf Jahren -- hat Dir Jemand 'was zu Leid gethan? + +Weil sie eine Nrrin ist, brummte der Vater, der die Frage gehrt hatte, +und jetzt einen rgerlichen Blick nach der Frau scho -- ich dchte wir +htten nun genug darber geschwatzt und die Sache wr' abgemacht. + +Nun ja -- ich sage ja auch kein Wort mehr dagegen, erwiederte die Frau -- +es -- es berkommt Einen nur noch manchmal so -- nachher wird's besser und +-- es geht ja doch nun einmal nicht anders, setzte sie still und schwer +vor sich hinseufzend, hinzu. + +Steffen entgegnete nichts weiter darauf, schickte aber bald darauf, unter +irgend einem Vorwand, die Kinder mitsammen hinaus in den Garten, und sagte +dann, als er sich mit der Frau allein sah, mrrisch und finster. + +Du flennst und flennst, und wirst die Blge noch zuletzt aufmerksam und +ngstlich machen mit Deiner Heulerei -- kannst Du sie hier ernhren, so +bleib da, ich habe Nichts dagegen; kannst Du's aber nicht, dann sei auch +vernnftig und mach' jetzt keine dummen Streiche -- es wr' ein Spa, wenn +sie uns abfaten, und Du weit am Besten was uns nachher bevorstnde. + +Die Frau war schlank und voll gewachsen, mit besonders kleinen Hnden und +Fen, mute auch einmal in frheren Jahren wirklich schn gewesen sein, +und mehr noch als nur die Spuren war ihr davon geblieben, htte sie eben +etwas gethan sich das zu erhalten. Aber in ihrem ganzen Aeueren ging sie, +wenn nicht geradezu unreinlich, doch vernachlssigt; die ungeordneten +Haare wurden durch einen zerbrochenen, chten Schildpatkamm, und durch ein +schwarzes abgescheuertes Sammetband, in dem vorn eine groe bronzene +Broche mit einem unchten Turquis sa, gehalten; in den Ohren hingen ihr +ebenfalls lange emaillirte unchte Ohrringe, die mit dazu beigetragen +hatten ihr bei ihren bescheidenen und einfachen Nachbarn den Namen der +stolzen Jule zu geben, und das Kleid von gutem Stoff und nach neuem +Schnitt gemacht, zeigte unausgebesserte Risse, und Spuren von Fett, in +Streifen und Flecken, die schlecht zu dem blitzenden falschen Schmucke +paten. + +Auch in den Augen selber lag etwas Keckes, Unweibliches, das aber doch +jetzt einem mchtigeren Gefhl gewichen war, denn nur manchmal, bei den +rauhen Worten, blitzte es an gegen den Mann, und um die Lippen zog sich +dann ein eigener fester Zug von Trotz und Zorn. + +Ich hab' Dir genug zu Willen gethan, da ich mit Dir gehe und die Kinder +zurcklasse, sagte sie dann nach kleiner Weile -- wenn's mir das Herz +dabei zusammenzieht, wrst Du schlimmer wie ein Thier, wolltest Du's mir +wehren. Der Wolf lt seine Brut nicht im Stich, und wir wollen fort -- + +Der Wolf hat auch drauen zu leben, und fr die Jungen Milch -- wer +giebt's uns? zischte der Mann zwischen den zusammgebissenen Zhnen durch +-- wir knnten krepiren hier im Nest, keine Katze miaute deshalb im ganzen +Kreis. + +Ich wei es, ich wei es, sagte die Frau, und das ist das Einzige was +mich freut, da wir ihnen jetzt einen Streich spielen -- den Lumpen. Und +wie sie schreien und schimpfen werden -- aber ernhren men sie sie doch, +davon hilft ihnen kein Gott. Leid thut's Einem freilich immer, die armen +Dinger, die noch Nichts von der Welt wissen und begreifen, so allein +zurckzulassen -- wenn ich das Jngste nur mitnehmen drfte -- setzte sie +leise hinzu. + +Komm mir nur jetzt nicht wieder mit dem alten Gewsch, rief aber der +Mann finster und rgerlich -- ich dchte das htten wir ber und genug +besprochen und berlegt, und wren einig darber. + +Ueberlegt gar nicht, sagte aber die Frau, die Brauen fest +zusammenziehend -- wenn ich davon anfing hast Du mich immer grob +angefahren und ausgezankt, und Deinen Willen gehabt dabei, wie bei allem +Anderen. Ich wei da ich nicht zu den Weichen gehre, aber -- Mutter +bleibt doch Mutter, und -- 's ist immer ein hlich unnatrlich Ding. + +Papperlapapp! sagte der Mann den Kopf herber und hinber werfend -- +unnatrlich -- natrlich ist's allerdings nicht da die Scheunen +ringsherum voll liegen, und das reiche Lumpenpack das Geld mit vollen +Fausten zum Fenster hinauswirft, whrend wir hier trocken Brod nagen +sollen, und das nicht einmal immer kriegen -- schne Natrlichkeit das. + +Wenn Du nur nicht den dummen Streich mit dem -- + +Halt's Maul! brummte aber der Mann mrrisch -- ich sollte mich wohl +erwischen und anzeigen lassen, da ich jetzt im Zuchthaus s und spnn -- +Gott verdamm mich, ich schsse eher die ganze Bande ber den Haufen, einen +nach dem anderen -- bist Du nun fertig mit Deinen Sachen? + +Ja! sagte die Frau leise und unwillkrlich zusammenschaudernd -- es kann +fort gehn. + +Wir wollen aber doch warten bis es dunkel ist, sagte Steffen nach +kleiner Pause; besser ist besser, und der Mrtens unten an der Strae +braucht nicht gleich zu wissen da wir fortgefahren sind, beide zusammen, +seine Nase hineinzustecken vor der Zeit; er ist mir so schon ein paar Mal +hier oben herumgekrochen, wo er Nichts zu suchen hatte. + +Aber wenn sie uns nun doch vor der Zeit vermissen? sagte die Frau, und +unserer Spur nachgehn; wenn's jetzt schlimm ist, nachher wird's erst bs, +und wir drften dann nur gleich mit Sack und Pack abziehn. + +In's Arbeitshaus, eh? -- nein, eine Weile halt' ich sie uns schon von den +Hacken, und Gefahr da sie uns finden, hat es auch nicht. Wo wir zur +Eisenbahn kommen bin ich bekannt, und habe schon manchmal Vieh da gekauft, +wenn sie auch eben meinen Namen nicht wissen, und wenn wir fortgehn, lasse +ich einen alten Hut von mir und das gelbe Tuch von Dir unten an dem tiefen +Wasserloch unter den Erlen. Sobald Jemand hier in der Gegend vermit wird, +suchen sie dort immer zuerst, und der Schulze im Dorf hat das Pulver nicht +erfunden, dem ist leicht was aufgehngt. Bis sie eine Weile stromab +geangelt haben, sind wir hoffentlich unterwegs, und wenn nicht unter, doch +ber dem Wasser. Aber ich will jetzt noch einmal hinunter zum Mrtens gehn +und Mehl holen; es ist auch heute der gewhnliche Tag, und hierher kommt +nachher keiner so leicht, nimm Du inde die Kinder vor, und instruire sie +wie sie sich zu verhalten haben. + +Und seine Mtze aufgreifend steckte Steffen die Hnde in die Taschen, und +schlenderte langsam den Hang hinunter dem nchsten, eine gute +Viertelstunde entfernten Hause zu, whrend die Frau die Kinder zu sich +hereinrief, das Jngste, ein kleines liebes Mdchen von anderthalb Jahren, +auf den Schoos nahm, und sich damit still und lautlos in die Ecke setzte. + +Die Sonne neigte sich indessen ihrem Untergang, und der Vater kam nach +etwa einer Stunde, als es schon vllig dunkel geworden war zurck -- die +Mutter sa noch immer mit dem Kind auf dem Schoos, das bei ihr +eingeschlafen war, und hielt es fest an sich gedrckt. + +So Jule, es ist Zeit, sagte der Mann, seine Arbeitsjacke abwerfend und +den Rock anziehend, wei die Albertine was sie zu thun hat? + +Die Frau zitterte am ganzen Leib, aber sie erwiederte kein Wort, stand +auf, kte das Kind das sie auf dem Arm trug, und legte es in sein +Bettchen -- einen Kasten, der in der Ecke der Stube stand. + +Albertine, sagte sie dann zu der Aeltesten, und wandte sich von der +dster brennenden Oellampe, die Steffen auf den Ofen gestellt hatte, ab, +da die Tochter ihr nicht in die jetzt wirklich todtenbleichen Zge +schauen sollte -- ich gehe mit dem Vater heute Abend eine Weile fort -- den +Karl bring ich erst noch zu Bett -- sollten wir morgen frh nicht bei +Zeiten da sein, so -- so zieh die Kinder an und gieb ihnen zu essen -- der +Brodschrank ist offen, und Milch steht unter der Diele in der Schssel -- +Du pat mir auf da den Kleinen Nichts passirt -- Du -- Du bist ja schon ein +groes Mdchen. + +Und geht mir nicht vor die Thr morgen, bis wir nicht wieder da sind, +sagte Steffen, wie ich heut Abend drunten gehrt habe, ist hier ein +toller Hund herumgelaufen. Das Beste wird sein Ihr haltet die Hausthr zu, +da er nicht etwa gar herein kommt. + +Die Frau hatte dabei das etwa dreijhrige Mdchen das inde gar schlfrig +geworden war, ausgezogen und in sein Bettchen gelegt -- und der Junge, +Carl, sa auf der Bank am Fenster, noch auf sein Abendbrod wartend. Aber +er sah auch erstaunt dabei die Eltern an, die noch nie so spt Abends +fortgegangen waren, und auch wohl noch nie, oder doch nur selten gar so +freundlich mit ihnen gesprochen hatten. + +Was fr ein Hund ist es, Vater? frug er jetzt, da der Gedanke an den +tollgewordenen Hund ihn besonders interessiren mochte -- Mrtens' Bello? +der kennt mich, und beit mich nicht. + +Nein, der groe Trk aus dem Dorfe unten, sagte Steffen -- der den +Mller auch schon einmal gebissen hat. + +Oh der ist schlimm! rief der Knabe erschreckt -- da geh' ich gewi nicht +hinaus. + +Geh' nun zu Bett Carl, es ist spt, sagte der Vater. + +Ich habe mein Abendbrod noch nicht, brummte der arme kleine Bursch. + +So? -- dann wird Dir's Albertine geben -- und -- seid brav und folgt ihr -- + + +Er gab dem Knaben und ltesten Mdchen die Hand, und ging zu den Bettchen +der Kleinen die er kte; dann aber als ob er sich einer solchen Regung +schme, richtete er sich rasch wieder auf, drckte den Hut in die Stirn, +und sagte, das Zimmer verlassend, und noch in der Thr sich umdrehend: + +Ich warte auf Dich unten am Wasser -- mach schnell! + +Sei ein gut Kind Albertine, und hab mir gut auf die Kleinen Acht, +flsterte die Frau jetzt dem Mdchen zu, das eben dem Bruder ein Stck +Brod und Salz gegeben hatte, an dem der a und verwundert dabei hinter den +Vater her aus der Thr, und nach der Mutter schaute, die lange -- o lange +Zeit nicht so freundlich mit ihnen gesprochen hatte. + +Aber Mutter wo geht Ihr nur hin? -- frug das Mdchen, der das Benehmen +der Eltern ebenfalls auffiel, verwundert. + +Auf's Amt, sagte die Frau, auf die Frage schon vorbereitet -- wir mssen +morgen frh mit Tagesanbruch in der Stadt sein, und wollen gehn so lang's +khl ist. + +Und wann kommst Du wieder? + +Hoffentlich morgen gegen Abend -- wenn wir fertig werden; auf dem Amt sind +sie aber gar weitlufig -- manchmal dauert's lnger als man denkt. Geht mir +aber nicht vor die Thr, Ihr habt zu essen genug -- jedenfalls sind wir +morgen Abend um die Zeit wieder da -- und acht' mir auf die Kleinen, Tine -- +sei ein vernnftig gutes Mdchen -- Du bist gro genug. Und -- wenn Jemand +nach uns fragen sollte, so sag nur wir wren in den Wald gegangen, und +kmen gleich wieder -- es wird aber wohl Niemand fragen, -- setzte sie +leise, und wie zu ihrer eigenen Beruhigung hinzu. + +Sie sah sich im Zimmer um, ob sie Nichts vergessen habe -- ihr Bndel lag +aber versteckt drauen vor der Thr, wie der Mann seine gepackte +Jagdtasche ebenfalls drauen verborgen gehabt und jetzt mitgenommen hatte. +Ihr Blick berflog auch nur flchtig den kleinen Raum, und haftete dann +auf dem Bettchen des jngsten Kindes -- sie konnte nicht widerstehn, und +trat noch einmal zu dem schlummernden Kind. + +Geh doch hinaus Tine, und hole ein paar Stcken Holz herein, so lang ich +noch hier bin, da Du morgen frh Kaffee kochen kannst -- ich bleibe so +lang bei den Kindern, setzte sie langsam und ohne das lteste Mdchen +dabei anzusehn, hinzu. Dieses ging, und in wilder, fast ngstlicher Hast +kte die Frau jetzt die kleine, schon sanft schlummernde Line, und hob +dann das Jngste aus seinem Kasten, auf dessen rosige Lippen sie den +eigenen Mund in wilder Heftigkeit prete, bis es schrie. Die Thrnen -- die +Mutter _konnte_ sich nicht ganz verleugnen in dem Augenblick -- liefen ihr +dabei voll und schwer die Wangen hinunter, und erst als sie das Aelteste +mit dem Holz zurckkehren hrte, legte sie das leicht beruhigte Kind +wieder auf sein Lager, und kte den Jungen, dem die Thrnen auch anfingen +in die Augen zu steigen. Er wute freilich nicht recht weshalb, und nur +vielleicht weil er die Mutter weinen sah, wurd' es ihm auch so weh und +weich um's Herz. + +Aber Mutter, was ist Dir nur heute Abend? sagte das Mdchen, dem die +auergewhnliche Bewegung derselben unmglich entgehen konnte -- was habt +Ihr nur, Du und der Vater? + +Bah -- der Vater war garstig mit mir, und wir haben uns gezankt, sagte +die Mutter, das Gesicht abwendend von dem Kind. + +Ein scharfer Pfiff von drauen her schlug an ihr Ohr, und sie fuhr +erschreckt in die Hhe. + +Ja -- ich komme schon! murmelte sie, kaum hrbar, vor sich hin, so adieu +Albertine -- hab auf die Kinder Acht, und -- _beht Euch Gott_! und mit +dem, wie scheu geflsterten und vielleicht seit langer, langer Zeit nicht +ausgesprochenen Segen, verlie sie rasch das Zimmer und das Haus. + +Was zum Teufel trdelst Du denn da drin, und lt mich eine Stunde hier +warten? rief der Mann mrrisch, als sie ihn endlich an der verabredeten +Stelle traf -- aber die Frau erwiederte kein Wort, und die fieberheie +Stirn in die Hand pressend, folgte sie dem, jetzt ebenfalls finster und +schweigend Voranschreitenden, durch die Nacht. + + + + + + +***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACH AMERIKA! ERSTER BAND*** + + + +CREDITS + + +May 2006 + + Project Gutenberg Edition + richyfortytwo + Joshua Hutchinson + Online Distributed Proofreading Team + + + +A WORD FROM PROJECT GUTENBERG + + +This file should be named 18475-0.txt or 18475-0.zip. + +This and all associated files of various formats will be found in: + + + http://www.gutenberg.org/dirs/1/8/4/7/18475/ + + +Updated editions will replace the previous one -- the old editions will be +renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no one +owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and +you!) can copy and distribute it in the United States without permission +and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the +General Terms of Use part of this license, apply to copying and +distributing Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works to protect the Project +Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} concept and trademark. 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It exists because of the +efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks +of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance +they need, is critical to reaching Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~}'s goals and ensuring +that the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} collection will remain freely available for +generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation was created to provide a secure and permanent future for +Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} and future generations. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} +concept of a library of electronic works that could be freely shared with +anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} +eBooks with only a loose network of volunteer support. + +Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} eBooks are often created from several printed editions, +all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright +notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance +with any particular paper edition. + +Each eBook is in a subdirectory of the same number as the eBook's eBook +number, often in several formats including plain vanilla ASCII, compressed +(zipped), HTML and others. + +Corrected _editions_ of our eBooks replace the old file and take over the +old filename and etext number. 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Erster Band by Friedrich Gerstäcker</p></div><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 3.00em; margin-top: 3.00em"><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost + and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, + give it away or re-use it under the terms of the Project + Gutenberg License <a href="#pglicense" class="tei tei-ref">included with this + eBook</a> or online at <a href="http://www.gutenberg.org/license" class="tei tei-xref">http://www.gutenberg.org/license</a></p></div><pre class="pre tei tei-div" style="margin-bottom: 3.00em; margin-top: 3.00em">Title: Nach Amerika! Erster Band + +Author: Friedrich Gerstäcker + +Release Date: May 2006 [Ebook #18475] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 + + +***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACH AMERIKA! ERSTER BAND*** +</pre></div> +</div> + +<hr class="doublepage" /><div class="tei tei-titlePage" style="text-align: center"> +<div class="block tei tei-docTitle" style="text-align: center"> +<span class="tei tei-titlePart" style="text-align: center">Nach Amerika!<br /></span> +<span class="tei tei-titlePart" style="text-align: center">Ein Volksbuch<br /><br /> +Erster Band<br /></span> +</div> +<div class="tei tei-byline" style="text-align: center">von<br /> +<div class="block tei tei-docAuthor" style="text-align: center"> +Friedrich Gerstäcker.<br /></div> +Illustrirt von <span class="tei tei-name" style="text-align: center">Theodor Hosemann</span>.</div> + +<span class="tei tei-docImprint" style="text-align: center"> +Leipzig, Hermann Costenoble, Verlagsbuchhandlung<br /> +Berlin, Rudolph Gaertner, Amelang'sche Sort-Buchhandlung +</span><br /><br /> +<span class="tei tei-docDate" style="text-align: center"><span class="tei tei-date" style="text-align: center">1855</span></span> +</div> + +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"> +<p class="tei tei-p" style="text-align: center; margin-bottom: 1.00em"></p><div class="tei tei-figure" style="text-align: center"><img src="images/illu001.jpg" width="511" height="666" /></div> +</div> + +</div> + +<div class="tei tei-body" style="margin-bottom: 6.00em; margin-top: 6.00em"> + +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Nach Amerika!</span></h1> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Wie man ein Bild, aus einem Werk heraus, vorn auf +den Umschlag bringt, den Beschauer dadurch gewissermaßen +in den Charakter des Ganzen einzuweihen, so will auch ich +hier den Anfang des einen Capitels, aus der Mitte des Bandes +heraus, zum Vorwort wählen, den Leser gleich von vorn +herein mit dem bekannt zu machen, was ich ihm biete.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika!« — Leser, erinnerst Du Dich noch der +Märchen in »Tausend und eine Nacht«, wo das kleine Wörtchen +»Sesam« dem, der es weiß, die Thore zu ungezählten +Schätzen öffnet? hast Du von den Zaubersprüchen gehört, die +vor alten Zeiten weise Männer gekannt, Geister heraufzurufen +aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich +dienstbar zu machen? — Mit dem ersten Klang der einfachen +Sylbe schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im +Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner zusammen, +die Erde bebte, und das kecke, tollkühne Menschenkind das sie +gesprochen, bebte zurück vor der furchtbaren Gewalt die es +heraufbeschworen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Die</span></em> Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem +Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder +wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergeben sie zu +rufen — aber ein anderes dafür gefunden das, kaum minder +stark, mit <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">einem</span></em> Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, +den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen +und Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden +reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern +treulich festgehalten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika,« leicht und keck ruft es der Tollkopf +trotzig der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die +seine Kraft prüfen sollte, seinen Muth stählen — »nach Amerika,« +flüstert der Verzweifelte der hier am Rand des Verderbens +dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde — »nach +Amerika,« sagt still und entschlossen der Arme, der +mit männlicher Kraft, und doch immer und immer wieder vergebens +gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um +sein »tägliches Brod« mit blutigem Schweiß gebeten — und +es nicht erhalten, der keine Hülfe für sich und die Seinen hier +im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">will</span></em>, nicht stehlen +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kann</span></em> — »nach Amerika« lacht der Verbrecher nach glücklich +verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, +die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts — »nach +Amerika,« jubelt der Idealist, der wirklichen Welt +zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über dem Ocean drüben +ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht — »nach Amerika« und mit dem einen Wort +liegt hinter ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, +Wirken, Schaffen — liegen die Bande die Blut oder Freundschaft +hier geknüpft, liegen die Hoffnungen die sie für hier gehegt, +die Sorgen die sie gedrückt — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">»nach Amerika!«</span></em></p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">So gährt und keimt der Saame um uns her — hier +noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, +dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der +reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer +draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain, der ihn +zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so +schwer geärgert, und der im Geist schon die langen geraden +Furchen zieht, weit über dem Meer drüben, in dem fetten, +herrlichen Land; — der Handwerker in seiner Werkstatt, dem +sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt, mit Neuerungen +und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen +Kunden die ihm bis dahin noch geblieben in <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">seine</span></em> Thür zu +locken; der Künstler in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, +der über einer freieren Entwickelung brütet, und von einem +Lande schwärmt wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und +Hände binden; — der Kaufmann hinter seinem Pult, der +Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern +zieht, und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von +einem neuen, andern Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, +von reich gefüllten Waarenhäusern träumt; in Tausenden von +ihnen drängt's und treibt's und quält's, und wenn sie auch +noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe +wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke fort — ein +stiller aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über +das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arzenei, +neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, +und wie weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht +nicht errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem +Ding — nach Leuten die vordem »hinüber« gezogen und denen +es gut gegangen — nach Land- und Fruchtpreis, Klima, +Boden, Volk — für Andere natürlich, nicht für sich etwa — sie +lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will +hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie +wünschen daß es dem wohl geht, und häufen mehr und mehr +Zunder für sich selber auf.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner +ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter +den <span class="tei tei-foreign"><span style="font-style: italic">salto mortale</span></span> gethan, und Alles hinter sich gelassen, +was ihm einst lieb und theuer war — aus dem, aus +jenem Grund — und täglich, stündlich noch hören wir von +anderen, von denen wir im Leben nie geglaubt daß <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">sie</span></em> je an +Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind und Hab und +Gut hinüberziehn.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Und dort? — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"> — Die vorliegenden Blätter sollen dem Leser ein Bild +geben von dem Leben und Treiben solcher Leute. Hier aus +unserer Mitte heraus, aus den verschiedenartigsten Verhältnissen +und Sphären, aus allen Schichten der menschlichen +Gesellschaft sehen wir sie ziehen — Gute und Böse, den Leichtsinnigen +und den Spekulanten, den Bauer und Handwerker, +den Gelehrten und den Arbeiter, den rechtschaffenen Bürger +und den heimlichen Verbrecher, Alle dem <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">einen</span></em> Ziel entgegenstrebend. +Und <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Alle</span></em> vereinigt sie das Schiff; der eine +kleine Bau, der hunderte von Menschen auf seinem schwanken +Kiel hinüberträgt, dem fernen Welttheil zu; oh was für Hoffnungen, +was für Pläne und Träume birgt er in seinem Schooß. +Aber die Auswanderer liegen die langen Wochen, ja Monate, +verpuppten Raupen gleich, im engen Haus, still und gedrängt +beisammen; Jeder mit dem alten Leben abgeschlossen hinter +sich, mit dem neuen noch nicht begonnen, in einem wunderlichen +unnatürlichen Zustand, ungeduldiger Ruhe, bis der +Anker in die Tiefe rollt, und die ausgeschobene schmale Planke +der bunten Schaar von Tag- und Nachtfaltern den Weg in's +Freie öffnet.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Hinaus flattern sie da nach allen Seiten, wie eine Hand +voll Spreu, vom Winde fort geführt; die Einen selbstbewußt +und keck dem fremden, unbekannten Leben in die Arme springend, +die Anderen scheu und zaghaft bei jedem Schritte fast moralische +Selbstschüsse und Fußangeln fürchtend; Alle aber entschlossen, +die meisten sogar gezwungen, dem neuen Vaterlande +die, im alten aufgegebene Existenz abzuringen, Jeder in seiner +Art, auf seine Weise.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Dort nun sehen wir sie schaffen und wirken in Gutem +und Bösen, die Einen mit ihren kühnsten Hoffnungen erfüllt, +Andere, zerknirscht und zertreten, die Stunde verwünschend, +die den Gedanken an Auswanderung gebar — sehn wie sich +die Wildniß lichtet, wie Farmen und Städte entstehn, und +sich das deutsche Element ausbreitet nach allen Seiten, und +folgen den einzelnen Bekannten und Freunden, die wir zu +Hause schon, oder auf der Fahrt erst lieb gewonnen, oder für +die wir uns interessiren, auf ihren verschiedenen, oft wunderlichen +Bahnen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Manchen alten Reisegefährten führ ich dabei dem Leser +vor, und hoffe ihn nicht zu langweilen, den weiten Weg; +schlafen wir dann auch manchmal draußen im Freien, oder in +niederer Blockhütte auf dünnem »Quilt«, müssen wir auch +eine Zeit lang mit Maisbrod und Wildpret, oder gar mit +Speck und Syrup verlieb nehmen, wie es der Farmer am +Ohio liebt, wir lernen doch das Land kennen, mit seinen +guten und schlechten Eigenschaften, seinen Vortheilen und +Mängeln, seinen Bürgern und Einwanderern, seinen inneren +Verhältnissen, seinem Leben und seiner Lebenskraft, und bin +ich im Stande ihn auch nur einen Blick in jene ferne, von +Tausenden so heiß ersehnte Welt, wie ich sie selbst gefunden, +thun zu lassen, so hab ich meinen Zweck mit diesem Buch +erreicht.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-hi"><span style="letter-spacing: 0.20em">Rosenau</span></span> bei Coburg im September 1854.</p> + +<p class="tei tei-p" style="text-align: right; margin-bottom: 1.00em">Friedrich Gerstäcker.</p> +</div> + +<hr class="doublepage" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Inhalt des ersten Bandes.</span></h1> +<ul class="tei tei-index tei-index-toc"><li><a href="#toc1">Das Dollinger'sche Haus</a></li><li><a href="#toc4">Der rothe Drachen</a></li><li><a href="#toc7">Der Diebstahl</a></li><li><a href="#toc10">Franz Loßenwerder</a></li><li><a href="#toc13">Die Auswanderungs-Agentur</a></li><li><a href="#toc16">Die Weberfamilie</a></li><li><a href="#toc19">Nach Amerika</a></li><li><a href="#toc22">Der Tanz im rothen Drachen</a></li><li><a href="#toc25">Rüstungen</a></li><li><a href="#toc28">Die beiden Familien</a></li></ul> +</div> + +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"> +<span class="tei tei-pb" id="page001">[pg 001]</span><a name="Pg001" id="Pg001" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc1" id="toc1"></a> +<a name="pdf2" id="pdf2"></a> +<a name="pdb3" id="pdb3"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 1.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Das Dollinger'sche Haus.</span></h1> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger zu Heilingen — einer +nicht unbedeutenden Stadt Deutschlands — hatte +am Sonntag Mittag, ein kleines Familienfest die Glieder +des Hauses um den Speisetisch versammelt, und diesen heute +in außergewöhnlicher Weise mit Blumen geschmückt, und delicaten +Speisen und Weinen gedeckt. Es war der Geburtstag +der zweiten Tochter des Hauses, der liebenswürdigen Clara +und nur ihr erklärter Bräutigam, ein junger deutscher, in +New-Orleans ansässiger Kaufmann, als Gast der Familie +zugezogen worden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Am oberen Ende des Tisches, um dem Leser die Personen +gleich in Lebensgröße vorzuführen, saß Vater Dollinger, ein +etwas wohlbeleibter aber behäbiger, stattlicher Mann, mit klaren, +blauen, unendlich gutmüthigen Augen und schneeweißen +Locken und Augenbrauen, die aber dem edel geschnittenen Ge<span class="tei tei-pb" id="page002">[pg 002]</span><a name="Pg002" id="Pg002" class="tei tei-anchor"></a>sicht +gar gut und ehrwürdig standen. Ihm zur Rechten saß +seine Frau, allem Anschein nach etwa funfzehn oder sechzehn +Jahre jünger wie er selber, und durch ihr volles, dunkelbraunes +Haar vielleicht auch noch sogar jünger aussehend, als sie wirklich war. +Sie ebenfalls, mit ihrer stattlichen Gestalt, hatte +einen leichten Anflug zu Corpulenz, aber das etwas ausgeschnittene +Kleid, wie die schwere goldene Kette, Broche und +Ohrringe, die sie fast etwas zu reichlich schmückten, paßten +nicht ganz zu dem sonst so freundlichen, matronenhaften +Aeußern.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Clara neben ihr, war das veredelte Bild der Eltern; die +lieben treublauen Augen schauten gar so vertrauungs- und +unschuldsvoll hinein in die Welt, an deren Schwelle sie stand, +und die ihr, wie ein eben geöffnetes, prachtvoll gebundenes +Buch auf den ersten, flüchtig durchblätterten Seiten, nur freundliche +Blumen und ihr zulächelnde Gestalten zeigte. Kein +Schmerz hatte diese engelsanften Züge noch je durchzuckt, keine +Thräne wirklichen Schmerzes den reinen Blick getrübt, und die +ganze zarte, sinnige Gestalt glich der eben entkeimenden Frühlingsblüthe +im sonnigen Wald, die dem jungen Frühlingstag +in Glück und Unschuld die schwellenden Lippen zum Kusse +bietet, und in der blitzenden Thauperle ihres Kelchs, den reinen +Aether über sich, nur schöner, nur glühender zurückspiegelt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Ihre um nur wenige Jahre ältere Schwester, Sophie, die +an des Vaters Seite saß, ähnelte der Schwester in mancher +Hinsicht an Gestalt, aber das einfach kindliche, was Clärchen +jenen unendlichen Reiz verlieh, fehlte ihr. Ihre Gestalt war +<span class="tei tei-pb" id="page003">[pg 003]</span><a name="Pg003" id="Pg003" class="tei tei-anchor"></a>voller, majestätischer, aber auch ihr Blick mehr kalt und stolz; +»ich bin des reichen Dollingers Kind« lag klar und deutlich +in den scharf zusammengezogenen Mundwinkeln, in dem fest +und entschieden, blitzenden Auge, und auch ihre Kleidung, ihr +Schmuck war, wenn nicht reicher, doch jedenfalls mehr in's +Auge springend, Bewunderung fordernd.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Zwischen Beiden saß Clara's Bräutigam, ein junger, bildhübscher +Mann in moderner, fast für einen Mann etwas zu gewählter +und sorgfältig geordneter Kleidung; er trug das Haar in +natürlichen dunkelbraunen Locken und das Gesicht glatt rasirt, +bis auf einen kleinen, aufmerksam gekräußten, und nur bis zur +halben Backe reichenden Backenbart, an den Fingern aber mehre +sehr kostbare Diamant-Ringe, eine Brillant-Tuchnadel von +prachtvollem Feuer, und eine schwere goldene, ebenfalls mit +kleinen Edelsteinen besetzte Uhrkette.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Bekanntschaft Clara's und ihrer Eltern hatte er dabei +auf eine etwas romantische Weise, und zwar gleich als ihr +Lebensretter oder doch Befreier aus einer nicht unbedeutenden +Gefahr gemacht. Herr und Frau Dollinger waren nämlich +mit ihren beiden Töchtern im vorigen Herbst auf einer Rheinreise +bei Rüdesheim aus- und zu dem kleinen Waldtempel +oben über Asmannshausen hinaufgestiegen, um sich von dort +nach dem Rheinstein übersetzen zu lassen; die Mutter hatte aber +durch das nicht gewohnte Bergsteigen heftige Kopfschmerzen +bekommen oder, was wahrscheinlicher ist, ennuyirte sich am Land +und wünschte an Bord des Dampfers zurückzukehren, und als +sie gerade mit dem Kahn über den Rhein fuhren, kam ein<span class="tei tei-pb" id="page004">[pg 004]</span><a name="Pg004" id="Pg004" class="tei tei-anchor"></a> +Dampfboot stromab, und hielt auf ihr Winken, sie an Bord +zu nehmen. Herr und Frau Dollinger, mit Sophie, von den +Kahnführern unterstützt, hatten auch schon glücklich die Treppe +und das Deck erreicht, und dicht hinter ihnen folgte Clara, als +diese sich plötzlich erinnerte, ihre Geldtasche im Kahn vergessen +zu haben, und anstatt diese sich heraufreichen zu lassen, +selber wieder zurücksprang sie zu holen. Durch das Hineinspringen +fing aber der schmale Kahn an zu schwanken, während +sie, die vergessene kleine Tasche aufhebend, das Gleichgewicht +verlor und, mit dem Kopf voran, in den Rhein stürzte. +Unglücklicher Weise waren gerade in dem nämlichen Augenblick +die Kahnleute an Deck des Dampfers gestiegen, den Koffer +eines Passagiers, der mit an Land fahren wollte, in ihren +Kahn zu heben, und wenn sie jetzt auch, auf das Geschrei an +Bord, rasch in diesen zurücksprangen, trieb doch Clara schon +hinter dem Dampfboot aus, als der junge, eben von Amerika +zurückgekehrte Mann, der dem ganzen Vorfall vom Deck des +Dampfers zugesehn, mit keckem Muth ins Wasser sprang und +die Jungfrau doch wenigstens so lange an der Oberfläche unterstützte, +bis das Boot herbeikam sie beide aufzunehmen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das Weitere nahm einen ziemlich einfachen Verlauf, +Joseph Henkel, wie der junge Mann hieß, gewann sich in den +nächsten Wochen, die er in der Gesellschaft der ihm zu großen +Dank verpachteten Familie zubrachte, die Achtung des Vaters +und die Liebe von Mutter und Tochter, und als er zuerst bei +der Mutter um die Hand der Tochter anhielt, sagten Beide +nicht nein. Allerdings wollte der Vater erst, wenn auch nicht +<span class="tei tei-pb" id="page005">[pg 005]</span><a name="Pg005" id="Pg005" class="tei tei-anchor"></a>gerade Schwierigkeiten machen, doch etwas Genaueres über +die Existenzmittel eines Mannes erfahren, dem er das Glück +und Leben eines lieben Kindes anvertrauen sollte. Henkel +selber bot ihm dazu die Hand und gab ihm Adressen an verschiedene +Häuser in New-Orleans, die ihm über seine dortige +Stellung genaue Auskunft geben konnten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Nach seinem Vermögen mochte der alte Dollinger, wenn +auch Kaufmann, nicht so genau forschen; er war selber +reich genug, einen <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">reichen</span></em> Schwiegersohn entbehren zu +können, und etwas Vermögen mußte der junge Mann +haben, dafür bürgte sein ganzes Auftreten, bürgte besonders +in den Augen seiner Frau der reiche und wirklich kostbare +Schmuck, den er trug. Joseph Henkel war aber auch außerdem +ein interessanter und sehr gescheidter Mann, der Manches +in der Welt schon gesehen und erlebt, und das Gesehene +und Erlebte mit lebendigen Farben und Worten zu schildern +wußte. Er hatte die ganzen Vereinigten Staaten von +Nord nach Süd und von Ost nach West durchstreift, und dort +theils seinen Geschäften gelebt, theils gejagt, sogar ein kleines +Dampfschiff auf dem Arkansas laufen gehabt, mit den Indianern +Handel zu treiben, und ihnen die Produkte des Ostens +gegen ihre eigenen Fabrikate und den Gewinn ihrer Jagden +einzutauschen. Er war auch einmal von jenen wilden trotzigen +Stämmen, die uns Cooper so herrlich und unübertroffen beschrieben, +gefangen genommen und zum Opfertod verdammt, +und damals wirklich nur durch ein halbes Wunder gerettet +worden, und Clara hatte eine ganze Nacht nicht schlafen kön<span class="tei tei-pb" id="page006">[pg 006]</span><a name="Pg006" id="Pg006" class="tei tei-anchor"></a>nen, +nur in der Angst und Unruhe um die entsetzliche Gefahr, +der sich der tollkühne Mensch damals schon ausgesetzt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der junge Mann schien aber zwischen jenen wilden Stämmen +den Umgang mit civilisirten Menschen keineswegs verlernt +zu haben, und besaß ganz besonders ein fast wunderbares +Geschick, sich seiner Umgebung anzuschmiegen, und sich in ihre +Charaktere ordentlich hineinzuleben. Als ein tüchtiger und +raffinirter Kaufmann, der vorzüglich eine vortreffliche statistische +Kenntniß der Union besaß, gewann er sich dabei, und gleich +von allem Anfang an, die Achtung des alten Dollinger. Der +Frau aber hatte er leicht ihre kleinen, oft liebenswürdigen +Schwachheiten abgelauscht, und wußte ihnen auf so geschickte +Art zu begegnen, daß Frau Dollinger, mit der Rettung des +geliebten Kindes im Hintergrund, schon nach sehr kurzer Zeit +ganz entzückt von ihm war, und sein Lob dem Gatten unaufhörlich +redete. Auch mit der älteren Schwester, Sophie, wußte +sich Henkel bald auf guten Fuß zu stellen; er hatte bei ihr das +leichteste Spiel, denn ihre Schwächen lagen offen zu Tag, +denen aber schmeichelte er mit solcher Liebenswürdigkeit, daß +ihm Clara, die es fühlte wie er dabei aus sich herausging +und etwas annahm was ihm nicht natürlich war, oder doch +jedenfalls dem Mann, den sie liebte, nicht natürlich sein <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">sollte</span></em>, +dennoch nicht böse darüber werden konnte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Desto freier, offener und natürlicher war er dafür gegen +sie selber; er las, sang und spielte Pianoforte mit ihr, lehrte +sie eine Menge kleiner reizender, schottischer und irischer Lieder, +oder plauderte mit ihr leicht und sorglos Stunden lang in den<span class="tei tei-pb" id="page007">[pg 007]</span><a name="Pg007" id="Pg007" class="tei tei-anchor"></a> +Tag hinein, und konnte oft so herzlich dabei lachen, daß es +Einem ordentlich gut that, ihm zuzuhören. Selbst Sophie entsagte +dann nicht selten ihrem sonst etwas mehr abgeschlossenen, +fast steifen Wesen und kam zu ihnen, Theil an ihrer Fröhlichkeit +zu nehmen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Nur in den letzten Tagen war der junge »Amerikaner« +wie er im Hause gewöhnlich scherzhaft hieß, oder der »Delaware« +wie ihn Sophie, wenn sie manchmal bei recht guter +Laune war, nannte, auffällig niedergeschlagen gewesen; er hatte +Briefe von Amerika bekommen, wie er sagte, und ein sehr +lieber Freund von ihm war dort schwer erkrankt, auch ein +Schiff das ihm gehörte, und das nicht versichert worden, so +lange ausgeblieben, daß sein Compagnon fast den Untergang +desselben befürchte. Der alte Herr Dollinger tröstete ihn deshalb, +und er schien sich auch darüber hinwegzusetzen, die sonst +so blühende Farbe seiner Wangen wollte aber doch nicht +sogleich wieder dorthin zurückkehren, und das Auge hatte etwas +Unsicheres, Unstätes, ihm sonst gar nicht Eigenes bekommen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Nur heute, zu dem Fest der holden Jungfrau, die er bald +die seine zu nennen hoffte, hatte er all die trüben Gedanken, +welcher Art sie auch gewesen, und woher sie stammten, von +sich abgeschüttelt, und war ganz wieder der frohe glückliche +Mann, wie ihn Clara kennen — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">lieben</span></em> gelernt. Auf seinen +Wunsch nur, womit Frau Dollinger eigentlich nicht ganz einverstanden +gewesen, war auch heute keine größere Gesellschaft +geladen worden, sondern die kleine Familie speiste ganz »unter +sich« in dem festlich mit Blumen und Guirlanden geschmückten<span class="tei tei-pb" id="page008">[pg 008]</span><a name="Pg008" id="Pg008" class="tei tei-anchor"></a> +Zimmer des jungen liebenswürdigen Geburtstagkindes. Frau +Dollinger hatte sich eigentlich schon länger auf eine zu diesem +Zweck einzuladende, größere Gesellschaft gefreut. Herr Dollinger +selber hielt aber nicht viel von solchen Fêten; dafür jedoch bedung +sie sich aus, daß sie wenigstens den Nachmittag spatzieren +fahren wollten, wobei sie der junge Henkel gewöhnlich zu Pferde +begleitete.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Etwas that aber der alte Herr Dollinger gern, und zwar +ein Glas Champagner trinken, und der zweite Stöpsel war +eben lustig hinausgeknallt, der Gesundheit des »jungen Brautpaares« +zu Ehren, als die Thür aufging und Loßenwerder, +ein Comptoirdiener des Hauses, mit einem kleinen Paket in's +Zimmer trat.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Loßenwerder war schon seit elf oder zwölf Jahren im +Haus, und seinem Aeußern nach eben keine angenehme Persönlichkeit; +er hinkte auf dem linken Bein, das er als Kind +einmal gebrochen, war überhaupt häßlicher und magerer Natur, +und schielte auf dem rechten Auge, wodurch sein sonst gerade +nicht unangenehmes Gesicht einen etwas falschen Ausdruck bekam. +Das Störendste aber an dem ganzen Menschen war sein +Stottern, wegen dem man sich auf ein längeres Gespräch gar +nicht mit ihm einlassen konnte, und kam er einmal in Affekt, +konnte er kein Wort mehr herausbringen. Frau Dollinger +sowohl wie Sophie konnten ihn auch nicht leiden, ja die letztere +behauptete sogar er verstelle sich und sie habe ihn schon ganz +ordentlich, wenigstens zehntausend Mal besser sprechen hören, +als er es jedesmal affektire, wenn er zu ihnen in die Wohnung +<span class="tei tei-pb" id="page009">[pg 009]</span><a name="Pg009" id="Pg009" class="tei tei-anchor"></a>komme; Clara aber hatte Mitleid mit dem armen Menschen, +den sie seines Unglücks wegen innig bedauerte, schenkte ihm +oft eine Kleinigkeit und spottete nie über ihn, während Herr +Dollinger selber, ihn als einen brauchbaren und treuen Diener, +der noch außerdem eine vortreffliche Hand schrieb, kannte und +sehr zufrieden mit ihm war, ihm auch jedes nur mögliche Vertrauen +bewieß.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hallo, Loßenwerder, was bringst Du mir da in's Haus?« +rief ihm sein Principal jetzt halb lachend, halb erstaunt entgegen, +als der kleine Mann das Zimmer betrat und schüchtern +an der Thüre stehen blieb — »ist das für mich oder meine +Tochter?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gewiß für mich, Väterchen,« rief Clara, rasch von ihrem +Sitze aufspringend — »siehst Du, der Onkel hat mich doch +nicht ganz vergessen mit meinem Fest, und mir Gruß und Geschenk +geschickt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hehehe — mö — mö — möchten es sich wo — wo — wo — wo — wohl +wü — n — nschen Fräulein« lachte aber der Stotternde, +indem er Herrn Dollinger zuwinkte, daß das Paket für ihn +sei — »ka — ka — ka — kann ich mir de — de — de — de — denken — Go — go — gold +und Ba — ba — ba — ba — bank — no — noten.« +Er zog dabei einen Brief aus der Tasche, den er dem Herrn +übergab.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, hm, hm« sagte aber dieser kopfschüttelnd, »und das +bringst Du mir jetzt in's Haus — gerade wo ich ausfahren +will — warum hast Du es denn nicht dem Cassirer gegeben?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page010">[pg 010]</span><a name="Pg010" id="Pg010" class="tei tei-anchor"></a>»Ni — ni — nirgends zu fi — fi — fi — finden« stotterte Loßenwerder.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Herr Dollinger warf den Kopf, den Brief flüchtig durchfliegend, +herüber und hinüber, sagte dann aber, aufstehend und +das Papier vor sich hinlegend:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, da läßt sich denn weiter Nichts ändern; gieb mir +das Paket Loßenwerder, und sieh dann zu, daß Du Herrn +Reibich findest. Ich lasse ihn bitten um sieben oder halb acht +Uhr heute Abend auf einen Augenblick zu mir zu kommen — verstanden?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja — ja — jawohl He — he — he — herr Do — do — do — Do — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Schon gut« lachte Herr Dollinger, ihm zuwinkend, +»und hier, Loßenwerder, magst Du auch einmal ein Glas auf +das Wohl meiner Tochter trinken. Fräulein Clara's Geburtstag +ist heute — hier Clara, reich es dem jungen Herrn.« Er +füllte dabei ein Wasserglas bis zum Rande voll von dem +funkelnden, schäumenden Naß, und während Clara mit freundlichem +Lächeln dem armen Teufel das Glas credenzte, nahm +Herr Dollinger das Paket mit Geld, ging zu dem nahen Secretair, +in dem der Schlüssel stak, öffnete ihn, legte das Geld +hinein, zog dann den Schlüssel ab und sagte, diesen der Tochter +überreichend:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So Kinder, heute müßt Ihr einmal auf ein paar Stunden +mein Cassirer sein, bis der andere aufgefunden werden +kann.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Clara nickte dem Vater freundlich zu, und Loßenwerder, +<span class="tei tei-pb" id="page011">[pg 011]</span><a name="Pg011" id="Pg011" class="tei tei-anchor"></a>der das volle Glas in der Hand hielt und auf einmal ganz +blutroth im Gesicht geworden war, hob es empor und rief +stotternd:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Fr — re, re, re, re, re, räu — le — le — lein Cla — ra — ra — ra — ra — aus +ga — ga — ganzem He — he — he — he — he — he — her — ze — ze — zen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Als ob er aber mit den Worten in der Kehle Luft gemacht, +setzte er das Glas an, und der Wein verschwand wie +durch Zauberei.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Alle Wetter« lachte Herr Dollinger, der sich gerade nach +ihm umdrehte, »Loßenwerder hat einen vortrefflichen Zug — nun? — hat's +geschmeckt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gu — gut Herr Do — do — do — do — do.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Genug, genug« winkte ihm der Principal wieder ab — »also +bestell mir das ordentlich.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Loßenwerder, der Art entlassen, und vielleicht froh aus +einer Umgebung zu kommen, in der er sich nicht heimisch +fühlen konnte, setzte das Glas auf einen Seitentisch ab, machte +eine etwas linkische Verbeugung, und wohl wissend daß er zu +einem ordentlichen Danke doch keine Zeit mehr übrig hatte, +empfahl er sich ohne weiter auch nur einen Versuch zu mündlichem +Abschied zu machen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Eine unangenehme Persönlichkeit« sagte Frau Dollinger +zu ihrem Schwiegersohn <span class="tei tei-foreign"><span style="font-style: italic">in spe</span></span>, als der Mann noch die Thür +nicht einmal ordentlich hinter sich geschlossen hatte; »ich kann +mir nicht helfen, auf mich macht der Mensch immer einen fatalen +Eindruck.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page012">[pg 012]</span><a name="Pg012" id="Pg012" class="tei tei-anchor"></a>»Wie — wie befehlen Sie meine Gnädige?« sagte der +junge Henkel etwas zerstreut; Sophie bog sich in diesem Augenblick +zu ihm nieder und flüsterte ihm ein paar Worte zu — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Er kann ja doch Nichts für seine Gebrechen« nahm Clara +aber die Antwort auf, »und thut gewiß Alles in seinen Kräften +sie eben durch gutes Betragen vergessen zu machen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Papa, ich würde das Geld auch nicht so offen in dem +Secretair da liegen lassen« sagte Sophie.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nicht so offen? — ich habe ja zugeschlossen — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun, es ist immer nicht gerade gut, wenn die Dienstleute +wissen wo man Geld liegen hat« stimmte die Mutter bei.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dienstleute?« meinte Herr Dollinger — es war ja Niemand +von ihnen im Zimmer — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Doch Loßenwerder?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bah« lachte der Kaufmann, mit dem Kopf schüttelnd.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ist es denn viel?« frug seine Frau.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun, der Mühe werth wär's immer« sagte Herr Dollinger, +»fünf Tausend Thaler etwa — es soll aber auch nicht +über Nacht da liegen bleiben, und Loßenwerder hat mir auf +heute Abend den Cassirer zu bestellen, das Geld an sicheren +Ort zu legen, bis ich morgen darüber verfügt habe.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der Loßenwerder verwandte keinen Blick von dem Geld, +so lang er im Zimmer war« sagte die Mutter, mit dem Finger +vor sich hindrohend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Lieber Gott, Mütterchen, Du weißt ja aber doch daß er +schielt« vertheidigte ihn lachend Clara — »eben so fest und +unverwandt hat er mich indessen mit dem andern Auge ange<span class="tei tei-pb" id="page013">[pg 013]</span><a name="Pg013" id="Pg013" class="tei tei-anchor"></a>sehen; +seine Schuld ist's nicht daß er zwei Stellen auf einmal +im Auge behalten muß.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Laßt mir den armen Teufel zufrieden« sagte aber auch +Herr Dollinger — »der ist mir nützlicher wie zwei von meinen +anderen Leuten; mehr zum Nutzen wie Staat freilich, aber Staat +will er auch nicht machen. Jetzt übrigens Kinder wird es Zeit +daß wir uns rüsten, und Henkel, Sie müssen noch Ihr Pferd +holen lassen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich habe es schon, in der Voraussetzung daß wir bei +dem schönen Wetter doch wohl eine kleine Parthie machen +würden, hierher bestellt,« erwiederte rasch der junge Mann — wünschen +Sie den Wagen jetzt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich glaube ja, je eher, desto besser; die Tage sind kurz +und wenn wir noch eine Stunde oder zwei fahren wollen, dürfen +wir nicht mehr viel länger warten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Ihr Mädchen möchtet Euch ein wenig warm einpacken« +sagte jetzt die Mutter, alles Andere in dem Gedanken +an ihre Toilette vergessend — »zum still im Wagen Sitzen +paßt ein Sommerkleid noch nicht und heute Abend wird es +kühl werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und nicht so lange machen,« mahnte der Vater, der sich +sein Glas noch einmal voll schenkte und leerte; »der Wagen +wird im Augenblick da sein.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Wagen fuhr auch wirklich kaum zehn Minuten später +vor, Herr Dollinger, der nun seinen Hut und Stock aufgenommen, +ging, seine Handschuh anziehend, im Hofe auf und +<span class="tei tei-pb" id="page014">[pg 014]</span><a name="Pg014" id="Pg014" class="tei tei-anchor"></a>nieder, und endlich erschienen, diesmal in wirklich sehr kurzer +Zeit, die Damen, ihre Sitze einzunehmen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun, wo ist Henkel?« sagte Herr Dollinger, sich nach +seinem zukünftigen Schwiegersohne umschauend, »ich habe sein +Pferd auch noch nicht gesehen; jetzt wird uns der warten +lassen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Familie hatte indessen im Wagen Platz genommen, +und der alte Herr schaute etwas ungeduldig zum Schlag hinaus, +als der junge Henkel zum Thor, aber ohne Pferd, hereinkam.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun? und Sie sitzen noch nicht im Sattel?« rief er ihm +schon von weitem entgegen — »das ist eine schöne Geschichte; +jetzt dürfen wir den Frauen nie im Leben wieder vorwerfen, +daß sie uns warten lassen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich muß tausend Mal um Entschuldigung bitten,« +sagte der junge Mann, zum Wagen hinantretend, »aber mein +Stallmeister hat mich sitzen lassen. Wenn Sie mir erlauben +schicke ich einen der Leute danach, oder gehe selber, es ist nicht +weit von hier. Aber thun Sie mir die Liebe und fahren Sie +langsam voraus, ich hole Sie in Zeit von zehn Minuten ein.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wir können ja hier warten,« sagte die Mutter.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, wenn die Pferde stehen wollten,« brummte Herr +Dollinger — »zieh nicht so fest in die Zügel Johann, das +Handpferd kann das nicht vertragen und wird nur noch immer +unruhiger — wir wollen langsam vorausfahren — machen +Sie aber daß Sie nachkommen; auf dem Balkon vom rothen<span class="tei tei-pb" id="page015">[pg 015]</span><a name="Pg015" id="Pg015" class="tei tei-anchor"></a> +Drachen trinken wir Kaffee, dort ist eine wundervolle Aussicht — der +Stalljunge mag hinüberlaufen und Ihnen das +Pferd holen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Pferde zogen in diesem Augenblick an, Henkel mußte +aus dem Weg springen und verbeugte sich leicht gegen die +Damen, von denen ihm Clara freundlich lächelnd zunickte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Eine starke Viertelstunde später sprengte der junge »Amerikaner,« +seinem Thiere die Sporen gebend, daß es Funken +und Kies hintenaus stob, über das Pflaster, zum Entsetzen +der Fußgänger dahin, dem Wagen nach, den er nur erst eine +kurze Strecke vor dem bezeichneten Platz wieder einholte. +Im Stall wollte Niemand etwas davon gewußt haben, daß er +sein Pferd bestellt gehabt — Einer schob die Vergessenheit natürlich +auf den Andern, und Dollinger's Stallknecht mußte +die Leute sogar erst zusammensuchen, bis er das Pferd bekam, +deshalb hatte es so lange gedauert. Als er mit demselben +zurückkehrte, ging der junge Mann in dem kleinen, dicht am +Haus liegenden Garten auf und ab, sprang aber dann, dem +Burschen ein Trinkgeld zuwerfend, und dessen Entschuldigung +nur halb hörend, rasch in den Sattel und flog, wie vorher +erwähnt, in vollem Carrière die Straße nieder.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Er hatte den Hof kaum verlassen, als Loßenwerder, einen +großen, wunderschön blühenden Monatsrosenstock unter dem +Arm, vorsichtig und wie scheu, daß ihn Niemand gewahre, +über den Hof und in die Hinterthür des Hauses schlich, und +sich leise und geräuschlos die Treppe damit hinaufstahl. Er +<span class="tei tei-pb" id="page016">[pg 016]</span><a name="Pg016" id="Pg016" class="tei tei-anchor"></a>blieb etwa zehn Minuten im Haus und wollte dann aus +derselben Thür wieder über den Hof zurück, als der Stallknecht +aus der Futterkammer kam. Unschlüssig blieb der +kleine Mann eine kurze Zeit hinter der Thür stehen, und +schlich sich dann, als der Bursche den Platz nicht verlassen +wollte, vorn zur Hausthür hinaus auf die Straße, den Weg +nach seiner Wohnung einschlagend.</p> +</div> +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"><span class="tei tei-pb" id="page017">[pg 017]</span><a name="Pg017" id="Pg017" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc4" id="toc4"></a> +<a name="pdf5" id="pdf5"></a> +<a name="pdb6" id="pdb6"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 2.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Der rothe Drachen.</span></h1> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der »rothe Drachen«, ein Wirthshaus, das wegen seines +vortrefflichen Bieres, wie sonst mancher schätzenswerthen +Eigenschaften einen sehr guten Namen hatte, lag etwa eine +halbe Stunde von Heilingen, an der großen Landstraße, die +gen Norden führte. Ein freundlicher Thalgrund umschloß +Haus und Garten und die dunklen, den Gipfel des nächsten +Hanges krönenden Nadelhölzer hoben nur noch mehr das +freundliche Grün der jungen Birken und Weißeichen hervor, +die sich über die niedere Abdachung erstreckten, und bis scharf +hinan an den hocheingefriedigten und sorgfältig in Ordnung +gehaltenen Frucht-, Gemüse- und Blumengarten des Hauses +selber lehnten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es war ein warmer, sonniger Frühlingsnachmittag; der +Bach, der am Hause dicht vorbeirieselte, plätscherte und schäumte +in frischem jugendlichen Uebermuth, des Eises Hülle, die ihn +<span class="tei tei-pb" id="page018">[pg 018]</span><a name="Pg018" id="Pg018" class="tei tei-anchor"></a>so lange gefangen gehalten oder doch fest und ängstlich eingeklemmt, +nun endlich einmal enthoben zu sein, und die Vögel +zwitscherten so froh und munter in den Zweigen der alten +knorrigen Linde, die unfern der Thüre stand, und flatterten +und suchten herüber und hinüber, aus den blühenden Obstbäumen +fort über den Hof und von dem Hof wieder fort in dicht +versteckten Ast und Zweig hinein, mit einem gefundenen Strohhalm +oder einer erbeuteten Feder im Schnabel, daß Einem das +Herz ordentlich aufging über das rege glückliche Leben. Und +wie blau spannte sich der Himmel über die blühende, knospende +Welt, wie leicht und licht zogen weiße duftige Wolken, Schwänen +gleich, durch den Aether hin, farbige, flüchtige Schatten +werfend über Wiesen und Feld und die weite Thalesflucht, die +sich dem Auge in die Ferne öffnete und dem leuchtenden Blick +neue Schätze bot, wohin er fiel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Ein Frühling in Deutschland — ein Frühling im <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Vaterland</span></em>; +oh wie sich das Herz da mit der wirbelnden, schmetternden +Lerche hebt und jubelnd, jauchzend gen Himmel steigt; +zwinge die Thräne da nicht zurück, die sich Dir, dem Glücklichen, +in's Auge drängt — in ihrem Blitzen preisest Du den +Vater droben, wie es die jubelnde Lerche dort thut, die mit +zitterndem Flügelschlag über den grünen Matten schwebt; — wie +das raschelnde flüsternde Blatt im Wald, wie der schwankende, +thaugeschmückte Halm und die knospende, duftende +Blüthe im Thal. Ein Frühling im Vaterland — oh wie +schön, wie jung und frisch die Welt da um uns liegt in ihrem +bräutlichen Glanz, voll neuer Hoffnungen in jedem jungen<span class="tei tei-pb" id="page019">[pg 019]</span><a name="Pg019" id="Pg019" class="tei tei-anchor"></a> +Keim, und wie sich das Herz der schönen Blume gleich zusammenzog, +als der Herbststurm über die Haide fuhr, mit +rauher Hand den Blattschmuck von den Bäumen riß und zu +Boden warf und Schnee und Eis vor sich hin jagte über die +erstarrende Flur, so öffnet es sich jetzt mit vollem Athemzug +wieder den balsamischen Frühlingsgruß, und vorbei, vergessen +liegt vergangenes Leid — wie der verwehte Sturm selber keine +Spur mehr hinterließ und die schönsten Blumen jetzt gerade +an den Stellen blühen, wo er am tollsten, rasendsten getobt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Ein warmer erquickender Regen war die letzten Tage gefallen, +und so gut er dem Land gethan, hatte er doch die Bewohner +des nahen Städtchens in ihre Häuser und Straßen +gebannt gehalten, von wo aus sie sehnsüchtig die nahen grünenden +Berge theils, theils die dunklen Wolken betrachteten, +die nicht nachlassen wollten Segen auf die Fluren niederzuträufeln. +Heute aber hatte sich das geändert; voll und warm +glühte die Sonne am Himmelszelt und hinaus strömten sie in +jubelnden Schaaren, hinaus in's Freie. Der »rothe Drachen« +vor allen anderen Plätzen, der so reizend an der Oeffnung des +Thales lag und die Aussicht bot in das darunter liegende +freie Land, hatte dabei sein reichlich Theil erhalten der fröhlichen +Schaar, daß die Wirthin mit ihren Kellnern und Mägden +nicht Hände genug hatte zu schaffen und herzurichten, und +die Tische und Bänke im Garten draußen fast alle besetzt waren +rund herum von Schmausenden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der »rothe Drachen« sollte übrigens, wie die Sage ging, +seinen Namen von einem wirklichen Drachen bekommen haben, +<span class="tei tei-pb" id="page020">[pg 020]</span><a name="Pg020" id="Pg020" class="tei tei-anchor"></a>der einmal vor vielen hundert Jahren in der Schlucht weiter +oben, die auch noch ebenfalls nach ihm die Drachenschlucht +hieß, gehaust und viele Menschen und Rinder verschlungen +hatte. Der Wirth des »rothen Drachen« nun, Thuegut Lobsich, +dessen Voreltern schon diesen Platz gehalten, behauptete +dabei, Einer seiner »Ahnen« habe den Drachen im Einzelkampf +erlegt — (die Gäste meinten, mit schlechtem Bier vergiftet) +und dafür von dem damals regierenden Fürsten Platz +und Wirtschaft als Gerechtsame, mit dem Schild als Wahrzeichen, +erhalten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Wie dem auch sei, Thuegut Lobsich that wirklich gut auf +dem Platz, der ihm vortreffliche Nahrung bot, und befand sich +so wohl, wie sich nur ein Wirth in einer gut gelegenen Wirthschaft +befinden kann. Seine Frau war aber dabei der Nerv +des Ganzen, in Küche und Stall, in Keller und Haus, und +während sich Vater Lobsich, wie er sich gern nennen ließ, obgleich +er noch jung und rüstig war, am Liebsten zu seinen +Gästen irgendwo an einen Tisch drückte und »das Bier controllirte«, +wie er sagte, daß ihm die Burschen kein Saures +brachten und die Gäste verjagten, arbeitete die Frau im +Schweiße ihres Angesichts vor dem Heerd, die bestellten Portionen +herzurichten und zu gleicher Zeit auch den Verkauf von +Kaffee, Thee, Milch und Kuchen zu überwachen. Dabei führte +sie die Kasse und rechnete mit Kellnern und Mädchen ab, und +wehe denen, die eine halbe Portion Kaffee oder Kuchen vergessen, +ein nichtbezahltes Glas nicht aufnotirt oder einem +<span class="tei tei-pb" id="page021">[pg 021]</span><a name="Pg021" id="Pg021" class="tei tei-anchor"></a>schlechten Kunden noch einmal gegen den direkt gegebenen +Befehl geborgt hatten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Böse Zungen meinten dabei nicht selten, Frau Lobsich sei +der »einzige Mann im Hause« und Thuegut dürfe nur tanzen, +wenn sie nicht daheim wäre; böse Zungen erwähnten dann +aber nicht dabei, daß sie wirklich allein das Hauswesen in +Zucht und Ordnung hielt, und so scharf und heftig sie draußen +in Küche und Wirtschaft, wo sie fremde Leute doch auch +eigentlich nur zu sehen bekamen, sein konnte, und so große +Ursache sie dabei oft hatte ärgerlich zu sein, und die Ursache +dann auch für vollkommen genügend hielt, es wirklich zu werden, +so still und freundlich konnte sie sich betragen, wenn sie +allein mit ihrem Manne war, und so gern gab sie ihm in +Allem nach, was nicht eben zu Ruin und Schaden trieb. Salome +Lobsich war das Muster einer Hausfrau, und was ebensoviel +sagen will, eine gute Gattin dabei — ob ihr Mann +dasselbe auch von sich sagen konnte, stand auf einem anderen +Blatt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Heute hatte sich übrigens eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft +in dem gar so freundlich gelegenen Garten des rothen +Drachen eingefunden, und dicht vor der Thür desselben, unter +der alten breitschattigen Linde, die ihre Arme so weit nach +rechts und links hinüberstreckte, daß man sie schon hatte stützen +müssen, nur den Weg zu ihr und den Platz darunter frei zu behalten, +saß Lobsich selber mit einem kleinen Kreis guter +Bekannten, d. h. alter Kunden und quasi Stammgäste von +ihm, denn er selber kam selten irgend wo anders hin, und +<span class="tei tei-pb" id="page022">[pg 022]</span><a name="Pg022" id="Pg022" class="tei tei-anchor"></a>wer also sein Bekannter <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">bleiben</span></em> wollte, mußte ihn eben +besuchen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Zu diesen gehörte besonders Jacob Kellmann, ein Kürschner +und Pelzhändler aus Heilingen, dann der Aktuar Ledermann +von dort, eine lange hagere, etwas ungeschickte Gestalt, +mit aber nicht unangenehmen, gutmüthigen Gesichtszügen, und +der Apotheker aus Heilingen, Schollfeld mit Namen, die es +gewöhnlich so einzurichten wußten, daß sie an einen Tisch mit +einander zu sitzen kamen. Lobsich nahm ebenfalls am Liebsten +zwischen dieser kleinen Gesellschaft Platz, und nur dann und +wann, besonders wenn er die Stimme seiner Frau irgendwo +hörte, stand er auf und ging einmal durch den Garten und +die Reihen seiner Gäste, zu sehn ob Alle ordentlich bedient +würden, und keine Klagen einliefen gegen unaufmerksame Kellner, +die er in dem Fall auch wohl gleich an Ort und Stelle +mit einem Knuff oder einer Ohrfeige abstrafte, als warnendes +Beispiel. Er mußte an irgend Jemand seinen Aerger auslassen, +daß er nicht bei seinem Biere konnte sitzen bleiben.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ist doch ein prachtvolles Wetter heute,« sagte Kellmann, +der eben einen tüchtigen Zug aus seinem Glase gethan, und +nun mit vollem zufriedenen Blick über das freundliche Bild +hinaus schaute, das sich, von der warmen Nachmittagssonne +beschienen, in all seinem blitzenden Glanz und Farbenschimmer +vor ihnen aufrollte »und es wächst und gedeiht Alles draußen +so schön und steht so prächtig — merkwürdig dabei, daß Alles +so theuer bleibt, und die Preise, statt herunter zu gehen, immer +nur steigen und steigen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page023">[pg 023]</span><a name="Pg023" id="Pg023" class="tei tei-anchor"></a>»Ja das weiß Gott,« seufzte der Aktuar, dem der Gedanke +selbst den Geschmack am Bier wieder zu verderben schien, +denn er setzte das schon zum Mund gehobene Glas unberührt +vor sich nieder — »und wenn das noch eine Weile so fort +geht, können wir alle mit einander verhungern oder davonlaufen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun Ihr habt gut reden,« sagte Kellmann, »Ihr bekommt +vom Staat Euer Gewisses und könnt Euch genau danach +einrichten — Euer Geld muß Euch werden, wenn der +erste jedes Monats kommt, unsereins hängt aber allein von +den Zeiten ab, und wenn die Lebensmittel knapp werden, kauft +Niemand einen Pelz. Holz will auch sein und daran kann +sich nachher die ganze Familie wärmen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ihr redet wie Ihr's versteht,« brummte der Aktuar, — »unser +Gewisses bekommen wir, das ist wahr, aber nur deshalb, +damit wir gewisses Elend vor den Augen haben. Ich +habe fünfhundert Thaler Gehalt, und Frau und Kind und +Dienstmädchen zu ernähren, und soll anständig dabei gekleidet +gehn, denn vor zehn und zwanzig Jahren hatte ein Aktuar in +meiner Stellung auch nicht mehr, und machte das Alles möglich, +ja befand sich wohl dabei. Jetzt aber wird Brod, Butter, +Fleisch, Holz, Wohnung, kurz Alles was wir nun einmal +zum Leben brauchen, gesteigert von Tag zu Tag, aber meine +fünfhundert Thaler <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">bleiben</span></em>; vor zehn Jahren kaufte ich +zwanzig Pfund Brod für dasselbe Geld, für das ich jetzt nicht +zehn bekomme — aber <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">meine</span></em> fünfhundert Thaler <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">bleiben</span></em>. +Auch mein Hausherr verlangt höheren Zins — schon voriges<span class="tei tei-pb" id="page024">[pg 024]</span><a name="Pg024" id="Pg024" class="tei tei-anchor"></a> +Jahr bin ich höher gegangen, um nicht gesteigert zu werden, +d. h. für denselben Preis aus der zweiten in die dritte Etage +gezogen, aber dies Jahr muß ich ganz hinaus, denn er will +wieder zehn Thaler mehr haben und ich kann's ihm nicht +geben. Ihr Leute habt Euch gut in die Zeiten schicken, denn +wenn das Brod theuer wird, schlagt Ihr desto mehr auf Euere +Waare, der kleine Beamte aber, der Staatsdiener um geringen +Lohn, das ist das geplagte, gefährdete Geschöpf, und jede +neue Taxe macht ihm keine neue Berechnung, sondern schnallt +ihm nur den Leibriemen um ein Loch enger, daß er weniger +ißt, bis er in's <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">letzte</span></em> Loch geworfen wird, zum ersten Mal +von seinen irdischen Strapatzen, ohne Furcht vor rasch abgelaufenen +Ferien, wirklich ungestört auszuruhen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach geht mit Eueren erbärmlichen Lamentationen an +solch freundlichem Tag,« fiel ihm der Wirth hier in die Rede, +der sich erst vor ein paar Augenblicken wieder mit zum Tisch +gesetzt und schon eine ganze Weile ungeduldig mit dem Kopf +geschüttelt hatte. »Das Reden macht's nicht besser und Stöhnen +und Seufzen hilft auch Nichts — Kopf oben, das ist die +Hauptsache; das andere macht sich von selber — aber hallo« — unterbrach +er sich plötzlich, von seinem Sitze aufstehend und +die Straße hinunterzeigend, die in das weite Thal führte — »was +kommt dort für ein Trupp den Weg entlang?« — und +in der That wurde dort oben ein ganzer Zug Männer, Frauen +und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspännigen +Wägelchen sichtbar.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das sind Auswanderer!« rief Jacob Kellmann, von +<span class="tei tei-pb" id="page025">[pg 025]</span><a name="Pg025" id="Pg025" class="tei tei-anchor"></a>seinem Stuhl aufspringend und dem Zug entgegenschauend — »seht +nur ein Mensch an, wieder ein ganzer Schwarm aus +dem Hessischen; Heiland der Welt, da muß doch endlich einmal +Platz werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na nu ist wieder der Frieden beim Henker,« rief aber +der Apotheker mürrisch — »hier Lobsich setzt Euch auf Eueren +Stuhl und trinkt Euer Bier aus, und Ihr Kellmann, laßt das +Volk da draußen laufen, wohin sie wollen — unzufriedene +Bande, die es ist und die es nirgends gut genug kriegen kann, +wo ihr nicht das Confekt auf goldenen Tellern präsentirt wird. +Na kommt nur hinüber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr +sticht — Euch werden sie schon noch das Fell über die Ohren +ziehn, daß Ihr am hellen lichten Tag die Sterne zu sehn +bekommt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein was für ein Zug!« rief aber Kellmann, die langsam +näher kommende Schaar mit unverkennbarem Interesse +betrachtend; »die armen Teufel.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hört Kellmann,« rief aber Schollfeld ärgerlich, »tretet +mir da ein wenig aus dem Weg, daß ich auch was sehen +kann, und setzt Euch wieder, ich dächte doch wahrhaftig, Auswanderer +hier an der Straße wären nichts so besonders Neues, +daß Ihr Maul und Nase aufsperrt und thut, als ob Euch so +etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen wäre.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Schollfeld war übrigens nicht umsonst so mürrisch; er +hatte einen Zorn auf Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung +als eine indirekte Beleidigung gegen den Staat, +gewissermaßen als eine Grobheit, die man ihm geradezu unter +<span class="tei tei-pb" id="page026">[pg 026]</span><a name="Pg026" id="Pg026" class="tei tei-anchor"></a>die Nase sage — : »ich mag nicht mehr in Dir leben und weiß +einen Platz, wo's besser ist.« Das <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">dachten</span></em> sich nämlich die +»Tölpel«, wie er sie nannte, aber Sie <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">wußten</span></em> es nicht — gar +Nichts wußten sie und liefen blind und toll in die Welt +hinein. Der Staat hätte auch eigentlich den Skandal gar +nicht dulden sollen; hunderte von Menschen, reine Deserteure +aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei vorbei, Anderen +noch obendrein ein böses Beispiel gebend, und er begriff die +Regierung nicht, wie sie dem Volke nur noch einen Paß gestatten +konnte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Zug war indessen näher gekommen und Lobsich rasch +in das Haus gegangen Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen +Trupps gewöhnlich eine Menge junge Burschen befanden, +die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst hatten; +um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und +den Hals trocken machte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="text-align: center; margin-bottom: 1.00em"> +</p><div class="tei tei-figure" style="text-align: center"><img src="images/illu002.jpg" width="511" height="704" alt="Capitel 2" /></div> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die ersten Wägen passirten still vorbei; die Führer warfen +einen langen, vielleicht sehnsüchtigen Blick nach den behaglich +hinter ihren Tischen sitzenden Gästen und dem <span class="tei tei-corr">kühlen</span> +funkelnden Bier hinüber, aber hielten nicht an, sich längere +Rast dafür auf den Abend versprechend. Nur von den Fußgängern +blieben mehre Trupps unfern der Linde, unter der +unsere kleine Gesellschaft saß, und nicht weit von der <span class="tei tei-corr">Gartenthüre</span> +stehn, und während ein paar der Männer dem Kellner +winkten, ihnen Bier herauszubringen, als ob sie sich scheuten +in ihrer bestaubten schmuzigen Kleidung, mit der schweißbedeckten +Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen +<span class="tei tei-pb" id="page027">[pg 027]</span><a name="Pg027" id="Pg027" class="tei tei-anchor"></a>herübersehenden Gruppen hineinzugehn, hielt ein Trupp Frauen +ebenfalls dort. Angezogen von der plötzlichen weiten und freien +Aussicht, die ihnen hier nach unten zu das Thal öffnete, durch +das sie gekommen, blieben sie erfreut und überrascht stehn und +schauten dabei auf das reizende Bild hin, das wie mit einem +Schlage so vor ihnen in's Leben sprang.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Heiland der Welt, Lisbeth,« rief ein junges, sechzehnjähriges +Mädchen der, vielleicht zwei Jahr älteren Schwester +zu — »dort drüben liegt Holstetten, und von da ist's nur noch +neun Stunden zu Haus — dahinter kann ich den weißen +Weg durch's schwarze Nadelholz sehn, der hinüberführt nach +Krisheim.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja Marie,« antwortete das Mädchen, und während sie +sprach, liefen ihr die großen hellen Zähren an den bleichen +Wangen nieder, »gleich hinter dem Berg dort muß die Windmühle +liegen, und dann kommt Bachstetten und nachher« — sie +konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll und +sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren +Schmerz sah, noch schwerer machen. Aber zurückdämmen ließ +sich das auch nicht, die Wunde war noch zu frisch und blutete +zu stark, und beide Mädchen standen wenige Minuten still und +weinend da, die schönen thränenüberströmten Züge den ihr +nächsten Menschen ab- und der verlassenen Heimath, die sie +wohl nie im Leben wieder schauen sollten, zugekehrt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich hält +und pflegt, wie sie es versprochen,« brach die Jüngste endlich +wieder mit leiser kaum hörbarer Stimme das Schweigen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page028">[pg 028]</span><a name="Pg028" id="Pg028" class="tei tei-anchor"></a>»Sie hat's ja versprochen,« flüsterte fast eben so leise die +Schwester zurück, »aber — — — — so lieb wird sie's doch +nicht haben wie wir.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Komm Lisbeth,« sagte die Jüngere wieder und ergriff, +ohne sie aber dabei anzusehn, der Schwester Hand — »wir +wollen gehn — die Wagen sind schon ein Stück voraus.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Beide Mädchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen +Heimath zu und schritten dann schweigend Hand in +Hand den Weg entlang, der nach und durch Heilingen führte, +ihre weite, unbekannte Bahn.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»He Marie, Lisbeth!« rief sie der Vater an, der eben an +der Thür des Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner +erhalten hatte — »wollt Ihr einmal trinken Kinder?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich danke Vater,« sagte Marie zurück, ohne sich umzusehn +oder stehn zu bleiben, »wir sind nicht durstig.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Woher des Wegs Ihr Leute?« wandte sich jetzt Kellmann, +der trotz Schollfeld's ärgerlichen Worten zu dem Alten +getreten war, an diesen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aus Hessen,« sagte der Mann ruhig und that einen +langen durstigen Zug aus dem, mit dem trefflichen Bier gefüllten, +schäumenden Glas.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und wohin?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm — ist ein weiter Weg — ist Euch wohl schlecht +gegangen hier im Lande?« sagte Kellmann, die kräftige und +doch gramgebeugte Gestalt des alten Landmanns teilnehmend +betrachtend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page029">[pg 029]</span><a name="Pg029" id="Pg029" class="tei tei-anchor"></a>Der Bauer, dessen Blick auch an dem fernen Punkt indeß +gehangen, wo seine frühere Heimath lag, ließ das Auge einen +Moment wie mißtrauisch über den Frager gleiten und erwiederte +dann leise und kopfschüttelnd:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Schlecht? — lieber Gott wie man's nimmt; man soll +g'rad nicht klagen; der liebe Gott hat geholfen und wird weiter +helfen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben +holen die in Amerika herumfliegen?« mischte sich hier der +Apotheker in's Gespräch, der nicht umhin konnte dem »Auswanderer«, +wie er sich ausdrückte, »einen Hieb zu versetzen« — »habt +Ihr auch Messer und Gabeln mit?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Bauer sah den kleinen, spöttisch lächelnden Mann +einen Augenblick ruhig von der Seite an, zahlte dann dem +neben ihm stehenden Kellner, dem er das Glas zurückgab, sein +Bier, und ohne irgend etwas auf die Frage zu erwiedern, oder +ärgerlich darüber zu scheinen, ja als ob er sie nicht gehört +hätte, wandte er sich und folgte mit einem »grüß Euch Gott +Ihr Herren«, seinen vorangegangenen Töchtern.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Holzkopf,« brummte der Apotheker, nur noch mehr gereizt +über diese anscheinende Misachtung, hinter ihm drein — »dem +Volk ist zu wohl hier,« setzte er dann, mit einem kräftigen +Zug aus seinem Glase hinzu — »der Art Leute fühlen +sich nicht behaglich, wenn sie nicht baumfest unter dem Daumen +gehalten werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Guten Abend miteinander,« sagte in diesem Augenblick +ein Anderer der Auswanderer, der, mit einem kurzen Pfeifen<span class="tei tei-pb" id="page030">[pg 030]</span><a name="Pg030" id="Pg030" class="tei tei-anchor"></a>stummel +in der Hand zu dem Tisch trat, auf dem in einem +schützenden Kelchglas ein Licht mit darum gesteckten Fidibus +zum Anzünden der Cigarren stand — »wenn's erlaubt ist, +möchte ich mir wohl einmal eine Pfeife bei Euch anbrennen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mit Vergnügen,« sagte Ledermann, ihm einen Fidibus +anzündend und hinreichend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Danke schön,« nickte der Mann, das Feuer benutzend und +den blauen Qualm in schnellen kurzen Zügen ausblasend. — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und wo geht die Reise hin?« frug Ledermann dem Rauchenden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Da hinüber,« sagte dieser; immer noch scharf ziehend, +indeß er mit dem linken, zurückgebogenen Daumen über die +linke Achsel wieß — »übers große Wasser.« — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Habt Ihr dort schon einen Platz?« frug der Aktuar.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja,« sagte der Mann freundlich — »mein Bruder hat +mir geschrieben aus dem Wiskonsin heraus; da soll's gut sein.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und geht Ihr Alle dorthin?« frug ihn Kellmann.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Die meisten von uns, ja; eine Parthie will aber auch +hinüber in's Missuri; da ist's wärmer.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es sind wohl lauter Landleute hier miteinander?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja meistens — ein Schneider ist dabei, und der Schmied +aus dem Dorfe und der Herr Pastor ist schon voraus.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der Pastor geht auch mit?« frug Kellmann schnell.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ahem,« nickte der Mann, »der ist aber mit der Post +gefahren, aber er hat gesagt er wollte sehn daß wir Alle auf +ein Schiff kämen. Danke schön Ihr Herren, adje.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Glückliche Reise,« rief ihm Kellmann nach.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page031">[pg 031]</span><a name="Pg031" id="Pg031" class="tei tei-anchor"></a>»Danke,« nickte der Mann noch einmal zurück, »könnens +brauchen,« und schloß sich den übrigen wieder an, von denen +die letzten gerade die Thür des Wirthshauses passirten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es waren ärmliche, viele von ihnen kränklich oder wenigstens +bleich aussehende Gestalten, in die Bauerntracht ihrer +Gegend gekleidet; die meisten Frauen mit Kindern auf dem +Arm, Manche sogar deren an der Brust, und ein Bündel dazu +auf dem Rücken, die im Schweiß ihres Angesichts, wie sie bis +jetzt gelebt, mühsam der fernen ersehnten Heimath entgegenstrebten. +Hie und da waren auch ein paar kräftige junge +Burschen von zwölf bis vierzehn Jahren vor ein kleines leichtes +Handwägelchen gespannt, darauf gepackte Betten, Kleidungsstücke +und Lebensmittel die weite Straße entlang zu +ziehen. — Die Leute hatten kein Geld übrig, denn das wenige, +was sie zur Reise aufgespart, mußten sie für das Schiff aufheben, +und ein paar Thaler sollten doch auch noch wenigstens, +wenn das irgend anging, übrig bleiben, damit sie nur die +ersten Tage in Amerika, ehe sie Arbeit bekämen, vor Sorge +geschützt wären. Den glänzenden Schilderungen die ihnen von +dem neuen Lande ihrer Hoffnungen gemacht waren, trauten +die armen Frauen am wenigsten in ihrem vollen Umfange; +von Jugend auf, wie ihnen nur eben die Kräfte wurden ihre +jüngeren Geschwister in der Welt herumzuschleppen, hatten sie +arbeiten, hart arbeiten müssen, und viel anders würde es auch +wohl nicht da drüben sein. Der Sorgen waren hier nur gar +so viele angewachsen, mit jedem Jahre mehr, wie sie sich auch +plagten und quälten, und schlechter <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">konnte</span></em> es dort drüben +<span class="tei tei-pb" id="page032">[pg 032]</span><a name="Pg032" id="Pg032" class="tei tei-anchor"></a>nicht sein. Das war für jetzt der einzige Trost den sie mit +sich trugen die lange, heiße Straße entlang mit einer kleinen +Hoffnung möglicher Besserung vielleicht, und sie drückten +dann die Kinder nur fester an ihr Herz und küßten sie, und +flüsterten ihnen leise und heimlich zu daß sie nicht mehr schreien +sollten, denn sie gingen nach <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Amerika</span></em>, und da würde schon +Alles gut werden, wie ihnen der Vater gesagt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Männer und Burschen zogen der fernen Welt aber +schon mit mehr Vertrauen entgegen; das Bewußtsein der eigenen +Fähigkeit und Kraft hob sie dabei auch über Manches +hinweg das die abhängigen Frauen schwerer zu Boden drückte. +Wer bei einer langen Wanderung voran geht, und für den +Weg zu <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">denken</span></em> hat, wird nie so müde als der, der ihm +folgt, nur für sich denken läßt, und hinter drein zieht. Viele +von den Männern trugen auch Jagdtaschen und Gewehre auf +dem Rücken, Büchsen und Schrotflinten — was sollte es »da +drüben« nicht Alles zu schießen geben; — Manche auch nachgemachte +bunte Blumensträuße auf dem Hut. Einzelne, aus +Baiern und Thüringen, die sich ihnen angeschlossen, hatten +sogar ein paar kleine gefärbte Maraboutfedern mit ihren Landesfarben, +blau und weiß, und grün und weiß in ihrem Hutband +stecken; die Meisten aber schienen keine solche Erinnerung +an die Heimath mitnehmen zu wollen, in das neue Vaterland.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Leute gingen vorüber, und die Gäste hatten ihnen +schweigend nachgeschaut, so lange fast, bis sie die nächste Biegung +der Straße ihren Blicken entzog. Auch Lobsich war +wieder vor die Thür seines Gartens getreten, und sich jetzt +<span class="tei tei-pb" id="page033">[pg 033]</span><a name="Pg033" id="Pg033" class="tei tei-anchor"></a>kopfschüttelnd zurück zu seinem Tische wendend, brummte er +vor sich hin.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»S'ist mir doch was Unbedeutendes« — es war dieses +eine seiner stehenden Redensarten, die in der That unbegrenztes +Erstaunen ausdrücken sollte — »was die Leute dieß Frühjahr +wieder an zu ziehen fangen; Tag für Tag geht das so fort; +Trupp nach Trupp kommt über die Berge herüber, mit Sack +und Pack, mit Weib und Kind — und Alles fort, Alles fort, +und man merkt nicht einmal von <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">wo</span></em> sie fort sind.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Doch, doch,« sagte Kellmann, die Augenbrauen in die +Höhe ziehend und mit dem Kopf nickend, »doch, doch Lobsich; +ob man's wohl merkt? — geht einmal da über die Berge hinüber +und seht Euch in den Dörfern um; da steht manches alte +halbzerfallene <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">leere</span></em> Haus, an das irgend eine Familie da +drüben noch mit Schmerzen zurückdenkt, und in das Niemand +anderes mehr Lust hat einzuziehen, weil er noch eine Menge +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">bessere</span></em>, ebenfalls leer, in demselben Dorfe findet. Es ist +immer ein trauriger Anblick solch ein leeres Haus, und ich +seh's nicht gern.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und was für <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Geld</span></em> tragen sie außer Land,« fiel der +Apotheker hier ein, der indeß, sich zu zerstreuen, im Heilinger +Tageblatt gelesen hatte, jetzt aber nicht umhin konnte auch noch +ein Wort mit drein zu werfen — »was sie nicht mit hinübernehmen +können, lassen sie wenigstens in den Seestädten, und +zu uns kommt Nichts mehr davon zurück. Wenn ich nur das +erst einmal erlebe, daß die Leute zu ihrem Glück förmlich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">gezwungen</span></em>, +und nicht mehr aus dem Land hinausgelassen wer<span class="tei tei-pb" id="page034">[pg 034]</span><a name="Pg034" id="Pg034" class="tei tei-anchor"></a>den; +geht das aber so fort, so werden sie so lange auswandern, +bis uns hier weiter gar Nichts übrig bleibt als mitzugehen, +wenn wir nicht eben allein sitzen wollen in dem verödeten +Land, unseren Acker selber zu bauen. Hol sie der Teufel, +wofür hat sie denn eigentlich der liebe Gott in die Welt gesetzt +und ihnen den Holzkopf gegeben, der sie zu allem Anderen untauglich +macht. Ackern und Düngen müssen sie drüben doch +auch, und weshalb können sie das nicht eben so gut <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">hier</span></em>? — Nein +Gott bewahre, die paar Thaler die sie sich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">hier</span></em> erspart +haben, müssen erst wieder verschleppt und hinausgeworfen +werden an Experimente und reinen Uebermuth, und nachher +sitzen sie erst recht da; dort drüben <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">können</span></em> sie Nichts mehr +sparen, und <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">müssen</span></em> schon drüben bleiben, wenn sie auch +wieder herüber möchten. Die Paar die sich doch noch ein paar +Thaler zusammenscharren, die kommen nachher schnell genug +wieder zurück, aber es sind nur wenige, und die anderen armen +Teufel haben die Brücke muthwillig hinter sich abgebrochen, +und sitzen nun auf der wohlriechenden Haide ohne Unterfutter. +Jesus Maria und Joseph, es muß ein ordentlicher Jammer +drüben sein.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">so</span></em> arg nun denn doch wohl noch nicht, Schollfeld,« +sagte Kellmann kopfschüttelnd, »man hört doch nun auch +so Manches von da drüben was nicht gar so schlecht klingt, +und wo sich's schon aushalten ließe, wenn man — wenn man +eben einmal einen solchen verzweifelten Schritt absolut thun +müßte oder wollte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nicht so arg?« rief aber Schollfeld, der hier sein Stecken<span class="tei tei-pb" id="page035">[pg 035]</span><a name="Pg035" id="Pg035" class="tei tei-anchor"></a>pferd +ritt, und sich selten eine Gelegenheit entgehen ließ auf +Amerika zu schimpfen — »nicht so arg? da, hier lesen Sie +einmal das Tageblatt, was der wackere Dr. Hayde darüber +schreibt; das ist ein Mann, der hat Haare auf den Zähnen +und muß die Sache verstehn, denn er ist Einer von den Wenigen +die drüben gewesen und glücklich wiedergekommen sind. +Er bringt kaum eine Nummer in der er nicht ein oder den +anderen Hieb auf die Verhältnisse Ihres »glücklichen Amerika« +hat — das muß ja ein wahres Raubnest sein, lesen Sie nur +einmal.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hören Sie lieber Schollfeld, ich will Ihnen einmal 'was +sagen,« erwiederte ihm Kellmann ruhig, »dieser Dr. Hayde, +der Ihnen die schönen Artikel schreibt ist, der Meinung aller +ordentlichen Kerle in Heilingen nach, das wenigste zu sagen +eine kleine geschwollene Giftkröte, ein weggelaufener Advokat, +den die Verhältnisse aus Deutschland vertrieben, und den in +Amerika Niemand mit seinen Talenten haben mochte. Zu faul +zum arbeiten, und nicht im Stande etwas Anderes zu thun, +wurde er dort wahrscheinlich vom Schicksal hin- und hergestoßen, +und wie ein aus einer Thür geworfener Mops, stellt +er sich jetzt draußen hin, wo sich Niemand die Mühe giebt ihn +zu stören, und schimpft und klefft. Ich will Amerika eben +nicht in allem vertheidigen, aber was <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">der</span></em> gerade darüber sagt +würde mich auch nicht bestimmen. Wie ein Dreckkäfer schleppt +er sich nur mit größter Mühe kleine Stückchen Koth herbei, +und rollt sie zusammen eine Kugel zu machen in die er sein +Ei legt — pfui über den Burschen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page036">[pg 036]</span><a name="Pg036" id="Pg036" class="tei tei-anchor"></a>»Na jetzt freut mich aber mein Leben,« rief Herr Schollfeld +erstaunt aus — »erst schimpfen Sie selber auf Amerika, +und nun auf einmal soll der arme Doktor die ganze Schuld +tragen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">schimpfe</span></em> nicht auf Amerika,« sagte Kellmann +ruhig, »ich kann nur nicht leiden wenn man es auf Kosten +unseres eigenen Vaterlandes herausstreicht, und gegen alle seine +Nachtheile blind ist. Es wäre allerdings noch viel gefährlicher +sich die Lichtseiten alle zu bunt auszumalen; die armen +Leute die nachher hinübergehn und es anders finden, sind dann +zu sehr enttäuscht, und fallen gewöhnlich, wie mir gesagt ist, +aus einem Extrem in's Andere — aber so taugt's auch Nichts.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Guten Abend selbander,« sagte in dem Augenblick eine +andere Stimme dicht hinter ihnen, und als sie sich danach umschauten, +stand ein alter Bekannter von ihnen, Mathes Vogel, +ein reicher junger Bauer aus dem nächsten Dorf, an ihrem +Tisch und streckte ihnen freundlich die Hand entgegen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hallo Mathes, wie geht's?« rief Kellmann die gebotene +herzlich schüttelnd — »Wetter noch einmal Mann, wo habt +Ihr jetzt gerade in der Saatzeit gesteckt, daß Ihr in der Welt +herumreist wie ein Baron, der seine Güter verpachtet hat? +Ihr seid verreist gewesen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja Herr Kellmann, in Bremen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wo seid Ihr gewesen?« frug Schollfeld erstaunt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»In Bremen, Herr Schollfeld!« rief der junge Bauer, +gegen diesen gewandt, »oben in der Hafenstadt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Guten Abend Mathes,« kam hier der Wirth dazwischen, +<span class="tei tei-pb" id="page037">[pg 037]</span><a name="Pg037" id="Pg037" class="tei tei-anchor"></a>der den alten Kunden ebenfalls begrüßte — »lange nicht gesehn, +recht groß geworden mein Junge; hast Du Durst?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Merkwürdigen,« sagte der Bauer lächelnd.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na warte, den wollen wir begießen,« schmunzelte aber +Lobsich, rasch in den Garten zurückgehend, »der soll mir nicht +umsonst in den rothen Drachen gefallen sein.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber was hat Euch nach Bremen geführt?« wiederholte +Kellmann, fast etwas mißtrauisch gemacht durch das wunderliche +halb verlegene Benehmen des jungen Burschen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja Herr Kellmann,« sagte der reiche Bauerssohn, wirklich +jetzt verlegen seinen Hut um den Zeigefinger der linken +Hand drehend — »das hat — das hat so seine eigene Bewandtniß + — Ich bin — ich bin zu einem Entschluß gekommen + — ich will — ich will auswandern.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Was will er?« schrie Schollfeld, der die Worte nicht +ganz verstanden, den ungefähren Sinn aber etwa errathen +hatte. Jedenfalls schöpfte er Verdacht und ehe Kellmann nur +im Stande war ein Wort darauf zu erwiedern rief er nochmals +laut: »wo will er hin?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika,« sagte aber der junge Mann entschlossen +und wollte noch etwas hinzusetzen, aber der Apotheker schlug +dermaßen auf den Tisch, und fing so an zu schimpfen und zu +fluchen, Niemand wußte eigentlich auf was und gegen wen, +daß Mathes gar nicht gleich wieder zu Worte kommen konnte, +und vielleicht auch eben nicht böse darüber war.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hallo, wer ist todt?« rief aber in dem Augenblick Lobsich, +der mit dem bestellten Bier für einen seiner besten Kunden +<span class="tei tei-pb" id="page038">[pg 038]</span><a name="Pg038" id="Pg038" class="tei tei-anchor"></a>selber ankam — »daß Dich die Milz sticht, was ist denn dem +Apotheker eigentlich in die Krone gefahren?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dem Apotheker Nichts,« nahm aber Kellmann kopfschüttelnd +das Wort, »doch hier dem Dings da, dem Mathes — was +meint Ihr, Lobsich was er vor hat?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Heirathen</span></em>?« sagte dieser, und ein breites vergnügtes +Schmunzeln über den so richtig und schnell gerathenen Vorsatz +zog sich über sein dickes gutmüthiges Gesicht.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Heirathen!« schrie aber der Apotheker dazwischen, indem +er sich seinen Hut in die Stirn drückte und seinen Rock anfing +zuzuknöpfen — »heirathen? — ja prost die Mahlzeit; <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">auswandern</span></em> +will der Kerl, wie ein blindes Pferd das durch die +Stallwand bricht, in einen Teich zu fallen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Auswandern</span></em>?« schrie aber auch jetzt Lobsich in unbegrenztestem +Erstaunen — »na das ist mir aber doch wahrhaftig +was Unbedeutendes.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Oh hol Euch der Teufel mit Eurer albernen Redensart!« +rief aber der nun einmal ärgerliche Apotheker, und nahm +seinen Stock unter den Arm — sein stetes Zeichen daß er +fertig zum Gehen sei — »was Unbedeutendes; ja wohl, wenn +der Raptus erst einmal in <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">solche</span></em> Köpfe und Geldbeutel fährt, +nachher werden wir sehn was wir hier anrichten. Ich will +mir aber mein Abendbrod nicht verderben — gute Nacht Ihr +Herren.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Halt Schollfeld!« rief aber Kellmann, ihn am Arm +fassend und zurückhaltend — »brennt mir nicht durch, ich gehe +auch gleich mit und wollte nur erst hören, was Mathes den<span class="tei tei-pb" id="page039">[pg 039]</span><a name="Pg039" id="Pg039" class="tei tei-anchor"></a> +Gedanken in den Kopf gesetzt hat. Hol's der Henker, er macht +sich entweder einen Spaß mit uns, oder es ist nur so eine Idee +von ihm, die wir ihm wieder ausreden können.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn ich das wüßte blieb ich die ganze Nacht hier,« +sagte Schollfeld, seinen Stock wieder auf den Tisch legend und +zu dem verlassenen Stuhl zurückgehend. »Mensch, Mathes, +seid Ihr denn rein vom Teufel besessen, oder habt Ihr nur +heute, in irgend einer Kneipe, ein wenig des Guten zu viel +gethan, daß Ihr so tolles Zeug zusammenfaselt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Mathes blieb aber bei allen diesen Ausbrüchen des Erstaunens, +die erste Erklärung nur einmal überstanden, vollkommen +ruhig, und zog nur, statt jeder weiteren Antwort, +einen Brief aus seiner Brusttasche, den er langsam auffaltete +und vor sich legte, als ob er ihn vorlesen wollte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun was soll's mit dem Wisch?« rief aber der Apotheker +ärgerlich, »Ihr habt Euere Seele doch noch nicht dem Gott +sei bei uns verkauft?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So schlimm noch nicht,« lachte der junge Bursch, »das +hier ist nur ein Brief von Caspar Lauber, den Sie ja Alle +kennen und der vor etwa sieben Jahren nach Wisconsin auswanderte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der was that?« rief der Apotheker, die Augen zusammenkneifend +und das linke Ohr zu ihm hindrehend — »nuschelt +nicht so in den Bart, daß Euch ein Christenmensch noch verstehen +kann ehe Ihr unter die Heiden geht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der nach Wisconsin auswanderte,« sagte der junge +Bauer lächelnd — »er hatte mir damals versprochen zu schrei<span class="tei tei-pb" id="page040">[pg 040]</span><a name="Pg040" id="Pg040" class="tei tei-anchor"></a>ben +wie es ihm ginge, schlecht oder gut; — wenn schlecht, +wollte ich ihm helfen, wenn gut, vielleicht nachkommen. Aber +er schrieb nicht Jahr nach Jahr, und da er überhaupt Nichts +von sich hören ließ, glaubte ich schon er sei da drüben gestorben +oder untergegangen in dem weiten Reich, bis ich vor vier +Wochen etwa einen Brief von ihm erhielt und seit der Zeit +habe ich keine Ruhe gehabt bis zu dem heutigen Tag.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun ja natürlich,« brummte der Apotheker.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber so laßt ihn doch nur reden,« rief jetzt auch ärgerlich +der Actuar dazwischen, »Ihr raisonnirt nur in einem fort und +glaubt nachher, wenn Ihr recht geschrieen habt, Ihr hättet +recht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So lest den Brief einmal!« sagte Kellmann, die Arme +auf den Tisch stützend, »nachher wissen wir ja gleich woran +wir sind.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber erst muß ich noch Bier haben,« rief Schollfeld dazwischen, +»ich mag die Lügen wenigstens nicht trocken mit +anhören.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Lobsich winkte einem der nächsten Kellner, die indeß leer +gewordenen Gläser wieder zu füllen, denn der Brief interessirte +ihn selber zu sehr, den Tisch jetzt zu verlassen, und Mathes +sagte wie entschuldigend:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der Brief ist sehr kurz, aber es steht Alles darin was +ich zu wissen verlangte, und er lautet:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Lieber Mathes — ich habe bis jetzt mein Versprechen +nicht gehalten, Dir zu schreiben, weil es mir sehr schlecht gegangen +ist.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page041">[pg 041]</span><a name="Pg041" id="Pg041" class="tei tei-anchor"></a>»Na ja,« fiel ihm hier der Apotheker in das Wort — »und +nun müßt Ihr Hals über Kopf machen daß Ihr auch +hinüber kommt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Kellmann wollte dem ewigen Einredner etwas erwiedern, +aber Mathes fuhr, lächelnd die Hand gegen ihn aufhebend, +wieder laut fort:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich wollte aber nicht gern, daß mich Jemand Anders +unterstützen sollte, weil das hier im Lande eine Schande ist; +ich wollte mir selber helfen, und habe mir kümmerlich, aber +ehrlich und fleißig durchgeholfen. Jetzt habe ich eine kleine +Farm von achtzig Acker, und vier und zwanzig Stück Rindvieh, +und dreißig Schweine und zwei Pferde und es geht mir gut. +Ich habe hart arbeiten müssen, aber ich komme durch. Wenn +Du mit Geld hier herüber kommst und willst mich aufsuchen, +daß ich Dir mit Rath und That an die Hand gehen kann, +dann brauchst Du keine Angst zu haben, daß Du nicht durchkommst. +Wenn Du eine Frau hast, bringe sie mit; Kinder +sind ein Segen hier, kein Fluch wie für manchen armen Mann +in Deutschland. Wer arbeiten will kommt fort, wer faul ist +geht zu Grunde. Es grüßt Dich zehntausend Mal Dein +Caspar Lauber — Lauber's Farm bei Milwaukie, Wisconsin.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und auf den Brief wollt Ihr auswandern?« rief aber +auch Kellmann jetzt erstaunt — »Mathes, ist Euch denn das +Auswanderungsfieber so plötzlich in die Glieder geschlagen, +daß Ihr die Seekrankheit für das einzige Mittel haltet die es +curiren könnte?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Mathes schüttelte aber gar ernsthaft mit dem Kopf, fal<span class="tei tei-pb" id="page042">[pg 042]</span><a name="Pg042" id="Pg042" class="tei tei-anchor"></a>tete +den Brief zusammen, den er zurück in seine Tasche schob, +und sagte mit fester und entschlossener Stimme:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Lange im Sinn hab' ich's schon gehabt, aber der Brief +hat es zuletzt zum Ausbruch gebracht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Mathes, Ihr vor allen Anderen habt doch Euer +Auskommen hier im Land,« rief jetzt auch Lobsich, während +der Apotheker das ihm eben gebrachte Glas auf einen +Zug hinuntergoß, wie um seinen Ingrimm damit nieder zu +spülen — »wenn Ihr nach Amerika auswandern wollt, wer +soll denn noch da bleiben?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">bliebe</span></em> auch,« sagte Mathes rasch und mit vor +innerer Bewegung fast erstickter Stimme, »ich bliebe auch, +wenn mich mein Vater ließe, aber — der will nicht in die +Heirath willigen mit Roßner's Käthchen, des Häuslers Tochter +aus Rodnach; hier hält er mich dabei unter dem Daumen +mit seinem Gut und Geld, und das Mädchen stirbt mir indessen +in Arbeit und Gram; dort drüben aber ist ein Platz, wo +fleißige Menschen auch durchkommen können mit Gottes Hülfe +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ohne</span></em> Geld, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ohne</span></em> Ansehn. Der Lauber hatte gar Nichts +wie er hinüberging; nicht das Hemd auf seinem Rücken war +sein, und ich weiß daß er nicht einen rothen Pfennig mit in +das fremde Land gebracht hat. Aus dem ist jetzt ein rechtschaffener +Farmer geworden, mit eigenem Land, Haus und +Vieh, und was der kann — schwere Noth noch einmal — das +kann ich auch. Ich gehe hinüber, nehme das Käthchen +mit — Geld zur Ueberfahrt krieg ich schon, und wenn ich +meine beiden Schimmel um den halben Werth verkaufen sollte, +<span class="tei tei-pb" id="page043">[pg 043]</span><a name="Pg043" id="Pg043" class="tei tei-anchor"></a>und dort hilft der liebe Gott schon weiter. Verhungern werden +wir nicht, und ich brauche mir hier nicht mehr unter die +Nase reiben zu lassen, »das sollst Du thun und das nicht, und +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">die</span></em> sollst Du heirathen, die Du nicht magst und willst, und +die Dich lieb hat und Dich glücklich machen kann, der sollst +Du das Herz brechen — weil ihr eben nur der volle Geldsack +fehlt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Unsinn!« sagte der Apotheker, jetzt wieder und zwar im +Ernste aufstehend — »wenn Jemand einmal rein verrückt geworden +ist, läßt sich auch nicht mehr mit ihm streiten. Gehn +Sie mit Kellmann?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, gleich,« erwiederte der Gefragte — »weiß denn +aber schon Euer Vater um den Plan, Mathes?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Heute hab' ich's ihm gesagt,« erwiederte der Gefragte +leise — »aber er glaubt es noch nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und ist es denn schon wirklich so fest bestimmt?« sagte +Kellmann theilnehmend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Meine Passage in Bremen für mich und — meine <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Frau</span></em> +ist schon bezahlt,« rief der junge Bursch da entschlossen — »den +funfzehnten geht das Schiff ab, und ich habe nur noch +eben Zeit das Nothwendigste in Ordnung zu bringen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja da kömmt freilich jeder gute Rath zu spät,« sagte +Kellmann, jetzt ebenfalls aufstehend und seinen Hut ergreifend, +»wenn der Sprung erst einmal geschehen ist, braucht man nicht +mehr über das Springen zu streiten und ich wünsche Euch +das Beste in Euerer neuen Heimath.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich weiß es, ich weiß es,« sagte Mathes gerührt — »aber +<span class="tei tei-pb" id="page044">[pg 044]</span><a name="Pg044" id="Pg044" class="tei tei-anchor"></a>vielleicht seh ich Sie selber noch einmal auf freiem Boden +drüben, mit Axt oder Pflug in der Hand, wie ein wackerer, +richtiger Farmer.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wen — mich?« rief aber Kellmann ordentlich erschreckt +aus — »ich nach dem vermaledeiten Lande, daß alle unsere +besten Bürger frißt? Nein Mathes, für dies Leben nicht — aber +wann geht Ihr fort? vielleicht läßt Euer Vater doch noch +mit sich reden, und lenkt ein wenn er sieht daß es Euch wirklich +Ernst ist.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Mathes schüttelte mit dem Kopf und der Actuar rief:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ein Bauer und einlenken, Kellmann? — da kennt Ihr +unseren deutschen Bauer nicht; worauf der einmal seinen Dickkopf +gesetzt hat, da muß er durch, und wenn's nicht geht, so +zerhaut er sich eben den Schädel, aber er läßt nicht nach. Der +alte Vogel und nachgeben; Du lieber Gott, wenn er den +eigenen Sohn mit einem einzigen Wort vom Verderben retten +könnte — er spräch es nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na, da kann ich wohl auch meine Bude hier bald zuschließen +und mitgehn,« sagte Lobsich, sich den Kopf kratzend — »Schwerebrett +das ist mir — hm — hm — ist mir doch +was Unbedeutendes, das — das Amerika.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und was sagt denn das Käthchen dazu?« frug Kellmann +<span class="tei tei-corr">jetzt</span> den Mathes, während die Uebrigen schon aufgestanden +waren und sich zum fortgehn gerüstet hatten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Die weint und will nicht mit,« sagte Mathes leise — »aber +sie wird schon gehen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie will nicht mit?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page045">[pg 045]</span><a name="Pg045" id="Pg045" class="tei tei-anchor"></a>»Sie meint, es bräche meinem Vater das Herz.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das Herz brechen? — dem alten Vogel?« lachte aber +dieser verächtlich — »na Gott sei Dank, die hat einen guten +Begriff von ihm — als ob dem etwas das Herz brechen +könnte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun, es frägt sich nur jetzt wem sie es lieber bricht,« +meinte der Actuar, »dem Alten, wenn sie geht, oder dem +Jungen, wenn sie bleibt — die Wahl wird ihr nicht schwer +werden. Aber Schollfeld, Ihr seid ja auf einmal so still geworden?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach laßt mich zufrieden,« brummte dieser ärgerlich — »weiß +es Gott, man möchte am Ende selber mit hinüberlaufen, +nur Nichts mehr von dem verwünschten Auswandern +reden zu hören.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hahahaha!« rief da Kellmann, »Schollfeld bekömmt +auch überseeische Ideen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ueberseeische — hätte bald was gesagt,« knurrte dieser +aber, auf der Straße hingehend, ohne weder Mathes noch +Lobsich gute Nacht zu sagen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Uebrigen wechselten noch kurzen Gruß mit ihren +Bekannten dort, zündeten sich frische Cigarren an, und schlenderten +langsam, den freundlichen Abend so viel als möglich zu +genießen, die Straße hinab, der eigenen Heimath zu.</p> +</div> +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"><span class="tei tei-pb" id="page046">[pg 046]</span><a name="Pg046" id="Pg046" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc7" id="toc7"></a> +<a name="pdf8" id="pdf8"></a> +<a name="pdb9" id="pdb9"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 3.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Der Diebstahl.</span></h1> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Zehn Minuten mochten sie so etwa schweigend nebeneinander +hergegangen sein, als hinter ihnen auf der Straße +eine Equipage und klappernde Hufschläge gehört wurden, die +sie rasch einholten und an ihnen vorbeirauschten, eine dicke +Staubwolke dabei über den Weg wälzend. Es war die Familie +Dollinger mit dem, neben dem Wagen hin galoppirenden +Fremden, dem Bräutigam der Tochter.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Die kommen schneller von der Stelle als die armen +Auswanderer vorhin,« sagte Kellmann, als sie vorbei waren — »Wetter +noch einmal, es ist doch ein anderes Ding so ein paar +flüchtige Rappen vor sich zu haben, und wie im Flug durch +die Welt zu jagen, als mit einem schweren Packen auf dem +Rücken und wunden Füßen vielleicht, mühselig die staubige +Straße entlang zu keuchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, die Gaben sind ungleich vertheilt in der Welt,« +<span class="tei tei-pb" id="page047">[pg 047]</span><a name="Pg047" id="Pg047" class="tei tei-anchor"></a>seufzte der Actuar, »was der Eine haben möchte, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">hat</span></em> der +Andere schon, und das ist auch wohl das ganze Geheimniß +der socialen Frage, läßt sich aber nun einmal nicht ändern, +und wir dürfen vielleicht den Kopf darüber schütteln, und wünschen +daß es anders wäre, aber weiter eben Nichts.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der auf dem Pferd, war der Dings da von Amerika,« +sagte der Apotheker jetzt, »der das schmählige Geld hat und +des reichen Dollingers Tochter noch dazu heirathet. Soll mir +noch einmal einer sagen daß Eisen der stärkste Magnet sei; +Gold ist's, und wo das liegt zieht es anderes hin.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und wie steht's mit Actien?« lachte Kellmann.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bah — bleibt immer dasselbe,« brummte der Apotheker, +»das Gold steckt darin, und kann durch einen sehr einfachen +chemischen Proceß leicht herausgezogen werden — wenn man +sie hat.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es wundert mich übrigens daß der alte Dollinger sein +Kind über das große Wasser hinüberziehen läßt,« meinte der +Actuar — »dem hätte es doch auch hier im Lande nicht an +einer eben so guten Parthie gefehlt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Liebe,« meinte Kellmann achselzuckend — »Liebe ist +blind sagt ein altes Sprichwort; dagegen lassen sich eben keine +Gründe anbringen. Wär's übrigens auch nicht wegen dem +großen Wasser, der Bursche gefällt mir außerdem nicht, und +ich möchte ihm meine Tochter nicht geben und wenn er bis +über die Ohren in Golde stäcke. Er hat ein verschlossenes, +hochfährtiges Wesen, behandelt den gemeinen Mann wie einen +Hund, und spricht von Allem was wir hier haben, unseren<span class="tei tei-pb" id="page048">[pg 048]</span><a name="Pg048" id="Pg048" class="tei tei-anchor"></a> +Einrichtungen, unseren Gesetzen, unseren Vergnügungen selber, +ja unserem Klima und Land, das doch zum Henker auch <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">sein</span></em> +Vaterland ist, mit der größten Verachtung. Amerika, und +immer wieder Amerika, hinten und vorn; ei Blitz und Hagel, +ich will gar nicht leugnen daß es manche gute Seiten haben +mag, das Amerika, wenn ich sie auch gerade nicht einsehen +kann, aber so viel besser wie unser Deutschland ist es doch auch +nicht drüben, und wenn's so einem Burschen da einmal zufällig +geglückt ist, sollt' er nicht als Lockvogel sich hier mitten zwischen +uns hineinsetzen, anderen vernünftigen Leuten unglückselige +Ideeen in den Kopf zu pflanzen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn sich andere vernünftige Leute solche Ideeen einpflanzen +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">lassen</span></em>, geschieht's ihnen ganz recht,« sagte der Apotheker — »man +braucht nicht zu glauben was jeder dahergelaufene +Lump eben sagt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ganz</span></em> ohne kann's aber auch nicht sein,« meinte +Kellmann kopfschüttelnd<span class="tei tei-corr">,</span> <span class="tei tei-corr">»</span>und ich — ich halt' es immer für gefährlich. +S'ist merkwürdig, wie rasch sich das mit der Hochzeit +gemacht hat.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun, wer sich die Braut gleich fix und fertig aus dem +Wasser zieht hat leicht freien,« sagte der Actuar — »Glück +muß der Mensch haben, dann geht Alles wie am Schnürchen; +wer aber <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">das</span></em> nicht hat, der mag sein Lebtag fischen und fängt +doch Nichts — am wenigsten aber solch einen Goldfisch.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wo stammt er denn eigentlich her?« frug der Apotheker +jetzt, wie sie wieder eine Weile schweigend neben einander hingegangen +waren, »man hört doch sonst eigentlich gar Nichts +<span class="tei tei-pb" id="page049">[pg 049]</span><a name="Pg049" id="Pg049" class="tei tei-anchor"></a>von ihm, und er kommt auch mit keinem Menschen weiter zusammen — stolzer +aufgeblasener Bursche der.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gott weiß es,« sagte der Actuar; »er ist, glaub' ich, mit +einem holländischen Schiff herübergekommen, und hatte einen +Paß von Amsterdam.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und der Paß lautete nach Heilingen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun nicht gerade nach Heilingen, aber doch nach der +Residenz, und wie sich die Sache dann hier mit der Dollingerschen +Familie gestaltete, nun lieber Gott, da drückte der Stadtrath +das eine, und die Stadtverordneten drückten das andere +Auge zu, und man sah nicht so genau nach den Papieren. +Ueberdieß verzehrte er ja hier viel Geld; wär' es ein armer +Teufel gewesen, hätten wir ihn wahrscheinlich schon bald wieder +über die Grenze gehabt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, ja, glaub's,« sagte Kellmann mit dem Kopfe nickend, +»s'ist in Heilingen eben nicht anders wie — wie anderswo — warum +auch?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das Gespräch drehte sich von da ab, auf die städtischen +Einrichtungen, deren wärmster Vertheidiger der Apotheker war, +und über die sich der Actuar natürlich nur sehr vorsichtig ausließ, +während sie Kellmann um so unnachsichtiger angriff; +kam dann auf die Saat und die Preise, und wieder mit einem +Seitensprung auf die jetzige Politik unseres lieben deutschen +Reiches, bis sie das Thor und zwar gerade mit Sonnenuntergang +erreichten, wo Jeder seinen Weg ging, die eigene Heimath +aufzusuchen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Actuar Ledermann besonders, der an dem entgegen<span class="tei tei-pb" id="page050">[pg 050]</span><a name="Pg050" id="Pg050" class="tei tei-anchor"></a>gesetzten +Ende der Stadt wohnte, beeilte seine Schritte, noch +vor einbrechender Dunkelheit seine Wohnung zu erreichen; das +Gerücht ging nämlich in der Stadt, daß ihn seine Ehehälfte +bei solchen Gelegenheiten oft allerdings sehr unfreundlich +empfange, und ihm einmal sogar schon einige sonst sehr nützliche, +bei <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">der</span></em> Gelegenheit aber nichts weniger als passende +häusliche Geräthe entgegen und vor die Füße geworfen habe. +Thatsache war, daß »Madame« oder Frau Actuar Ledermann, +was auch ihres Gemahls Thätigkeit und Ansehn außerhalb +seiner eigenen vier Pfählen sein mochte, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">innerhalb</span></em> derselben +jedenfalls das Commando, und nicht immer mit Mäßigung +führte, und der Actuar suchte den Hausfrieden wenigstens soviel +als möglich zu erhalten und jeden Anlaß, zu irgend einer +Störung desselben, zu vermeiden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Mit solchen Gedanken vielleicht im Kopf, wollte Ledermann +eben vom Marktplatz aus in die Straße einbiegen, an +deren äußersten Ende seine eigene, sehr bescheidene Wohnung +stand, als er seinen Titel genannt und sich selber gerufen +hörte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Herr Actuar — Herr Actuar Ledermann.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Er drehte sich rasch um und sah einen Gerichtsdiener +eilig auf sich zukommen, der, die Mütze abnehmend, vor ihm +stehen blieb und ihm meldete, daß er eben abgeschickt worden +ihn zu holen oder aufzusuchen, da ein Einbruch geschehen sei, +über den an Ort und Stelle Protokoll aufgenommen werden +solle.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Protokoll aufnehmen?« sagte Actuar Ledermann, keines<span class="tei tei-pb" id="page051">[pg 051]</span><a name="Pg051" id="Pg051" class="tei tei-anchor"></a>wegs +angenehm überrascht; »ja was hab ich denn heute damit +zu thun, wo ist mein <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">College</span></em>?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Herr Actuar Beller sind unwohl geworden, heute Nachmittag,« +berichtete der Polizeidiener, »und mußten zu Hause +gehn; ich bin eben abgeschickt zu sehn, welchen von den andern +Herren ich zuerst treffen könnte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm — ist sehr amüsant,« brummte Ledermann vor sich +hin — »kommt mir gerade apropos. Bei wem ist es denn?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bei Herrn Dollinger.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Was? — bei Kaufmann Dollinger?« rief der Actuar +rasch und erstaunt — »am hellen Tag, während er ausgefahren +war?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Er ist, wenn ich nicht irre, eben zu Hause gekommen,« +berichtete der Mann, und hat glaub' ich sein Pult geöffnet, +und eine bedeutende Summe Geldes entwendet gefunden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, hm, hm,« sagte der Actuar kopfschüttelnd und seinen +Rock dabei, den er der Bequemlichkeit wegen aufgelassen +hatte, zuknöpfend, »es wird immer besser hier bei uns. Am +hellen lichten Tage. Aber die ganze Stadt steckt auch voll +fremden Volkes, das sich natürlich keine Gelegenheit entschlüpfen +läßt Reisegeld zu bekommen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es muß doch wohl Jemand gewesen sein der mit dem +Hause genau bekannt war,« sagte der Polizeidiener — »nach +dem wenigstens, was ich bis jetzt von den Dienstleuten darüber +gehört habe, kann's nicht gut anders sein.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun wir werden ja sehn; da muß ich aber erst — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn sich der Herr Actuar nur eben an Ort und Stelle +<span class="tei tei-pb" id="page052">[pg 052]</span><a name="Pg052" id="Pg052" class="tei tei-anchor"></a>bemühen wollen,« sagte jedoch der Diener des Gerichts, »alles +Nöthige ist schon dorthin geschafft und ich war eben nur fortgelaufen, +einen der Herren zu suchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Actuar, dem Dienste natürlich Folge leistend, seufzte +tief auf und schritt, im Geist wahrscheinlich des Empfangs +gedenkend, der seiner harrte, wenn seine Frau auf ihn mit dem +Abendessen warten mußte, rasch die »Poststraße« hinaufbiegend, +dem gar nicht weit entfernten Dollinger'schen Hause zu, dort +den Thatbestand in Augenschein und zu Protokoll zu nehmen, +etwaige Spuren des Uebelthäters zu entdecken und zu verfolgen, +und die Leute im Hause nach möglichem Verdachte zu inquiriren.</p> + +<div class="tei tei-tb">* * * * * </div> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger, in dem +Alles sonst so still und ruhig und wie am Schnürchen zuging, +wo Jeder seine angemessene und fest bestimmte Beschäftigung +hatte, genau wußte was ihm oblag, und das that, ohne +eben viel Lärm darum zu machen, lief und rannte und sprach +heute alles durcheinander, und sämmtliche Bande der Ordnung +schienen gelöst.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Frau Dollinger vor allen Dingen lag in Krämpfen in +ihrem Boudoir, und beanspruchte die Hülfe ihrer beiden Töchter +und der weiblichen Dienstboten im Haus, ihren Zustand zu bewachen; +Herr Dollinger selber war in seinem Zimmer des +obern Stocks, und ging dort mit raschen Schritten und auf +den Rücken gekreuzten Armen auf und ab, während dem jungen<span class="tei tei-pb" id="page053">[pg 053]</span><a name="Pg053" id="Pg053" class="tei tei-anchor"></a> +Henkel indessen die Bewachung des Platzes selber übertragen +war, und die andern Dienstboten, mit einem nicht unbedeutenden +Theil der Nachbarschaft und deren Verwandten, in den verschiedenen +Winkeln und Ecken des Hauses herumstanden und +kopfschüttelnd, die Hände ein über das andere Mal in Verwunderung +zusammenschlugen. Die verschiedenartigsten Vermuthungen +und Beweise wurden da laut, und die Orte und +Stellungen oder Beschäftigungen jedes Einzelnen auf das Genaueste +und Peinlichste angegeben, wo und wie sich Jeder gerade +in der Zeit etwa befunden haben mochte, als die entsetzliche, +verruchte That geschehen und vollbracht sein mußte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Dem Actuar, mit dem ihm folgenden Gerichtsdiener +wurde übrigens willig und dienstfertig Platz gemacht; Alle +wollten aber hinter drein, und die Frauen besonders gaben +dabei durch die entschiedensten Ausrufe — »Ne Du meine +Güte« und »Ne so was« ihre vollkommenste Misbilligung +des Geschehenen zu erkennen. Nichts desto weniger wurde auch +selbst ihnen die Thüre vor der Nase zugemacht, und Einer der +Bedienten bekam strenge Ordre die Hausflur zu räumen, und +Niemand mehr, so lange die Untersuchung dauere, die Treppe +hinaufzulassen, ausgenommen, es wisse Jemand noch um den +Diebstahl, und könne irgend einen Fingerzeig geben den Dieben +auf die Spur zu kommen; solche Zeugen sollten nachher vernommen +werden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Oben an der Treppe empfing sie Herr Henkel, um sie +gleich zu dem Ort, wo der Diebstahl verübt worden, hinzuführen; +einer der Leute war indessen abgeschickt Hrn. Dollinger +<span class="tei tei-pb" id="page054">[pg 054]</span><a name="Pg054" id="Pg054" class="tei tei-anchor"></a>selber zu rufen, und dieser erschien jetzt, den Actuar freundlich +grüßend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es war indessen schon ziemlich dunkel, und im Zimmer +Licht angezündet worden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich bedaure sehr, Herr Dollinger,« sagte der Actuar, +»daß, wie ich gehört habe, eine so fatale Sache mich hier in +Ihr Haus geführt haben muß.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja allerdings,« erwiederte der alte Herr, »ist es sehr +unangenehm; weniger des Verlustes wegen, der sich allenfalls +ertragen ließ, als wegen dem Bewußtsein getäuschten Vertrauens, +mit selbst keinem gewissen Anhaltspunkt auf Verdacht. +Ich wollte gern das Doppelte verloren haben, wenn es hätte +können auf andere Weise geschehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das Ganze ist übrigens mit einer raffinirten Geschicklichkeit +ausgeführt,« fiel Henkel hier ein, »und der Thäter, +wer auch immer, jedenfalls ein höchst gefährliches Subject, von +dem ich nur hoffen will daß wir ihm auf die Spur kommen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dürfte ich Sie bitten mir den Platz zu zeigen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Treten Sie hier in das Zimmer meiner Töchter; dort +der Secretair ist erbrochen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm — mit einem breiten meißelartigen Instrument,« +sagte der Actuar nach kurzer Besichtigung der offenen, arg beschädigten +Mahagoniplatte — »und die Thür ebenfalls eingebrochen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein — die Thür ist unbeschädigt und muß jedenfalls +mit einem Nachschlüssel geöffnet sein.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und was vermissen Sie in dem Secretair?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page055">[pg 055]</span><a name="Pg055" id="Pg055" class="tei tei-anchor"></a>»Eine Summe Geldes, die ich erst vor wenigen Stunden, +und im Beisein meiner Familie und eines zuverlässigen Comptoirdieners, +im Paket wie ich sie von der Post erhalten, hier +eingeschlossen hatte, und von der der Dieb auf eine mir unbegreifliche +Weise muß Kenntniß bekommen haben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wer ist dieser Comptoirdiener?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Oh, Loßenwerder; Sie kennen ihn ja wohl?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Loßenwerder,« sagte der Actuar nachdenkend — »ist +wohl schon eine ganze Weile in Ihrem Geschäft?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Schon zwölf Jahr; mit keinem Schatten irgend eines +Verdachts; ich nahm ihn als einen ganz jungen Burschen in +mein Haus; er muß aber gegen irgend Jemand davon gesprochen +haben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, hm, wollen ihn uns doch einmal nachher besehn; +also hier hinein hatten Sie das Geld gelegt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es ist ein Secretair, den meine Töchter gemeinschaftlich +benutzen, und zu dem jede von ihnen ihren Schlüssel hat. Bitte +lieber Henkel, lassen Sie doch einmal Sophie oder Clara einen +Augenblick zu uns herüber rufen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich habe schon das Mädchen geschickt, eine der jungen +Damen ersuchen zu lassen,« entgegnete der junge Henkel, der +indessen im Zimmer umhergegangen war, und sich überall umgesehen +hatte, ob nicht vielleicht doch der Dieb irgend eine +Spur, irgend ein Zeichen hinterlassen habe, an das man sich +später einmal halten könne. — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und vermissen Sie weiter Nichts als das Geld?« frug +der Actuar.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page056">[pg 056]</span><a name="Pg056" id="Pg056" class="tei tei-anchor"></a>»Auch ein Schmuck meiner ältesten Tochter scheint mit +geraubt zu sein,« sagte Herr Dollinger — »aber da kommt +Clara, die Ihnen das Nähere davon selber angeben wird.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Clara betrat in diesem Augenblick das Gemach; sie sah +todtenbleich und angegriffen aus, und Henkel eilte ihr entgegen +sie zu unterstützen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Clara, mein liebes armes Kind,« sagte Herr Dollinger, +auf sie zugehend und die Hand nach ihr ausstreckend, »fehlt +Dir etwas? — Der Schreck hat Dich wohl so angegriffen. +Mach Dir doch nur keine Sorge, mein Herz; vielleicht bekommen +wir Alles wieder und wenn nicht — nun ein <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Unglück</span></em> +ist es dann auch nicht; wenn Ihr mir nur Alle gesund bleibt, +können wir die paar tausend Thaler schon verschmerzen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es ist nicht der Verlust, lieber Vater,« sagte aber das +junge Mädchen, sich gewaltsam zusammennehmend, und des +Vaters Hand ergreifend — »nur die Ueberraschung, der Schreck +wahrscheinlich, und das — das Unheimliche dabei, als ich +mein Zimmer vorhin betrat, und die Spuren des verübten +Verbrechens entdeckte. Ich fürchtete die entsetzlichen Menschen +noch irgend wo zu sehn, die vielleicht hinter einer Gardine +stehen, unter einem der Divans liegen, hinter einem Ofen +lauern konnten und, wenn entdeckt, zu verzweifelter Gegenwehr +getrieben mich anfallen würden, und all solch kindische +Gedanken mehr. Dort der auf den Tisch geworfene Regenschirm +dabei, die hinuntergeworfene Stickerei von dem Secretair +selber, am meisten aber der Tabaksgeruch im Zimmer und +<span class="tei tei-pb" id="page057">[pg 057]</span><a name="Pg057" id="Pg057" class="tei tei-anchor"></a>die verlöschte, angerauchte Cigarre dort auf dem Fensterbret, +erfüllten mir das Herz mit einem unbeschreiblichen Grausen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Eine Cigarre?« sagte Ledermann, sich vergebens nach +dem bezeichneten Gegenstand umschauend — »wo lag sie?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dort im Fenster, als ich zurückkam.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Die alte angerauchte Cigarre?« sagte Henkel rasch — »die +hab' ich zum Fenster hinausgeworfen; ich glaubte Einer +der Dienerschaft hätte sie in der Aufregung mit hereingebracht +und dort abgelegt — sie muß unten auf der Straße liegen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bitte schicken Sie doch einmal einen Burschen danach, +daß er sie heraufholt,« sagte der Actuar; »man darf auch das +Unbedeutendste nicht unbeachtet lassen, und wir wollen indessen +die vermißten Gegenstände aufnehmen. Das Geld? — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Davon giebt Ihnen dieser Brief das genaue Verzeichniß,« +sagte Herr Dollinger, »aber ich fürchte fast daß wir +durch das Geld selber nicht auf die Spur kommen werden, indem +das Paket fast nur Gold und kleinere Banknoten enthielt, +die leicht umzusetzen und schwer zu controliren sind. Eher +hoffe ich durch den Schmuck den Dieb verrathen zu sehn, da +einige sehr auffällige Stücke, wie ich höre, dabei gewesen +sind.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dürfte ich Sie um eine genaue Angabe derselben, heute +Abend noch, wenn irgend möglich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">schriftlich</span></em> bitten?« erwiderte, +nach einigem Besinnen, der Actuar, »diese Einzelheiten +würden mich jetzt zu lange aufhalten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Kannst Du das geben, Clara?</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bis auf die kleinste Nadel hinunter,« sagte das junge<span class="tei tei-pb" id="page058">[pg 058]</span><a name="Pg058" id="Pg058" class="tei tei-anchor"></a> +Mädchen rasch, »besonders auffällig war eine kleine, rundum +mit Brillanten besetzte Broche, ein Erbstück unserer Großmutter, +und ausgezeichnet vor jedem andern Schmuck, den ich +noch in meinem ganzen Leben gesehen, durch einen, in der +Mitte gefaßten, genau dreieckigen, hellblauen und wundervollen +Turquis. Mein Schmuck lag gleich dicht dahinter, den +aber muß der Dieb in der Eile übersehen haben; er ist unangerührt +geblieben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das ist allerdings glücklich,« sagte der Actuar, »wäre +wohl auch des Mitnehmens werth gewesen. Lag gleich dabei?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hier in dem rothen Kästchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber das ist auch geöffnet worden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das? — nein, das hab ich wohl selbst geöffnet, nachzusehen, +ob auch Alles darin sei, und nicht wieder ordentlich +geschlossen. Die Haken waren allerdings auf, wenn ich mich +nicht ganz irre, aber der Dieb hat keinenfalls eine Ahnung gehabt, +welchen Werth das kleine unscheinbare Kästchen enthalte, +oder es stände jetzt nicht mehr da.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sehr wahrscheinlich, hm — aber Sie vergeben wohl +nicht, mein Fräulein, alle diese Einzelheiten besonders zu notiren; +wer weiß ob sie nicht noch einmal wichtig werden. Ah, +da kommt auch Herr Henkel wieder; haben Sie die Cigarre +gefunden?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gott weiß wo sie ist;« lachte dieser, »irgend Jemand +muß es doch noch der Mühe werth gehalten haben sie aufzuheben, +und in einer Pfeife vielleicht zu verrauchen — ich bin selber +<span class="tei tei-pb" id="page059">[pg 059]</span><a name="Pg059" id="Pg059" class="tei tei-anchor"></a>hinunter gegangen, kann sie aber nirgends mehr entdecken. +Uebrigens ist es auch fast dunkel geworden, und ich werde +morgen ganz früh nachsuchen lassen. Der Stummel wird Ihnen +freilich nicht viel helfen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Man weiß nicht,« sagte der Actuar kopfschüttelnd, »je +nach der Güte des Tabaks ließ sich vielleicht auf die Schicht +der menschlichen Gesellschaft schließen, in der sich unser heimlicher +Besuch herumtriebe. Aber das ist allerdings Nebensache; +wo also ist der Dieb hereingekommen? — hier durch +diese Thür?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Doch wohl vom Garten her durch das Fenster Euers +Schlafzimmers,« sagte Herr Dollinger, »denn durch das Haus +würde er es sich am hellen Tage im Leben nicht getraut +haben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber ich möchte meine Seligkeit zum Pfande setzen daß +ich den Schlüssel, der nach unserer Schlafkammer führt, ehe +wir fortgingen, herumgedreht und stecken gelassen hätte, so daß +von innen ein Oeffnen unmöglich war.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und war die Thür noch verschlossen wie wir zurückkamen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein, nur in's Schloß gedrückt, aber der Schlüssel stak +darin.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, hm, hm — dann ist der Bursche dort wahrscheinlich +hinaus« — sagte der Actuar — »zur Thür hier hereingekommen +und dort zur Nothröhre hinaus — hm, muß aber +genau mit der Gelegenheit bekannt sein. Mein lieber Herr +Dollinger, wir werden Ihre Leute doch ein wenig scharf in's<span class="tei tei-pb" id="page060">[pg 060]</span><a name="Pg060" id="Pg060" class="tei tei-anchor"></a> +Gebet nehmen müssen, denn ein ganz Fremder, kann sich die +Zeit nicht so abgepaßt haben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wo kommt der Blumenstock her?« sagte da plötzlich +Clara rasch und erstaunt, auf einen sehr schönen Rosenstock +deutend, der in ihrem Fenster, zunächst der Thüre stand — »wer +hat den jetzt hier heraufgestellt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So lange wir hier sind Niemand« — rief Henkel — »war +er vorher nicht da?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nicht heute Mittag, das weiß ich gewiß; aber vielleicht +hat ihn eins der Dienstleute mir heimlich hier hereingesetzt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Heimlich? — so?« sagte der Actuar, »den freundlichen +Geber wollen wir also vor allen Dingen einmal herauszubekommen +suchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es ist heute mein Geburtstag,« sagte Clara leise und +erröthend.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Oh?« meinte Herr Ledermann mit einem freundlichen +Lächeln, »da thut es mir freilich leid, meine ganz ergebensten +Gratulationen zu keiner angenehmeren Zeit vorbringen zu können — will +eben nicht passen bei einer solchen Untersuchung, +kann es aber doch auch nicht geradezu hinunterschlucken — ich +gratulire eben nicht zur Untersuchung.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es muß gewiß ein gesegnetes Land sein,« sagte Henkel +mit einem leisen, halb boshaften Lächeln, »wo die Polizei sogar +witzig sein kann.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm,« meinte der lange Aktuar, sich nach dem Sprecher +umdrehend, »die Polizei macht eben keinen Anspruch darauf, +und ist das meistens Privateigenthum. Aber wir wollen die<span class="tei tei-pb" id="page061">[pg 061]</span><a name="Pg061" id="Pg061" class="tei tei-anchor"></a> +Zeit nicht mit Allotrien vergeuden; ist nicht herauszubekommen +wer den Blumenstock hier, während Ihrer Abwesenheit in das +Zimmer gesetzt hat?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Jedenfalls müssen die Dienstboten darum wissen,« sagte +der junge Henkel, »und es wird das Beste sein sie einzeln +darum zu befragen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Allerdings; — Einzelverhör hat überhaupt viele Vortheile, +bitte schicken Sie einmal die Leute herauf, daß man vor +allen Dingen ihre Gesichter zu sehen bekommt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber nicht hier, Väterchen, nicht wahr nicht hier in +meiner Stube?« bat Clara — »ich würde den fatalen Gedanken +im Leben nicht wieder los.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wir wollen hinuntergehn in das untere Zimmer,« sagte +Herr Dollinger, freundlich dem Wunsch der Tochter nachgebend, +»es läßt sich das dort eben so gut abmachen als hier.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Manchmal ist der Platz des Verbrechens selber der geeignetste,« +warf der Actuar ein, »aber wie Sie wünschen — nur +um eines möchte ich Sie noch vorher bitten, daß ich mir +einmal die Stelle oder das Fenster ansehn darf, durch das sich +Ihrer Vermuthung nach, der oder die Diebe entfernt haben +könnten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»In unserem Schlafzimmer?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Doch durch diese Thür?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Lieber Henkel, Sie sind wohl indessen so freundlich, +meine Leute unten zusammenzurufen; wir kommen gleich hinunter. +Sie werden heut viel belästigt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber ich bitte Sie, bester Herr Dollinger,« sagte der +<span class="tei tei-pb" id="page062">[pg 062]</span><a name="Pg062" id="Pg062" class="tei tei-anchor"></a>junge Mann, rasch seinen Hut aufgreifend, »wenn ich Ihnen +nur darin von irgend einem wirklichen Nutzen sein könnte. +Lieber erlauben Sie mir vielleicht mit Ihnen einer möglichen +Spur zu folgen, denn meine Augen sind darin vielleicht schärfer +als manche andere.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es wird in der Dunkelheit nicht eben mehr viel zu +spüren geben,« meinte indeß der Actuar; »das werden wir +uns müssen auf morgen früh aufsparen — also jetzt noch das +Fenster, wenn ich bitten darf — ich möchte mir nur die Gelegenheit +einmal von oben besehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Clara selber öffnete die Thür und führte dem Actuar mit +ihrem Vater in das kleine freundliche Gemach, dessen beide, +schon von Blätter schießenden Weinranken überzogene Fenster, +auf den Garten hinaussahen. Das eine Fenster war allerdings +geöffnet gewesen, aber der Rankenwuchs so dicht zusammengezogen, +daß sich ein <span class="tei tei-corr">Körper</span> kaum hätte hindurchzwingen +können. Die Höhe nach dem Garten hinunter, und +gerade unter dem Fenster sollte ein kleiner Rasenplatz sein, +war eben nicht beträchtlich, vielleicht zehn oder zwölf Fuß, und +unten umgab niederer aber ziemlich dichter Hollunder den +Rasen. Im Zimmer selber ließ sich aber nicht das mindeste erkennen, +das einen solchen Verdacht unterstützt hätte; das +Einzige was dafür sprach, war die aufgeschlossene Thür.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Zu der Unterstube des Hauses waren indessen die Dienstleute +versammelt worden, streng examinirt zu werden. Der +Hausmagd vor allen andern lag die Pflicht ob, die Etage, wenn +sie nach unten in die Küche ging, in Abwesenheit der Herr<span class="tei tei-pb" id="page063">[pg 063]</span><a name="Pg063" id="Pg063" class="tei tei-anchor"></a>schaft +verschlossen zu halten. Diese aber behauptete steif und +fest, und weinte dabei und rief Gott und alle Heiligen zu +Zeugen an, daß sie die Vorsaalthür auch ordentlich, »zweimal +herum« abgeschlossen und den Schlüssel zu sich gesteckt hätte, +und Niemanden in der weiten Gotteswelt gesehen habe, der +das Haus in der Zeit betreten haben könne. Trotzdem aber +sei die Vorsaalthür, als sie wieder nach oben gekommen offen, +wenigstens aufgeschlossen, wenn auch zugeklinkt gewesen, und +sie hätte selber im Anfang nicht begreifen können wie das möglich +wäre, aber auch nicht weiter darüber nachgedacht, und es +ihrer eigenen Unaufmerksamkeit zugeschoben. Nach der Abfahrt +der Herrschaft sei sie aber nur eine ganz ganz kurze Zeit +unten geblieben um — sie wollte erst nicht mit der Sprache +heraus, aber der Herr Actuar drängte gar so sehr — um den +jungen Herrn Henkel fortreiten zu sehn. Nachher mochte sie +vielleicht noch zehn Minuten der Köchin geholfen haben, und +war dann nicht wieder von dem Vorsaal oben fortgekommen, +auf dessen Balkon sie gesessen und genäht hatte. In der Zeit +habe Niemand mehr den Vorsaal oder des Fräuleins Zimmer +betreten, darauf wolle sie das heilige Abendmahl nehmen, und +der Diebstahl müsse jedenfalls in den paar Minuten, die +zwischen dem Fortreiten des jungen Herrn und ihrem eigenen +Wiederhinaufgehn nach oben gelegen hätten, verübt sein — anders +war es nicht möglich.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wer aber hatte den Blumenstock in des Fräuleins Zimmer +gestellt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Einen Blumenstock? — während die Herrschaft fort war?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page064">[pg 064]</span><a name="Pg064" id="Pg064" class="tei tei-anchor"></a>»Allerdings, eine Monatsrose — in das Fenster nächst +der Thür.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der das gethan hat, müsse damit zum Fenster, oder in +derselben Zeit mit einem Nachschlüssel zur Thür hereingekommen +sein, als der Diebstahl verübt worden, denn sie hätte keine +Seele im Haus gesehn.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Dienstboten hatten indessen mit einander geflüstert, +als der Actuar das Wort nahm und mit langsam bedächtiger, +aber ziemlich ernster Stimme sagte:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hört einmal Leute, ich will Euch etwas sagen; Ihr habt +Euch da gut unschuldig stellen, als ob Ihr eben erst auf die +Welt gekommen wärt, damit dringt Ihr aber nicht durch. Das +Geld ist fort — Ihr seid die Einzigen die unter der Zeit im +Haus waren, und Euere Pflicht wäre es gewesen — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Herr Actuarius« — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ruhe da, wenn ich Euch etwas mitzutheilen habe — und +Euere Pflicht wäre es gewesen, sag' ich, aufzupassen, daß +niemand Fremdes den Platz betrat, der Euch anvertraut war, +und für den Ihr also auch in der Zeit zu stehn hattet. Jemand +ist aber in der Zeit da gewesen, und hat etwas gebracht +und etwas geholt, und man wird sich jetzt an <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Euch</span></em> halten +müssen, bis der Jemand ausfindig gemacht ist. Was giebt's +da hinten — was ist gekommen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dullmanns Rieke von über dem Weg drüben,« sagte +die Köchin jetzt, gegen den Actuar vortretend, »will den Loßenwerder +haben heimlich aus dem Haus schleichen sehn. Da +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">haben</span></em> Sie einen; <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">uns</span></em> brauchen Sie so etwas nicht unter die<span class="tei tei-pb" id="page065">[pg 065]</span><a name="Pg065" id="Pg065" class="tei tei-anchor"></a> +Nase zu reiben, Herr Actuar — wir sind ehrliche Dienstboten +die sich ihr bischen Brot sauer genug im Schweiße ihres Angesichts — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach halt' sie das Maul,« fiel ihr aber der Actuar etwas +unsanft in die Rede — »<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">wer</span></em> ist im Haus gewesen, Loßenwerder? — und +heimlich hinausgeschlichen? — wer hat ihn +gesehn?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hier die Rieke von Dullmann's — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wann war das?« fragte der Actuar das jetzt vorgeschobene +<span class="tei tei-corr">Mädchen</span>, das feuerroth wurde und ihren einen Schürzenzipfel +anfing wie einen Plumpsack zusammenzudrehen. Erst +ganz kurze Zeit vorher hatte sie einer ihrer Freundinnen im +Dollinger'schen Haus, und gewiß nicht in der Absicht die Mittheilung +gemacht, gleich damit, ohne weitere Warnung, vor +die Polizei gezogen zu werden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun Mamsell — wie hieß sie? — Rieke? — Wann +haben Sie Loßenwerder aus dem Haus kommen sehn, und ist +er ruhig hinausgegangen oder <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">geschlichen</span></em>?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn Loßenwerder im Haus war,« sagte Herr Dollinger +ruhig, »so wird er auch ordentlich hinaus<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">gegangen</span></em> und +nicht geschlichen sein; der wäre der Letzte dem ich so etwas zutrauen +möchte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Die Rieke behauptet,« fiel aber hier die Köchin in dem +Bewußtsein unrechtlich gekränkten Ehrgefühls rasch ein, »daß +sie gar nicht auf ihn geachtet haben würde, wenn er sich nicht +so schnell und heimlich, und dicht unter den Fenstern, am Hause +<span class="tei tei-pb" id="page066">[pg 066]</span><a name="Pg066" id="Pg066" class="tei tei-anchor"></a>hingedrückt hätte. Wer kein böses Gewissen hat, kann gerade +und offen gehen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie sind aber gar nicht gefragt, zum Henker noch einmal,« +rief der Actuar jetzt ungeduldig werdend — »wenn Sie +jetzt nicht ruhig sind, lasse ich Sie so lange hinausführen, bis +wir Sie wieder brauchen. Hier Mamsell Rieke; wenn Sie +sich die Schürze abgedreht haben, dann sein Sie so gut und +sagen Sie uns einmal wo und wie Sie den Herrn Loßenwerder +gesehen haben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich — ich weiß nicht gewiß« — stammelte das Mädchen +verlegen — »aber — aber Loßenwerder kam — bald nachher +wie die Herrschaft fortgefahren war — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wie lange nachher?« frug der Actuar.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Etwa eine halbe Stunde denk' ich — vielleicht nicht so +lange — kam er viel rascher als es sonst seine Art ist, denn +er geht gewöhnlich immer sehr langsam — kam er — kam er +aus der Thür heraus, die er geschwind hinter sich zuzog — und +dann — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und dann?« — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Und dann hielt er den Kopf nieder, als ob er nicht wollte +daß ihn Jemand, der vielleicht von oben heruntersähe, erkennen +möchte — hielt er den Kopf nieder und drückte sich — drückte +sich dicht am Haus hin, so schnell er konnte die Straße hinunter, +und um die Ecke.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und nachher?« frug der Actuar.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nu, um die Ecke kann sie doch nicht sehn,« sagte die +Köchin.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page067">[pg 067]</span><a name="Pg067" id="Pg067" class="tei tei-anchor"></a>»Ob Sie still sein wird,« sagte Herr Ledermann jetzt +aber wirklich böse gemacht — »Wenzel, wenn mir die Person +da jetzt noch einmal das — noch einmal den Mund aufthut, +dann wissen Sie was Sie zu thun haben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sehr wohl, Herr Actuar,« sagte der Gerichtsdiener — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und sind Sie dann nachher nicht herübergekommen und +haben das den Leuten im Hause gesagt, was Sie gesehn?« +frug der Actuar.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich habe ja aber Nichts gesehen,« sagte die Rieke.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie haben doch den Loßenwerder gesehn« — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja aber der geht doch so oft in das Haus hier herein, und +kommt nachher immer wieder heraus.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Actuar warf sich ungeduldig herüber und hinüber +und sagte endlich mürrisch:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Unsinn — baarer Unsinn — aber hatte er denn irgend +etwas in der Hand? — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">trug</span></em> er etwas?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Trug</span></em>? — ja — ja sehn Sie Herr Actuar — das kann +ich Sie nicht sagen — das weiß ich nicht — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun Sie werden doch gesehen haben, ob er irgend ein +schweres Paket in der Hand hatte oder nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja sehn Sie, das weiß ich Sie wahrhaftig nicht, aber +ich glaube es fast,« sagte das Mädchen, »denn ich habe den +Herrn Loßenwerder eigentlich noch gar nicht anders gesehn, +als daß er irgend 'was getragen hätte; und wenn's nur ein +paar Briefe gewesen wären, oder ein Regenschirm.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Lieber Herr Actuar, ich glaube Sie sind da auf einer +falschen Fährte,« sagte Herr Dollinger jetzt — »man kann +<span class="tei tei-pb" id="page068">[pg 068]</span><a name="Pg068" id="Pg068" class="tei tei-anchor"></a>einem Menschen allerdings nicht in's Herz sehen, aber für den +Loßenwerder möchte ich fast selber einstehen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mein bester Herr Dollinger,« sagte aber der Actuar +kopfschüttelnd, »es ist das mit den Untersuchungen eine wunderliche +Sache, und Leute auf die man am allerwenigsten gedacht, +von denen man nie das geringste Unrechte vermuthet +hatte, kommen da oft in den sonderbarsten Verwickelungen +vor und — sind schuldig. Ich selber kenne Loßenwerder +als einen ordentlichen braven Menschen, und will zu +Gott hoffen, daß unser ganzer Verdacht unbegründet ist; das +heimliche Schleichen aus dem Haus aber, und daß ihn Niemand +sonst im Haus gesehen hat macht ihn verdächtig. Meine +Pflicht ist es wenigstens ihn selbst deshalb zu vernehmen und +ich werde jedenfalls noch heute Abend nach ihm schicken müssen — unsere +Eisenbahnverbindungen sind jetzt zu schnell, und +man darf keiner Menschenseele mehr zwölf Stunden Vorsprung +lassen, wenn man nicht oft das leere Nachsehn haben will.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Passen Sie auf,« sagte Herr Dollinger, »der Loßenwerder +wird den Blumenstock zum Geburtstag Clara's oben +hinaufgetragen haben, und zum Dank dafür kommt der arme +Teufel jetzt noch in den Verdacht des fatalen Diebstahls.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wie aber ist er ohne Nachschlüssel in die verschlossene +Thür gekommen,« warf der Actuar ein — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm — « sagte Herr Dollinger, »das weiß ich freilich +nicht — nun fragen Sie ihn selber, das wird jedenfalls der +kürzeste Weg sein.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page069">[pg 069]</span><a name="Pg069" id="Pg069" class="tei tei-anchor"></a>»Um das Verzeichniß der gestohlenen Gegenstände dürfte +ich Sie dann vielleicht nachher noch bitten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Meine Tochter wird es gerade jetzt eben schreiben,« sagte +Herr Dollinger, »wenn Sie nur noch kurze Zeit warten wollen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dann dürfte ich Sie wohl bitten, es mir gleich in meine +Wohnung zu schicken,« meinte der Actuar nach kurzer Ueberlegung, +»ich muß vor allen Dingen erst in meine Wohnung +und werde dann von da gleich noch einmal in's Bureau +gehen. Wo ist denn der Loßenwerder wohl am leichtesten zu +finden?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich habe eben nach seinem Hause geschickt,« sagte Herr +Dollinger, »aber dort ist er nicht. Paul, der Bursche, behauptet, +er ginge manchmal, aber selten, in eine Bierstube an der +Ecke der Rößnitzer und Hertzergasse, aber dort war er auch +nicht; es ist übrigens an beiden Orten bestellt, ihn gleich, so +wie Jemand seiner ansichtig wird, hierherzuschicken.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sehr wohl,« sagte der Actuar, seine Papiere zusammenpackend, +und sie dem Gerichtsdiener übergebend; nach kurzer +Begrüßung wollte er sich dann eben entfernen, als er noch einmal +in der Thür stehen blieb und, sich scharf auf dem Absatz +herumdrehend, fragte:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»A prospos — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">raucht</span></em> Loßenwerder?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Soviel ich weiß <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">nicht</span></em>,« sagte Herr Dollinger.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Doch ja, manchmal,« sagte Einer der Leute — Sonntags +nach Tisch z. B. regelmäßig eine Cigarre.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, so?« sagte der Actuar und verließ dann rasch das +Zimmer und Haus.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page070">[pg 070]</span><a name="Pg070" id="Pg070" class="tei tei-anchor"></a>Er hatte übrigens auch alle Ursache sich zu beeilen, denn +daheim wartete ein mit jeder Minute drohender aufsteigendes +Unwetter auf ihn, das er mit einer Art von verzweifelten Hoffnung +immer noch mit den, dem Gerichtsdiener wieder zu dem +Zweck abgenommenen, und geschäftsmäßig unter den Arm geklemmten +Streifen Akten abzuleiten gedachte. Jedenfalls +mußte ihm der Vorfall im Dollinger'schen Haus, der so viel +von seiner Zeit in Anspruch genommen, entschuldigen. Frau +Actuar Ledermann aber hatte sich schon den ganzen Nachmittag +über, mit immer wachsender Ungeduld, vorgenommen gehabt +mit ihrem Gatten gegen Abend einen der vor der Stadt +gelegenen Gärten, wo Concert sein sollte, zu besuchen +und die Parthie war ihr jetzt — was halfen alle Gründe +dagegen — zu Wasser geworden; es verstand sich von selbst +daß Actuar Ledermann die Schuld, und deshalb auch die Folgen +trug.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Frau Actuar Ledermann hatte sich übrigens vor einigen +Tagen, wo sie trotz dem nassen Wetter und allen Vorstellungen +ihres Mannes spatzieren gegangen war, furchtbar erkältet, und +brachte keinen lauten Ton über die Lippen. Das aber, und +daß sie ihren gerechtfertigten Ingrimm nicht mit der vollen +Kraft ihrer Stimme hinaus<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">gießen</span></em> konnte über den Gatten, +wie sie es — und er auch — gewohnt war, sondern alles das was +sie ihm zu sagen hatte — und sie hatte ihm viel zu sagen — heraus<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">flüstern</span></em> +mußte, reizte ihren Zorn nur noch immer +mehr.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber liebes Kind, ich versichere Dich,« sagte der Actuar +<span class="tei tei-pb" id="page071">[pg 071]</span><a name="Pg071" id="Pg071" class="tei tei-anchor"></a>in einem vergeblichen Versuch den aufsteigenden Sturm zu +beschwichtigen, »daß ich mich über anderthalb Stunden bei +dem verwünschten Diebstahl im Dollinger'schen Hause aufgehalten +habe und — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und ich versichere Dich,« zischte sie, mit einem Gesicht, +dem die Anstrengung die es sie kostete die Worte hörbar zu +machen, einen noch viel unfreundlicheren, ja sogar boshaften +Ausdruck gab — »daß ich Dich vor anderthalb Stunden +schon gerade so erwartet habe wie jetzt, und seit drei Stunden +vollkommen angezogen dasitze und auf Dich passe.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Du <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">bist</span></em> ja gar nicht angezogen, beste Therese.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Weil ich mich wieder ausgezogen habe,« rief die Frau — »glaubst +Du ich soll mir ein Beispiel an einem liederlichen +Menschen nehmen, und bei Nacht und Nebel noch draußen +herumstreichen, wie Leute die das Licht zu scheuen haben? — Und +dann mit meinem Katharr — daß ich mir den Tag über +im warmen Sonnenschein ein wenig Bewegung machte, das +fällt Dir nicht ein; aber Nachts, wenn der schädliche Thau +niederfällt, der für mich gerade Gift wäre, da möchtest Du +mich jetzt wohl noch hinausschleppen nicht wahr? damit ich +nur recht schnell unter die Erde käme — o ich armes unglückseliges +Weib — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Therese Du bist unbillig, ich habe Dir doch angeboten +heute Nachmittag mit mir nach dem rothen Drachen +hinauszugehn — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Weil Du wußtest daß das nichtsnutzige Geschöpf von +<span class="tei tei-pb" id="page072">[pg 072]</span><a name="Pg072" id="Pg072" class="tei tei-anchor"></a>einer Wäscherin mir mein Kleid nicht vor vier Uhr bringen +würde,« zischte die Frau.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Du hast ja noch andere — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Am Sonntag zum Skandal der andern Menschen mit +einer solchen <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Fahne</span></em> zu einem anständigen Vergnügungsort +hinausziehn, nicht wahr? — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Dir</span></em> läge natürlich Nichts daran +was die Leute über Deine Frau sagten; aber Du bist auch an +anderen Orten lieber wie zu Hause, und statt Deiner Frau +einmal ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten, und nachher +mit ihr zusammen auszugehen, mußt Du natürlich g'rad in's +Wirthshaus laufen, und ein Bischen vor Mitternacht dann +wieder zu Hause kommen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Liebes Kind, es ist halb neun Uhr jetzt« — sagte der +Actuar ruhig, »dann aber Therese,« fuhr er nach kleinem +Zögern, mit einer fast gewaltsamen Anstrengung etwas herauszubringen, +das er auf dem Herzen hatte, fort — »bist Du +theilweise mit selbst Schuld daran, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">daß</span></em> ich mir eben außer +dem Hause mein Vergnügen suchen <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">muß</span></em>.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich?« wollte die Frau erstaunt rufen, der etwas zu hoch +eingesetzte Ton blieb aber total aus, und Ledermann sah nur, +mit der entsprechenden Gesticulation, das zum Höchsten erstaunte +Gesicht der Gattin. Dadurch aber vielleicht, und durch +die ungewöhnliche, freilich erzwungene Stille, etwas muthiger +gemacht, fuhr er entschlossen fort:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja liebes Kind, Du; denn anstatt Deinem Mann, wenn +er von seinen Berufsgeschäften ermüdet zu Hause kommt den +Aufenthalt daheim zu einem freundlichen zu machen, in dem +<span class="tei tei-pb" id="page073">[pg 073]</span><a name="Pg073" id="Pg073" class="tei tei-anchor"></a>er gerne bleibt, läßt Dich Dein unglückseliges, heftiges Temperament +nicht ruhen noch rasten, sondern Du mußt irgend +eine Gelegenheit vom Zaune brechen mit mir zu zanken. Gebricht +es Dir aber vollkommen an Stoff, was jedoch nur in höchst +seltenen Fällen zu sein scheint, so bist Du mürrisch und verschlossen, +machst ihm ein finsteres, verdrießliches Gesicht, und +sprichst kein Wort.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Sprachlos nur vor Zorn und Staunen über die unerhörte, +bodenlose Frechheit, hatte die Frau indessen dem heute +so redseligen Gatten (der aber nicht dabei zu ihr aufzuschauen +wagte, sondern bald die rechte, bald die linke Ecke der Stube +mit den Augen suchte) angesehn. Es war eine allerdings +noch jugendliche schlanke, aber eher magere als volle Gestalt, +die Frau Actuar Ledermann, mit etwas vorstehenden, wenigstens +stark markirten Backenknochen und durchdringend scharfen, +wenn auch kleinen lichtgrauen Augen, die Lippen schmal und +um den Mund in vielen kleinen Fältchen, zusammengezogen, +das Kinn jedoch etwas zurückstehend, was ihr ein besonderes, +und nicht eben angenehmes Profil gab. Auch in ihrem +Anzug ließ sie sich zuviel gehn; der Zauber reinlicher Kleidung +fehlte ihr, der selbst der ärmlichsten Tracht etwas Nettes, +Freundliches giebt; die Krause die das oben am Hals dicht anschließende +Kleid einfaßte, war schon mehrere Tage getragen +und verdrückt, ebenso zeigten die Manschetten Spuren längeren +Dienstes, und die Haube saß ihr verschoben und zu viel zurückgedrängt +auf dem, nicht überreich mit Haaren bedeckten Scheitel. +Frau Actuar Ledermann war nicht hübsch, und der Affect +<span class="tei tei-pb" id="page074">[pg 074]</span><a name="Pg074" id="Pg074" class="tei tei-anchor"></a>der ihre Züge in diesem Augenblick mehr entstellte als belebte, +nahm ihnen leider auch die letzte Spur sanfter Weiblichkeit, +die sonst doch wohl noch hie und da darin verborgen lag. Der +bis jetzt mehr durch Erstaunen als Mäßigung niedergekämpfte +Zorn gewann aber auch endlich die Oberhand, und während +die Anstrengung, sich bei ihrer Heiserkeit gehört zu machen, ihr +Antlitz fast dunkel färbte, keuchte sie, die Arme in die Seite gestemmt, +den Oberkörper gegen den überrascht einen Schritt +zurückweichenden Gatten vorgebeugt:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Spreche kein Wort, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">heh</span></em>? sagt der Herr? — prahlt +da, »wenn er von Berufsgeschäften nach Hause kommt« — spreche +kein Wort? — sitzt in der Kneipe den ganzen gesegneten +Nachmittag — im rothen Drachen und das nennt er +Berufsgeschäfte; vertrinkt das Geld das wir hier zum nothwendigsten +Leben brauchten, und wirft mir jetzt meine Heiserkeit +vor, die mir der Himmel geschickt hat, oder mein +böses Glück, dem ich auch einen solchen Mann verdanke — daß +ich kein Wort spreche und verdrießlich bin. Ich soll +wohl <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">tanzen</span></em>? eh? — wenn mir das Herz zum Zerspringen +voll ist vor Jammer und Elend daheim, und wenn ich den +ganzen Tag da sitze, und brüte und denke wie wir auskommen +wollen mit den paar Groschen, die zum Sterben und +Verhungern zu viel, zum Leben aber zu wenig sind. Dann +soll ich nachher, wenn der gestrenge Herr sein Gesicht +zeigt, lachen und vergnügt und lustig sein, nur damit +der Haustyrann sich nicht unbehaglich fühlt in <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">seinen</span></em> vier +Wänden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page075">[pg 075]</span><a name="Pg075" id="Pg075" class="tei tei-anchor"></a>Heftiger Husten unterbrach hier die Zornesrede der +Frau, der die übermäßig angestrengte Luftröhre den Dienst +versagte, und der Actuar Ledermann nahm still und schweigend, +den Moment benutzend, ein Licht von dem kleinen +Seitenschrank, zündete es an der Lampe an, und verließ +kopfschüttelnd und seufzend das Gemach, sich auf sein eigenes +kleines Stübchen zurückzuziehn.</p> +</div> +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"><span class="tei tei-pb" id="page076">[pg 076]</span><a name="Pg076" id="Pg076" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc10" id="toc10"></a> +<a name="pdf11" id="pdf11"></a> +<a name="pdb12" id="pdb12"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 4.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Franz Loßenwerder.</span></h1> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">In Heilingen, in der Glockenstraße, stand ein vortreffliches +Weinhaus, in dem die wohlhabenderen Bürger Abends gewöhnlich +zusammenkamen und ihr Fläschchen, aus denen auch +oft zwei und drei wurden, tranken. Das Lokal war ziemlich +gemütlich, und dem Zweck entsprechend, in eine Menge kleiner +Zimmerchen abgetheilt, die theils durch wirkliche Thüren +und Verschläge, theils durch Vorhänge von einander getrennt +lagen, einzelnen Gesellschaften zu gestatten eben einzeln zu +bleiben, und ihr Glas, ungestört von dem Nachbar, zu trinken.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das Haus hieß »der Pechkranz« nach einer alten Sage, +die der Wirth sehr gern mit der Heilinger Chronik belegte, und +die noch in dem dreißigjährigen Kriege spielte; ein, über der +Eingangsthür in neuerer Zeit erst aus Stein gehauener Bachus, +hielt auch in der einen Hand einen Tyrsusstab, und in der anderen +einen Pechkranz, in höchst wunderlicher Weise Sage und<span class="tei tei-pb" id="page077">[pg 077]</span><a name="Pg077" id="Pg077" class="tei tei-anchor"></a> +Geschäft mit einander vereinigend. Die Allegorie war aber gar +nicht so übel angebracht, und hätte sich auch schon ohne Tilly +recht leidlich und genügend erklären lassen, denn Bachus hatte +hier schon in der That in manchen Kopf seinen Pechkranz +hineingeworfen, daß es lichterloh zum Dache hinausbrannte, +ohne weiter eben größeren Schaden anzurichten, als der alte +Pechkranz in damaliger Zeit angerichtet haben sollte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Wirth war übrigens nicht in Heilingen geboren und +erzogen, sondern ein Rheinländer, der sich hier erst vor einigen +Jahren niedergelassen, und durch gute Getränke auch bald gute +und schlechte Kunden genug bekommen hatte. Seine Preise +waren allerdings ein wenig theuer, »aber,« sagten die Heilinger, +»wer einmal Wein trinkt, dem darf es auch nicht auf +einen Groschen dabei ankommen, wenn er nur ächt und rein +ist,« und Wirth und Gäste befanden sich wohl dabei.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es war am Abend des nämlichen Tages, an welchem ich +meine Erzählung begann, als die Gäste, die den Tag über +meist auf Spaziergängen im Freien gewesen waren, anfingen +einzutreffen, und die Kellner geschäftig herüber und hinüber +sprangen, Wein und Speisen den Hungrigen und Durstigen +zu bringen. Die kleinen Räumlichkeiten füllten sich nach und +nach, und selbst in dem großen Mittelsaal, der ungefähr das +Centrum des Ganzen bildete, hatten sich schon hie und da einzelne +Gruppen gebildet, oder auch einzelne Gäste saßen in +irgend einer Ecke, ihre Flasche Wein vor sich, und auf eigene +Hand, in ungeselliger Gemüthlosigkeit, langsam Glas nach +Glas zu leeren. Es ist das aber nicht die rechte Art; zu einer +<span class="tei tei-pb" id="page078">[pg 078]</span><a name="Pg078" id="Pg078" class="tei tei-anchor"></a>schönen Landschaft und einer guten Flasche Wein gehören +mindestens zwei Personen, um Beides recht und ordentlich zu +genießen, die eine sich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">darüber</span></em>, die andere sich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">dabei</span></em> auszusprechen; +wenn man allein ist, geht mehr als der halbe Genuß +von Beiden verloren. Es giebt allerdings Menschen, die +sich zufriedener fühlen wenn sie Alles allein genießen können, +aber denen geh' aus dem Weg; es sind Hypochonder oder +Schlimmere, und der einzige Dank, den Du ihnen schuldig bist +ist dafür, daß sie sich eben auch von Dir zurückziehn. Nur +wer Niemanden hat an den er sich anschließen darf, wer allein +und freundlos in der Welt dasteht und das Leid das ihn +drückt, allein tragen, die wenigen frohen Momente seines Lebens +allein genießen muß, den bedauere und hilf ihm, wenn +Du kannst, denn er ist der Unglücklichste von Allen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es mochte neun Uhr Abends sein, als ein Bekannter +von uns, der Kürschnermeister Kellmann, die Weinstube betrat +und, sich überall umschauend, ob er nicht irgend einen Freund +träfe zu dem er sich setzen könnte, in einer der Ecken eine bekannte +Gestalt entdeckte. Aber er sah erst ein paar Secunden +wirklich aufmerksam dorthin, ehe er seinen Augen traute, und +sagte dann, auf Jenen losgehend und neben dem Tisch stehen +bleibend:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hallo, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Loßenwerder</span></em>? Ihr hier im Pechkranz? na da +möchte man doch, wie die Schwaben sagen, den Ofen einschlagen. +Alle Wetter Mann und vor einer Flasche Rüdesheimer; +nun das laß ich gelten und es freut mich wahrhaftig, +daß Ihr endlich einmal aufthaut und unter Menschen kommt.<span class="tei tei-pb" id="page079">[pg 079]</span><a name="Pg079" id="Pg079" class="tei tei-anchor"></a> +Aber was ist denn heute los bei Euch? denn einen ganz besonderen +Grund muß doch die Festlichkeit haben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ha — ha — ha — hat sie auch He — he — he — he — herr +Ke — ke — ke — kellmann,« sagte der kleine Mann verlegen +lächelnd und sich etwas schüchtern dabei umschauend, denn es +schien ihm nicht angenehm, die Aufmerksamkeit der übrigen +Gäste so direkt auf sich gelenkt zu sehn.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Jetzt kann ich aber auch den Leuten widersprechen,« sagte +Kellmann, seinen Hut und Stock an einen der nächsten Haken +hängend und sich neben ihn setzend, »wenn sie behaupten Ihr +tränkt nur Wasser, und Sonntags höchstens einmal ein Glas +Dünnbier — ich kriege Leibschneiden, wenn ich nur an das +Zeug denke — und sonst lebtet, als ob Ihr die Woche mit +einem halben Thaler auskommen müßtet. Alle Wetter Mann, +das ist recht, daß Ihr Euch auch manchmal ein Glas Rheinwein +gönnt; das hält Leib und Seele zusammen, und stärkt die +Nerven und Muskeln mehr wie Rindfleisch. Würde mir +schwer ankommen, wenn ich unseren vaterländischen Wein entbehren +müßte,« setzte er mit einem halbunterdrückten Seufzer +hinzu.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ha — ha — ha — haben Sie a — a — a — auch wohl +ni — ni — nicht nö — nö — nö — nö — nö — nöthig, be — be — be — bester +He — he — he — he — he — he.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ih nun wer weiß was Einem noch Alles bevorsteht,« +unterbrach ihn Kellmann — »hier Kellner — mir auch eine +Flasche von dem Rüdesheimer; der Duft hat mir Appetit +gemacht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page080">[pg 080]</span><a name="Pg080" id="Pg080" class="tei tei-anchor"></a>»Hallo Loßenwerder bei einer Flasche Rüdesheimer,« rief +aber jetzt noch eine andere Stimme aus dem nächsten Stübchen, +wo ein paar junge Kaufleute bei ihrem Glase zusammensaßen — »da +müssen wir auch dabei sein; Loßenwerder hat vielleicht +heute seinen splendiden Tag und traktirt — haben Sie +was in der Lotterie gewonnen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die jungen Leute, die Kellmann und Loßenwerder begrüßten, +kamen mit ihrer Flasche heraus, und setzten sich an +denselben Tisch, mit dem immer verlegener werdenden kleinen +Mann anstoßend und trinkend. Denen gesellten sich aber noch +bald darauf Andre zu; Loßenwerder war in der ganzen Stadt +bekannt und oft auch, seiner körperlichen Mängel wegen, zum +Besten gehalten. Vertheidigen konnte er sich aber schon seines +Stotterns wegen nicht, was den Gegnern gleich nur noch +mehr Anlaß und Stoff gegeben hätte; so wurde denn diese +freilich gezwungene Zurückhaltung endlich für Gutmütigkeit +ausgelegt, mit der er sich Scherz und Stichelrede ruhig gefallen +ließ, und was die schärfste Erwiderung nicht vermocht, +erreichte er unfreiwillig dadurch, daß man es endlich müde +wurde, den sich nicht Verteidigenden zum Besten zu haben, +und ihn eben zufrieden ließ. Aber in des Verwachsenen Betragen +änderte das Nichts; abgestoßen und verhöhnt — in +nur sehr wenigen Ausnahmen — von Allen, mit denen er in +Berührung kam, zog er sich mehr und mehr in sich selbst zurück, +ging, außer den nöthigen Geschäftswegen und außer der Geschäftszeit, +fast nirgends hin, und lebte so einfach, ja fast dürftig, +wie nur ein Mensch leben kann, der eben <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">nur</span></em> Geld ausgiebt, +<span class="tei tei-pb" id="page081">[pg 081]</span><a name="Pg081" id="Pg081" class="tei tei-anchor"></a>um zu existiren. In einem Weinkeller hatte ihn aber noch +Niemand gesehn, und die Gäste dort, die überdies keinen weiteren +Zweck da hatten als sich zu amüsiren, glaubten das +einmal einen Abend mit dem kleinen »Stotterberg«, wie er +spottweis, seines Stotterns und Höckers wegen genannt wurde, +am Besten thun zu können.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Im Anfang wollte sich Loßenwerder aber auf Nichts einlassen, +ja machte sogar zwei oder drei, wenn gleich vergebliche +Versuche, sich zu entfernen, denn von allen Seiten wurde er +gehalten, und Jeder wollte und mußte mit ihm trinken. Nach +und nach aber fing er an aufzuthauen; der ungewohnte kräftige +Wein mochte ihm das Blut leichter und rascher durch die +Adern jagen. Nun sollte er erzählen, aber das ging nicht, sein +Stottern wurde, mit der schwereren Zunge, kaum verständlich, +bis Einer, im Spott eben, auf den Gedanken kam, ihn +zum Singen aufzufordern. Loßenwerder weigerte sich erst +ganz verschämt; das aber kam den Anderen zu komisch vor, +und mit Lachen und Toben, während ein paar schon Champagner +bestellten, den Genuß würdig zu feiern, räusperte sich +Loßenwerder plötzlich und stieg, von dem Wein erregt, und +jetzt unter dem lauten Jubel der ihn umdrängenden Gäste, auf +einen Stuhl.</p> + +<p class="tei tei-p" style="text-align: center; margin-bottom: 1.00em"> +</p><div class="tei tei-figure" style="text-align: center"><img src="images/illu003.jpg" width="511" height="712" alt="Capitel 4" /></div> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Was aber, wie sich die Uebrigen gedacht, Spott und Scherz +hatte werden sollen, das erstarb in athemlosem Schweigen, +nur von leisen Ausrufungen des Staunens und der Bewunderung +unterbrochen, als der kleine verkrüppelte Mensch, mit +einer hellen, glockenreinen Stimme, und Tönen, die zum in<span class="tei tei-pb" id="page082">[pg 082]</span><a name="Pg082" id="Pg082" class="tei tei-anchor"></a>nersten +Herzen drangen, erst noch scheu, dann aber immer +zuversichtlicher werdend, und wie von dem Inhalt des Liedes mit +fortgerissen, dieses also begann:</p> + +<div class="tei tei-lg" style="margin-bottom: 1.00em; margin-left: 2.00em; margin-top: 1.00em"> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">»Ich habe schon zu oft geschaut</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">In Deiner Augen Glanz, Du Holde,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Auf meine Kraft zu fest vertraut,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Viel mehr, als ich vertrauen sollte.</div> +</div> +<div class="tei tei-lg" style="margin-bottom: 1.00em; margin-left: 2.00em; margin-top: 1.00em"> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Doch nein, für Dich Geliebte sind</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Des Lebens schönste, reinste Blüthen,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Von keinem Schmerz getrübt, bestimmt,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Und was könnt' ich dafür Dir bieten?</div> +</div> +<div class="tei tei-lg" style="margin-bottom: 1.00em; margin-left: 2.00em; margin-top: 1.00em"> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Nichts — gar Nichts, als ein treues Herz;</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Doch nimmer sollst Du es erfahren — </div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Ich kann, wie früher, meinen Schmerz</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">In tiefer, innerer Brust bewahren.</div> +</div> +<div class="tei tei-lg" style="margin-bottom: 1.00em; margin-left: 2.00em; margin-top: 1.00em"> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Sei glücklich! — wenn auch ohne mich,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Ich will Dich lieben, aber schweigen</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Und mein Gebet nur soll für Dich</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Empor, zum Thron des Höchsten steigen.</div> +</div> +<div class="tei tei-lg" style="margin-bottom: 1.00em; margin-left: 2.00em; margin-top: 1.00em"> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Wenn dann mein Herz im Grabe liegt,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Und austräumt seine stillen Leiden,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Dann soll der Geist zum Himmel nicht</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Entfliehn, und zu der Seel'gen Freuden. — </div> +</div> +<span class="tei tei-pb" id="page083">[pg 083]</span><a name="Pg083" id="Pg083" class="tei tei-anchor"></a> +<div class="tei tei-lg" style="margin-bottom: 1.00em; margin-left: 2.00em; margin-top: 1.00em"> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Ein schön'res Loos werd' ihm zu Theil,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Umschwebend Dich in trüben Tagen,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Soll er, zu Deinem Schutz und Heil,</div> +<div class="tei tei-l" style="text-align: left">Selbst seiner Seligkeit entsagen.«</div> +</div> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Loßenwerder war ganz gerührt geworden beim Schluß +des Liedes, und die Thränen standen ihm in den Augen; während +sein wirklich häßliches Gesicht durch den Schmerz aber +eher einen komischen als ernsten Ausdruck bekam, jubelte die +Schaar jetzt um ihn her, die wirklich erst wieder Athem und +Laut gewann, als der wundersame Zauber dieser Stimme +von ihnen genommen war.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bravo — bravo Loßenwerder — bravo dacapo! Donnerwetter +Mann, Ihr habt ja eine Stimme wie eine Nachtigall, +und stottert nicht die Probe dabei — wie am Schnürchen +geht das!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es ist erstaunlich!« rief Kellmann, vor lauter Verwunderung +über das eben Gehörte wirklich fast sprachlos.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun aber auch trinken — hier Loßenwerder — hier,« +riefen sie, ihm das Glas bis zum Rand mit dem schäumenden +Trank füllend, »und dann noch ein Lied; bei Gott, das +zuckt und prickelt Einem ordentlich durch die Adern, und klingt +wie Glockenton so rein und voll; Loßenwerder wo habt Ihr +das Singen gelernt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Vo — vo — vo — vo — vo — von mi — mi — mir se — se — se — se — selb — bber,« +stotterte der kleine Mann, kaum im Stande +jetzt mit immer schwerer werdender Zunge nur die paar Worte +<span class="tei tei-pb" id="page084">[pg 084]</span><a name="Pg084" id="Pg084" class="tei tei-anchor"></a>vorzubringen, während ihm im Gesang die Strophen wie der +Lerche das schmetternde Lied; aus der Kehle wirbelten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und da hat bis jetzt noch gar kein Mensch etwas davon +erfahren,« rief Kellmann wieder — »behält die liebe Gottesgabe +da ebenfalls für sich allein, kommt nirgends hin, spricht +mit Niemand, trinkt und singt mit Niemand, und hat eine +Stimme in der Luftröhre sitzen, die Einer, wer es darauf anzulegen +verstände, in reines Gold verwandeln könnte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Von allen Seiten tranken sie jetzt dem kleinen Mann +zu, und überschütteten ihn mit Lob und Jubel, und dieser +schwamm wirklich in einem wahren Meer von Wonne. So +wohl war ihm auch noch nie geworden — Niemand hatte sich +bis jetzt um ihn bekümmert, Jeder ihn verspottet und verhöhnt, +und zum ersten Mal, vielleicht seit langen, langen Jahren, +fühlte er sich unter Menschen einem Menschen gleich, wußte +sich nicht mehr verachtet und unter die Füße getreten, und sah +freundliche Augen um sich her, die ihn wie ihres Gleichen +anschauten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Dem löste sich auch endlich seine Zunge, oder wenigstens +sein guter Wille zu reden, so weit, daß er beginnen wollte Geschichten +zu erzählen. Das ging aber unter keiner Bedingung; +beim Singen ja, aber beim Sprechen brachte er kein Wort mehr +über die Lippen, und selbst das Singen versagte ihm zuletzt +den Dienst; die Augenlider wurden ihm schwer, er fing an zu +lallen, und war eben zurück auf seinen Stuhl und dem Schlaf +in die Arme gesunken, als die Thür aufging und zwei +Gerichtsdiener in's Zimmer traten. Es war etwa elf Uhr<span class="tei tei-pb" id="page085">[pg 085]</span><a name="Pg085" id="Pg085" class="tei tei-anchor"></a> +Abends und die meisten Gäste, mit Ausnahme des einen +Tisches, hatten das Haus schon verlassen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hallo was ist das?« sagte Herr Kellmann, der die beiden +Leute zuerst bemerkte, »das ist wunderlicher Besuch — es +wird doch nicht etwa eine Polizeistunde eingeführt in Heilingen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Aber auch der Wirth war die »Diener der Gerechtigkeit«, +wie sie meist etwas poetisch genannt werden, gewahr geworden +und ging auf sie zu, sich zu erkundigen was sie hierher geführt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ein kleiner buckliger Mann soll hier heute Abend bei +Ihnen sein,« sagte der Erste — »er ist aus dem Dollingerschen +Geschäft.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dort sitzt er in der Ecke,« sagte der Wirth vom Pechkranz +nach Loßenwerder hinüberzeigend, »hat er etwas verbrochen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich weiß nicht,« erwiederte der Zweite ziemlich kurz — »wir +sollen ihn abholen.« — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wird schwer sein,« meinte der Wirth — »sie haben +ihm heute Abend hier ordentlich zugetrunken, und der Wein hat +jetzt das Uebergewicht — wenn er aufsteht kippt er wieder um.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm — da wird wohl auch nicht viel mit Fragen aus +ihm herauszubringen sein, Meier; was meinst Du, nehmen +wir ihn mit?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich denke das Beste wird sein wir führen ihn zu Haus, +und Einer bleibt bei ihm bis er morgen früh wieder zu Verstande +kommt; jetzt ist doch Nichts mit ihm anzufangen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber um Gottes Willen was ist denn vorgefallen?« +<span class="tei tei-pb" id="page086">[pg 086]</span><a name="Pg086" id="Pg086" class="tei tei-anchor"></a>frug Kellmann bestürzt; »der arme Teufel hat doch nicht etwa +irgend 'was verbrochen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Noch ist nichts Gewisses bekannt,« erwiederte der erste +Polizeidiener, »nur bei Dollinger's ist heute Nachmittag eingebrochen, +und die Untersuchung muß jetzt erst ergeben, wer +schuldig sei.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bei Dollinger's eingebrochen?« riefen Mehrere, »heute +Abend?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein heute am hellen Tag,« sagte der Mann.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Alle Wetter das muß dann gewesen sein während sie +nach dem rothen Drachen gefahren waren,« sagte Kellmann +rasch — »sie kamen an uns vorbei mit dem jungen Henkel.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»In der Zeit war's,« bestätigte der Polizeidiener, »denn +wie sie zu Hause kamen, wurde es entdeckt — hier da Loßenwerder — Sie +da — wachen Sie auf.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja wenn Sie den stoßen wollen bis er munter wird,« +lachte Einer der jungen Leute, »da haben Sie Arbeit.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie — Loßenwerder — hören Sie?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja — ja« — stammelte der von dem ungewohnten +Weine, von dem er eigentlich gar nicht so sehr viel getrunken, +Betäubte — »me — me — me — mehr We — we — wein; ich za — za — za — zahle +A — a — a — a — a — alles!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So?« sagte der Polizeidiener ruhig — »nun für heute +möcht' es doch wohl genug sein; komm, faß ihn da drüben +unter den Arm, er wohnt ja auch nicht so sehr weit von hier — wo +ist sein Hut?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page087">[pg 087]</span><a name="Pg087" id="Pg087" class="tei tei-anchor"></a>»Hier — armer Teufel, das wird ein böses Erwachen +werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wie man sich bettet so schläft man,« sagte der zweite Polizeidiener, +und den Betrunkenen in die Höhe richtend, der dabei +unverständliche Sachen stammelte und sogar einen total misglückenden +Versuch machte wieder zu singen, führten sie ihn +hinaus und seiner Wohnung zu, indeß die Gäste noch das »für +und wider« der Schuld des Mannes, von dem sie nie etwas +Uebles gehört bei einer anderen Flasche besprachen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Und es <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">war</span></em> ein böses Erwachen für den Mann; von +dem Weindunst betäubt schlief er, wie ein Todter, bis zum +lichten Tag, und als er die Augen aufschlug und ihm der +Kopf schmerzte zum Zerspringen, fiel sein erster Blick auf den +ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gehenden Polizeidiener, +den er einen Moment bestürzt anstarrte, und dann die +Augen wieder schloß, wie vor einem unangenehmen Traumbild.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun Loßenwerder, ausgeschlafen?« sagte der Mann +aber, froh endlich einmal zu einem Resultat zu kommen — »das +hat lange gedauert — kommen Sie, stehn Sie auf und +ziehn Sie sich an.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Stimme war <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kein</span></em> Traum, und der kleine Mann +richtete sich erschreckt von seinem Bett, auf dem er noch mit +den Kleidern vom vorigen Abend lag, empor. Wo war er? — wie +war er hierher gekommen? er drückte sich mit beiden Händen +die Stirn und der klare Angstschweiß brach ihm aus über +den ganzen Körper; er <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">wußte</span></em> nicht mehr was gestern Alles +geschehn, und die unheimliche finstere Gestalt vor ihm füllte +<span class="tei tei-pb" id="page088">[pg 088]</span><a name="Pg088" id="Pg088" class="tei tei-anchor"></a>sein Herz mit einer wilden Ahnung von Unheil, die alles Blut +dorthin in jähem Strom zurücktrieb.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Wie ein Schlag da hinein traf ihn die Nachricht von dem +entdecktem Diebstahl, das Gefühl, daß der Verdacht auf ihm +laste, und die nächste Stunde — während ein anderer Polizeibeamter +bei ihm visitirte und man nichts weiter, als in einem +Winkel seines kleinen Schreibtisches, unter dreifachem Schloß, +ein Päckchen mit 200 Thalern in fünf und zwanzig Thaler +Cassenanweisungen, wie noch einige Goldstücke fand, wie seine +Abführung dann nach dem Dollingerschen Hause, da Herr +Dollinger gebeten hatte den Mann, an dessen Schuld er nicht +glauben wollte, erst einmal an Ort und Stelle selber zu befragen — lag +wie ein Alp auf seiner Seele, unter dessen Last er +auch kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, ja nicht +einmal eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten vermochte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">In dem Dollingerschen Hause angekommen, wurde er +gleich in Herrn Dollinger's Zimmer hinaufgeführt, und der +alte Herr ging, als Loßenwerder die Stube betrat, mit auf +dem Rücken gekreuzten Händen in seinem Zimmer auf und ab. +Der junge Henkel saß in der einen Ecke des Sophas, das +rechte Knie über das linke geschlagen, mit einem Buch in der +Hand, über das hin er aufmerksam den Gefangenen betrachtete.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Loßenwerder war bleich wie ein Todter — jeder Blutstropfen +hatte sein Antlitz verlassen, und bei dem Versuch den +er zum Reden machte, kam kein Laut über seine Lippen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Loßenwerder,« sagte Herr Dollinger endlich, nach einer +kleinen Weile vor ihm stehen bleibend und ihn ernst, ja traurig +<span class="tei tei-pb" id="page089">[pg 089]</span><a name="Pg089" id="Pg089" class="tei tei-anchor"></a>betrachtend — »ein böser Mensch ist gestern, während unserer +Abwesenheit, in unser Haus geschlichen und hat, außer einigen +Juwelen, auch noch das Geld entwendet, das Du mir gestern +Mittag gebracht und das ich, wie Du weißt, in den Secretair +dort schloß. Warst Du während unserer Abwesenheit wieder +im Haus und in dem Zimmer meiner Töchter?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»He — he — he — he — he — he — he — rr Do — Do — Do — Do.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Schon gut Loßenwerder, Du bist jetzt aufgeregt und das +Sprechen wird Dir schwer; beschränke Dich auf ein einfaches +ja und nein.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja — a — !«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»In dem Zimmer meiner Töchter?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»J — a — a — a aber — i — i — i — i — ich wo — wo — wollte« — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie haben einen Blumentopf dort hineingesetzt?« sagte +Herr Henkel jetzt ruhig.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das Blut stieg dem kleinen Mann rasch bis in die Schläfe +hinauf, aber der nächste Moment ließ sein Antlitz wieder so +weiß als vorher; er nickte nur, zur Betätigung des eben Gesagten, +mit dem Kopf.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Loßenwerder,« sagte der Herr Dollinger mit leiser, bewegter +Stimme und dicht zu dem kleinen Mann hinantretend, +wobei er die Hand auf dessen Schulter legte, »Loßenwerder, +noch gestern würde ich eben so leicht geglaubt haben, daß eines +von meinen eigenen Kindern eines schlechten, unrechtlichen +Streiches fähig wäre, bis mich leider die immer deutlicher +<span class="tei tei-pb" id="page090">[pg 090]</span><a name="Pg090" id="Pg090" class="tei tei-anchor"></a>sprechenden Thatsachen in meinem Glauben an Dich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">wankend</span></em> +gemacht haben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»He — he — he — he — he — herr Do — Do — Do — Do — — Dollinger« — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich will Dir klar und einfach unseren ganzen Verdacht +vorlegen,« sagte da der alte Herr, dem Angeklagten jedes unnütze +Wort zu ersparen — »gestern, während unserer Abwesenheit, +ist der Secretair meiner Töchter erbrochen und das +Dir bekannte Geld entwendet worden — drüben über der +Straße hat Dich ein Mädchen gesehn, wie Du heimlich aus +dem Hause geschlichen bist. Ebenso bestätigt Wilhelm, der +Stalljunge, Dich gesehn zu haben, wie Du hättest das Haus +durch die nach dem Hofe zu führende Thür verlassen wollen, +bei seinem Anblick aber, was selbst dem Jungen aufgefallen +ist, zurückgefahren, und dann auch nicht über den Hof gekommen +wärst. Das Stubenmädchen, die keine Ahnung davon +haben konnte daß Geld in dem Secretair lag, ist bereit den +schwersten Eid abzulegen, daß sie, wenige Minuten später, +nachdem man Dich hatte aus dem Hause schleichen sehen, die +Vorsaalthür nicht mehr aus den Augen gelassen, und gewiß +wäre, daß Niemand die Schwelle mehr überschritten habe, bis +sie den zurückkehrenden Wagen in den Hof einfahren gehört. +Heimlich bist Du im Haus gerade in der Zeit, in welcher das +Geld entwendet wurde, gewesen, und die gestrige Ausschweifung, +die man an Dir nicht gewöhnt ist, wie die bei Dir gefundene +Summe, lassen allerdings das Schlimmste fürchten. +Loßenwerder — ich brauche Dir nicht zu sagen, wie weh — wie +<span class="tei tei-pb" id="page091">[pg 091]</span><a name="Pg091" id="Pg091" class="tei tei-anchor"></a>weh mir das gerade von <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Dir</span></em> thut, und ich wollte die +doppelte Summe, so bedeutend sie ist, gern verschmerzen, wenn +es <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">nicht</span></em> geschehen wäre. Mache aber jetzt Deinen Fehler, +wenigstens so weit das noch in Deinen Kräften steht, wieder +gut; gestehe was Du mit dem übrigen Gelde gemacht, wo Du +es verborgen hast, und ich selber will dann auch Alles thun +was in meinen Kräften steht, Deine Strafe zu erleichtern. Ein +anderer Welttheil mag Dir nachher in späterer Zeit Gelegenheit +geben Deinen Fehltritt zu bereuen, und das wieder zu +werden, für was ich Dich, selbst bis diesen Morgen noch, +gehalten habe.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Loßenwerder hatte während dieser Auseinandersetzung +wie aus Stein gehauen vor seinem Prinzipale gestanden, +nur das Zittern seiner Glieder verrieth daß er lebe; jetzt aber +brach er in die Knie, und zum ersten Mal vielleicht mit +dem vollen Bewußtsein der gegen ihn erhobenen Anklage — oder +auch von Schuld und Angst zu Boden gedrückt, denn +wer konnte in den stieren, überdies nicht geraden Augen und +in den todtenbleichen, mit großen Schweißperlen bedeckten Zügen +das richtige lesen — umfaßte er die Knie des alten Herrn +und bat mit wild stotternder Stimme, aus der dieser nur mit +äußerster Anstrengung einen Sinn herausfinden mußte — ihn +nicht unglücklich zu machen — Nichts so Schreckliches von +ihm zu denken.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ein aufrichtiges Geständniß, Loßenwerder,« entgegnete +darauf Herr Dollinger, »ist das Einzige, was Deine Schuld +jetzt noch in etwas erleichtern kann. Das Gericht wird einen +<span class="tei tei-pb" id="page092">[pg 092]</span><a name="Pg092" id="Pg092" class="tei tei-anchor"></a>unbewachten Augenblick, dem die Reue auf dem Fuße folgt, +nicht so schwer strafen, wie den hartnäckigen Uebelthäter.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»A — a — a — a — a — aber ich bi — bi — bin ni — ni — ni — nicht +schu — schu — schu — schuldig,« — stotterte der Unglückliche — »ich +we — we — we — we — weiß vo — vo — vo — von +Ni — ni — ni — nichts — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Du weißt von Nichts, Loßenwerder?« sagte Herr Dollinger +leise mit dem Kopf schüttelnd — »und woher ist das +Geld das man bei Dir gefunden, woher die Fünfundzwanzig +Thaler-Note, die Du locker in der Tasche getragen, und die +Dir der Polizeidiener gestern Abend noch herausgenommen hat?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ge — spa — pa — pa — pa — partes Geld — e — e — e — e — e — ehrlich +ge — ge — gespartes G — g — g — geld!« stammelte der +arme Teufel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Herr Henkel stand jetzt auf und ging langsam auf Herr +Dollinger zu, dem er ein paar Worte in's Ohr flüsterte und +dann, während dieser leise und traurig mit dem Kopf nickte, +das Zimmer verließ. Loßenwerder aber, der ihm ängstlich mit +den Augen folgte und vielleicht in einer unbestimmten Ahnung +fühlte daß man ihn fortführen — in ein Gefängniß bringen +werde, ergriff wieder und jetzt aber wie in Todesangst des +alten Mannes Hand, und bat ihn um Gottes — um seiner +Seligkeit willen, soweit es ihm die, jetzt in der Aufregung nur +noch mehr fehlende Sprache immer gestattete, daß er ihm nur +das nicht anthun — daß er ihn in kein Gefängniß möge +führen lassen. Herr Dollinger erklärte aber natürlich darin +Nichts thun zu können, denn wenn er Nichts gestehen wolle +<span class="tei tei-pb" id="page093">[pg 093]</span><a name="Pg093" id="Pg093" class="tei tei-anchor"></a>oder zu gestehen habe, so müsse allerdings das Gericht, bei so +stark vorliegendem Verdacht, die Untersuchung aufnehmen, wonach +sich bald seine Schuld oder Unschuld herausstellen würde.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hab' ich aber einmal erst auf solchen Verdacht gesessen,« +stotterte der Unglückliche, »so bin ich gebrandmarkt mein Lebelang« — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Herr Dollinger zuckte die Achseln, und die Thür öffnete +sich in diesem Augenblick, den einen Polizeidiener zeigend, der +Loßenwerder leise auf die Achsel klopfte und freundlich sagte:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn's gefällig wäre.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Loßenwerder zuckte zusammen als ob er einen Schlag +bekommen, und wandte sich noch einmal, wie Hülfe suchend, +an Herrn Dollinger, aber ein Blick auf diesen überzeugte ihn, +daß er schon nicht mehr helfen könne, wo das Gericht die +Sache in die Hand genommen, und sein Gesicht in den Händen +bergend, folgte er dem Gerichtsdiener fast willenlos +hinaus.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Gerade als er durch die Thür schritt begegnete ihm, noch +auf der Schwelle, Frau Dollinger, und rasch bei Seite +tretend, als ob sie selbst durch seine Berührung angesteckt zu +werden fürchte, warf sie ihm einen zornigen, verächtlichen +Blick zu und ging an ihm vorüber.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Loßenwerder seufzte tief auf, sagte aber kein Wort, denn +wie er den Kopf hob, sah er am andern Ende des Vorsaals +Clara mit dem jungen Henkel in eifrigem Gespräch, und auch +dort mußte er vorbei. Das war zu viel und wie unschlüssig +<span class="tei tei-pb" id="page094">[pg 094]</span><a name="Pg094" id="Pg094" class="tei tei-anchor"></a>blieb er stehn und sah sich um, als ob er einen Weg zur Flucht +suche.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na kommen Sie, Loßenwerder, machen Sie keine Dummheiten,« +sagte aber, ihm ermunternd auf die Schulter klopfend, +der Polizeidiener — »es ist Alles ein Uebergang, wie der Fuchs +sagte, als sie ihm das Fell über die Ohren zogen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Loßenwerder nahm sich zusammen und schritt festen +Trittes an dem jungen Mädchen vorüber, das ihn mitleidig +betrachtete.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Etwas über zweihundert Thaler hat man schon bei +ihm gefunden,« flüsterte der junge Henkel ihr leise zu — »ich +hoffe daß Vater Dollinger das andere auch noch wieder bekommen +soll.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach Loßenwerder, warum habt Ihr das gethan?« sagte +Clara, leise und mitleidig den Gefangenen ansehend, als er an +ihr vorüberging.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»U — u — u — und Si — si — si — si — sie g — g — g — glau — ben +d — d — das a — a — a — a — auch?« rief Loßenwerder und +die großen hellen Thränen standen ihm dabei in den Augen, +aber der Polizeidiener hatte sich schon länger mit ihm aufgehalten, +als er meinte verantworten zu dürfen, nahm ihn leise +an der Hand und führte ihn die Treppe hinunter. Loßenwerder +folgte ihm wie in einem Traum.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das Polizeigebäude war nur höchstens fünfhundert Schritt +von dort entfernt, und stand an der andern Seite einer kleinen +steinernen Brücke die über den, mitten durch die Stadt und +häufig überbrückten kleinen Fluß führte. Als sie hinunter auf +<span class="tei tei-pb" id="page095">[pg 095]</span><a name="Pg095" id="Pg095" class="tei tei-anchor"></a>die Straße kamen, ließ der Polizeidiener seinen Gefangenen +los, kein Aufsehn zu erregen, und flüsterte ihm zu nur ruhig +neben ihm hinzugehn. Loßenwerder verstand ihn wohl gar +nicht, denn er sah verstört zu ihm auf, und dann um sich her, +und fand die Augen der Vorübergehenden alle neugierig auf +sich geheftet; sich aber doch, wenn auch nur dunkel, des Zwanges +bewußt der auf ihm lag, nahm er sein Taschentuch heraus, +trocknete sich die feuchte Stirn damit ab, und ging mit krampfhaft +zusammenengebissenen Zähnen neben seinem Wächter her. +So erreichten sie die Brücke, wo vier oder fünf Jungen standen, +die neugierig die Ankommenden betrachteten; Loßenwerder's +Blick schweifte über sie hin, aber er sah sie nicht, bis er dicht +bei ihnen war und einer derselben spottend rief:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hoho, hoho — Stotterberg hat gestohlen, Stotterberg hat +gestohlen!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Anderen stimmten lachend mit in den Ruf ein, und +der Polizeidiener drehte sich ärgerlich und drohend gegen die +Buben um, die scheu auseinander stoben; Loßenwerder aber +fuhr sich mit beiden Händen krampfhaft gegen die Stirn — +»hat gestohlen!« schrie er dabei, ohne zu stottern, mit gellendem +wilden Schrei, und ehe sein Wächter es verhindern konnte, +ja nur eine Ahnung davon hatte, warf er sich mit einem verzweifelten +Sprung, über die niedere Ballustrade hin in den unten +vorbeilaufenden Strom. Noch über dem Geländer erfaßte +ihn der Polizeidiener an einem Rockzipfel, das Gewicht des +niederfallenden Körpers war aber zu groß, als daß er es mit +einer Hand hätte aufhalten können, ja er mußte sogar loslassen, +<span class="tei tei-pb" id="page096">[pg 096]</span><a name="Pg096" id="Pg096" class="tei tei-anchor"></a>nicht selber das Gleichgewicht zu verlieren, und der Unglückliche +schlug gleich darauf auf das Wasser, unter dessen Oberfläche +er im nächsten Augenblick verschwand.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Fluß war indeß hier weder breit noch tief, und auf +der ziemlich belebten Straße fanden sich gleich mehre Leute, die +unterhalb der Brücke in's Wasser sprangen, das ihnen etwa +bis unter die Arme reichte, den niedertreibenden Körper aufzufangen. +Sie hatten ihn auch bald erreicht und gefaßt, und +von kräftigen Armen wurde derselbe an die Oberfläche gehoben +und zum Ufer gezogen. Wenn ihm jedoch auch das Wasser +selber noch nichts geschadet hatte, war der Unglückliche doch +durch den Sturz, in dem er wahrscheinlich durch das Zurückhalten +seines Rockes gegen einen der Brückenpfeiler geworfen +worden, schwer am Kopf verletzt — die Wunde blutete stark, +und die Männer trugen den Bewußtlosen zuerst auf die Polizei, +und von dort, auf den Ausspruch eines rasch herbeigerufenen +Arztes, in die Charité.</p> +</div> +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"><span class="tei tei-pb" id="page097">[pg 097]</span><a name="Pg097" id="Pg097" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc13" id="toc13"></a> +<a name="pdf14" id="pdf14"></a> +<a name="pdb15" id="pdb15"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 5.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Die Auswanderungs-Agentur.</span></h1> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Am Marktplatz zu Heilingen, und an der Ecke eines kleinen, +auf diesen auslaufenden Gäßchens, stand ein ziemlich +großes, grün gemaltes und gewiß sehr altes Erkerhaus, dessen +Giebel und Stützbalken geschnitzt, und mit wunderlichen Köpfen +und Gesichtern verziert, und braun angestrichen waren, und +sich so weit dabei nach vorn überneigten, daß es ordentlich +aussah, als ob der ganze Bau mit dem spitzen, wettergrauen +Dach nächstens einmal ohne weitere Meldung nach vorn über, +und gerade mitten zwischen die Töpfer und Fleischer hineinspringen +würde, die an Markttagen dort unten ihre Waare +feil hielten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Nichtsdestoweniger wurde es noch immer, bis fast unter +das Dach hinauf bewohnt, und der untere Theil desselben ganz +besonders zu kleinen Waarenständen und Läden benutzt. Die +Ecke desselben nun, hatte seit langen Jahren ein Kaufmann +<span class="tei tei-pb" id="page098">[pg 098]</span><a name="Pg098" id="Pg098" class="tei tei-anchor"></a>oder Krämer in Besitz, der sich zu seinen Materialwaaren, +Kaffee, Zucker, Tabak, Lichten, Grütze &c. auch noch in der letzten +Zeit die Agentur mehrer Bremer und Hamburger Schiffsmakler +zu verschaffen gewußt, und damit bald in einer Zeit, +wo die Auswanderungslust so überhand nahm, solch brillante +Geschäfte machte, daß er die Materialwaarenhandlung seiner +Frau, wie seinem ältesten Sohn übertrug, und für sich selber +nur ein kleines Stübchen, ebenfalls nach dem Markt hinaus, +behielt, über dessen Thüre ein riesiges, sehr buntgemaltes +Schild jetzt prangte. Dies Schild verdient übrigens mit +einigen Worten beschrieben zu werden, da die Heilinger +in den ersten Tagen — als es eben erst aufgehangen worden — in +wirklichen Schaaren davor stehen blieben und es +anstaunten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es war ein breites, länglich viereckiges Gemälde, ein +großes, dreimastiges Schiff vorstellend, wie es sich unter vollen +Segeln der fremden, ersehnten Küste näherte. Die See selber +war hellgrün gemalt, mit einer Unmasse von sichtbar darin +herumschwimmenden Fischen, die den Beschauer wirklich etwas +besorgt um die Sicherheit des Fahrzeugs selber machen konnten. +Dessen wackerer Kiel schäumte aber mitten hindurch, und der, +dem Anschein nach vollkommen runde, nur nach hinten zu etwas +länglich auslaufende Rumpf, preßte eine große grün und +weiß gestreifte Welle vorne auf, die sich wie eine breite Falte +quer vor seinen Bug legte. Die Segel standen dazu fast ein +wenig zu sackartig, und nur an den vier Zipfeln festgehalten, +stramm und steif von den Raaen ab, und die langen blut<span class="tei tei-pb" id="page099">[pg 099]</span><a name="Pg099" id="Pg099" class="tei tei-anchor"></a>rothen +Wimpel mit roth und weißer Bremer Flagge hinten an +der Gaffel, strömten und flatterten lustig nach hinten aus, +wahrscheinlich den raschen Durchgang des Schiffes durch das +Wasser anzuzeigen, das derart, durch den Wind getrieben, selbst +diesen überflügelte. Ueber Deck war aber auch die Mannschaft, +und Kopf an Kopf eine volle Reihe bunter Passagiere sichtbar, +mit sehr dicken rothen Gesichtern, die Gesundheit an Bord +des Schiffes bestätigend, und mit sehr hellgelben und sehr +breiträndigen, rothbebänderten Strohhüten auf, während hinten +auf Deck der Capitain des Schiffes mit einem dreieckigen Hut, +wie einem Fernglas in der einen und einem Dreizack in der +andern Hand stand. Was der Maler mit dem Dreizack andeuten +wollte weiß nur er und Gott; er müßte denn gemeint +haben daß der Capitain, wie früher Neptun, das Meer beherrsche. +Uebrigens war es auch möglich daß er fischen wolle, +und sich mit dem Fernrohr nur eben den stärksten und fettesten +der ihn reichlich umschwimmenden Fische ausgesucht habe.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Den Hintergrund dieses prachtvollen Seestücks bildete +ein schmaler Streifen mit einzelnen Palmen bedeckter Küste, an +der eine Anzahl pechschwarzer, nackter Männer standen, die +nur einen gelb und blauen Schurz um die Hüfte und einen +grünen Busch in der Hand trugen. — Diese sahen übrigens +gerade so aus, als ob sie die Ankunft des Schiffes schon sehnsüchtig +und vielleicht sehr lange Zeit erhofft hätten, und nun +die Zeit nicht erwarten könnten daß die Fremden an Land +stiegen, damit sie geschwind für sie arbeiten, und ihnen den +Boden urbar machen dürften.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page100">[pg 100]</span><a name="Pg100" id="Pg100" class="tei tei-anchor"></a>Neben dem Bild, und zu beiden Seiten der Thür, wie +sogar noch an dem innern Theile des Fensterschalters, hingen +lange Listen der verschiedenen anzupreisenden Plätze für Auswanderung. +Obenan New-York, Philadelphia und Boston, +dann Quebeck und New-Orleans, Galveston; in Brasilien, Rio +de Janeiro und Rio Grande; in Australien Adelaide, dann +Chile, Valdivia und Valparaiso, und Buenos Ayres mit einer +Menge neu entdeckter verschiedener Kolonien und Ansiedlungen, +wohin überall die besten kupferfesten Schiffe A¹, in unglaublich +kurzer Zeit und mit Allem versehen ausliefen, was dem +glücklichen Passagier das Leben an Bord eines solchen Schiffes +nur in der That zu einer Vergnügungsfahrt machen müsse +und würde.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Weigel, wie der Eigentümer dieser »ausländischen Versorgungsanstalt« +(ein Spottname den die Heilinger der Weigelschen +Agentur gaben) hieß, war ein dicker, vollgenährt und +blühend aussehender Mann, ungefähr sechs bis achtunddreißig +Jahr alt, mit ein wenig fest umgeschnürter Cravatte, was seinen +Augen etwas Stieres gab, und sonst einem leisen Anflug +von Grau in den sonst braunen, widerspenstigen Haaren. Die +Augen waren groß, blau und ziemlich ausdruckslos; ein +fast mitleidiges Lächeln aber, das oft, und besonders dann +wenn er irgend Jemandes Meinung bestritt, um seine Mundwinkel +spielte, gab dem Ausdruck seiner Züge jene scheinbare +Ueberlegenheit, die sich zuversichtliche Menschen oft über Andere, +wenn mann es ihnen gestattet, anzumaßen wissen. Ganz vorzüglich +wußte er diese Miene anzunehmen, wenn er über<span class="tei tei-pb" id="page101">[pg 101]</span><a name="Pg101" id="Pg101" class="tei tei-anchor"></a> +Amerika, oder irgend einen überseeischen Fleck Landes sprach, +über dem für ihn ein gewisser heiliger und unantastbarer Zauber +schwamm, und Jemand dann irgend einen Zweifel gegen +das Gesagte zu hegen wagte. Er schwärmte besonders für +Amerika, und es gab deshalb auch, seiner Aussage nach, keinen +größeren Lügner in der Stadt, als den Redacteur des Tageblatts, +den Advokaten und Doctor Hayde in Heilingen. Dieser +und er waren denn auch, wie das sich leicht denken läßt, grimme +und erbitterte Feinde und Gegner, woselbst sich nur irgend eine +Gelegenheit dazu fand.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Weigel bekam, wie das gewöhnlich bei den Agenturen der +Schiffsbeförderung üblich und der Fall ist, für jede Person +die er einem Bremer oder Hamburger Rheder sicher an Bord +lieferte, einen Thaler, kurzweg genannt »für den Kopf« und +er theilte deshalb die Leute — seine Mitbürger sowohl wie +sämmtliche übrige Bewohner Deutschland's, in solche ein »die +Energie hatten,« d. h. zu ihm kamen und sich bei ihm einen +»Platz nach Amerika« besorgen ließen, wo sie nachher drüben +selber sehn konnten wie sie fertig wurden, und in solche, die +»im alten Schlendrian hinkrochen, und hier lieber verfaulten, +ehe sie einen männlichen entscheidenden Schritt thaten, ihrer +Existenz auf die Beine zu helfen.« Jeder der hier blieb betrog +ihn aber wissentlich und mit kaltem Blut um seinen, ihm +in ehrlichem Verdienst zustehenden Thaler, und es verstand sich +von selbst, daß er vor einem solchen Menschen keine Achtung +haben konnte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Er selber kannte die Verhältnisse Amerika's nur aus<span class="tei tei-pb" id="page102">[pg 102]</span><a name="Pg102" id="Pg102" class="tei tei-anchor"></a> +Büchern die das Land lobten, denn andere las er gar nicht, +und bekam er sie einmal zufällig in die Hand, so warf er sie +auch gewiß mit einem Kernfluch über den »nichtswürdigen +Literaten, der wieder einmal einen ganzen Band voll Lügen +zusammengeschmiert« in die Ecke. Sein größter Aerger war +aber jedenfalls — und so regelmäßig wie die Uhr Morgens +acht schlug — das Tageblatt, das er der häufigen Annoncen +wegen halten <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">mußte</span></em>, und das ebenso regelmäßig kleine gehässige +und schmutzige Artikel gegen Amerika wie überhaupt +gegen Alles brachte, was sich frei und selbstständig bewegte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Zehnmal hatte er sich schon vorgenommen den »kleinen erbärmlichen +Doctor« zu prügeln, und sehr vielen Leuten würde +er dadurch ein großes Vergnügen bereitet haben; aber er unterließ +es doch jedesmal auch wieder, wenn sich ihm gleich oft genug die +Gelegenheit dazu bot; Beide mußten jedenfalls schon einmal +früher etwas mit einander gehabt haben, vielleicht mehr von +einander wissen als Beiden zuträglich war, und ein solcher +Bruch wäre da nicht räthlich gewesen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Sonst lebte Weigel still, und anscheinend als ein vollkommen +guter und achtbarer Bürger, vor sich hin, aber im +Stillen wirkte und wühlte er seinem Ziel entgegen, und richtete +in der That viel Unheil an. Seine Beschreibungen +Amerika's, die er sich selber in kleinen Brochüren aus anderen +Büchern zusammentrug, und um ein Billiges verkaufte, waren +ein langsames Gift, das er in manche friedliche und glückliche +Familie warf, ein Saatkorn das dort wucherte und Wurzel +schlug, und während es die Leser anreizte nur gleich ohne wei<span class="tei tei-pb" id="page103">[pg 103]</span><a name="Pg103" id="Pg103" class="tei tei-anchor"></a>teres +ihr Bündel zu schnüren und jenen herrlichen Länderstrichen +zuzueilen, wo von da an ihr Leben nur einem murmelnden +Bache gleichen würde, der zwischen Blumen dahin +fließt, füllte er ihre Köpfe mit falschen Ideen und Begriffen +von dem Land, das ihre neue Heimath werden sollte, und +machte viele, viele Menschen unglücklich. In der neuen Heimath +dann angekommen, die ihnen, mit mäßigen Ansprüchen, +wirklich Manches geboten haben würde was ihre Lage, im +Vergleich mit dem alten Vaterland gebessert haben könnte, +fanden sie sich jetzt plötzlich in all den wilden extravaganten +Ideen, die sie durch solche Lectüre eingesogen, enttäuscht, +fanden die Hoffnungen nicht realisirt, die man ihnen gemacht, +hielten sich für schlecht behandelt und unglücklich, und verfielen +nun oft in das Extrem trostloser und eben so unbegründeter +Verzweiflung, wobei sie den Mann verwünschten, der sie hierverlockt, +und sie verleitet hatte, Heimath und eigenen Heerd zu +verlassen, einem Phantom zu folgen. Weigel aber hatte seinen +Thaler für den richtig abgelieferten »Kopf« bekommen, +und dachte schon gar nicht mehr an die früher Beförderten, die +seiner Meinung nach jetzt in einem Meer von Behagen schwammen +und »unter Palmen wandelten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Herr Weigel war allein in seinem kleinen Bureau, einem +niederen, etwas dumpfen und nicht überhellen Stübchen, dessen +eines breites Fenster mit durch Zeit und Rauch arg mitgenommenen +Gardinen verziert war, während die Wände durch +Karten und statistische Tabellen-Anzeigen von Schiffen und +Gasthäusern, Plänen von neuangelegten Städten oder zu ver<span class="tei tei-pb" id="page104">[pg 104]</span><a name="Pg104" id="Pg104" class="tei tei-anchor"></a>kaufenden +Farmen fast völlig bedeckt hingen. Er saß an einem +hohen, ziemlich breiten Pult, das einen mächtigen Kamm von +Gefachen und Schiebladen trug und las, mit einer Tasse Kaffee +neben sich, eben seinen täglichen Aerger, das Tageblatt, als +es an die Thür klopfte, und auf sein lautes »Herein« ein +junger, sehr anständig, aber trotzdem etwas ärmlich gekleideter +Mann das Zimmer betrat.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Herr Weigel?« sagte der Fremde mit einer leichten Verbeugung.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bitte — ja wohl,« sagte Herr Weigel, seine Brille rasch +in die Höhe schiebend und auf seinem Drehstuhl herumfahrend, +seinen Besuch besser in's Auge zu fassen — »womit kann ich +Ihnen dienen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie befördern Passagiere nach Amerika?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika? — denke so, hehehe,« lachte Herr Weigel, +sich vergnügt die Händ reibend, »habe schon ganze Colonien +hinüber geschafft, Männer und Frauen, Weiber und +Kinder; sitzen jetzt drüben in der Wolle und schreiben einen +Brief über den andern an mich, wie gut es ihnen geht — da +nur den einen hier, den ich vor ein paar Tagen bekommen +habe — der Mann ist blos mit zwei tausend Dollarn hinübergegangen +und hat schon eine eigene Farm, achtzig Acker Land, +vierundzwanzig Stück Rindvieh, einige sechzig Schweine, fünf +Pferde und will jetzt eine Schäferei anlegen — schreibt an +mich ich soll ihm einen Schäfer hinüber schicken, aber einen +der die Sache aus dem Grund versteht, kommt ihm auf ein +<span class="tei tei-pb" id="page105">[pg 105]</span><a name="Pg105" id="Pg105" class="tei tei-anchor"></a>paar Dollar Lohn nicht dabei an — bitte lesen Sie einmal +den Brief.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie sind sehr freundlich Herr Weigel,« sagte der junge +Fremde mit einem verlegenen wie schmerzhaften Zug um den +Mund — »aber der Brief würde gerade nicht maßgebend für +mich sein, da ich mich gegenwärtig nicht in den Verhältnissen +befinde, gleich einen Platz zu <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kaufen</span></em>. Sind die Passagierpreise +jetzt theuer?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Theuer? spottbillig,« lachte Herr Weigel, den Brief +offen wieder zurück auf sein Pult, und seine Brille darauf +legend, ihn zu weiterem Gebrauch bereit zu haben; »spottbillig +sag' ich Ihnen, man könnte wahrhaftig auf dem festen Land +nicht einmal dafür leben — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">so</span></em> nicht; und unter uns — ich +weiß wahrhaftig nicht wie die Leute dabei auskommen, aber +es muß eben die rasende <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Menge</span></em> von Passagieren machen, +die sie jetzt wöchentlich, ja fast täglich hinüber spediren. Es +ist fabelhaft was jetzt für Menschen auswandern; auf einmal +werden sie Alle gescheidt, und merken endlich was sie hier haben, +und was sie dort erwartet — ist doch ein famoses Land, das +Amerika.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Und wie viel beträgt die Passage nach dem <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">nächsten</span></em> +Hafen der Vereinigten Staaten, wenn ich fragen darf, für — für +eine erwachsene Person und ein Kind?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»<span class="tei tei-foreign"><span style="font-style: italic">Nächsten</span></span> Hafen? — hehehe, fürchten sich wohl vor der +Seekrankheit? lieber Gott, daran gewöhnt man sich bald; ist +auch gar nicht so arg wie's eigentlich gemacht wird. Der Mensch, +der Doctor Hayde hier im Tageblatt, hat neulich einen Ar<span class="tei tei-pb" id="page106">[pg 106]</span><a name="Pg106" id="Pg106" class="tei tei-anchor"></a>tikel +über die Seekrankheit gebracht den er wahrscheinlich +auch selber geschrieben, und wonach Einem gleich ach und weh +zu Muthe werden müßte; der ist aber nur dazu bezweckt den +Leuten das Auswandern zu verleiden. Sie möchten sie gern hier +behalten, damit sie sie nur recht ordentlich plagen und schinden +können, weiter Nichts; davor braucht sich kein Mensch zu +fürchten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie wollten mir aber den <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Preis</span></em> der Passage nennen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Den Preis? — ja so — warten Sie einmal« — sein +Blick fiel auf die Glacéhandschuhe und die schneeweiße Wäsche +des Fremden, dessen etwas abgetragene Kleider er in dem halbdunklen +Raum nicht so leicht erkennen konnte, oder auch übersah — »der +Preis — Dampfschiff oder Segelschiff?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Segelschiff.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Segelschiff — wird — sein — Preis in erster Cajüte +vier und achtzig Thaler Gold.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und die — die billigeren Plätze?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Billigeren Plätze — zweite Cajüte oder Steerage fünfundsechzig +Thaler Gold — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und Zwischendeck?« sagte der Fremde leise und verlegen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Zwischendeck würde ich Ihnen nicht rathen,« meinte +Herr Weigel, seine Brille jetzt abwischend und wieder aufsetzend; +»besonders wenn man eine Frau und ein Kind bei sich +hat und es nur irgend ermachen kann, sollte man nie Zwischendeck +gehn, man ruinirt sich's und den Seinigen an der Gesundheit +herunter, was die paar Thaler mehr kosten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page107">[pg 107]</span><a name="Pg107" id="Pg107" class="tei tei-anchor"></a>»Aber Sie können mir wohl den Preis des Zwischendecks +sagen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja wohl, mit dem größten Vergnügen — Zwischendeck +nach New-York kostet — warten Sie einmal, ich habe ja +hier die letzten Briefe von meinen Häusern. Zwischendeck nach +New-York kostet vierundvierzig Thaler Gold.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Vierundvierzig Thaler?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja es ist seit ein paar Tagen erst wieder um vier Thaler +aufgeschlagen, weil die Leute eben nicht Schiffe genug anschaffen +können für die Auswanderer. Ist fabelhaft was besonders +dieses Jahr für Leute übersiedeln. Soll ich Sie +vielleicht einschreiben? es trifft sich jetzt gerade glücklich, denn +am 15ten geht ein ganz vortreffliches Schiff ab, die <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Diana</span></em>, +Dreimaster, gut gekupfert, mit allen nur möglichen Bequemlichkeiten +versehn und einem Capitain, ich sage Ihnen ein +wahrer Schentelmann, wie er sich gerade nicht immer auf den +Schiffen findet.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich danke Ihnen für jetzt noch bestens, lieber Herr +Weigel,« sagte der junge Mann — »ich muß doch nun erst +mit meiner Frau Rücksprache über dieß nehmen, denn erst seit +gestern ist mir die Idee überhaupt gekommen auszuwandern; +aber — noch eine Bitte hätte ich an Sie,« und er drehte dabei +den Hut den er in der Hand hielt, fast wie verlegen zwischen +den Fingern — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja? womit könnte ich Ihnen dienen?« frug Herr Weigel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Könnten Sie mir wohl sagen, ob die Capitaine der +Segelschiffe — ich habe einmal irgendwo gelesen daß das +<span class="tei tei-pb" id="page108">[pg 108]</span><a name="Pg108" id="Pg108" class="tei tei-anchor"></a>manchmal geschähe — auch Leute — Passagiere mitnähmen, +die unterwegs ihre Passage — abarbeiten dürften und also — auch +keine Ueberfahrt zu bezahlen brauchten?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Keine Passage zahlen?« sagte Herr Weigel, die Lippen +vordrückend und die Augenbrauen in die Höhe ziehend, während +er langsam und halb lächelnd mit dem Kopfe schüttelte — »keine +Passage bezahlen? — ne lieber Herr — ja so wie heißen +Sie denn gleich — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Eltrich,« sagte der junge Mann etwas zögernd — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So? — ne mein lieber Herr Eltrich, davon steht Nichts +in unseren Verzeichnissen und Contracten; im Gegentheil, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">da</span></em> +kommen wir zusammen; das ist der Hauptpunkt, der Nervum Rehrum, +der die ganze Geschichte eigentlich zusammenhält, Amerika +und Europa und die umliegenden Dorfschaften, heh, heh, heh.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber wenn nun irgend ein armer Teufel,« fuhr der +Fremde etwas lauter, fast wie ängstlich fort — »irgend ein +armer Teufel sein ganzes Hoffen eben auf eine Reise nach +Amerika gesetzt hätte, und bestimmt wüßte daß er dort, wenn +auch nicht gerade sein Glück machen, doch sein Auskommen +finden würde? — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun dann soll er gehn — um Gottes Willen gehn, +und am 15ten dieses wird wieder das neue, kupferfeste — ja +so, aber er muß bezahlen,« unterbrach er sich rasch als ihm +einfiel von was sie vor erst wenigen Secunden gesprochen, +»er muß bezahlen, sonst nimmt ihn kein Capitain der Welt +mit über See.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und Sie glauben nicht daß da jemals eine Ausnahme +<span class="tei tei-pb" id="page109">[pg 109]</span><a name="Pg109" id="Pg109" class="tei tei-anchor"></a>stattfinden dürfte?« sagte Herr Eltrich — »es werden doch +Leute auf See gebraucht zu den nothwendigsten sowohl, wie +den geringeren Arbeiten, und die Capitaine müssen gewiß dafür +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">bezahlen</span></em>. Wenn sich also nun Jemand erböte alle diese Verrichtungen +ganz <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">umsonst</span></em>, nur um Passage und die einfachste +Matrosenkost zu machen, sollte das nicht möglich sein zu erlangen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Lieber Herr,« sagte der Herr Weigel, dem es jetzt so vorkommen +mochte als ob er mit dem Fremden da kein besonders +großes Geschäft machen würde, und der anfing ungeduldig zu +werden, »zu den Arbeiten an Bord eines Schiffes werden +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Matrosen</span></em> gebraucht, und wer kein Matrose ist, kann die auch +nicht verrichten. Das ist keine kleine Kunst, lieber Herr Schelbig, +in den Tauen den ganzen Tag herumzuklettern und zwischen +den Segeln, wenn das Schiff bald so herüberschlenkert +und bald so« — und er begleitete dabei seine Erklärung mit +einer entsprechenden Bewegung der vor sich gerade aufgehaltenen +Hand — »da müssen die Leute fest stehen können wie die +Mauern, sonst kann man sie nicht gebrauchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber glauben Sie nicht, wenn man einmal an einen Capitain +schriebe, ob er sich doch nicht am Ende bewegen ließ; +oder« — setzte er rasch hinzu, wie von einem plötzlichen Gedanken +ergriffen, »wenn man sich nun verbindlich machte die +Passage nach einer bestimmten Zeit in Amerika nachzuzahlen — sie +dort abzuverdienen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja da könnte Jeder kommen,« sagte Herr Weigel kopfschüttelnd, +»wenn die Leute erst einmal drüben sind, thun sie +<span class="tei tei-pb" id="page110">[pg 110]</span><a name="Pg110" id="Pg110" class="tei tei-anchor"></a>was sie wollen. Das ist ein freies Land da drüben, Herr +Wellrich, und da könnte man nachher jedem Einzelnen nachlaufen, +und sehen daß man sein Geld wieder kriegte. Ne, damit +ist's faul, und ich nun einmal vor allen Dingen, möchte +mich nicht auf solch eine Quängelei einlassen; daran hat +man keine Freude, und das ist auch kein rundes Geschäft.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es ist nur ein armer Verwandter, der sich auf solche +Weise gern forthelfen würde,« sagte Herr Eltrich erröthend — »er +ist sehr fleißig und würde arbeiten wie ein Sclave, die +Zeit über.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja das glaub' ich,« meinte Herr Weigel gleichgültig — »versprechen +thun die Art Herren gewöhnlich Alles was man +von ihnen haben will.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Könnten Sie mir denn vielleicht die Adresse irgend eines +Schiffes oder Rheders geben, der bald ein Schiff hinüberschickt,« +sagte der junge Fremde, sich schon wieder zum Gehen rüstend — »wenn +ich vielleicht selber einmal dorthin schriebe, um Sie +nicht weiter mit der Sache zu belästigen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, schreiben können Sie,« sagte Herr Weigel, »hehehe; +aber Sie werden keine Antwort bekommen; darauf können Sie +sich verlassen. Die Leute da haben mehr zu thun, als sich eines +Passagiers wegen, für den sie noch umsonst die Kost hergeben +müßten, in eine Correspondenz einzulassen; kann ich ihnen auch +gar nicht so sehr verdenken.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und die Adresse?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Die Adresse? — da, hier liegt die neueste Auswanderer-Zeitung; +wenn Sie wollen, können Sie sich da ein oder zwei<span class="tei tei-pb" id="page111">[pg 111]</span><a name="Pg111" id="Pg111" class="tei tei-anchor"></a> +Adressen herausschreiben. Da hinten, auf der letzten Seite +stehen sie.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Herr Weigel sah nach der Uhr, drehte sich wieder auf seinem +Drehstuhl, der beim Aufschrauben etwas quietschte, herum, +schob das Tageblatt zur Seite und rückte sich einen Bogen +Papier zurecht, als ob er irgend einen nothwendigen Brief zu +schreiben hätte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Wieder klopfte es da an die Thür, und dießmal, ohne +ein ermunterndes »Herein« zu erwarten, öffnete sie sich, und +drei Bauern, denen die großen silbernen Knöpfe auf Weste +und Rock und das feine Tuch der letzteren, die jedoch ganz +nach ihrem alten bäurischen Schnitt gemacht waren, etwas ungemein +solides gaben, traten, die Hüte erst unter der Thür +und schon im Zimmer abziehend, herein, und grüßten die beiden +Leute die sie hier beisammen fanden, mit einem herzlichen +»Guten Morgen miteinander.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das waren die Leute die Herr Weigel gern kommen sah, +die wußten weßhalb sie die eine Hand immer in der Tasche +trugen, denn sie hatten dort etwas zu verlieren, und waren +nicht selten dabei die Vorboten eines größern Trupps, oft einer +ganzen »Schiffsladung voll« die aus ein und derselben Gegend +auswandern wollte, und ein paar der Angesehensten indeß +vorausgeschickt hatte, Platz für sie zu bestellen. Wie der +Blitz war er denn auch von seinem Stuhle herunter, schüttelte +ihnen nacheinander die Hand, und frug sie wie es ihnen ginge +und was sie hier zu ihm geführt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Seid Ihr der Mensch der die Leute nach Amerika schickt?« +<span class="tei tei-pb" id="page112">[pg 112]</span><a name="Pg112" id="Pg112" class="tei tei-anchor"></a>sagte da der Eine von ihnen, eine breitkräftige, sonngebräunte +Gestalt mit vollkommen lichtblonden Haaren und Augenbrauen, +aber dabei gutmüthigen vollen und frischen Zügen, dem das +Ganze übrigens etwas fremd und unheimlich vorkommen +mochte, denn er warf den Blick während er sprach wie scheu +von einer der Schiffszeichnungen zur anderen, und schien sich +ordentlich dazu zwingen zu müssen das zu sagen, was er eben +hier zu sagen hatte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun nach Amerika <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">schicken</span></em> thu' ich sie gerade nicht,« +lächelte Herr Weigel, die Anderen dabei ansehend, und etwas +verlegen über die vielleicht ein wenig plumpe Anrede.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nicht?« sagte der Bauer rasch und erstaunt — »aber +hier hängen doch all die vielen Schiffe.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun ja, ich besorge den Leuten Schiffsgelegenheit die +hinüber <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">wollen</span></em>,« sagte Herr Weigel, jetzt geradezu herauslachend, +weil er glaubte daß sich der Mann mit ihm einen +Scherz gemacht, auf den er natürlich einzugehen wünschte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja aber wir <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">wollen</span></em> eigentlich noch nicht hinüber,« +sagte der zweite von den Bauern, seinen Hut auf seinen langen +Stock stellend, und sich dabei verlegen hinter den Ohren kratzend — »wir +wollten uns nur erst einmal hier erkundigen ob denn +das auch wirklich da drüben so ist, wie es jetzt immer in den +Auswanderungszeitungen steht, und ob man blos hinüberzugehn +und zuzulangen braucht, wenn man eine gut eingerichtete +Farm mit ein paar hundert Morgen Land haben will.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja wenn man Geld hat,« lachte Herr Weigel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page113">[pg 113]</span><a name="Pg113" id="Pg113" class="tei tei-anchor"></a>»I nu — Geld hätten wir,« sagte der Bauer, und sah +seine Nachbarn an.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich bin Ihnen sehr dankbar,« unterbrach den Sprecher +hier der junge Mann, der indessen die Zeitung nachgesehn, und +sich Einzelnes daraus notirt hatte. »Bitte,« sagte Herr Weigel, +und nahm ihm das Blatt, ohne sich weiter um ihn zu bekümmern, +aus der Hand, und wandte sich wieder zu den Bauern, +als der junge Fremde sich mit einem artigen:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Guten Morgen meine Herren« empfahl.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Adje Herr — Herr Schnellig,« rief der Agent ziemlich +laut hinter ihm her, ohne sich weiter nach ihm umzudrehen, +während die Bauern freundlich den Gruß in ihrer Art erwiederten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wer war der junge Herr?« frug der erste Sprecher aber, +als er die Thür rasch hinter sich in's Schloß gedrückt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach, ein armer Teufel, der gern mit umsonst nach Amerika +hinüber möchte,« sagte Herr Weigel — »er thut zwar als +wär' es nur für einen armen Verwandten, aber, hehehe, derlei +Ausreden kennen wir schon — kommen alle Wochen vor.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Umsonst mit nach Amerika?« sagte der erste Sprecher +verwundert, »<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">der</span></em> sieht doch nicht aus als ob er etwas umsonst +haben wollte, der ging ja <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">so</span></em> fein gekleidet; Donnerwetter — mit +Handschuhen und allem — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja auswendig sind die Leute in der Stadt meist alle +schwarz und sauber angestrichen,« lachte Herr Weigel, »aber +inwendig, in den Taschen, da hapert's nachher. Wer aber +<span class="tei tei-pb" id="page114">[pg 114]</span><a name="Pg114" id="Pg114" class="tei tei-anchor"></a>ein Bischen Uebung darin hat, kann auch schon oben auf erkennen, +ob der Lack ächt, oder blos nachgemacht ist, hehehe.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bei dem war er wohl nachgemacht?« sagte der zweite +Bauer, dem Anschein nach gerade nicht unzufrieden damit, daß +der »glatte Stadtmensch« nicht so viel galt wie sie, und daß +der Auswanderungsmann das sogleich durchschaut hatte. Herr +Weigel nickte, seine Zeit war ihm aber kostbarer, als sie noch +länger an Jemanden zu verschwenden, bei dem er doch voraussah, +daß er von ihm keinen Nutzen haben würde, und er suchte +das Gespräch wieder dem mehr praktischen Anliegen der drei +Bauern zuzulenken.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Also Sie wollten mitsammen nach Amerika gehn und +sich eine ordentliche Farm, gleich mit Land, Vieh, Häusern +und was dazu gehört, ankaufen heh? — 'wär keine so schlechte +Idee.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja erst möchten wir aber einmal wissen wie die Sache +steht;« sagte der Erste wieder, der Menzel hieß, »wenn man +über einen Zaun springen will, ist es viel vernünftiger daß +man erst einmal hinüber guckt was drüben ist, und wenn man +das nicht kann, daß man Jemanden fragt der es genau weiß. +Sind denn die Farmen da drüben wirklich so billig? — ist das +wahr, daß man dort noch gutes frisches Land für ein und einen +Viertel Thaler kaufen kann?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Thaler? — nein,« sagte Herr Weigel, »<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Dollar</span></em>.« +»Ja nun, das ist aber auch nicht viel mehr,« meinte der +Zweite, Müller.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun ein Dollar ist ungefähr ein Speciesthaler,« sagte<span class="tei tei-pb" id="page115">[pg 115]</span><a name="Pg115" id="Pg115" class="tei tei-anchor"></a> +Herr Weigel — »lassen Sie mich einmal sehn — die stehn +jetzt — stehn jetzt 1 Thlr. 12½ Silber- oder Neugroschen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nu ja,« sagte Menzel wieder, »das ist aber immer kein +Geld — und für tausend Dollar kauft man da eine fix und +fertig eingerichtete Farm, wie sie's glaub' ich nennen? mit +Allem was dazu gehört?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich habe hier gerade,« sagte Herr Weigel in seinen +Papieren suchend, »ein paar Anerbietungen von höchst achtbaren +Leuten — wirklichen Amerikanern — die mir Farmen +zu höchst mäßigen Bedingungen offeriren. — Die Leute wissen +da drüben daß hier Viele zu mir kommen und sich nach solchen +Plätzen erkundigen, und wenn sie dann 'was Gutes haben, +schicken sie's mir. — Wo hab' ich denn die verwünschten Pläne +jetzt hingelegt — ah, hier ist der eine — sehn Sie, Gebäude +und Alles sind darauf angegeben — und der andere kann nun +auch nicht weit sein; ich habe sie erst vorgestern meinem Bruder +gezeigt, der gar nicht übel Lust hatte eine davon für sich +zu kaufen — da ist er.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die drei Bauern drängten sich um den kleinen Tisch herum +auf dem Herr Weigel die Pläne jetzt ausbreitete, und suchten +sich in den kreuz und quer laufenden Strichen zu orientiren, +wie der Platz eigentlich liege, und was darauf stände.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja aber wo ist denn das nun eigentlich, und wie sieht's +dort aus?« sagte Menzel endlich, nach einigen vergeblichen +Versuchen deshalb — »aus der Geschichte hier wird man nicht +klug.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja sehn Sie,« sagte Weigel, mit seinem Finger den<span class="tei tei-pb" id="page116">[pg 116]</span><a name="Pg116" id="Pg116" class="tei tei-anchor"></a> +Plan erklärend, und den angegebenen Zahlen folgend, »das +hier, Nr. 1 ist das Wohnhaus, ein Doppelgebäude, der Zeichnung +nach mit einer offenen Veranda dazwischen, des warmen +Klima's wegen, denn drum herum stehen »Baumwollenbäume« +angegeben; Nr. 2 da ist ein anderes Gebäude, bis +jetzt zu Negerwohnungen benutzt, denn der bisherige Besitzer +scheint Sclaven gehalten zu haben; Nr. 3 ist eine Scheune; +Nr. 4 ist ein Rauchhaus, die Leute verschicken von dort aus +viel getrocknetes Fleisch; Nr. 5 ist, wie es scheint, ein Waschhaus, +und Nr. 6 ein anderes Wohnhaus, was dem ersten +gegenübersteht, und wahrscheinlich den ganzen Hofraum, da +die Front nach dem Flusse zu liegt, abschließt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und welcher Fluß ist das?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der Missouri, einer der größten Ströme Amerika's, über +eine englische Meile breit, und viel hundert Meilen hinauf +schiffbar; alle Wetter meine Herren, von den dortigen Strömen +können wir uns hier gar keinen Begriff machen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm — und wieviel Land gehört dazu?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dazu gehört ein »Died« von 40 Acker, was früher als +Congreßland gekauft und schon bezahlt ist, und natürlich mit +übernommen wird, und um den Platz herum kann noch so viel +Congreßland dazu genommen werden, wie man haben will — nur +die vierzig Acker, von denen aber ein Theil schon urbar +gemacht ist, müssen natürlich höher bezahlt werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und was soll die ganze Geschichte kosten?« frug Müller. — Der +dritte, dessen Name Brauhede war, hatte noch kein einziges +Wort zu der ganzen Verhandlung gesagt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page117">[pg 117]</span><a name="Pg117" id="Pg117" class="tei tei-anchor"></a>»Die ganze Geschichte,« erwiederte Weigel, sich das Kinn +streichend, »wie ich sie Ihnen hier gleich an Ort und Stelle +überlassen kann, mit Häusern und Grundstück und dazu noch +einem kleinen Viehstand von vielleicht einigen achtzig Stück +Rindvieh, und fünfundfunfzig oder sechzig Schweinen, würde — etwa — ein +tausend und einige sechzig spanische Dollar +betragen — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und das wäre nach unserem Geld?« sagte Menzel, +Müller dabei heimlich unter dem Tisch anstoßend — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach unserem Geld?« wiederholte Herr Weigel, mit +einem Stück dort liegender Kreide die Summen rasch auf dem +Tisch selber aufaddirend — »würde es in einer runden Zahl +etwa 1000 — 400 — eine Kleinigkeit über 1400 Thlr. Preuß. +Courant betragen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wieviel Stück Rindvieh?« sagte Müller.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Einige achtzig Stück sind angegeben,« sagte Weigel, »und +müssen auch überliefert werden; aber gewöhnlich sind es noch +mehr, denn das Vieh läuft draußen im Freien herum und bekommt +Kälber und man weiß es oft nicht einmal — die Kälber +werden überhaupt nie mitgezählt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und die Passage hinüber kostet?« frug Menzel — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Zwischendeck oder Cajüte?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Zwischendeck — immer wo's am Billigten ist,« lachte +Menzel, und strich sich wohlgefällig über die silbernen +Knöpfe.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, kann mir's denken,« rief Herr Weigel, auf den +Scherz eingehend, und ihn leise gegen den Arm von sich +<span class="tei tei-pb" id="page118">[pg 118]</span><a name="Pg118" id="Pg118" class="tei tei-anchor"></a>stoßend — »Sie sehn mir auch gerade aus, als ob's Ihnen +auf ein paar Thaler ankäme.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, wo man's kann muß man's zusammennehmen,« +betheuerte aber auch Müller — »also wieviel kostet's im Zwischendeck +à Person?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Vierundvierzig Thaler für die Person — Kinder zahlen +die Hälfte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber ganz kleine Kinder?« sagte Müller.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun Säuglinge gehen ein,« lachte Herr Weigel, <span class="tei tei-corr">»</span>das +ist die Beilage, die doch auch nur vom Schiff aus indirecte +Nahrung bekommen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Leichten Zwieback?« frug Menzel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja wohl,« sagte Herr Weigel, etwas verlegen lächelnd, +da er nicht wußte ob der Bauer das im Spaß oder Ernst <span class="tei tei-corr">gemeint</span> — »wie +viel Personen sind Sie denn aber wohl +etwa?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nu, so eine sechzig möchten wir immer zusammen herausbekommen,« +meinte Müller — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Alle auf ein Schiff müßtet Ihr uns bringen,« +sagte Menzel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun das versteht sich von selbst,« rief Herr Weigel, und +ein famoses Schiff geht gerade den funfzehnten ab — ich +glaube das beste, das von Bremen und Hamburg überhaupt +läuft — die Diana.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ne das wär' uns noch zu früh — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Am ersten nächsten Monats geht ein noch besseres,« sagte<span class="tei tei-pb" id="page119">[pg 119]</span><a name="Pg119" id="Pg119" class="tei tei-anchor"></a> +Herr Weigel — »wenigstens geräumiger und ein besserer +Segler.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ne das wär' uns auch noch zu früh,« sagte Menzel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gut, dann träfen Sie es gerade ausgezeichnet mit dem +Meteor,« versicherte Herr Weigel, keineswegs außer Fassung +gebracht; »ich wollte Ihnen den im Anfang nicht anbieten, weil +ich fürchtete daß Sie früher zu reisen wünschten, wenn Sie +aber <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">so</span></em> lange Zeit haben, dann kann ich Ihnen allerdings die +vorzüglichste Reisegelegenheit bieten, die sich nur überhaupt +denken läßt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So — na das paßte schon besser — « sagte Müller — »wie +hieß das Schiff gleich?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Meteor.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm — werd' es mir merken — aber nicht wahr, beim +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Dutzend</span></em> kriegen wir die Passage doch auch was billiger.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ne, das geht nicht,« lachte aber Herr Weigel da gerade +heraus; »es ist ja nicht so, daß ein Schiff nur eben so viel +Menschen an Bord nehmen kann wie darauf Platz haben, +sondern es muß auch genug Raum, und über und über genug +Essen und Trinken für sie dabei sein, wenn einmal die Reise, +in einem unglücklichen Fall länger dauerte als gewöhnlich. +So ein Schiff hat deshalb auch nur eine bestimmte Zahl von +Auswanderern, die es an Bord nehmen kann, und nach Amerikanischen +Gesetzen nehmen <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">darf</span></em>, und auf die ist Alles mit +Kosten und Preis ausgerechnet, auf's tz. Die kleinen Kinder +werden eingegeben, aber die großen müßen bezahlen. Und wie +war's mit der Farm?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page120">[pg 120]</span><a name="Pg120" id="Pg120" class="tei tei-anchor"></a>»Wo ist denn der andere Platz — zu dem da der lange +Zettel gehört?« sagte Menzel, der sich diesen indessen genau +betrachtet, und nach allen Ecken herum und herumgedreht +hatte, ohne, wie er meinte, einen Handgriff dran bekommen +zu können.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der hier? der ist in Wisconsin; auch ein guter Platz, +aber kein so großer Strom dabei,« sagte Herr Weigel — »ist +aber auch billiger. Dort kann ich Ihnen eine Farm, allerdings +nur mit einigen vierzig Kühen, für etwa siebenhundertundfunfzehn +Dollar überlassen, und dann habe ich noch fünf +andere von sechs, acht, elf, neun und ich glaube zwölfhundert +Dollar — die letztere ist aber eine wirkliche Musterwirthschaft +mit importirtem Schweizervieh, und Backsteingebäuden, und einer +prachtvollen Lage Milch und Butter in die nicht zu entfernte +Stadt zu bringen; wird Ihnen aber auch freilich wohl zu +theuer sein?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Zu theuer? — warum?« sagte Menzel — »wenn man +sich einmal etwas kauft, soll man sich auch gleich 'was ordentliches +anschaffen. Ich habe mir übrigens die Sache immer +viel schwieriger vorgestellt mit dem Ankaufen, und gedacht, daß +man da erst lange in der Welt umher fahren und sein Geld +verreisen müßte. Wenn man das gleich hier an Ort und Stelle +abmachen kann, ist das ja weit bequemer.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Auf eins möchte ich Sie übrigens noch aufmerksam +machen, meine Herren, was Sie ja nicht versäumen dürfen,« +sagte Herr Weigel — »nämlich sich hier gleich Ihre Billets +<span class="tei tei-pb" id="page121">[pg 121]</span><a name="Pg121" id="Pg121" class="tei tei-anchor"></a>zur Weiterfahrt in's Innere, wohin Sie auch immer wollen, +zu lösen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Von Neu-York aus?« sagte Menzel verwundert.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja wohl von Neu-York oder Philadelphia oder wohin +Ihr Reiseziel liegt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja aber kann man denn die <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">hier</span></em> bekommen?« frug +Müller.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gewiß kann man das,« lächelte Herr Weigel, »und +das ist gerade der ungeheure Vortheil unserer jetzigen Verbindung, +die den Auswanderer von der Thür seiner alten Heimath +fort, vor die seiner neuen setzt, ohne daß er ein einziges +Mal in die Tasche zu greifen und mehr zu bezahlen braucht, als +was er gleich von allem Anfang entrichtet hat. Das eben +macht auch das Reisen jetzt so billig, daß man mit <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">einem</span></em> +Blick im Stande ist sämmtliche Kosten zu übersehn; die Extra-Ausgaben +fallen ganz weg.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das wäre freilich ein Glück,« sagte Müller, von dem +erst vor einigen Monaten ein Bruder »hinüber« gegangen war — »die +Extra-Ausgaben fressen sonst das meiste Geld.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ob sie's fressen, bester Herr, ob sie's fressen,« sagte Herr +Weigel, sich wieder vergnügt die Hände reibend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und wo kann man die Billete also bekommen?« frug +Menzel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bei mir hier, versteht sich,« sagte Herr Weigel — »alle +bei mir.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und die gelten dann drüben?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun versteht sich doch von selbst,« lachte der freundliche<span class="tei tei-pb" id="page122">[pg 122]</span><a name="Pg122" id="Pg122" class="tei tei-anchor"></a> +Agent, »ich würde sie ja Ihnen doch sonst nicht verkaufen. +Sehn Sie, wenn die Deutschen hinüber kommen, dann sprechen +sie gewöhnlich noch kein Englisch — oder haben Sie das etwa +schon gelernt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ne — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun sehn Sie, und dann werden sie dort von ihren +Landsleuten — denn der Amerikaner ist nicht halb so schlimm — die +sich das richtig zu Nutze zu machen wissen, tüchtig über's +Ohr gehauen, und müssen gewöhnlich gerade noch einmal so +viel bezahlen, als die Sachen eigentlich kosten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber es soll doch eine »Deutsche Gesellschaft« drüben in +Neu-York sein,« sagte jetzt Brauhede, der zum ersten Mal bei +der ganzen Verhandlung den Mund aufthat — »die sich eben +der Deutschen annimmt und Nichts dafür verlangt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Leben wollen wir <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Alle</span></em>,« sagte Herr Weigel +achselzuckend — »umsonst ist der Tod, und daß die Leute, wenn sie +ihre Zeit darauf verwenden für die Deutschen zu sorgen, auch +etwas dafür nehmen werden, läßt sich wohl an den fünf +Fingern abzählen. Neu-York ist aber ein theures Pflaster, die +Leute <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">brauchen</span></em> dort mehr wie wir hier, und wer es daher +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">billiger</span></em> thun kann ist auch wieder leicht einzusehn. Ich will +mich auch keineswegs empfehlen; lieber Gott es giebt noch +eine Menge Leute in Deutschland, die sich demselben schwierigen +und undankbaren Geschäft unterzogen haben wie ich, und +die es sich vielleicht eben so sauer werden lassen gerade und +ehrlich durch die Welt zu kommen; aber Einen der es besser +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">meint</span></em> dabei, werden Sie wohl schwerlich finden, und ich +<span class="tei tei-pb" id="page123">[pg 123]</span><a name="Pg123" id="Pg123" class="tei tei-anchor"></a>überrede gewiß Niemanden nach Amerika auszuwandern. Jeder +Mensch muß seinen freien Willen haben, und auch am +Besten selber wissen was ihm gut ist.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ne gewiß,« sagte Menzel — »da habt Ihr ganz recht, +das ist auch mein Grundsatz; aber das mit dem Amerika leuchtet +mir auch ein, und umsonst thut da gewiß Niemand etwas — das +sind verflixte Kerle da, hab' ich mir sagen lassen, besonders +die Deutschen, und wo die nicht wollen gucken sie +nicht 'raus.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Also die Billete kann man hier bei Euch kriegen?« +sagte Müller.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wohin Sie wollen, und ich stehe Ihnen dafür daß sie +nicht allein ächt sind, sondern daß die hier in Deutschland gelösten +Plätze auch noch den Vorrang haben vor allen in Amerika +genommenen, wenn einmal Eisenbahn oder Dampfboote zu +sehr besetzt sein sollten. Es ist ja hier gerade so mit der Post, +wo Die, die sich zuerst, und auf der längsten Station haben +einschreiben lassen, den Vorrang behalten müssen vor denen +die nachher kommen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ahem, das ist klar,« sagte Menzel; »na also da dächt' ich +ließen wir uns gleich einmal Plätze belegen und gäben das +D'raufgeld, damit wir die Sache richtig hätten, und nachher +können wir ja einmal über die Farmen sprechen; ich habe verwünschte +Lust.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Du, das hat noch Zeit,« sagte aber jetzt Brauhede wieder, +Menzel am Rocke zupfend; »erst müssen wir es uns doch +einmal mit den Anderen zu Hause überlegen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page124">[pg 124]</span><a name="Pg124" id="Pg124" class="tei tei-anchor"></a>»Wenn aber nachher die Plätze auf dem ganz guten Schiffe +fort sind,« sagte Müller mit einem sehr bedenklichen Gesicht.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">stehen</span></em> kann ich Ihnen <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">nicht</span></em> dafür,« versicherte +Herr Weigel die Achseln zuckend, daß sie beinah seine Ohrläppchen +berührten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na mein'twegen,« sagte Brauhede, der allerdings auch +in der Absicht hierher gekommen war, ihre Passage fest zu accordiren, +jetzt aber, da es dazu kam Geld zu zahlen, nur ungern +damit herausrückte — »aber von wegen der Farm müssen +wir noch erst mit den Anderen sprechen, und eine Farm kriegen +wir auch noch immer.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja aber was für eine,« sagte Herr Weigel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Brauhede blieb übrigens bei seiner Meinung, und Menzel +bestand jetzt nur wenigstens darauf die beiden Pläne einmal +mitzunehmen, damit sie sich zu Hause ordentlich hinein +denken könnten. Wenn auch Herr Weigel sie im Anfang nicht +außer Händen geben mochte, ja sogar versicherte er habe nicht +übel Lust die eine Farm für sich selber auf Spekulation zu +kaufen, ließ er sich doch zuletzt überreden ihnen, aber allerdings +nur auf zwei Tage, die Pläne zu überlassen, und dann das +Weitere über den Ankauf mit einer zweiten Deputation der +Gesellschaft zu besprechen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Menzel bezahlte dann das Aufgeld auf ihre Passage im +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Meteor</span></em> für siebenundfunfzig Personen und dreizehn Kinder, +die sämmtlich aus <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">einer</span></em> Ortschaft auswandern wollten, und +nahm dann auch noch, nach einer kurzen Berathung mit den +beiden anderen, die nöthigen Billete auf der Eisenbahn von<span class="tei tei-pb" id="page125">[pg 125]</span><a name="Pg125" id="Pg125" class="tei tei-anchor"></a> +Neu-York aus, oder machte wenigstens eine Anzahlung darauf, +daß sie ihnen der Agent aufbewahrte, da dieser sie versicherte +er sei nur noch im Besitz einer sehr kleinen Anzahl, und wisse +nicht, wann er gleich wieder andere bekommen würde, während +die Anfrage darnach sehr stark wäre.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Außerdem kauften sie sich auch noch ein halbes Dutzend +kleine Brochüren, die Herr Weigel, wie er sagte, gerade frisch +aus der Druckerei als etwas <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ganz Neues</span></em> bekommen hatte — ein +Datum stand nicht darauf — und die drei Männer verließen +dann wieder, von dem schmunzelnden Agenten bis an +die auf den Markt führende Thür begleitet, das Haus.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Höre Du,« sagte aber Brauhede als sie wieder vor dem +Haus und auf der Straße waren, und langsam über den +Markt weggingen, »mit dem Landkaufen wollen wir uns doch +lieber hier noch nicht einlassen, das ist eine wunderliche Geschichte +und will mir nicht recht in den Kopf.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nicht in den Kopf?« rief aber Menzel — »und warum +nicht? — der Mann bekommt alle Tage Briefe aus Amerika, +warum soll der nicht wissen was dort zu verkaufen ist?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn's aber so gut und billig wäre, brauchten sie's doch +nicht hier herüberzuschicken,« meinte Brauhede kopfschüttelnd.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das ist Alles was Du davon verstehst,« sagte Müller, +»Amerikaner könnten sie gewiß genug zu Käufern kriegen, aber +deutsche Bauern wollen sie, die ihnen zeigen wie man das +Land behandeln muß, und darum schicken sie herüber — die +sind froh drüben, wenn unsereins hinüber kommt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page126">[pg 126]</span><a name="Pg126" id="Pg126" class="tei tei-anchor"></a>»Nun, mag sein,« brummte Brauhede — »aber sicher ist +doch sicher, und wenn ich mein Geld hier weggegeben habe, +und kann das Land was mein sein soll nachher nicht finden, +wie's dem Niklas seinem Bruder gegangen ist, nachher wäre +die Geschichte aber faul.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dem Niklas sein Bruder war aber auch ein Esel,« sagte +der Andere, »der sich hier Land von einem herumziehenden +Vagabunden gekauft; da sollt' er nachher wohl suchen. Aber +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">der</span></em> Mann hier ist in der Stadt ansässig und hat ein Geschäft; +was der verkauft das muß gut sein, sonst wär' er ja +gar nicht sicher daß man ihn einmal deshalb beim Kragen +kriegte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja krieg' ihn einmal wenn Du drüben in Amerika bist,« +sagte Brauhede ruhig — »das ist ein verwünscht weiter und +umständlicher Weg und — wenn man sich einmal hat anführen +lassen, will man auch nicht gern noch dazu ausgelacht +werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Papperlapapp!« sagte Menzel — »dafür hat Jeder +seine Augen daß er sie offen hält, und ehe ich ihm mein gutes +Geld gebe, werd' ich mich schon sicher stellen daß er mir Nichts +aufbindet.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Und die Männer schritten, Jeder von jetzt an mit seinen +eigenen Gedanken über die nahe Auswanderung beschäftigt, +langsam die Straße hinunter, während in seinem kleinen +Bureau, vergnügt die Hände zusammenreibend, Herr Weigel +auf und ab spazieren ging, und sich im Geist die nächst zu +ziehenden Summen zusammenaddirte, die er in kurzer Zeit, +<span class="tei tei-pb" id="page127">[pg 127]</span><a name="Pg127" id="Pg127" class="tei tei-anchor"></a>nach eifriger Aussaat, einzuerndten hoffte. Die Geschäfte +gingen vortrefflich; Lust zur Auswanderung hatte in der That +ein Drittel der sämmtlichen Bevölkerung, und es bedurfte nur +manchmal wirklich einer leisen Anregung, die Leute zu etwas +zu bewegen, zu dem sie schon halb und halb selber entschlossen +gewesen waren.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Herr Weigel war sehr guter Laune; er legte jetzt die +Hände auf den Rücken und summte ein leises Lied vor sich hin, +seinen Marsch dabei fortsetzend. Aber er sang falsch; er hatte +keine Idee von irgend einer Melodie; doch das schadete nichts, +er <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">meinte</span></em> wenigstens eine, und da er selber nicht hörte was +er sang, genügte es ihm vollkommen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Thür ging jetzt auf und der Tischler oder Schreiner +kam herein, irgend etwas an dem Pult auszubessern — er +hatte zweimal angeklopft ohne daß der vergnügte Agent darauf +geantwortet hätte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Guten Morgen Herr Weigel.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ah guten Morgen Meister — nun kommen Sie endlich? +ich hatte schon ein paar Mal nach Ihnen hinübergeschickt — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja lieber Gott Herr Weigel, ich war gerade drüben +beim Herrn Geheimen Rath Bärlich beschäftigt — die Leute +sind so eigen wenn man von der Arbeit fort geht — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sehn Sie, hier das Bein möcht' ich gemacht haben; der +Tisch wackelt da immer, und wenn man etwas darunter legt, +verschiebt sich das doch jedesmal wieder. Können Sie es mir +wohl bis heute Nachmittag in Ordnung bringen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page128">[pg 128]</span><a name="Pg128" id="Pg128" class="tei tei-anchor"></a>»Ja gewiß,« sagte der Mann, »das ist ja nur eine Kleinigkeit.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und wie ist es mit den Auswandererkisten die ich bestellt +habe? — werden die bis heute Abend fertig?</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja wohl Herr Weigel; sechs habe ich schon in das Gasthaus +»Stadt Breslau,« wie Sie mir sagten, abgeliefert.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun das ist gut, denn der ganze Zug wird noch heute +Vormittag ankommen, und will morgen früh wieder fort — es +sind doch noch keine Auswanderer heute Morgen hier eingetroffen? — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nicht daß ich gesehen hätte — aber gestern Abend zogen +Viele durch.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja ich weiß — von Hessen herüber — die armen Teufel; +denen wird's einmal wohl drüben werden. Nun wie gehn +denn bei Ihnen die Geschäfte jetzt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ih nu gut, Herr Weigel, ich kann gerade nicht klagen; +das Brod wird freilich immer theuerer, aber man schlägt sich +so durch — Kinder haben wir nicht, und was verdient wird +reicht eben ordentlich aus.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich begreife nicht,« sagte Herr Weigel da kopfschüttelnd +vor dem Mann, der seine Mütze eben wieder aufgegriffen +hatte und sich zum Fortgehen anschickte, stehen bleibend — »wie +Ihr Leute Euch hier vom Morgen bis Abend plagt und +schindet, eben nur das liebe Brod zu verdienen, wo Ihr in +ein paar Wochen drüben sein könntet und so viel Dollare für +Euere Arbeit bekämt, wie hier Groschen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Drüben, wo?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page129">[pg 129]</span><a name="Pg129" id="Pg129" class="tei tei-anchor"></a>»Nun in Amerika — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, ja,« sagte der Mann, sich nachdenkend das Kinn +streichend, und einen leichten Seufzer unterdrückend — »gedacht +hab' ich auch schon ein paar Mal daran, aber — das geht +nicht gut und — es ist auch so eine unsichere Sache mit da +drüben. Hier weiß ich einmal was ich habe und daß ich auskomme, +und wie mir's da drüben geht weiß ich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">nicht</span></em>.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Freund,« rief Herr Weigel verwundert — »ein +Mann der fleißig arbeitet bringt es dort immer zu was. Wetter +noch einmal, Meister, Amerika ist gerade der Platz für Euch, +wo Ihr Euch rühren und ausbreiten könntet — wenn Ihr +dort wäret, ein geschickter Arbeiter wie Ihr! in fünf Jahren +hättet Ihr zwanzig Gesellen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Meister Leupold nickte langsam mit dem Kopf, und sah +ein paar Secunden still vor sich nieder, als ob das Bild mit +der großen Werkstätte und dem regen Treiben sich vor seinem +inneren Geist eben auszubreiten beginne, dann aber sagte er, +jetzt herzhaft aufseufzend — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und es geht doch nicht, Herr Weigel — ich habe die +alte Mutter zu Hause, die ich unmöglich hier allein zurück +lassen könnte — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hierlassen? das fehlte auch noch,« rief der Agent — »die +nehmt Ihr mit, Mann — könnt Ihr der denn eine größere +Freude machen, als wenn sie noch vor ihrem Ende sähe wie +wohl es Euch geht auf der Welt, und wie sich Euer Zustand +mit jeder Woche, mit jedem Tage fast bessert? — Muß sie hier +<span class="tei tei-pb" id="page130">[pg 130]</span><a name="Pg130" id="Pg130" class="tei tei-anchor"></a>nicht in Sorge und Kummer leben daß Ihr einmal krank +werdet und Nichts verdienen könnt, und wie sieht's dann aus?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn ich aber nun dort drüben krank werde?« sagte +der Meister leise.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn das nur nicht gleich die ersten Monate geschieht +und für ein Unglück kann Niemand« — warf dagegen Herr +Weigel ein, »so könnt Ihr Euch auch schon so viel gespart +haben, das eine Weile mit ruhig anzusehn; und wenn Ihr +nicht krank werdet, seid Ihr in ein paar Jahren ein wohlhabender +Mann.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es ist eine verwünschte Geschichte mit dem Amerika,« +seufzte der Mann wieder, sich hinter dem Ohr kratzend — »man +hört so viel davon, und sieht eine solche Masse Menschen +hinüberziehen, die alle voller Hoffnung sind daß es ihnen +gut geht — und möchte am Ende ebenfalls gern mit — wenn +man nur erst so einmal hinübergucken könnte wie es +eigentlich aussieht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dazu ist es ein Bischen zu weit,« meinte Herr Weigel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja nun eben,« sagte der Tischler — »und so auf's gerathewohl — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das könnt Ihr aber nicht auf's gerathewohl nennen, +wo wir alle Tage Briefe von drüben herüber bekommen, von +denen einer immer besser lautet als der andere. Da — hier +liegt gleich einer, der letzte den ich bekommen habe, wo ein +Deutscher, den ich selber hinüberbefördert, und dem es jetzt ausgezeichnet +gut geht, an mich schreibt, und ein oder zwei gute +gelernte Schaafknechte haben will; lesen Sie einmal den Brief.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page131">[pg 131]</span><a name="Pg131" id="Pg131" class="tei tei-anchor"></a>Leupold legte seine Mütze wieder hin, nahm den Brief +und las ihn aufmerksam durch; er nickte dabei mehrmals mit +dem Kopf, und sah dann wieder zu dem Agenten auf, der ihn +indessen mit einem triumphirenden Lächeln betrachtet hatte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun?« frug der Letztere, als Jener das Schreiben beendet +und wieder zusammenfaltete — »wie klingt das?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Sehr</span></em> gut« sagte Leupold leise, »aber — es hilft mir +doch Nichts. Wenn ich jetzt mein kleines Häuschen, das ich +mir mit Mühe und Noth zusammengespart und aufgebaut, +auch verkaufen wollte; fände ich erstlich keinen Käufer, und +dann bekäm ich auch das nicht dafür wieder, was es mich +selber gekostet; wie gesagt, der Sperling in der Hand ist doch +wohl besser wie die Taube auf dem Dache.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bah, Taube,« sagte Herr Weigel mürrisch — »wenn +die Taube auf dem Dach eben so fest und sicher sitzen bleibt +bis man sie holen kann, wie Amerika ruhig liegt, und auf die +wartet die hinüber kommen, so ist sie mir lieber wie ein erbärmlicher +Sperling, zum Sterben zu viel, und zum Leben zu +wenig; aber — überlegt's Euch — ah da kommt der Briefträger — 'was +für mich?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun guten Morgen Herr Weigel,« sagte der Tischler +und wollte sich eben entfernen, während der Briefträger dem +Agenten mehrere für ihn gekommene Briefe überreichte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Siebzehn Silbergroschen drei Pfennige« sagte er dabei.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Siebzehn</span></em> Silbergroschen?« rief Herr Weigel verwundert — »aha +da ist ein Amerikaner dabei — halt, wartet noch +einmal einen Augenblick Leupold« — da ist vielleicht gleich +<span class="tei tei-pb" id="page132">[pg 132]</span><a name="Pg132" id="Pg132" class="tei tei-anchor"></a>noch was für uns, und was ganz Neues — wollen gleich einmal +sehn was die Leute schreiben. Wahrscheinlich wieder von +Jemand den ich hinüber befördert habe, und der sich jetzt bedankt — das +kostet aber viel Geld — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Apropos Neues,« sagte Leupold, während der Agent den +Briefträger bezahlt hatte und seine Papierscheere vom Tisch +nahm, den Amerikanischen Brief aufzuschneiden — »haben +Sie schon gehört daß gestern Nachmittag bei Herrn Dollinger +eingebrochen und für sieben tausend Thaler Gold und Juwelen +gestohlen sind?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Alle Wetter,« rief Herr Weigel, mit der zum Schnitt +ausgehaltenen Scheere in der Hand — »gestern Nachmittag?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Am hellen Tage,« bestätigte Leupold.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und weiß man nicht wer der Thäter ist?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie haben den einen Comptoirdiener in Verdacht und +auch schon eingezogen,« sagte der Tischler.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gewiß den Loßenwerder,« rief Weigel.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich glaube so heißt er — er ist ein wenig verwachsen — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und schielt — derselbe, ich habe den Burschen von jeher +nicht leiden können; hat mir auch schon ein paar Mal Kunden +abspenstig gemacht, aus reinem Brodneid; ich wüßte wenigstens +sonst nicht weshalb, und habe ihn dabei stark in Verdacht, +daß er selber damit umgeht eine Agentur für Auswanderer +zu errichten. Da könnte Jeder hergelaufen kommen, +ohne Briefe, ohne Connexionen und ohne Kenntniß vom Land + — schickte nachher die Leute in's Blaue hinein, daß sie dort +säßen und nicht wüßten wo aus noch ein. Na nun, wird ihm +<span class="tei tei-pb" id="page133">[pg 133]</span><a name="Pg133" id="Pg133" class="tei tei-anchor"></a>das Handwerk wohl gelegt werden; ich gönne nicht gern einem +Menschen etwas Uebles, aber bei dem freut mich's daß sie's +wenigstens herausbekommen haben, und er seine Schurkerei +nicht mehr heimlich forttreiben darf. Ist denn das Geld schon +wieder gefunden?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So viel ich weiß nicht, einige hundert Thaler ausgenommen, +von denen aber der Mann betheuert daß er sie sich +gespart hätte; es ist übrigens Manches dabei zusammengekommen +was ihn verdächtig macht; das Nähere weiß ich freilich +nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, hm, hm,« sagte Herr Weigel, kopfschüttelnd den +Brief, den er noch immer in der Hand hielt, anschneidend — »böse +Geschichten — böse Geschichten, was man nicht Alles +hört auf der Welt. — Nun wollen wir also einmal sehen +was der Herr da aus Amerika schreibt — hm — Washington +County, Tennessee den siebenten Januar 18 — alle Wetter der +Brief ist lange unterwegs gewesen — Herrn F. G. Weigel in +Heilingen, Hauptagent der Central-Auswanderungs- und Colonisations-Gesellschaft +in Deutschland — ahem — Sie +nichtsw — hm — Sie haben — hm — vor allen Dingen — hm + — hm — hm — hm« — Herrn Weigels Gesicht verlängerte +sich immer mehr, je weiter er in seiner, wie es schien +nicht eben angenehmen Lectüre vorrückte, aber er brach mit dem +Lautlesen des Inhalts, dessen Einleitung unerwarteter Weise +höchst derber Art war, schon gleich nach den ersten Sylben +ab, und murmelte, das Ganze nur flüchtig überfliegend, blos +<span class="tei tei-pb" id="page134">[pg 134]</span><a name="Pg134" id="Pg134" class="tei tei-anchor"></a>einzelne unzusammenhängende Worte, aus denen Leupold +Nichts herausfinden konnte, vor sich hin.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun, was schreiben sie?« sagte dieser endlich lächelnd; +er wäre schon lange gegangen, wenn ihn Weigel nicht eben zurückgehalten +hätte — »gute Neuigkeiten?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bah!« sagte Herr Weigel, den Brief zurück auf seinen +Schreibtisch werfend — »Jemand der seine Geschwister will +hinübergeschickt haben und mich ersucht das Geld für ihn auszulegen. +Da müßt' ich schöne Capitale herumstehn haben, +wenn ich allen Leuten umsonst wollte die Familie nachschicken. +Nachher sitzt der mitten im Land drin, und ich kann ihn dann +suchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ne, das ist ein Bischen viel verlangt,« sagte der Meister, +wieder nach der Klinke greifend — und dießmal hielt ihn +Herr Weigel nicht zurück — »aber nun leben Sie auch recht +wohl, und verlaßen Sie sich darauf ich besorge Ihnen das +heute noch.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sein Sie so gut,« sagte der Agent — er war auf einmal +ganz einsylbig geworden, und Meister Leupold verließ mit nochmaligem +Gruß das Zimmer, in dem jetzt Herr Weigel mit in die +Tasche geschobenen Händen, aber keineswegs mehr so guter +Laune als vorher, raschen, heftigen Schrittes auf und ab ging.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und vierzehn Groschen bezahlt für den Wisch — es ist +eine Frechheit wahrhaftig, die in's Bodenlose geht. Lumpengesindel! +glaubt die gebratenen Tauben sollen ihm da in's +Maul fliegen, so bald sie's nur aufsperren.« Und wieder riß +er den Brief vom Pult, rückte sich die Brille zurecht, und las +<span class="tei tei-pb" id="page135">[pg 135]</span><a name="Pg135" id="Pg135" class="tei tei-anchor"></a>mit halblauter, aber heftiger Stimme den Inhalt noch einmal, +und zwar aufmerksamer durch als vorher.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie nichtswürdiger Hallunke« — wenn ich Dich nur +hier hätte mein Bursche, dafür solltest Du mir brummen — »schändlich +betrogen und angeführt« — wozu hat Dir denn +der liebe Gott die großen Glotzaugen gegeben, wenn Du sie +nicht aufsperren willst — »Land eine Wüste« — na versteht +sich, ein Gewächshaus hab' ich ihm nicht verkauft — »Hälfte +gar nicht zu bekommen« — Holzkopf — »kein Mensch wollte +die Billete nehmen« — bah, geschieht Dir recht — »Wohngebäude +zu schlecht für einen Hund« — für Dich noch immer +viel zu gut, mein Schatz — »wenn Sie nur einmal herüber +kämen, Sie miserabeler« — bah« — unterbrach sich Herr Weigel +in dieser nichts weniger als schmeichelhaften Lectüre, indem er +den Brief in zwei Hälften riß, und sich dann ein Streichhölzchen +mit einem Gewaltstrich an der Thür entzündete »so viel +für den Wisch!« und das Papier anbrennend, warf er das auflodernde +in den Ofen, und schloß die Klappe so heftig er konnte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Allerdings wollte er sich nun über den Brief hinwegsetzen, +aber geärgert hatte er sich doch, und Rock und Stiefeln anziehend +drückte er sich seinen Hut in die Stirn, griff seinen +Stock aus der Ecke, und verließ sein Bureau, das er sorgfältig +hinter sich abschloß, und eine kleine Pappe mitten an die Thür +hing, auf der die Worte standen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Kommt um elf Uhr wieder.«</p> +</div> +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"><span class="tei tei-pb" id="page136">[pg 136]</span><a name="Pg136" id="Pg136" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc16" id="toc16"></a> +<a name="pdf17" id="pdf17"></a> +<a name="pdb18" id="pdb18"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 6.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Die Weberfamilie.</span></h1> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Nicht weit von Heilingen, und in Hörweite der Domglocke +selbst, in ziemlich bergigem, aber unendlich malerischem +Land, lag ein kleines armes Dorf, dessen Bewohner, da ihre +Felder gerade nicht zu den besten gehörten, sich kümmerlich, +aber meist ehrlich, mit verschiedenen Handwerken und Gewerben, +mit Holzschnitzen wie auch hie und da mit dem Webstuhl, +ernährten. Das Dorf hieß eigentlich »Zur Stelle«, welchen +Namen aber die Bewohner im Laufe der Zeit, und mit Hülfe +ihres Dialekts, zu dem von <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Zurschtel</span></em> umgearbeitet hatten, +und mochte etwa dreißig Häuser und Hütten, mit der doppelten +Anzahl von Familien, wie der sechsfachen von Kindern zählen. +Es ist eine wunderliche Thatsache, daß man in den ärmlichsten +Distrikten stets die meisten Kinder findet.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Mitten im Dorf lag eins der besseren Häuser; es war +weiß getüncht, und hinter den sauber gehaltenen Fenstern +<span class="tei tei-pb" id="page137">[pg 137]</span><a name="Pg137" id="Pg137" class="tei tei-anchor"></a>hingen weiße, reinliche Gardinen. Vor dem Hause, über +dessen Thüre ein frommer Spruch mit rothen und grünen +Buchstaben angeschrieben war, stand ein Brunnen- und Röhrtrog, +und ein kleiner Koven an der Seite desselben, zeigte in +der nach außen befestigten Klappe des Futterkastens dann und +wann den schmuzigen Rüssel eines seine Kartoffelschalen kauenden +Schweines. Auch ein ordentlich gehaltenes Staket umgab +das Haus wie den kleinen Hofraum, und die Wohnung stach +sehr zu ihrem Vortheil gegen manche der Nachbarhäuser ab.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Im Inneren selber sah es ebenfalls sehr reinlich, aber +nichtsdestoweniger sehr ärmlich aus. In der einen Ecke stand +ein großer, viereckiger, sauber gescheuerter Tisch aus Tannenholz, +an zweien der Wände waren Bänke aus dem nämlichen +Material befestigt, und um den großen viereckigen Kachelofen, +der fast den achten Theil der Stube einnahm, hingen +verschiedene Kochgeräthschaften, während auf darüber angebrachten +Regalen die braunen Kaffeekannen und geblümten +Tassen gewissermaßen mit als Zierrath zur Schau ausstanden. +Die dritte Ecke füllte der Webstuhl des Mannes aus, und dem +gegenüber stand eine riesengroße, braunangestrichene Kommode, +mit Messinghenkeln und Griffen und fünf Schiebladen, die, +mit wirklich rührender Eitelkeit als eine Art von Nipptisch benutzt, +zwei mit bunten Blumen bemalte Henkelgläser, eine +vergoldete Tasse mit der Aufschrift »der guten Mutter« — ein +Geschenk aus früherer Zeit — und ein gelb irdenes aber allerdings +sehr wenig benutztes Dintenfaß trug, während dahinter, +in zwei ordinairen Stangengläsern, in dem einen Schilfblü<span class="tei tei-pb" id="page138">[pg 138]</span><a name="Pg138" id="Pg138" class="tei tei-anchor"></a>thenbüschel, +und in dem anderen große stattliche Aehren von +Roggen, Waizen, Gerste und Hafer standen, zur Erinnerung +an eine frühere segensreiche Erndte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Bewohner der kleinen Stube paßten genau in ihre +Umgebung; es war eine, nicht mehr ganz junge aber doch +rüstige Frau, in die nicht unschöne Bauertracht der dortigen +Gegend gekleidet, die an ihrem Spinnrad saß und eifrig das +Rädchen schnurren ließ, während die rechte Hand manchmal +eine neben ihr stehende Wiege berührte, den darin ruhenden +kleinen Säugling, der immer wieder die großen dunklen Augen +zu ihr aufschlug, endlich in Schlaf zu bringen. Sie war reinlich, +aber in die gröbsten Stoffe gekleidet, ebenso der Bube +von etwa vier Jahren, der ihr zu Füßen mit einer kleinen +Mulde auf dem über die Diele gestreuten Sand »Schiff« +spielte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Außerdem war noch eine vierte Person im Zimmer, die +alte Mutter der Frau, eine Greisin von nahe an siebzig Jahren, +die auch noch ihr Spinnrad drehte, sich aber mit dem +hinter den noch warmen Ofen gesetzt hatte, weil ihr das heutige +naßkalte, unfreundliche Wetter fröstelnd durch die alten +Glieder zog. Es war eine gutmüthige, aber mürrische alte +Frau, selten zufrieden mit dem was sich ihr gerade bot, und +unermüdlich darin, sich und ihren Kindern die Last vorzuwerfen +die sie ihnen mache, und den lieben Gott täglich zu bitten +daß er sie doch bald zu sich nähme. Nur eine kleine, ganz +kurze Frist erbat sie sich immer noch — dann wollte sie gerne +sterben. Erst; wie das Aelteste geboren war, wollte sie das +<span class="tei tei-pb" id="page139">[pg 139]</span><a name="Pg139" id="Pg139" class="tei tei-anchor"></a>noch gerne laufen sehn; dann hätte sie gern erlebt wie es zum +ersten Mal in die Schule ging; dann war es Frühjahr geworden +und sie hoffte nur noch einmal neue Kartoffeln zu +essen, zu Jacobi aber wollte sie noch einmal von dem Pflaumenbaum +die Früchte kosten, den ihr »Seliger« noch gepflanzt. +Wie der Herbst kam wünschte sie im Frühjahr begraben zu +werden, und die knospenden Maiblumen weckten den Wunsch +nach den Astern, ihrer Lieblingsblume, von denen sie sich +eigenhändig ein schmales Beet in den kleinen Garten dicht am +Hause gepflanzt. So lebt und webt die Hoffnung in unseren +Herzen mit immer neuer, nie sterbender Kraft, und je älter +wir werden, desto mehr lernen wir die schöne Erde lieb gewinnen, +desto mehr klammern wir uns an sie, und wollen +uns gar nicht mehr von ihr trennen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Tag neigte sich dem Abend zu; der Mann war in +die Stadt gegangen seine Steuern zu zahlen, und Manches +einzukaufen was sie nothwendig im Hause brauchten — zum +Ersatz dafür hatte er das zweite Schwein, das sie bis dahin +gehalten, hineingetrieben, und der Erlös sollte seine Ausgaben +bestreiten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Regen wurde jetzt wieder heftiger, die großen schweren +Tropfen schlugen gegen das Fenster, und das Kind wurde +vollständig munter und fing an zu schreien. Die Mutter schob +ihr Spinnrad zurück, nahm das Kleine aus der Wiege, und +ging damit trällernd im Zimmer auf und ab. Die Alte spann +indeß ruhig weiter, und suchte mit zitternder leiser Stimme ein +<span class="tei tei-pb" id="page140">[pg 140]</span><a name="Pg140" id="Pg140" class="tei tei-anchor"></a>geistliches Lied zu singen, und mit dem Rad trat sie den Takt +dazu. Sonst sprach keine ein Wort.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Endlich wurde die Hausthür geöffnet, Jemand kam von +draußen herein, und strich sich die Füße auf den Steinen und +der Strohdecke ab, und sie hörten gleich darauf wie der zurückkehrende +Vater und Gatte seinen großen rothblauwollenen +Schirm auf die Steine stieß, das Wasser so viel wie möglich +davon abzuschütteln, und den Mantel auszog und über den +großen Schleifstein hing der draußen im Flur stand, wie er +das gewöhnlich that. Die Frau öffnete rasch die Thür den +Mann zu begrüßen, der den Hut abnahm, sich die nassen +Haare aus der Stirn strich, und das Kind küßte, das sie ihm +entgegenhielt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Jesus ist das ein Wetter, Gottlieb,« sagte sie dabei, als +sie ihm den Hut aus der Hand nahm und neben den Ofen an +den Nagel hing, »komm nur herein, daß Du 'was Trockenes +auf den Leib bekommst; wo hast Du denn den Jungen? — ist +er nicht bei Dir?« setzte sie, fast ängstlich, hinzu.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Er ist draußen bei Lehmann's hineingegangen, denen +wir ein paar Sachen aus der Stadt mitgebracht,« sagte der +Mann — »wird wohl gleich kommen — wie geht's Frau? — wie +geht's Mutter? — ha, das regnet einmal heute was vom +Himmel herunter will; was nur d'raus werden soll wenn das +Wetter so fort bleibt. Ein paar gute trockene Tage haben wir +gehabt, und jetzt wieder Guß auf Guß — Guß auf Guß, als +ob sie uns unsere paar Stücken Feld noch hinunter in die +Wiesen waschen wollten. Von dem einen Acker ist die Saat +<span class="tei tei-pb" id="page141">[pg 141]</span><a name="Pg141" id="Pg141" class="tei tei-anchor"></a>schon halb fortgespült — wenn dasmal das Korn misräth, +weiß ich nicht wo der arme Mann das Brod hernehmen soll.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Klag nicht, Gottlieb,« sagte aber die Frau freundlich — »es +geht noch Vielen schlechter wie uns, und was sollen +da die <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ganz</span></em> armen Leute sagen. Lieber Gott, es ist viel Noth +in der Welt, und wer heut zu Tage eben sein Auskommen und +ein Dach über dem Kopf hat und gesund ist, sollte sich nicht +versündigen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Sie hatte dabei das Kind auf die Erde gesetzt, holte den +Topf aus der Röhre, in der, trotz der vorgerückten Jahreszeit, +noch ein Feuer brannte, der alten, fröstelnden Mutter wegen, +und goß den darin heiß gehaltenen Kaffee — sie nannten das +braune Getränk von gebrannten gelben Rüben und Gerste wenigstens +so — in die eine braune Kanne, damit sich der Mann, +der den ganzen Tag draußen im Regen herumgezogen war, +daran erquicken könne. Zugleich auch deckte sie ein weißes Tuch +über den Tisch, auf den sie noch Butter und Brod stellte, die +versäumte Mittagsmahlzeit wenigstens in etwas nachzuholen. +Der Mann setzte sich an den Tisch, schenkte sich eine Tasse +Kaffee ein, in den ihm die Frau die Milch goß, und schnitt +sich ein großes Stück Brod ab, das er mit Butter bestrich und +verzehrte. Er sprach kein Wort dabei, und beendete still seine +Mahlzeit, schob dann die Tasse und den Butterteller zurück, +nahm das Kleinste, das die Mutter zu ihm auf die Erde gesetzt +hatte, herauf auf sein linkes Knie, blieb, den rechten Ellbogen +auf den Tisch gestützt, den Kopf gegen die Wand gelehnt, +regungslos sitzen, und schaute still und schweigend nach +<span class="tei tei-pb" id="page142">[pg 142]</span><a name="Pg142" id="Pg142" class="tei tei-anchor"></a>dem Fenster hinüber, an das die Regentropfen immer noch, +vom Wind draußen gepeitscht, hohl und heftig anschlugen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Frau hatte ihn eine ganze Zeit lang mit scheuem +Blick betrachtet; es war irgend etwas vorgefallen, aber sie +wagte nicht zu fragen, denn Gottlieb, so seelensgut er auch +sonst sein mochte, hatte doch auch seine »verdrießlichen Stunden« +und war dann, wenn gestört, oft rauh und unfreundlich; +aber eine eigene Angst überkam sie plötzlich. Ihr ältester Sohn — der +Hans — war nicht mit zu Hause gekommen — konnte +dem — heiliger Gott, wie ein Stich traf es sie in's Herz und +sie sprang erschreckt von ihrem Stuhl auf und auf den +Mann zu.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gottlieb — um aller Heiligen Willen wo ist der Hans? — es +ist — es ist ihm doch nicht etwa ein Unglück geschehn?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der Hans?« sagte der Mann aber ruhig und sah erstaunt +zu ihr auf, »was fällt Dir denn ein? was soll denn +dem Hans zugestoßen sein? ich habe Dir ja gesagt daß er bei +Lehmann's etwas abgegeben hat, und dort wahrscheinlich das +Wetter abwarten wird.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich weiß nicht,« sagte die Frau, der dadurch allerdings +eine Centnerlast von der Seele gewälzt wurde — »aber Du +bist so sonderbar heut Abend, so still und ernst, und da schlugs +mir wie ein Schreck in die Glieder, über den Hans. Ist etwas +vorgefallen Gottlieb? — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Gottlieb schüttelte den Kopf langsam und sagte. — »Nicht +daß ich wüßte — nichts Besonderes wenigstens, +<span class="tei tei-pb" id="page143">[pg 143]</span><a name="Pg143" id="Pg143" class="tei tei-anchor"></a>oder nichts Anderes, als was jetzt alle Tage vorfällt — Geld +zahlen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»War es denn so viel?« sagte die Frau leise und +schüchtern.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Mann schwieg einen Augenblick und sah still vor +sich nieder; endlich erwiederte er seufzend:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das Schwein ist d'rauf gegangen, und vier Thaler +Siebzehn Groschen sind immer noch mit Gerichtskosten und der +alten Proceßgeschichte mit der Brückenplanke, mit der ich +eigentlich gar Nichts mehr zu thun hatte, stehen geblieben, und +ich muß sie bis zum ersten Juli nachzahlen, unter Androhung +von Pfändung.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun lieber Gott,« sagte die Frau tröstend — »wenn +das das Schlimmste ist, läßt sich's noch ertragen; da verkaufen +wir eben das andere Schwein und behelfen uns so. Wie +wenig Leute im Dorf haben überhaupt eins zu schlachten, und +leben doch; warum sollen wir nicht eben so gut ohne eins +leben können als die.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja,« sagte der Mann leise und still vor sich hin brütend — »verkaufen +und immer nur verkaufen, ein Stück nach +dem anderen, und während wo anders die Leute mit jedem +Jahr ihr kleines Besitzthum vergrößern, und für ihre Kinder +etwas zurücklegen können, sieht man es hier mehr und mehr +zusammenschmelzen, unter Müh und Plack das ganze Jahr +lang.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber kannst Du's ändern?« sagte die Frau leise und +fuhr, wie der Mann schwieg und mit der Faust die Stirn +<span class="tei tei-pb" id="page144">[pg 144]</span><a name="Pg144" id="Pg144" class="tei tei-anchor"></a>stützend vor sich nieder starrte, schüchtern fort — »arbeitest Du +nicht von früh bis spät fleißig und unverdrossen? gönnst +Du Dir eine Zeit der Ruhe, wo Dich irgend eine nöthige +Beschäftigung ruft, und haben wir uns etwa das Geringste +vorzuwerfen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein,« sagte der Mann, während er die Hand auf den +Tisch sinken ließ und die Frau voll und fest ansah — »nein, +aber das ist es ja eben, was mir am Leben frißt. Wir können +nicht mehr arbeiten, nicht mehr verdienen wie wir jetzt +thun, und jetzt sind wir noch jung und kräftig, unsere Kinder +noch klein und gesund, und dennoch geht es mit jedem Jahr +zurück, wird es mit jedem Jahr schlechter und schlimmer. Wie +nun soll das werden, wenn uns erst einmal Krankheit heimsuchte, +wenn die Kinder heranwachsen und mehr brauchen, +wenn wir selber älter werden und nicht mehr so zugreifen +können wie jetzt? — Schon jetzt können wir uns nicht mehr +in der theueren Zeit oben halten — das eine Schwein ist verkauft, +das andere wird noch fort müssen; unser Acker ist kleiner +geworden in den letzten zehn Jahren, unsere Bedürfnisse +aber sind gewachsen — wie soll das enden?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Gottlieb,« sagte die Frau freundlich — »wie +kommen Dir jetzt doch nur solche Grillen? haben Dir die paar +Thaler Steuern den Kopf verdreht? Mann, Mann, Du bist +doch sonst so ruhig, und hast immer vertrauungsvoll in die +Zukunft gesehn, wie sind Dir auf einmal solche schwarze Gedanken +durch den Sinn gefahren?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die alte Mutter hatte, schon so lange wie die Beiden +<span class="tei tei-pb" id="page145">[pg 145]</span><a name="Pg145" id="Pg145" class="tei tei-anchor"></a>mit einander gesprochen, ihr Spinnrad ruhen lassen, und dem +Gespräch aufmerksam zugehört; dabei schüttelte sie fortwährend +mit dem Kopf, und sagte endlich mit ihrer schrillen, scharf +klingenden Stimme:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja wohl, ja wohl — das Geld wird rar und das Brod +theuer, und mehr Mäuler kommen — mehr Mäuler sind da +zum Verzehren, wie zum Verdienen. Schlagt mich todt; +schlagt mich todt daß ich weg komme aus dem Weg und Euch +Platz mache — schlagt mich todt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mutter,« bat die Frau, in Todesangst daß sie dem +Manne mit solcher Rede wehe thun würde, denn <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">er</span></em> gerade +hatte sie immer auf das Freundlichste behandelt, und Alles +gethan was in seinen Kräften stand, ihr jede Erleichterung, +die ihr Alter bedurfte, zu verschaffen — »wie dürft Ihr nur +so etwas reden; versündigt Ihr Euch denn nicht?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wir haben noch genug für uns Alle Mutter,« sagte +aber der Mann freundlich, der ihre Launen kannte und der +alten Frau nicht wehe thun mochte — »nur für spätere Zeit +ist mir bange; Sie aber wären die Letzte die darunter leiden +sollte. Wir werden Alle alt, und wenn wir unsere Schuldigkeit +in unserer Jugend gethan, wie Sie, dann ist es nicht +mehr wie Pflicht und Schuldigkeit der Jüngeren für ihre +Eltern zu sorgen — wenn sie nicht auch einmal wieder von +ihren Kindern wollen verlassen werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Alte war wieder still geworden, sah noch eine Zeit +lang vor sich nieder, und begann dann auf's Neue ihre Arbeit, +<span class="tei tei-pb" id="page146">[pg 146]</span><a name="Pg146" id="Pg146" class="tei tei-anchor"></a>aber die Frau fuhr fort und sagte, fast mit einem leisen Vorwurf +im Ton zu ihrem Mann.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Siehst Du Gottlieb, das hast Du nun davon mit Deinen +trüben und traurigen Ideen; Du machst Dir und mir und +der Mutter nur das Herz schwer, und nützest und hilfst doch +Nichts. Der liebe Herr Gott da oben wird's schon machen +und lenken; Er hat die Welt so viele Jahrhunderte hindurch +in ihrer Bahn gehalten, und die Menschen darauf geschirmt +und gepflegt, wie unser Herr Pastor sagt, Er wird's auch +schon weiter thun, und wir dürfen uns eigentlich gar nicht +sorgen und kümmern um den »nächsten Tag.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Doch, doch Frau,« sagte aber der Mann, aufstehend +und jetzt, die Hände in den Hosentaschen, in der Stube auf +und ab gehend — »doch Frau, der Mann <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">muß</span></em>, denn wenn +er's <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">nicht</span></em> thäte, wär er ein schlechter Hausvater, und ihm +allein fielen dann all die schweren Folgen zur Last, die daraus +entständen. Ich kann Dir das nicht so mit Worten deutlich +machen, wie mir's neulich der Schulmeister, mit dem ich +darüber sprach, erklärte, aber der meinte es wäre etwa so wie +wenn Einer im Wasser wäre. Da sei es auch nicht genug daß +man sich oben hielte an der Luft, und im Kreis herum schwämme +eben nur nicht zu ertrinken, das thäte nicht einmal ein unvernünftiges +Stück Vieh; nein des Menschen, des verständigen +Menschen Pflicht sei es sich schon im Wasser nach dem festen +Lande umzusehn, ob man das nirgends erreichen könne, denn +zuletzt würde man da im Wasser, man möchte noch so tapfer +schwimmen, doch müde, und ließen erst einmal die Kräfte +<span class="tei tei-pb" id="page147">[pg 147]</span><a name="Pg147" id="Pg147" class="tei tei-anchor"></a>nach, dann hülfe auch zuletzt das Schwimmen Nichts mehr, +und man sänke eben langsam zu Boden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich verstehe nicht recht was Du damit meinst,« sagte +die Frau, »aber Du siehst mich so sonderbar dabei an — hast +Du noch 'was anderes dahinter?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein und Ja,« sagte der Mann nach kleiner Pause, +indem er sich mit dem Rücken an den Ofen lehnte, und langsam +dazu mit dem Kopfe nickte, »eigentlich nicht, denn Gott da +oben weiß daß es wahr ist, und weiß wie, und ob's einmal +enden kann; aber dann — dann hab' ich allerdings noch was +dahinter, denn ich meine — ich meine — « er schwieg und es +war augenscheinlich, er hatte etwas auf dem Herzen, das er +sich scheue so mit blanken klaren Worten heraus zu sagen, die +Frau aber, die eben damit beschäftigt war das Geschirr hinaus +zu räumen, setzte die Kanne wieder auf den Tisch, sah den +Mann erstaunt an, ging dann langsam zu ihm an den Ofen +und sagte leise, vor ihm stehen bleibend:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Geh her, Gottlieb — Du hast 'was, was Dich drückt +und willst nicht mit der Sprache heraus — es ist irgend noch +etwas vorgefallen in der Stadt, was Du nicht sagen magst. +Du darfst doch nicht <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">sitzen</span></em>?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Sitzen</span></em>? — weshalb?« lächelte der Mann kopfschüttelnd — »ich +habe nie etwas Böses gethan.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun was ist's denn, so sprich doch nur, denn Du ängstigst +mich ja mehr mit Deinem Schweigen, als wenn Du mir +das Schlimmste gleich vornheraus erzählst — dem Hans fehlt +doch Nichts?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page148">[pg 148]</span><a name="Pg148" id="Pg148" class="tei tei-anchor"></a>»Was soll dem Hans fehlen, närrische Frau — wenn's +aufhört zu gießen wird er schon kommen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und was ist's denn? — gelt, Du sagst mir's?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich muß Dir's wohl sagen;« seufzte der Mann, »nun +sieh Hanne, ich meine — ich habe so darüber nachgedacht, daß +es jetzt hier in Deutschland immer schlechter wird mit uns — und +daß wir's zu Nichts mehr bringen können, trotz aller Arbeit, +trotz allem Fleiß, und daß jetzt — daß jetzt doch so viele +Menschen hinüber ziehen — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hinüber ziehen?« frug die Frau erstaunt, fast erschreckt, +und legte die Hand fest auf's Herz, als ob sie die aufsteigende +Angst und Ahnung über etwas Großes, Schreckliches da +hinunter und zurückdrücken wolle, eh sie zu Tage käme — »wo +hinüber Gottlieb?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika;« sagte der Mann leise — so leise daß +sie das Wort wohl nicht einmal verstand, und nur an der +Bewegung der Lippen es sah und errieth. Wie ein Schlag +aber traf sie die Wirklichkeit ihres Verdachts, und ohne ein +Wort zu erwiedern, ohne eine Sylbe weiter zu sagen, setzte sie +sich auf den, dicht am Ofen stehenden Stuhl, deckte ihr Gesicht +mit der Schürze zu und saß eine lange, lange Weile still und +regungslos. Auch der Mann wagte nicht zu sprechen — er +hatte den Gedanken wohl schon eine Zeit lang mit sich herumgetragen, +aber sich immer davor gefürchtet ihm Worte zu geben, +sogar gegen sich selbst, wie viel weniger denn gegen die +Frau. Jetzt war es heraus, und er betrachtete nur scheu die +Wirkung die er hervorgebracht.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page149">[pg 149]</span><a name="Pg149" id="Pg149" class="tei tei-anchor"></a>Auch die alte Mutter saß, mit der Hand auf dem Rad +das sie im Drehen aufgehalten, und horchte nach den Beiden +hinüber, was sie mitsammen hatten, und wie die so still waren +und kein Wort mehr sprachen, mochte es ihr auch unheimlich +vorkommen und sie sagte laut und mürrisch:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun Gottlieb was giebt's — was hast wieder Du mit +der Hanne — was habt Ihr denn daß Ihr so still und heimlich +thut — macht Einem nicht auch noch Angst unnützer Weise — was +ist nun wieder los?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja Mutter,« sagte der Mann jetzt, der sich gewaltsam +Muth faßte über das, was nun doch nicht länger mehr verschwiegen +bleiben konnte und besprochen werden <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">mußte</span></em>, auch +laut zu reden, daß er's vom Herzen herunter bekam — »es +geht mit uns hier den Krebsgang, und ich habe eben zu Hannen +gesagt daß uns zuletzt nichts anderes übrig bleiben würde +als — als es eben auch wie andere zu machen, und — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und? — und was zu machen?« frug die alte Frau +gespannt — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Als <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">auszuwandern</span></em>,« sagte der Mann mit einem +plötzlichen Ruck und seufzte dann tief auf, als ob er selber froh +wäre es los zu sein.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Herr Du meine Güte!« rief die alte Frau, ließ die +Hände erschreckt in den Schooß sinken und lehnte sich in ihren +Stuhl zurück, während ihr alle Glieder am Leibe flogen — »Herr +Du meine Güte!« wiederholte sie noch einmal, und die +Finger falteten sich unwillkürlich zusammen, so hatte sie der +Schreck getroffen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page150">[pg 150]</span><a name="Pg150" id="Pg150" class="tei tei-anchor"></a>»Auswandern,« sagte aber auch jetzt Gottliebs Frau mit +tonloser Stimme, und ließ die Schürze vom Gesicht herunterfallen — »auswandern, +das ist ein schweres — schweres +Wort Gottlieb — hast Du Dir das auch recht — recht +reiflich überlegt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Tag und Nacht die ganze letzte Woche hindurch,« rief +aber der Mann, der jetzt, da das Eis einmal gebrochen war, +wieder Leben und Wärme gewann. »Wie ein Mühlstein hat's +mir auf der Seele gelegen, und ich habe lange und tapfer dagegen +angekämpft, aber es wäre das Beste für uns, was wir +auf der weiten Gotteswelt thun könnten; und wenn auch nicht +einmal für uns, wenn wir selber auch schwere und bittere +Zeiten durchzumachen hätten, doch für die Kinder, die einmal +den Segen erndten, den wir mit unserem Schweiß, unseren +Thränen gesäet.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Auswandern? ja,« sagte aber jetzt die Großmutter, mit +dem Kopfe nickend und schüttelnd, als ob sie den schrecklichen +Gedanken wieder von sich abwerfen wollte — »ja wohin es +euch lüstet, aber erst wenn ich todt bin. Die paar Tage +müßt Ihr noch hier bleiben die ich noch zu leben habe, oder +sonst schlagt mich todt, werft mich in's Wasser, oder schlagt +mich mit dem Beil auf den Kopf daß ich fortkomme, und hier +auf dem Kirchhof unter der alten Linde liegen kann, wo der +Leberecht liegt. In der Welt könnt Ihr mich doch nicht mehr +umherschleppen, und nutz bin ich auch Nichts mehr, wie das +mit zu verzehren was andere verdienen. Wenn Ihr jetzt fort +wollt schlagt mich vorher todt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page151">[pg 151]</span><a name="Pg151" id="Pg151" class="tei tei-anchor"></a>»Ach Mutter wenn Sie nur nicht gar so häßlich reden +wollten,« sagte die Frau traurig, während der Mann wieder +zum Tisch ging, sich dort auf den Stuhl setzte, und den Kopf +in die Hand stützte — »Sie sind noch wohl und rüstig und +werden, will's Gott, noch manches Jahr leben und sich +Ihrer Kinder freuen. Wo die dann hin ziehen und sich ihr +Brod suchen müssen, da gehören Sie auch hin, und was +die verdienen, das haben Sie auch verdient mit Mühe +und Noth und banger Sorge schon vor langen Jahren, +wie wir noch klein und unbehülflich waren, wie unsere +Kinder jetzt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wozu mich mitnehmen,« sagte aber die Frau, störrisch +dabei mit dem Oberkörper herüber und hinüber schwankend, +»unterwegs müßtet Ihr mich doch aus dem großen Schiff +hinaus in's Wasser werfen, die Fische zu füttern. Bleibe im +Lande und nähre Dich redlich, das ist <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">mein</span></em> Spruch und +meines Leberecht Spruch von alter Zeit her gewesen, und wir +haben uns wohl dabei befunden, aber das junge Volk jetzt +will immer alles anders haben, will oben zur Decke 'naus und +fliegen und schwimmen, anstatt hübsch auf der Erde und im +alten Gleis zu bleiben. Warum ist's denn früher gegangen? — nein +Gott bewahre, jetzt soll Alles mit Eisenbahnen und +Dampf gehen und keine Geduld, keine Ausdauer mehr; nur +fort, immer gleich fort, in die Welt hinein und mit dem Kopf +gegen die Wand — schlagt mich todt, dann seid Ihr mich los +und könnt hingehn wohin Ihr wollt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Und die alte Mutter stand auf, rückte ihr Spinnrad bei<span class="tei tei-pb" id="page152">[pg 152]</span><a name="Pg152" id="Pg152" class="tei tei-anchor"></a> +Seite, und humpelte, noch immer vor sich hin murmelnd und +grollend, aus der Stube hinaus.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie meint es nicht so bös, Gottlieb,« sagte die Frau +zu dem Mann tretend und ihre Hand auf seine Schulter +legend, »es ist eine alte Frau die an ihrer Heimath mit ganzem +Herzen hängt und sich vor der Reise fürchtet.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und Du nicht, Hanne?« rief der Mann sich rasch nach +ihr umdrehend, und ihre Hand ergreifend — »Du nicht? Du +würdest Dich dazu entschließen können unsere Heimath hier, +unser Häuschen, unser Feld zu verlassen, und mit mir und +den Kindern über das weite Meer zu fahren, in eine fremde +Welt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Frau schwieg und ihre Hand zitterte in der des +Mannes — endlich sagte sie leise — +»So weit fort? — und muß es denn sein, ist es denn +gar nicht möglich mehr, daß wir hier gut und ehrlich durchkommen +durch die Welt, wenn wir uns auch ein Bischen +knapper einrichten wie bisher? Ach Gottlieb, es ist gar hart +so von zu Hause fortzugehn, die Thür zuzuschließen und zu +denken daß man nun nie und nimmer wieder dahin zurückkommt — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Mann nickte traurig mit dem Kopf und sagte +endlich:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Du hast recht Hanne; es ist ein schwerer, recht schwerer +Schritt, und man sollte ihn sich wohl vorher überlegen ehe +man ihn thut, denn zurück kann man nicht wieder, wenn man +nicht wenigstens Alles opfern will, was Einem bis dahin +<span class="tei tei-pb" id="page153">[pg 153]</span><a name="Pg153" id="Pg153" class="tei tei-anchor"></a>noch zu eigen gehört hat. Thun wir aber recht nur allein +an uns zu denken? — Sieh, wir schleppen uns vielleicht +noch wenn auch kümmerlich, doch ehrlich, durch, bis wir einmal +sterben, und wenn es auch hart ist, daß es Einem nachher +im Alter schlechter gehn soll wie in der Jugend, brauchten +wir doch gerade keine Furcht zu haben daß wir verhungerten; +aber die Kinder — die Kinder — was wird aus denen? Unser +kleines Grundstück ist die Jahre über kleiner und kleiner +geworden; mit dem Geschäft geht's auch kümmerlicher wie +bisher — neue, geschicktere Arbeiter, junge Burschen die noch +keine Familie haben und weniger brauchen, sitzen in den Dörfern +herum, und die Fabriken und Maschinen geben uns ohnedies +den Todesstoß. Stahl und Holz braucht Nichts zu essen +und arbeitet unermüdet Tag und Nacht durch, und die Räder +und Walzen und Hämmer klopfen und drehen und schwingen +ununterbrochen fort gegen den Schweiß des armen Arbeiters +der darüber zu Grunde geht. Ich murre auch nicht darüber, +es muß wohl schon so recht sein, denn Gott hat's den Menschen +selber gelehrt und die Welt muß vorwärts gehn — wir +älteren Leute können uns aber eben nicht mehr darein schicken, +können nichts Anderes mehr ergreifen, und wieder von vorne +anfangen, wenigstens hier im Lande nicht wo Einem die +Hände nach allen Seiten hin gebunden sind, und darum ist +mir der Gedanke gekommen auszuwandern. Da drüben +über dem Weltmeere hat der liebe Herr Gott noch einen großen +gewaltigen Fleck Erde liegen, für uns arme Leute bestimmt, +den Maschinen und Räderwerken zu entgehn; dort haben wir<span class="tei tei-pb" id="page154">[pg 154]</span><a name="Pg154" id="Pg154" class="tei tei-anchor"></a> +Platz uns zu bewegen, und wer nur da ordentlich arbeiten +will hat nicht allein zu leben, sondern kann auch vielleicht für +sich und die Kinder was vorwärts bringen und braucht sich +nicht mehr vor der Zukunft zu fürchten und vor Hunger und +Noth. Wenn wir nicht auswandern, was bleibt unsern +Kindern da einmal anders übrig, als in Dienst zu gehn und +sich bei fremden Leuten doch herumzuschlagen ihr Lebelang.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und die Mutter?« sagte die Frau, sich ängstlich nach +der Thüre umsehend — »was würde aus der alten Frau auf +dem Meere?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Was aus so vielen alten Frauen da wird, liebes Herz,« +sagte aber der Mann, augenscheinlich mit froherem, freudigeren +Herzen, als er bei dem eigenen Weib nicht den Widerstand +fand, den er vielleicht gefürchtet — »sie gewöhnen sich an das +neue Leben, sobald sie das alte nicht mehr um sich sehen, und +die Seeluft soll kräftigen und stärken.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber sie wird nicht mit uns wollen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie wird ihre Kinder nicht verlassen,« tröstete sie der +Mann, »und ohne sie dürften wir ja auch gar nicht fort.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Frau reichte ihm schweigend die Hand, die er herzlich +drückte, und wandte sich dann, und wollte eben das Zimmer +verlassen, als draußen Jemand die Thür aufriß und in +das Haus trat. Das Unwetter hatte jetzt seinen höchsten +Grad erreicht, und der Regen schlug in ordentlichen Güssen +gegen die Fenster an, während der Wind die Wipfel der +Bäume herüber und hinüber schüttelte und die Blüthen von +den Zweigen riß mit rauher Hand.</p> + +<p class="tei tei-p" style="text-align: center; margin-bottom: 1.00em"> +</p><div class="tei tei-figure" style="text-align: center"><img src="images/illu004.jpg" width="511" height="663" alt="Capitel 6" /></div> + +<span class="tei tei-pb" id="page155">[pg 155]</span><a name="Pg155" id="Pg155" class="tei tei-anchor"></a> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Schönen Gruß mit einander,« sagte dabei eine rauhe +Stimme, während die Stubenthür halb geöffnet wurde — »darf +man hinein kommen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gott grüß Euch,« sagte die Frau — »kommt nur herein, +bei dem Wetter ist's bös draußen sein — es tobt ja, als ob +der letzte Tag hereinbrechen sollte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Fremde hing seinen Hut und Mantel draußen ab und +trat mit nochmaligem Gruß in die Stube.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gott grüß Euch,« sagte auch Gottlieb — »da, nehmt +Euch einen Stuhl und setzt Euch zum Ofen; es ist heut unfreundlich +draußen, und man kann ein Bischen Feuer brauchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sauwetter verdammtes,« fluchte der Mann, als er der +Einladung Folge geleitet und sich die nassen Haare aus der +Stirne strich — »ich wollte erst sehen daß ich die Schenke erreichte; +hier um die Ecke herum kam der Wind aber so gepfiffen +daß er mich bald von den Füßen hob, und es war gerade +als ob sie Einem von da oben einen Eimer voll Wasser nach +dem andern entgegen gossen. Schönes Wetter für Enten, aber +für keine Menschen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es war eine rauhe, kräftige Gestalt, der Mann, mit +krausem dicken schwarzen Bart und ein paar tiefliegenden unstäten +Augen, in einen groben braunen Tuchrock gekleidet, wie +ihn die Fleischer nicht selten auf dem Lande tragen. Die ebenfalls +braunen Hosen hatte er dabei heraufgekrempelt, bis fast +unter das Knie, mit seinen derben Wasserstiefeln besser durch +alle Pfützen und Schlammwege hindurch zu können; die aus +ungeborenem Kalbfell gemachte Weste war ihm bis an den<span class="tei tei-pb" id="page156">[pg 156]</span><a name="Pg156" id="Pg156" class="tei tei-anchor"></a> +Hals hinauf zugeknöpft, und eine lange silberne Kette, an der +die in der Westentasche steckende Uhr befindlich war, hing ihm +darüber hin.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ihr seid wohl weit von hier zu Haus?« frug Gottlieb +nach einer längeren Pause, in der er den Mann und dessen +Aeußeres flüchtig nur betrachtet hatte — »hab' Euch wenigstens +noch nicht hier bei uns gesehen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Zehn Stunden etwa,« sagte der Fremde, seine Pfeife +jetzt aus der Brusttasche seines Rockes nehmend und mit Stahl +und Schwamm, den er bei sich führte, entzündend — »wie +weit ist's noch bis Heilingen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Eine tüchtige Stunde — wenn der Weg jetzt nicht so schrecklich +wäre, könnte man's recht bequem in kürzerer Zeit gehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm — ist noch verdammt weit, puh wie das draußen +stürmt; und die Pflaumenblüthen pflückt's beim Armvoll herunter — Pflaumenmuß +wird theuer werden nächsten Herbst.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das weiß Gott,« sagte Gottlieb — »es wird Alles +theuer, immer mehr jedes Jahr, langsam aber Sicher.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bah, es geschieht denen recht die hier bleiben, wenn sie +nicht hier bleiben müssen; 's giebt Plätze die besser sind.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wollt Ihr auch auswandern?« sagte Gottlieb rasch.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Auswandern? — nach Amerika? — hm — ich weiß +noch nicht,« brummte der Fremde, sich den Bart streichend — +»es wäre aber möglich daß sie Einen noch dazu trieben. Sind +das Euere Kinder?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja. — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Habt Ihr noch mehr?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page157">[pg 157]</span><a name="Pg157" id="Pg157" class="tei tei-anchor"></a>»Noch einen Jungen von elf und ein halb Jahr.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und Ihr seid ein Weber?« sagte der Fremde mit einem +Blick auf den Webstuhl — »auch schwere Zeiten für derlei Arbeit, +mit einer Familie durchzukommen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja wohl, schwere Zeiten,« seufzte Gottlieb, als in diesem +Augenblick die Thür draußen wieder aufging und die +Mutter laut ausrief: — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der Hans, lieber Himmel kommt der in dem Wetter.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es war Hans, der älteste Sohn des Webers, durch und +durch naß, aber mit frischem gesunden Gesicht und rothen +Backen, auf denen das Regenwasser in großen Perlen stand.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Guten Tag mit einander,« sagte er, als er in's Zimmer +trat und die triefende Mütze vom Kopf riß — »guten +Tag Mutter.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Guten Tag Hans, aber wo um Gottes Willen kommst +Du in dem Regen her; warum hast Du das Wetter nicht bei +Lehmann's abgewartet?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es wurde mir zu spät Mutter und ich war hungrig +geworden; habe auch noch heute Abend dem Vater etwas zu +helfen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ein derber Junge,« sagte der Fremde, der sich den +Knaben indeß mit finsterem Blick betrachtet hatte — »kann +wohl schon ordentlich mit arbeiten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach ja, er packt tüchtig mit zu,« sagte der Vater — »lieber +Gott in jetziger Zeit muß Alles mit Brod verdienen +helfen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Die Kinder fressen Einen arm,« sagte der Fremde.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page158">[pg 158]</span><a name="Pg158" id="Pg158" class="tei tei-anchor"></a>»Habt Ihr Kinder?« frug Gottlieb.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich? — hm, ja,« sagte der Fremde nach einer Pause — »könnte +noch Jemandem abgeben davon.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich möchte keins hergeben,« sagte die Frau rasch, und +küßte das Jüngste, das sie eben wieder aufgenommen hatte +um es zu füttern, »Kinder sind ein Segen Gottes.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja — so sprechen die Leute wenigstens,« sagte der +Fremde trocken, »aber ich glaube es läßt nach mit Regnen; ich +werde die Schenke wohl jetzt erreichen können.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wollt Ihr nicht vielleicht erst eine heiße Tasse Kaffee +trinken?« frug die Frau, das Kind auf dem linken Arm, zum +Ofen gehend, die dort warmgestellte Kanne wieder vorzuholen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Danke, danke,« sagte aber der Fremde abwehrend — »kann +das warme Zeug nicht vertragen; ein Glas Branntwein +ist mir lieber.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das thut mir leid,« sagte der Mann, »den kann ich +Euch nicht anbieten; ich habe keinen im Hause.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Thut auch Nichts,« lachte der Fremde; »so lange halt +ich's schon noch aus. Sind doch hülflose Dinger so junge Menschen, +ehe sie die Kinderschuh ausgetreten haben,« setzte er +dann hinzu, als das Jüngste das Mäulchen nach dem schon +einmal gereichten Löffel vorstreckte — »was machte nun so ein +jung Ding, wenn man es hinsetzte und sich selber überließe.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach Du lieber Gott,« sagte die Frau bedauernd — »so +ein armer Wurm müßte ja elendiglich umkommen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bis den Nachbarn das Geschrei zu arg würde und sie +kämen und es fütterten,« lachte der Andere.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page159">[pg 159]</span><a name="Pg159" id="Pg159" class="tei tei-anchor"></a>»Dafür haben die Kinder Eltern,« sagte die Frau, das +kleine, die Aermchen zu ihr ausstreckende Mädchen liebkosend +und küssend, »die sorgen schon dafür daß kein Nachbar danach +zu sehen braucht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn die aber einmal plötzlich stürben, wie dann?« +frug der Fremde, mit einem Seitenblick auf die Frau, indem +er seinen Rock wieder zuknöpfte und sich zum Gehen rüstete.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dann ist Gott im Himmel,« sagte Hanne, mit einem +frommen vertrauungsvollen Blick nach oben.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, das ist wahr;« sagte der Fremde mit einem leichtfertigen +Lächeln, »der hat allerdings die große Kinderbewahranstalt. +Aber es hat wirklich aufgehört mit Gießen,« unterbrach +er sich rasch, »den Augenblick will ich doch lieber benutzen. +So schön Dank für gegebenes Quartier Ihr Leute, +und gut Glück.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bitte, Ihr habt für Nichts zu danken, behüt' Euch +Gott,« sagte Gottlieb freundlich.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Behüt' Euch Gott;« sagte auch die Frau, und der Mann, +ihnen noch einmal zunickend, nahm draußen wieder den nassen +Mantel um, drückte sich den breiträndigen Hut in die Stirn, +griff einen derben Knotenstock, der daneben in der Ecke lehnte, +auf, und verließ rasch das Haus, die Richtung nach der +Schenke einschlagend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mich freut's daß er fort ist,« sagte die Frau, die dem +Knaben gerade das Essen auf den Tisch setzte und den Kaffee +einschenkte — »bewahr uns Gott, was hatte der Mann für +ein finstres Gesicht und ein barsches Wesen; nicht schlafen +<span class="tei tei-pb" id="page160">[pg 160]</span><a name="Pg160" id="Pg160" class="tei tei-anchor"></a>könnt' ich die Nacht, wenn ich den unter einem Dach mit mir +wüßte. In dem Gesicht liegt auch nichts Gutes — und wie +er fluchte und über die Kinder sprach — ob er nur wirklich +selber welche hat.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Er sagt's ja,« bestätigte Gottlieb — »aber mir schien's +ein Fleischer zu sein, seinem Gewerbe nach, und die sind immer +rauh und derb, meinen's aber nicht immer so bös.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So bess're ihn Gott,« sagte die Frau mit einem Seufzer, +»und je seltener er unseren Weg kreuzt, desto besser.«</p> +</div> +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"><span class="tei tei-pb" id="page161">[pg 161]</span><a name="Pg161" id="Pg161" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc19" id="toc19"></a> +<a name="pdf20" id="pdf20"></a> +<a name="pdb21" id="pdb21"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 7.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Nach Amerika.</span></h1> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika!« — Leser, erinnerst Du Dich noch der +Märchen in »Tausend und eine Nacht«, wo das kleine Wörtchen +»Sesam« dem, der es weiß, die Thore zu ungezählten Schätzen +öffnet? hast Du von den Zaubersprüchen gehört, die vor alten +Zeiten weise Männer gekannt, Geister heraufzurufen aus ihrem +Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar +zu machen? — Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe +schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im Munde des +Volkes erhalten, Blitz und Donner zusammen, die Erde bebte, +und das kecke, tollkühne Menschenkind das sie gesprochen, bebte +zurück vor der furchtbaren Gewalt die es heraufbeschworen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem +Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder +wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergessen sie zu rufen — aber +ein anderes dafür gefunden, das kaum minder stark +<span class="tei tei-pb" id="page162">[pg 162]</span><a name="Pg162" id="Pg162" class="tei tei-anchor"></a>mit <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">einem</span></em> Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, den +Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen +und Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reißt, +in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern +treulich festgehalten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika,« leicht und keck ruft es der Tollkopf +trotzig der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine +Kraft prüfen sollte, seinen Muth stählen — »nach Amerika,« +flüstert der Verzweifelte der hier am Rand des Verderbens dem +Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde — »nach +Amerika,« sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher +Kraft und doch immer und immer wieder vergebens, +gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein +»tägliches Brod« mit blutigem Schweiß gebeten — und es +nicht erhalten, der keine Hülfe für sich und die Seinen hier +im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">will</span></em>, nicht stehlen +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kann</span></em> — »nach Amerika« lacht der Verbrecher nach glücklich +verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, +die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts — »nach +Amerika,« jubelt der Idealist, der wirklichen Welt +zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über den Ocean drüben +ein Bild erhoffend, das dem, in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht — »nach Amerika« und mit dem einen Wort +liegt hinter ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, +Wirken, Schaffen — liegen die Bande die Blut oder Freundschaft +hier geknüpft, liegen die Hoffnungen die sie für hier gehegt, +die Sorgen die sie gedrückt — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">»nach Amerika!«</span></em></p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page163">[pg 163]</span><a name="Pg163" id="Pg163" class="tei tei-anchor"></a>So gährt und keimt der Saame um uns her — hier +noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, +dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der +reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer +draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain der ihn +zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so +schwer geärgert, und der im Geist schon die langen geraden +Furchen zieht, weit über dem Meer drüben, in dem fetten, +herrlichen Land; — der Handwerker in seiner Werkstatt, dem +sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt mit Neuerungen +und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen +Kunden die ihm bis dahin noch geblieben in <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">seine</span></em> Thür zu +locken; der Künstler in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, +der über einer freieren Entwickelung brütet, und von einem +Lande schwärmt wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und +Hände binden; — der Kaufmann hinter seinem Pult, der +Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern +zieht und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von +einem neuen, andern Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, +von reich gefüllten Waarenhäusern träumt; in Tausenden von +ihnen drängt's und treibt's und quält's, und wenn sie auch +noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe +wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke schon — ein +stiller aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über +das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arzenei, neues +Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und +weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht nicht errathen +<span class="tei tei-pb" id="page164">[pg 164]</span><a name="Pg164" id="Pg164" class="tei tei-anchor"></a>soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding — nach +Leuten die vordem »hinüber« gezogen und denen es gut gegangen — nach +Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk — für +Andere natürlich, nicht für sich etwa — sie lachen bei +dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein entfernter +Verwandter oder naher Freund, sie wünschen daß es +dem wohl geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich +selber auf.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner +ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter +den <span class="tei tei-foreign"><span style="font-style: italic">salto mortale</span></span> gethan, und Alles hinter sich gelassen, +was ihm einst lieb und theuer war — aus dem, aus +jenem Grund — und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, +von denen wir im Leben nie geglaubt daß <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">sie</span></em> je an +Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind, mit Hab' und +Gut hinüberziehn. Und <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">dort</span></em>? — noch liegt ein dichter +Schleier über ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne scheint +ja überall — Dir aber lieber Leser, greif ich aus dem Leben +noch hie und da ein paar Freunde heraus, die wir begleiten +wollen auf dem weiten Weg.</p> + +<div class="tei tei-tb">* * * * * </div> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Oben in der Brandstraße — nicht weit vom Brandthor +entfernt, und dem Gasthaus zum Löwen schräg gegenüber, +wohnte Professor Lobenstein mit seiner Familie, in der ersten +Etage eines, zwar sehr alten, aber auch sehr wohnlich eingerichteten +Hauses, das ihm eigen gehörte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page165">[pg 165]</span><a name="Pg165" id="Pg165" class="tei tei-anchor"></a>Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen +Seite der »besseren Jahre«, etwa einundfünfzig alt, aber rüstig +und gesund, nur erst mit einzelnen grauen Haaren zwischen +den rabenschwarzen Locken, die ihm über die bleiche, aber hohe +und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast jugendlichem, elastischem +Gang und Wesen. Ein tüchtiger Kopf dabei, hatte er +<span class="tei tei-foreign"><span style="font-style: italic">jura</span></span> und <span class="tei tei-foreign"><span style="font-style: italic">cameralia</span></span> studirt, und einen großen Schatz von +Kenntnissen aufgehäuft; auch in manchem, mit schweren mühsamen +Nachtwachen erkauften Werk der Welt, der undankbaren +Welt das Resultat seiner Studien und Forschungen gebracht +und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg, und der kalten +Aufnahme die es gefunden, wandte er sich später wieder +von den bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz +ab und allein seinem Lieblingsstudium den Cameralien zu, in +denen er besonders der Gewerbskunde seine Thätigkeit widmete, +auch mit einem Buchhändler in Heilingen eine Gewerbszeitung +gründete und herausgab.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Hierin hatte er Unglück; der Buchhändler machte bankerott +und er übernahm die Zeitung, mit ziemlich großen Verlusten +schon, allein.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">So vortrefflich aber Professor Lobenstein in der Theorie +seiner Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest +war er es in der Praxis, und seine Zeitung wollte und wollte +keinen Boden gewinnen. Mit fabelhaftem Fleiß suchte er dem +zu begegnen, umsonst — umsonst auch daß er Capital nach +Capital in das, zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene +Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypo<span class="tei tei-pb" id="page166">[pg 166]</span><a name="Pg166" id="Pg166" class="tei tei-anchor"></a>thek +und mit einer höchst ungünstigen politischen Periode, in +der ihm eine große Anzahl Abonnenten absprang, trafen ihn +auch so bedeutende pecuniäre Verluste, daß er sich endlich genöthigt +sah sein Blatt vollständig aufzugeben. Es war das +das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Professor Lobenstein hatte eine ziemlich starke Familie, +eine Frau, zwei erwachsene Töchter von siebzehn und zwanzig +Jahren, einen Sohn von achtzehn, und zwei kleinere Kinder, +einen Knaben von acht und ein Mädchen von sieben Jahren. +Wenn auch nicht in Reichthum doch in einem gewissen Wohlstand +erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort +»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Nahrungssorgen</span></em>« fremd geblieben; der Professor hatte +immer, was man so nennt, ein Haus gemacht, und sich in +einem Umgangskreis bewegt, der ihnen schon an und für sich +eine gewisse Verpflichtung auferlegte Manches mitzumachen, +was seinen, sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht Bedürfniß +schien. Das Alles sollte, ja <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">mußte</span></em> sich jetzt ändern, +denn wenn er auch aus den Trümmern seines Vermögens, +nach allen erlittenen Verlusten, einen kleinen Theil zu retten +vermochte, genügte der nicht, das bisherige Leben fortzuführen. +Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem +eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen, und sich +und den Seinen schwere und ungewohnte Entbehrungen +an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn Alles und Jedes an +frühere und bessere Zeiten erinnerte oder — es war eine +schwere Stunde in der ihm das Bild zum ersten Mal vor die +Seele stieg — in einem anderen Welttheil, ungekannt, aber +<span class="tei tei-pb" id="page167">[pg 167]</span><a name="Pg167" id="Pg167" class="tei tei-anchor"></a>auch nicht bemitleidet oder verspottet, ein vollkommen neues +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Leben</span></em> zu beginnen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Aber die Frauen? — würden sie den Mühseligkeiten einer +so langen Reise, einer Ansiedlung drüben in einem noch wilden +Lande gewachsen sein? — Daß er selber die Beschwerden +eines solchen Lebens leicht ertragen würde, daran zweifelte er +keinen Augenblick; er hatte so viel über Amerika gelesen, sich +mit den dortigen Verhältnissen aus allen erschienenen Schriften +so vertraut gemacht, daß er Alles kannte was ihn dort erwartete, +und einem derartigen Wirken eher mit Freude und +Lust, als Bangen entgegenging; aber durfte er seine Frau all +den sie erwartenden Unbequemlichkeiten und Strapatzen aussetzen? +durfte er seine Töchter aus ihrem geselligen glücklichen +Leben reißen, und ihnen mit einem Schlage alle jene Vergnügungen +entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, +die ihnen fast Bedürfniß geworden?</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Einen langen und schweren Kampf kämpfte er mit sich +selber, Monate lang, und er wurde alt in der Zeit; die Augen +lagen tief in ihren Höhlen und seine Züge bekamen etwas +Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner schwersten +Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder dabei +sich leicht mit einem vorgeschützten Unwohlsein beruhigen ließen, +dem scharfen Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die +an seinem Herzen heimlich, aber desto gewaltiger nagte, und +ihren dringenden, ängstlichen Bitten konnte er zuletzt nicht +länger widerstehen. Was sie doch zuletzt hätte erfahren +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">müssen</span></em>, vertraute er ihr an und wenn es die arme Frau +<span class="tei tei-pb" id="page168">[pg 168]</span><a name="Pg168" id="Pg168" class="tei tei-anchor"></a>auch wie ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das +Ganze doch viel ruhiger auf als er erwartet, gefürchtet, und +damit eine schwere Last von <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">seinem</span></em> Herzen — auf das ihre. +Aber leichter trägt sich die getheilte, und bereden konnten sie +jetzt zusammen was zu thun, welchen Weg zu gehen, die +Möglichkeit besprechen die sich hier ihrem Leben bot, die Möglichkeit +errwägen, die ihnen dort eine andere freiere Zukunft +öffnete. Und die Kinder? wohin Mütter und Vater gingen +folgten die ja gern; nur die Scene wechselte für sie, anderen, +vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu geben, und Kummer +und Sorge kannten die ja nicht.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">An demselben Abend waren die beiden ältesten Töchter zu +einem kleinen Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen +und hatten schon den ganzen Tag mit rastlosen Fingern an +dem bunten blitzenden Ballstaat genäht. Der Vater begleitete +sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, Kopfschmerz vorschützend, +und die Sorge um das jüngste Kind, das mit einem +leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn +Uhr schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager +ein, und daneben, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, +saß die Mutter und weinte — weinte als ob sie mit dieser +Thränenfluth all den Gram und Kummer fortwaschen +wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizonte ihres +Glücks erschien, und wild und drohend höher und höher stieg.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Lachend und plaudernd kehrten die Töchter, mit dem +Vater spät in der Nacht zurück; den leichten, sorglosen +Herzen lag die Welt noch, ein weiter Garten offen da, +<span class="tei tei-pb" id="page169">[pg 169]</span><a name="Pg169" id="Pg169" class="tei tei-anchor"></a>und was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, +mischte noch sein fastgrünes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, +mit Blum' und Blüthenpracht.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Aber der Moment näherte sich auch, wo mit der vorgerückten +Jahreszeit all' die nöthigen und mannichfaltigen Vorbereitungen +zu einer so langen Reise, zu einer gänzlichen Umgestaltung +aller ihrer Verhältnisse, getroffen werden <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">mußten</span></em>; +auch schien die Zeit eine passende für den Sohn, der, von der +Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturienten-Examen +glücklich bestanden hatte. Der Vater wünschte allerdings daß er +hier erst studiren, und ihnen dann später, wenn er etwas Tüchtiges +gelernt, vielleicht folgen sollte, dachte ihm aber doch die +freie Wahl zu lassen, und seinem Herzen keinen Zwang aufzuerlegen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Am nächsten Morgen nach dem Balle nun — es war +spät mit Aufstehn geworden nach der durchschwärmten Nacht +und die zweite Tochter Marie eben erst zum Kaffee herübergekommen, +während der Sohn das Haus schon, irgend eines +notwendigen Ganges wegen verlassen hatte — saß der Vater, +ungewohnter Weise nicht in seiner Studirstube an der Arbeit, +sondern im Sopha, aus der langen Pfeife den Dampf in +weißen Kräußelwolken von sich blasend, und die Mutter am +Nähtisch, Kleider ausbessernd für das Jüngste, das in seinem +herübergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe +schaukelte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Schon ausgeschlafen, Väterchen?« sagte Marie als sie, +etwas beschämt, die Letzte am Kaffeetische Platz genommen,<span class="tei tei-pb" id="page170">[pg 170]</span><a name="Pg170" id="Pg170" class="tei tei-anchor"></a> +»ich habe wohl recht lange heut geschlafen, aber — was ist +Dir denn? — und der Mutter auch?« — rief sie vom Stuhl +wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der +Eltern gewahrte — »bist Du böse auf mich, Mütterchen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein mein Kind,« sagte diese und zwang ein Lächeln +auf die Lippen, »aber der Vater hat Euch etwas recht Ernstes +heute zu sagen, etwas von dem wir noch nicht wissen, ob es +Euch betrüben wird oder nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der Vater?« rief Marie erschreckt, und auch Anna, die +älteste Tochter, sah ängstlich zu ihm auf; Professor Lobenstein +aber, so in die Enge und zum Aeußersten getrieben, hustete, +paffte den Dampf ein paar Mal scharf vor sich hin, die Pfeife +ordentlich in Gluth zu bringen, und sagte:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja Kinder, Ihr wißt — wir — wir haben doch in den +letzten Tagen viel über Nord-Amerika gesprochen, und auch +Manches gelesen — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, die herrlichen Romane von Cooper,« rief Marie rasch.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt,« lächelte +Anna.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der Doctor Haide ist ein Esel,« sagte der Professor, den +Rauch wieder ein paar Mal rasch ausstoßend — »wenn der +hätte in Amerika ordentlich arbeiten wollen, brauchte er sich +jetzt nicht von einer Winkeladvocatur und vom Schimpfen auf +freisinnige Leute zu ernähren; über dessen Berichte wollen wir +uns keine Sorgen machen, aber — « er schwieg wieder einen +Augenblick und sah, wie furchtsam, nach der Frau hinüber. +Die jedoch arbeitete um so emsiger weiter, und selber mit dem<span class="tei tei-pb" id="page171">[pg 171]</span><a name="Pg171" id="Pg171" class="tei tei-anchor"></a> +Bedürfniß dem, was ihn schon so lange gedrückt, endlich einmal +Worte zu geben, fuhr er rasch fort — »ich habe eine Frage +an Euch zu thun, Kinder — Hättet Ihr — hättet Ihr wohl +selber Lust hinüber nach — nach Amerika zu gehn?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika?« rief Anna rasch und auch wohl erschreckt. +Marie aber sprang auf, schlug in die Hände und rief +jubelnd:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika? oh das wäre ja prächtig — das wäre +herrlich — nicht wahr da sind auch Bälle, Väterchen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Mutter seufzte tief auf und der Vater zog wieder, +etwas verlegen an der Bernsteinspitze.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm — ich weiß nicht,« sagte er langsam mit dem Kopf +schüttelnd — »wo wir im Anfang hinwollten, werden wohl +keine sein. Hängst Du so an Bällen, Marie?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich tanze gern,« lächelte das junge fröhliche Mädchen +etwas verlegen und schüchtern.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun tanzen wirst Du dort hoffentlich auch können, mein +Kind,« sagte der Vater freundlich — »wenn auch nicht gerade +gleich auf solchen Bällen wie wir sie hier gewohnt sind — das +Leben ist dort einfacher.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Oh, und bis zum nächsten Fasching sind wir gewiß +auch wieder zurück,« rief Marie.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Vater schwieg erst eine kleine Weile, und sagte dann +leise aber entschlossen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wir wollen <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ganz</span></em> hinüberziehn, mein Kind.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Auswandern?« rief die ältere Schwester fast erschreckt — das +Wort, dessen Bedeutung sie noch gar nicht vollkommen +<span class="tei tei-pb" id="page172">[pg 172]</span><a name="Pg172" id="Pg172" class="tei tei-anchor"></a>verstand, traf sie mit einem unbekannten ahnenden Gefühl von +Schmerz und Leid — »und die Mutter?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ihr werdet mich doch nicht wollen allein zurücklassen?« +lächelte die Frau, sich gewaltsam zwingend über den Schmerz +dieser Stunde.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mutter!« sagte Anna, warf die Arme um ihren Nacken +und küßte sie.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und Eduard?« frug Marie.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bleibt, wenn er meinem Rathe folgt, noch hier bis er +ausstudirt und etwas ordentliches gelernt hat,« sagte der Vater — »wo +nicht, hat er seinen freien Willen und mag uns begleiten; +sowie er zu Hause kommt werde ich mit ihm sprechen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber — « rief Marie — »wer verwaltet unterdessen unser +Haus?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn wir einmal fort sind von hier,« sagte der Professor +ausweichend, »kann uns auch das Haus nichts mehr +nützen, und ich werde es verkaufen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Verkaufen</span></em>? — unser Haus und den Garten?« riefen +Maria und Anna fast wie aus einem Munde erschreckt und +rasch — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Unser freundliches Stübchen, wo wir als Kinder gespielt,« +setzte Marie traurig hinzu.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und die Bäume die Vater alle gepflanzt — die Laube, +die wir uns selbst gebaut, und die so schön geworden ist in +diesem Jahr,« sagte Anna leise — »verlassen wollt' ich es ja +gern, wenn wir Alle gehn, aber daß fremde Menschen jetzt +darin hausen sollen, die vielleicht gar nicht wissen wie wir das<span class="tei tei-pb" id="page173">[pg 173]</span><a name="Pg173" id="Pg173" class="tei tei-anchor"></a> +Alles gehegt und gepflegt und — « ihr Blick fiel in diesem +Augenblick auf der Mutter, halb von ihr abgewandte bleiche +Züge, und faßte das Blitzen einer heimlich fallenden Thräne. +Anna erschrak und wurde todtenbleich — hier lag mehr verborgen +als man ihnen gesagt, und heimlicher Gram, heimliche +Sorge nagte an der Eltern Herzen, durfte sie die vermehren? +Sie schwieg einen Augenblick und sah sinnend vor sich nieder, +dann aber Mariens Hand ergreifend sagte sie mit leichterem +vielleicht gezwungen fröhlicherem Ton:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber wir wollen nicht klagen; Vater und Mutter wissen +am Besten was sie zu thun haben, und was uns gut ist, und +dort baut uns Vater dann ein anderes Haus, und wir selber +pflanzen uns ein neues Gärtchen, schöner als das unsere hier.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber ich bliebe hier, wenn ich an Vaters Stelle wäre,« +schmollte Marie, »und was wird Herr Kellmann dazu sagen, +wenn er es erfährt? der ist so immer gegen Amerika, und hat +sich schon oft mit Vater darüber gezankt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach der macht mir die geringste Sorge,« sagte Anna in +ihrem Schmerz lächelnd — »wenn man <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">für</span></em> Amerika spricht, +schimpft er aus Leibeskräften, und citirt Gott weiß was für +Stellen aus Briefen und Zeitungen, alles Günstige zu widerlegen, +oder wenigstens stark zu bezweifeln, und kommt Jemand +der das Land ordentlich angreift, dann hab' ich auch schon +gesehn, daß er den Handschuh wacker dafür aufnimmt, und +man wirklich glauben sollte er bekäme so und so viel für den +Kopf, Leute zu bereden hinüberzuziehn. Das ist ein wunderlicher +Kauz, der die meiste Zeit selber nicht weiß was er will, +<span class="tei tei-pb" id="page174">[pg 174]</span><a name="Pg174" id="Pg174" class="tei tei-anchor"></a>und ich glaube, wenn es Jemand recht ordentlich bei ihm +darauf anlegte, könnte man ihn selber, nur durch Widersprechen, +dahin bringen, daß er in eigener Person hinüberginge.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Herr Kellmann?« lachte Marie — »nun <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">den</span></em> möcht' ich +in Amerika sehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und wer weiß, ob Dir das nicht noch passirt,« bestätigte +der Vater, mit dem Kopfe nickend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und darf ich mein neues seidenes Kleid mitnehmen, +Mama?« frug das junge lebenslustige Mädchen jetzt die +Mutter — »hier lassen möcht' ich es doch nicht gern, und +drüben im Wald — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Liebes Kind, wir werden auch nicht mitten in den Wald +gehn,« sagte die Mutter, die indessen heimlich die verrätherische +Thräne aus dem Auge geschüttelt, freundlich dabei der zu ihr +getretenen Tochter die Stirn streichend und küssend, »denkt es +Euch nicht so schlimm. Der Vater wird uns schon einen +Platz aussuchen, wo wir wenigstens unter Menschen und der +Cultur nicht ganz verschlossen sind — er hielte es ja dort sonst +selber nicht aus.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber warum gehst Du nur, Väterchen?« bat Marie — +»es ist doch hier so wunderhübsch in Heilingen, und was wir +da drüben haben, wissen wir noch nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Professor, zu dem Anna ängstlich aufsah, hatte seinen +Sitz verlassen und ging, langsam dabei mit dem Kopf nickend, +im Zimmer auf und ab; er fühlte daß er, auch den Töchtern +gegenüber, diesen eine Erklärung seines Handelns schuldig +sei, denn er riß sie aus einem liebgewonnenen Leben heraus, +<span class="tei tei-pb" id="page175">[pg 175]</span><a name="Pg175" id="Pg175" class="tei tei-anchor"></a>und führte sie vielen, vielen Entbehrungen — er durfte sich +das nicht leugnen — entgegen. Von ihrer späteren Haltung +dabei hing auch viel ihrer Aller Glück, ihrer Aller Zufriedenheit +ab, und sie waren alt genug ihrem Urtheil zu vertrauen. +Aber es kostete ihm der Entschluß einen schweren Kampf, und +wo ihm die Frau war auf halbem Weg entgegen gekommen, +fürchtete er hier gerade, nicht Widerstand zu finden, denn +dafür hatten sie ihn zu lieb, aber Schmerz und Sorge zu +wecken in den jungen Herzen, denen er die ungebetenen Gäste +gern noch fern gehalten hätte so lang als möglich. Sie standen +jedoch an einem wichtigen, bedeutungsvollen Abschnitt ihres +Lebens, und mußten <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">sehen</span></em>, wohin der Weg sie führte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">In kurzen, einfachen Worten, frei vom Herzen weg, und +zu den Herzen sprechend, weil sie aus dem Herzen kamen, schilderte +er ihnen jetzt die veränderte Lage in die er, durch das gezwungene +Aufgeben seiner Zeitschrift sowohl, wie durch manche +schwere, ihn betroffene Verluste gekommen. Er verheimlichte +ihnen nicht länger daß er einen Theil — einen großen Theil +seines Vermögens eingebüßt, und das ihm selber liebe Haus +nicht verkaufen würde, wenn ihn eben nicht — die Verhältnisse +dazu <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">zwängen</span></em>. Aber noch blieb ihnen genug nach +einem fernen Welttheil überzusiedeln und dort, mit bescheideneren +Bedürfnissen, von Neuem zu beginnen; Amerika mit seiner +ungeheuren Lebenskraft bot ihnen nach allen Seiten hin die +Möglichkeit der Existenz, und das gut und zweckmäßig angelegte +kleine Capital konnte dort gute Zinsen tragen für spätere +Zeit. Hatten sie sich dann etwas verdient, waren die Hoff<span class="tei tei-pb" id="page176">[pg 176]</span><a name="Pg176" id="Pg176" class="tei tei-anchor"></a>nungen, +mit denen sie hinüber gingen, Wahrheit geworden, +und sehnte sich ihr Herz noch nach dem Vaterland, wer hinderte +sie dann zurückzukehren zu den theueren Plätzen, die ihnen +ewig lieb bleiben würden in der Erinnerung?</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Dem Professor war es leichter um die Brust geworden, +wie er das Eis nur erst gebrochen. Selbst überzeugt von dem +was er sprach, wurde er warm, indem er den Gedanken weiter +dachte, und seine Phantasie verlor sich zuletzt sogar, Luftschlösser +aufbauend, zauberschnell in weiter Ferne. Der Professor ging +mit dem Menschen durch, und die leicht gerötheten Wangen +belebte ein eigenes, inneres Feuer. Und die Mutter saß dabei, +still und schweigend, und ängstlich bemüht, in der wiederaufgenommenen +Arbeit die eigene Bewegung zu verbergen. Marie +und Anna aber, die des Vaters Hände erfaßt und in den +ihren hielten, schmiegten ihre Häupter an seine Schultern und +flüsterten; die großen, zu ihm aufgeschlagenen Augen voll von +Thränen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Genug, genug, Väterchen; mal' uns das Alles nicht so +prächtig aus — wohin Du und Mutter gehn, gehn auch wir, +und wär' es mitten hinein in den wildesten Wald. Kein unzufriedenes +Wort sollst Du dabei von uns hören, keine Klage, +kein böses Gesicht weiter — keine Thräne — nur die hier sind +uns so ganz von selber über die Backen gelaufen, weil wir die +Mutter weinen sahen. Mit Lieb und Lust wollen wir das +Leben dort beginnen — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und Kühe und Hühner schaffen wir uns an!« rief Marie,<span class="tei tei-pb" id="page177">[pg 177]</span><a name="Pg177" id="Pg177" class="tei tei-anchor"></a> +»und die Kühe melken wir selber und machen Butter und +Käse.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wie gut,« sagte Anna, daß wir im vorigen Jahr auf +dem Land bei der Tante waren, und dort das Alles zum Spaß +gelernt haben; jetzt wird es uns nützen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber nicht wahr, Mütterchen, nun weinst Du auch nicht +mehr,« rief Marie, zur Mutter hinübergleitend, ihren Arm um +deren Nacken legend und sie küssend — »drüben wird schon +Alles hübsch werden. Und ein paar von den großen Holzschuhen +nehm' ich mir mit, wie sie die Bauern tragen, für draußen bei +nassem Wetter; hei wie wir da herumpatschen wollen und +schaffen und arbeiten; und plätten thun wir auch selbst, dafür +nimmst Du kein Mädchen mehr.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Den frohen, leichten Herzen schwammen schon die gewaltigen +Umrisse ihrer ganzen fernen, so ungewissen Zukunft, in +den einzelnen bunten Kleinigkeiten zusammen, die ihrem Geist, +von dem Reiz der Neuheit mit frischem Duft überhaucht, entstiegen. +Nur die Lichtpunkte erspähte der, in die Ferne arglos +hinausschauende Blick, und die goß er sich lustig zusammen zu +einem Ganzen: was dahinter lag, der düstere Hintergrund, +den das erfahrenere Mutterauge wohl erkannt, diente ihnen +nur dazu die einzelnen Lichter stärker hervorzuheben, deutlicher +erkennen zu können, und der Himmel spannte sich blau und +rein über ihren glücklichen Häuptern.</p> +</div> +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"><span class="tei tei-pb" id="page178">[pg 178]</span><a name="Pg178" id="Pg178" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc22" id="toc22"></a> +<a name="pdf23" id="pdf23"></a> +<a name="pdb24" id="pdb24"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 8.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Der Tanz im rothen Drachen.</span></h1> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Drei volle Monat waren nach den, in den vorigen Capiteln +betriebenen Scenen verflossen, und der Diebstahl im +Dollingerschen Hause zu Heilingen, der eine ganze Woche +lang fast das alleinige Stadtgespräch gebildet, wurde kaum +noch erwähnt. Der vermuthete Dieb (gegen den aber allerdings +nachträglich keine weiteren Beweise aufgefunden worden), +war zwei Tage nach dem Sturz von der Brücke an seiner +Kopfwunde gestorben; er hatte die beiden Tage vollkommen +bewußtlos gelegen, und kein Wort mehr gesprochen. Das +übrige Geld aber — außer den zweihundert und einigen Thalern — wie +die vermißten Pretiosen, konnten, trotz den genausten +Nachforschungen nirgends aufgefunden werden, und hatte +er es wirklich gestohlen, so ließ sich jetzt gar nichts Anderes +vermuthen, als daß er es irgendwo an einer heimlichen Stelle +vergraben, und außer Sicht gebracht habe.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page179">[pg 179]</span><a name="Pg179" id="Pg179" class="tei tei-anchor"></a>Actuar Ledermann hatte dabei ganze Actenstöße über den +Fall geschrieben — man wußte wirklich nicht wo er nur den +Stoff dazu herbekommen; aber mit dem üblichen Canzleistyl +wurde die Sache, der jede gründliche Vorlage mangelte, nach +Möglichkeit gereckt und ausgedehnt und dann, als sich Nichts +weiter darüber ergab, mit starkem Bindfaden umschnürt und +etiquettirt, um später vielleicht, mit Jahreszahl und Nummer +versehn, in irgend ein staubiges Gefach geschoben zu werden, +dort ein Jahrhundert fortzuträumen, — wie der Verstorbene +unter dem Rasen, dicht an der Kirchhofsmauer, an die er, +ohne Sang und Klang damals, noch vor Tag, still und heimlich +hinausgeschafft worden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Geistlichkeit von Heilingen hatte dem Unglücklichen +allerdings sogar dies »ehrliche Begräbniß« versagen und den +Körper der Anatomie überantworten wollen, da er unter dem +Verdacht eines schweren Diebstahls und gewissermaßen als +Selbstmörder seinen Tod gefunden — was kümmerte die stolzen +Geistlichen die duldende Liebe die Christus gelehrt, wo +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ihre</span></em> Autorität Gefahr leiden konnte gekränkt zu werden, und +sie hatten einmal verordnet, daß solchen Sündern ein »christliches +Begräbniß« versagt werden solle; aber die Polizei war +milder und verständiger als die »Diener des Höchsten« und +erklärte den Tod des Armen für keinen Selbstmord, indem er +nur »auf der Flucht« umgekommen, während wahrscheinlich +der ihm beigegebene Wächter die allerdings unschuldige, und +nicht zur Verantwortung zu ziehende direkte Ursache, seines +Todes gewesen sei.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page180">[pg 180]</span><a name="Pg180" id="Pg180" class="tei tei-anchor"></a>Aber fort — fort mit den traurigen Bildern; das menschliche +Leben hat der dunklen Seiten so viele, und sie drängen +sich uns doch auf, wohin wir gehen — nur der Augenblick +gehöret uns, und nicht muthwillig wollen wir den Schmerz +suchen. So mag mir der Leser denn noch einmal zum rothen +Drachen hinaus folgen — es dauert vielleicht lange, ehe wir +den Platz wieder zu sehn bekommen — und dort tönt heut +fröhliche Musik aus dem hellerleuchteten Saal des großen +Hauses, der mit Guirlanden und Blumen und jungen Birkenreisern +festlich geschmückt ist, indeß ihn eine muntere, laut und +lustig durcheinander wogende Schaar belebt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Kaum eine Viertelstunde — oder eine »halbe Pfeife Tabak«, +wie die Bauern sagten — vom rothen Drachen entfernt, +lag Schloß Hohleck an der anderen Seite des nämlichen Hügelrückens, +das gegenüber liegende Thal überschauend, und +der Besitzer desselben, Graf von Hohleck, feierte heute die Vermählung +seines ältesten Sohnes, der dabei das Gut selber +übernahm, und nun seinen Leuten dem Tag zu Ehren ein +Fest »in der Schenke« gab. Bier und Branntwein waren dabei +zu freier Verfügung gestellt, und ein starkes Musikchor aus +der Stadt engagirt worden, den Leuten die ganze Nacht hindurch +zum Tanze aufzuspielen — und sie machten Gebrauch +davon.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Aber auch aus Heilingen selber hatten sich eine Menge +Gäste eingefunden, dem muntern Leben und Treiben der fröhlichen +Menschen zuzuschauen, und während der untere Gartensaal +einzig und allein den Dienstleuten des Rittergutes einge<span class="tei tei-pb" id="page181">[pg 181]</span><a name="Pg181" id="Pg181" class="tei tei-anchor"></a>räumt +war, zu dem den Stadtleuten jedoch gastlich der Zutritt +gestattet wurde, hatten sich die letzteren noch besonders in einem +paar der kleineren Stuben festgesetzt, wo sie ihren Wein oder +ihr Bier tranken oder auch eine Parthie spielten, die Zeit auszufüllen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Zu den Gästen aus der Stadt gehörten auch mehre unserer +alten Bekannten, unter ihnen Kellmann und Schollfeld, +zwei Stammgäste des rothen Drachen. Ledermann war ebenfalls, +wenn auch später, herausgekommen und ihnen hatte sich +noch der Auswanderungsagent Weigel — sehr zum Aerger +Schollfeld's, der ihn nicht ausstehen konnte — zugesellt. +Weigel blieb aber nicht ruhig an ihrem Tisch sitzen, sondern +ging ab und zu, und hatte sein Glas nur mit bei ihnen stehn, +gewissermaßen seinen Platz zu belegen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Ledermann war übrigens heute sehr still und niedergeschlagen, +er hatte sein einziges Kind vor etwa vierzehn Tagen +verloren, und schien sich das sehr zu Herzen zu nehmen, erklärte +auch nur herausgekommen zu sein, sich ein wenig zu zerstreuen +und die Gedanken los zu werden, die ihn in der Stadt drin +peinigten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Uebrigens war ihm in den letzten Tagen höchst unerwarteter +Weise eine kleine Erbschaft von 600 Thalern zugefallen +und Schollfeld, der heute Abend außergewöhnlich gut aufgeräumt +schien, versuchte jetzt sein Bestes des Freundes Grillen +oder trübe Gedanken ebenfalls zu verscheuchen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hören Sie einmal Ledermann,« begann er, mit dem +Deckel seines Kruges klappend und mehr Bier verlangend — »wie +<span class="tei tei-pb" id="page182">[pg 182]</span><a name="Pg182" id="Pg182" class="tei tei-anchor"></a>ist denn die Geschichte nun mit den 600 Thalern? — +beiläufig gesagt schneiden Sie ein Gesicht dabei, als ob Sie +Schwefelsäure verschluckt hätten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Er hört nicht einmal,« sagte Kellmann, als der Actuar +kein Wort darauf erwiederte, und die Anrede in der That gar +nicht verstanden zu haben schien — »Ledermann, Mensch, wo +sind Sie jetzt mit Ihren Gedanken, im rothen Drachen bei +Heilingen, im Monde, oder in Amerika?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wo?« sagte der Actuar, rasch und fast verstört aufschauend, +als aber die Anderen laut lachten, schüttelte er mit +dem Kopf und seinen Krug nehmend und trinkend sagte er +ruhig und ernst:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach laßt mich zufrieden Kinder — ich habe den Kopf +voll, und bin wahrhaftig heute Abend nicht zum Spaßen +aufgelegt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nicht zum Spaßen aufgelegt?« rief aber Schollfeld, +Kellmann unter dem Tisch anstoßend — »ist auch gar nicht +nöthig mein lieber Actuar — wir spaßen auch hier gar nicht; +Jemand aber, der eine Erbschaft macht und irgendwo Stammgast +ist, überkommt dabei die moralische Verpflichtung irgend +etwas zum Besten zu geben, und es bleibt ein Skandal, daß +man einen solchen Glückspilz auch nur noch daran erinnern +muß. Hat der Henker da wieder den Schleicher, den Weigel,« +unterbrach er sich aber plötzlich mit etwas leiserer Stimme, als +er sah wie dieser das Zimmer wieder betrat, und sich ihrem +Tische zuwandte — »ich hatte schon gehofft wir würden ihn +heute Abend los sein; jetzt ist <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">mein</span></em> Vergnügen beim Teufel.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page183">[pg 183]</span><a name="Pg183" id="Pg183" class="tei tei-anchor"></a>»Nun meine Herren, noch so fröhlich beisammen?« sagte +Weigel jetzt, indem er zum Tisch trat — »ah, da sind ja der +Herr Actuar auch noch dazu gekommen — bitte behalten Sie +ja Platz, ich rücke ein klein wenig hier herüber — so — das +geht vortrefflich. Nun, der Herr Actuar haben in diesen Tagen +ein großes Glück gehabt — da darf man ja wohl gratuliren.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Danke herzlich,« sagte Ledermann ruhig; »es wird +übrigens so viel von den paar hundert Thalern gesprochen, +als ob's eben so viel Tausende wären.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ih nun, das lassen Sie gut sein,« sagte aber Weigel, +mit dem Kopf schüttelnd — »sechshundert Thaler richtig angewandt +könnten in der That in kurzer Zeit zu so viel Tausenden +werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn man sich Sächsische Löbau-Zittauer Eisenbahnactien +dafür kaufte, nicht wahr?« sagte Schollfeld, das Gesicht +halb in den ebengebrachten Krug versteckt, und einen +grimmigen Blick über den Rand desselben hin, nach dem Auswanderungsagenten +schießend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun das gerade nicht,« schmunzelte Herr Weigel, sein +Glas ein wenig weiter auf den Tisch schiebend, und sich die +Hände reibend, »da wüßte ich doch noch eine bessere Speculation.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und die wäre,« sagte der Actuar, seitwärts zu ihm +aufschauend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn Sie sich eine kleine Farm in Amerika kauften.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Puh!« rief Schollfeld, verächtlich den Kopf abwendend,<span class="tei tei-pb" id="page184">[pg 184]</span><a name="Pg184" id="Pg184" class="tei tei-anchor"></a> +»jetzt sein Sie so gut, kommen Sie uns hier nicht mit Ihrer +alten Leier von dem verdammten Amerika, und verderben Sie +uns das Bier nicht — hier ist auch Nichts zu verdienen, denn +von uns geht doch keiner hinüber.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Lieber Herr Schollfeld,« sagte aber Weigel mit großer +Ruhe, »von <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">uns</span></em> weiß noch Niemand was er nächstes Jahr +thun wird, und verschwören läßt sich so eine Sache nun einmal +gar nicht — Amerika ist immer noch ein Zufluchtsort.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja für die Spitzbuben und Hallunken, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">da</span></em> haben Sie +recht!« rief der Apotheker.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ne lieber Herr Weigel!« rief aber auch Kellmann jetzt — »mit +sechshundert Thalern kann ich da drüben auch Nichts +anfangen, und bin dann noch obendrein bei jedem Schritt und +Tritt der Gefahr ausgesetzt, daß ich betrogen und hintergangen +werde. Man kann dort ja nicht einmal seinem eigenen +Bruder trauen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber mein bester Herr Kellmann, das sind die unglückseligen +Ideen, die von — na, ich will keinen Namen nennen — ausgesprengt +werden, um die Leute blind zu machen, rein +blind. Sie sollen eben nicht sehen was für Vortheile, für +fabelhafte Vortheile dort gerade für sie zu Tage liegen, und +die Gerüchte von dort verübten Betrügereien hängen eben als +Vogelscheuche über den Erbsen. Wir haben <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">hier</span></em> eben so +viele schlechte Charaktere wie in Amerika.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ob eben so <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">viel</span></em>, will ich dahingestellt sein lassen,« +sagte Schollfeld mit einem nichts weniger als freundlichen +Seitenblick auf den Agenten — »aber eben so schlechte gewiß.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page185">[pg 185]</span><a name="Pg185" id="Pg185" class="tei tei-anchor"></a>»Nun also,« erwiederte Weigel freundlich, ohne auf den +Hieb einzugehn, ja im Gegentheil die Waffe lächelnd umdrehend — »sehn +Sie, selber Herr Schollfeld stimmt mir +darin bei.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja aber nicht wie <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Sie</span></em> es meinen!« rief da Schollfeld +entrüstet, keineswegs gesonnen sich die Worte so im Munde +verdrehen zu lassen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Von den Betrügereien will ich noch gar Nichts sagen,« +unterbrach ihn aber Kellmann, ziemlich in Eifer — »was ich +dagegen sehr guten Grund habe zu bezweifeln, sind die billigen +Landkäufe, sind dabei die Erleichterungen, welche diese +republikanische Regierung allen möglichen Gewerken und Unternehmungen +bietet, die geringen Taxen, der freie Verkehr +und Umsatz im Innern. Das wird Alles ausgemalt mit Gold +und Silber und Himmelblau, und kommt man am Ende hinüber, +so hat man die ganze nämliche Geschichte wie bei uns. +Daß all das nichtsnutzige Gesindel dort ohne <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Paß</span></em> herumlaufen +darf, mag wahr sein, das halte <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ich</span></em> aber eben für keinen +Fortschritt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Verehrtester Herr Kellmann!« rief aber Weigel in Eifer — »gegen +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Thatsachen</span></em> können wir doch nicht anstreiten; +wir wollen doch nicht blind und taub mit dem Kopf gegen die +nächste, und womöglich härteste Wand rennen? wir sind doch +vernünftige Menschen, aber haben Sie nicht alle die neueren +Schriften jetzt gelesen, die — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach gehn Sie mit Ihren Schmierereien,« rief aber +Schollfeld, dem das Gespräch jetzt zur Last wurde, »für einen<span class="tei tei-pb" id="page186">[pg 186]</span><a name="Pg186" id="Pg186" class="tei tei-anchor"></a> +Thaler den Bogen malen ihnen die lumpigen Literaten selbst +die Hölle himmelblau an, und kleben von oben bis unten +Sterne drüber. Laßt mir jetzt Euer Geschwätz von Amerika +hier, oder ich stehe, Gott straf mich, auf, und setze mich wo +anders hin.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun, jeder darf sich hinsetzen wo es ihn gerade freut,« +sagte Weigel, wirklich etwas beleidigt, obgleich er sonst einen +ziemlichen Theil vertragen konnte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja leider,« sagte aber Schollfeld, mit wieder einem +Seitenblick auf den Agenten, der diesen doch jetzt vermochte +aufzustehn und sein Bier auszutrinken.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Herr Schollfeld,« sagte er dabei, »Sie sind in der +Stadt als ein Antiamerikaner bekannt, und ich glaube Sie +würden den Leuten eher zu einer Auswanderung nach Sibirien +wie nach Nordamerika rathen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Würde ich auch,« sagte Herr Schollfeld trotzig, sich den +Hut noch fester in die Stirn drückend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun ja, der Geschmack ist verschieden — Jeder weiß +am Besten wohin er gehört, und dahin treibt ihn der Instinkt,« +sagte Herr Weigel achselzuckend, indem er den Tisch verließ, +und Kellmann erwischte eben noch zur rechten Zeit Schollfeld +hinten am Frackzipfel, der aufspringen und dem sich rasch entfernenden +Weigel nach wollte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber so fangen Sie hier doch um Gottes Willen keinen +Skandal mit dem Menschen an!« rief Kellmann leise und +bittend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Instinkt treibt?« rief aber Schollfeld jetzt, da er sich +<span class="tei tei-pb" id="page187">[pg 187]</span><a name="Pg187" id="Pg187" class="tei tei-anchor"></a>hinten, vielleicht gern, gehalten fühlte — laut hinter dem +Davoneilenden her — »Sie wird bald 'was anders treiben +Sie — Sie <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Seelenverkäufer</span></em> Sie!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Pst!« rief aber auch der Actuar jetzt, ihn rasch zu sich +niederziehend — »Sind Sie denn ganz vom Bösen besessen +Apotheker? auf das Wort könnte er Ihnen, wenn er's noch +gehört hätte, die schönste Injurienklage an den Hals hängen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»S'ist aber wahr — der Lump!« rief Schollfeld ärgerlich, +den leeren Krug zum hastigen Trunk aufhebend, und denselben +dann laut auf den Tisch aufstoßend — »es ist ein +Seelenverkäufer, der Kerl, und um einen Thaler beschwatzt er +das Kind, daß es die Eltern, den Mann, daß er die Frau +verläßt — hier Kellner, noch ein Glas Bier. — Sprecht mir +von Raubmördern und Straßenräubern, gegen die das Gericht +einschreitet und ihnen das Handwerk legt — allen Respect +vor einem Mann, der es den Leuten geradezu in's Gesicht +wirft, »ich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">bin</span></em> ein schlechter Kerl — ich stehle wo ich's +bekommen kann, und wo ich's nicht gutwillig kriege mord' ich +auch; aber solche heimliche Hallunken sind die Upasbäume der +menschlichen Gesellschaft — sie vergiften was sie erreichen +können, und von außen geben sie sich das Ansehen eines ehrlichen +Baumes und haben grüne Blätter und glatte Rinde. +Gegen <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">die</span></em> Schufte sollte eingeschritten werden, nicht mit +Geldstrafen oder Gefängniß, nein mit Knute und Strang — Himmeldonnerwetter, +wenn ich da 'was in der Regierung zu +befehlen hätte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie würden schöne Geschichten anrichten, kann ich mir +<span class="tei tei-pb" id="page188">[pg 188]</span><a name="Pg188" id="Pg188" class="tei tei-anchor"></a>etwa denken,« sagte der Actuar trocken, »s'ist so schon manchmal +wie's ist. Lassen Sie doch jeden seinen Weg gehn in der +Welt; der liebe Gott weiß wohl wozu's gut ist. Blutigel sind +auch unangenehme Geschöpfe in der Naturgeschichte, und doch +verwendet sie die Natur wieder zu höchst nützlichen und nothwendigen +Zwecken; denken Sie sich so ein Individuum wäre +ein menschlicher Blutigel.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dann trink' ich aber nicht mein Bier an einem Tisch +mit ihm,« rief der Apotheker.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bah, das ist wieder zu weit gegangen,« sagte Kellmann, +»viel zu weit gegangen. 'Was Schlechtes können Sie dem +Mann überhaupt nicht nachsagen, denn daß er für Amerika +wirbt, ist einesteils sein Geschäft, anderntheils seine Ansicht, +und er könnte Ihnen von <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">seinem</span></em> Standpunkt aus dann +ebensogut wieder vorwerfen, daß Sie eine Menge Menschen +absichtlich unglücklich machten, die sie von einer Auswanderung +nach jenem Lande abhielten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Unsinn — baarer Unsinn!« rief aber Schollfeld, unwillig +den Kopf herüber und hinüber werfend — »Jemand +unglücklich machen, daß man ihm von einer Auswanderung +nach Amerika abräth, wäre gerade so, als ob ich als eines +Menschen Mörder betrachtet würde, den ich abhalte aus dem +dritten Stock auf die Straße zu springen. Aber hol den +Lump der Henker,« brach er kurz und ärgerlich ab, »ich war +so guter Laune und jetzt hat er mir den ganzen Abend verdorben. + — Nach Sibirien auswandern — « brummte er dabei, +während er eine neue Cigarre aus der Tasche nahm und sie +<span class="tei tei-pb" id="page189">[pg 189]</span><a name="Pg189" id="Pg189" class="tei tei-anchor"></a>an dem, auf dem Tisch stehenden Licht entzündete — »Holzkopf +der — nach Sibirien auswandern — ich will nur einmal +in den Saal gehn und sehn wie sie's da treiben, daß +man auf andere Gedanken kömmt — ich bin bald wieder da.« +Und von seinem Stuhl aufstehend verließ er langsam, und +immer noch vor sich hin murmelnd, das Zimmer.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Actuar stand ebenfalls auf und nahm seinen Hut.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na nu?« sagte aber Kellmann erstaunt — »was ist +das für eine Wirthschaft heut Abend? Schollfeld läuft fort, +Lobsich hat sich gar nicht sehen lassen, und Sie wollen jetzt +auch Fersengeld geben? wo bleibt denn da heute Abend unser +Solo? — wir können doch nicht wie die Pferde zu Bette +gehn, ohne unsere Parthie gespielt zu haben?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mir ist heute nicht wie spielen,« sagte der Actuar, langsam +mit dem Kopfe schüttelnd, »ich habe auch Kopfschmerzen, +und an der frischen Luft wird mir wohl besser werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Fort dürfen Sie aber noch nicht,« sagte Kellmann, indem +er sein Bier austrank, und ebenfalls aufstand, »da wollen +wir lieber einmal unten im Garten auf und ab gehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Actuar zögerte einen Augenblick, dann aber legte er +schweigend seinen Arm in den Kellmann's und beide Freunde +gingen mitsammen die Treppe hinunter.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es war indessen vollkommen dunkel geworden, und die +Leute hatten sich, des feuchten Abends, wie des im Saal wogenden +Tanzes wegen, meist alle aus dem Garten hinaus, und +in die mehr geschützten Räume der Gebäude gezogen. Nur hie +und da saß noch irgend ein kosendes Pärchen in einer Laube, +<span class="tei tei-pb" id="page190">[pg 190]</span><a name="Pg190" id="Pg190" class="tei tei-anchor"></a>oder schwärmte auch wohl auf dem Vorbau des Gartens nach +dem, gerade über dem nebelgefüllten Thal jetzt aufzeigenden +Vollmond hinüber, dessen große rothe Scheibe sich glühend +aus den Bergen hob, und das weite, thaublitzende Thal +überschaute.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Kellmann ging ruhig neben dem still vor sich nieder +schauenden Freund her, bis sie den breiten Fußweg der schönen +ebenen Chaussee erreichten, und eine kleine Strecke derselben +hinauf gewandert waren; dann aber blieb er, diesen zurück +haltend, plötzlich stehen, und sagte mit freundlichem, herzlichen +Ton:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber lieber Ledermann, Sie dürfen sich Ihrem Schmerz +um das Kind nicht so ganz und rücksichtslos hingeben; lieber +Gott ich begreife daß es ein schwerer, recht schwerer Verlust +ist, aber Gott hat's gegeben und Gott hat's genommen, und +wer weiß ob dem kleinen lieben Wesen dadurch nicht vielleicht +ein recht trübes und schmerzliches Dasein erspart wurde.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es ist nicht das Kind, Kellmann,« sagte aber der +Actuar, leise mit dem Kopf schüttelnd, »nicht der Tod meiner +kleinen Adele nagt mir jetzt am Herzen, obgleich der da oben +weiß wie weh er mir gethan — nein, ich halte ihn sogar +unter den jetzigen Verhältnissen, in denen ich lebe, für ein +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Glück</span></em>, und es ist <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">furchtbar</span></em>, daß ich gezwungen bin so +etwas von dem Tod meines eigenen, einzigen Kindes zu +sagen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber was, um Gottes Willen, haben Sie <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">denn</span></em>?« +rief Kellmann, verwundert vor ihm stehen bleibend und ihn +<span class="tei tei-pb" id="page191">[pg 191]</span><a name="Pg191" id="Pg191" class="tei tei-anchor"></a>anschauend. »Irgend etwas <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ist</span></em> vorgefallen, aber was? — etwa +wieder zu Hause der alte wunde Fleck?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Ledermann nickte finster und schweigend mit dem Kopf.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber was <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">will</span></em> sie denn eigentlich,« rief Kellmann +finster die Brauen zusammen und seinen Arm aus dem des +Freundes ziehend, um besser gesticuliren zu können — »Wetter +noch einmal, Ledermann, Sie hätten da schon lange ernst und +entschieden auftreten sollen, die Sache ist jetzt schon viel zu +weit eingerissen, und die Frau bringt sie, wenn das so fort +geht, wahrhaftig noch unter die Erde.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ernst und entschieden auftreten? — lieber Gott,« stöhnte +der Actuar kopfschüttelnd — »soll ich mir denn die letzte leiseste +Hoffnung auf einen, nur möglichen Hausfrieden selber +muthwillig vernichten? — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Sie</span></em> haben gut reden; <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Ihr</span></em> Geschäft +ist in Ihrer eignen Wohnung, und Ihre Erholung gestattet +Ihnen, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">die</span></em> außerhalb desselben zu suchen, ich aber sitze +und schwitze den ganzen lieben ausgeschlagenen Tag auf dem +verwünschten Bureau, und komme ich dann Abends zu Hause, +und sehne mich nach einer halbstündigen gemüthlichen Ruhe, +so beginnt die Frau, und wenn sie eine Ursache aus der Luft +greifen sollte, mir das Leben zu einer Hölle zu machen. Lieber +Gott, es fiele mir ja gar nicht ein Abends in ein Wirthshaus +zu gehn, wenn ich Frieden daheim hätte; es giebt vielleicht +wenig Menschen in der Welt, die sich so nach einem stillen, +häuslichen Leben sehnen, wie gerade ich, und keinen, Kellmann, +keinen weiter, dem es <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">so</span></em> verbittert, so gänzlich aus dem Fen<span class="tei tei-pb" id="page192">[pg 192]</span><a name="Pg192" id="Pg192" class="tei tei-anchor"></a>ster +geworfen wird, jeden Abend wieder von Frischem, wie +gerade mir.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber was ist denn nur vorgefallen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das Ganze ist mit wenig Worten erzählt,« sagte der +Actuar nach kurzer Ueberlegung entschlossen, »und Sie sollen +mir rathen, wie ich im Stande bin mich einem Zustand zu +entziehn, der mir unerträglich wird. Sie haben gehört daß +ich von einem entfernten Verwandten sechshundert Thaler +geerbt, die ich in den nächsten Wochen ausgezahlt bekomme. +Das Vernünftigste nun wäre das Geld in irgend einem +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">sichern</span></em> Staatspapier, oder in guten Actien anzulegen, und +mit den wenigen, aber gewissen Zinsen meinen, überdies ärmlichen +Gehalt zu erhöhen — ich habe fünfhundert Thaler jährlich +und weiß bei Gott oft nicht wie ich auskommen soll.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun gut, das ist ja Alles so schön und glatt wie es +nur sein kann.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Jawohl, aber meine Frau besteht darauf das Capital +ihrem Bruder geben zu wollen, der ein Geschäft hat und mir +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">fünf</span></em> Procent verspricht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ih nun, wenn es da sicher angelegt ist — fünf Procent +wäre aller Ehren werth.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber es <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ist</span></em> nicht sicher angelegt; der Bursche ist ein +liederlicher leichtsinniger Mensch, der schon einmal Bankerott +gemacht hat und — wie ich ziemlich guten Grund habe zu +vermuthen — an der Grenze eines zweiten steht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ahem,« sagte Kellmann nachdenkend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Geb ich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ihm</span></em> das Geld,« fuhr der Actuar fort, »so ist +<span class="tei tei-pb" id="page193">[pg 193]</span><a name="Pg193" id="Pg193" class="tei tei-anchor"></a>es über Jahr und Tag, so sicher wie dort drüben der Mond +aufgeht, verloren, und geb' ich es ihm <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">nicht</span></em>, so weiß ich daß +mir die Frau zu Hause den eignen Heerd zur Hölle macht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Donnerwetter, Ledermann, nehmen Sie mir das +nicht übel,« sagte Kellmann stehen bleibend, »da würde ich +denn doch einmal einen Trumpf darauf setzen und mein Recht +als Mann und Herr im Hause wahren; nur durch Ihr ewiges +Nachgeben haben Sie die Geschichte schon so, in Grund hinein +verdorben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber was <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">soll</span></em> ich thun?« rief der Actuar verzweifelnd + — »mit Worten <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kann</span></em> ich nicht gegen sie anstreiten, nicht +sechs Männer könnten das; in Ruhe und Güte ist Nichts anzufangen +mit ihr, und schlagen darf und will ich sie ebenfalls +nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So lassen Sie sich scheiden, zum Wetter noch einmal;« +rief Kellmann, »lieber doch eine trockne Brodrinde kauen, als +mit solchem Drachen das ganze Leben, eine ganze Existenz, +mühselig und qualvoll hinzuschleppen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Heute Abend zum ersten Mal,« sagte der Actuar seufzend, +»habe ich ihr selber damit gedroht; ich habe ihr vorgehalten, +daß sie sich mit mir nicht glücklich fühlen <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">könne</span></em>, +weil sie fortwährend, und ohne auch nur einen einzigen Tag +Frieden zu gestatten, zanke, und das Beste sein würde, wir +ließen uns, einem Leben zu entgehen das auf die Länge der +Zeit doch nicht durchgeführt werden könne, gerichtlich scheiden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun? — und was hat sie darauf erwiedert?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich bin fortgelaufen,« sagte der Actuar, seufzend den<span class="tei tei-pb" id="page194">[pg 194]</span><a name="Pg194" id="Pg194" class="tei tei-anchor"></a> +Kopf von dem Freund abwendend, »denn sie wurde — sie +wurde so heftig, und betrug sich — betrug sich so unvernünftig, +daß ich mich vor den Nachbarn schämte, und lieber Hut und +Stock nahm, den Frieden wieder, wie schon so oft, auswärts +zu suchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Also sie weigert eine Scheidung?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie schwur sie wolle mir die Augen auskratzen, wenn +ich noch einmal ein derartiges Wort erwähne, zerbrach dann +in ihrer Wuth Gott weiß was Alles, und — ich glaube sie +bekam nachher Krämpfe — ihr altes Leiden. Erst hatte ich +gehofft der Tod des Kindes würde sie milder stimmen, aber +nein, und wenn mich etwas über den Verlust des kleinen lieben +Wesens trösten könnte, so ist es gerade der Gedanke, es +dem bösen Beispiel, das ihm die eigene Mutter täglich gab, +entrissen zu sehn — was hätte zuletzt aus ihr werden sollen, +als eben eine solche Frau.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und so ist gar keine Hoffnung, mit Güte durchzukommen? — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Actuar schüttelte schweigend mit dem Kopf.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, das ist eine verfluchte Geschichte,« sagte Kellmann, +»da — da weiß ich wahrhaftig auch nicht was ich rathen soll. +Das Geld vertraute ich aber — wenn die Sache <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">so</span></em> steht — +meinem Schwager auch nicht an, soviel ist sicher — Sie sind +das sich selber und Ihrer eigenen Existenz schuldig.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Actuar seufzte tief auf und die beiden Männer gingen +wieder eine Zeitlang, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, +nebeneinander hin. Sie waren indeß die Straße +<span class="tei tei-pb" id="page195">[pg 195]</span><a name="Pg195" id="Pg195" class="tei tei-anchor"></a>ein Stück hinauf- und wieder zurückgegangen, und blieben +jetzt mehre Minuten nicht weit von dem Eingang des Gartens +stehn, den Rücken diesem, und ihr Gesicht dem sich gerade über +die Berge hebenden Monde zugewandt, als ein junges Mädchen, +noch ein Kind fast und augenscheinlich auf der Wanderung, +ganz allein mit einem kleinen Bündel in der linken Hand, und +einem großen dunklen Tuch über dem rechten Arm, die Straße +herunter kam und ziemlich dicht an ihnen vorüberging. So +viel sie im Mondenlicht erkennen konnten, war sie nur ärmlich +gekleidet, und auch wohl ermüdet von einem vielleicht langen +Marsch, denn sie blieb zweimal stehen und trocknete sich dabei +den Schweiß von der Stirn.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das zweite Mal als sie Halt machte geschah das fast +dicht vor den beiden, hier im Schatten eines Hollunderbusches +stehenden Männern, die sie im Anfang gar nicht bemerkte, und +sie schien den Tönen zu lauschen die aus dem etwa zweihundert +Schritt davon gelegenen hellerleuchteten Gartenhaus wild +und lustig heraustönten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Fröhliche Menschen,« flüsterte sie dabei — »<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Glückliche</span></em>;« +wie sie aber den Kopf dem Lichte zuwandte, fiel ihr +Blick auch auf die beiden dunklen Schatten unter der Mauer, +und wie unwillkürlich fuhr sie zurück; dabei glitt ihr das +Bündel aus der Hand und fiel zu Boden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wir thun Dir Nichts, Kind,« sagte Kellmann, der die +Bewegung gesehen hatte, gutmüthig; »wo willst Du denn noch +so spät hin?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page196">[pg 196]</span><a name="Pg196" id="Pg196" class="tei tei-anchor"></a>»Nach Heilingen,« antwortete das fremde Mädchen, ihr +Bündel wieder aufnehmend — »ist es noch weit bis dorthin?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Eine halbe Stunde etwa, wenn Du rüstig zugingst; +aber Du scheinst müde zu sein und wirst wohl länger brauchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich komme weit her,« sagte die Fremde, aber sie zögerte +dabei und es war als ob sie noch nach irgend etwas +fragen oder um etwas bitten wolle, und sich auch wieder scheue +es zu thun.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Du bist wohl hungrig, Kind?« frug sie da Kellmann, +dessen gutes Herz ihn zu helfen drängte, wo das in seinen +Kräften stand — »sag's gerad' heraus; und wenn Du kein +Geld hast macht das nichts, ich schaffe Dir was.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das Mädchen schwieg und drehte seufzend den Kopf ab +und Kellmann, dem richtigen Princip der Gastlichkeit und +Menschenliebe treu, nicht viel zu fragen erst, wo man gern +giebt, sagte ihr sich einen Augenblick auf die kleine Bank am +Thor zu setzen, und er werde ihr einen Imbiß holen — sie +könne dann Heilingen bald erreichen. Ohne erst eine Antwort +abzuwarten ging er darauf rasch in's Haus, und das Mädchen +zögerte noch einen Augenblick und folgte dann, augenscheinlich +zum Tod ermüdet, der freundlichen Einladung.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Du kommst weit her?« sagte der Actuar endlich, der +neben ihr stehn geblieben, im Anfang aber noch zu sehr mit +seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, viel auf die Fremde +zu achten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Von Erfurt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page197">[pg 197]</span><a name="Pg197" id="Pg197" class="tei tei-anchor"></a>»Von Erfurt? hm — das ist eine lange Strecke; zu Fuß +den ganzen Weg?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und willst in Heilingen bleiben?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich weiß es noch nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hast Du Verwandte dort?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Einen Bruder.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hast Du denn einen Paß bei Dir?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja,« sagte das Mädchen und holte, mit einem scheuen +Blick auf den Frager, ihr kleines Bündel vor, das sie Miene +machte aufzuknüpfen, der Actuar aber, der die Bewegung verstehen +mochte, sagte rasch:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein nein — laß nur sein — ich will ihn nicht sehen + — ich frug nur Deinethalben, damit Du hier in der Stadt +in keine Verlegenheit kämest. Da ist auch Freund Kellmann +schon mit dem Essen — nun laß Dir's schmecken.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Da,« sagte der kleine Kürschner, der schnellen Schrittes +mit einem großen gestrichenen Weißbrod und einem hohen +Glas Milch herankam und es der Fremden reichte — »das +wird Dir gut thun.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das junge Mädchen nahm das Glas mit schüchternem +Danke an und trank — erst ein wenig, dann aber herzhafter + — sie mochte wohl recht durstig gewesen sein. Wie sie fertig +war setzte sie das Glas auf die Bank zurück und nahm ihr +Bündel wieder auf.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich danke Ihnen auch noch viel tausend Mal,« sagte +sie dabei mit weicher, ergriffener Stimme — »ich hatte +<span class="tei tei-pb" id="page198">[pg 198]</span><a name="Pg198" id="Pg198" class="tei tei-anchor"></a>seit heute Morgen Nichts gegessen und war recht matt geworden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Armes Kind,« sagte Kellmann mitleidig — »aber hast +Du denn schon einen Platz in der Stadt wo Du übernachtest?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja,« sagte die Kleine — »ich denke so — können Sie +mir aber wohl noch sagen ob das Haus des reichen Herrn +Dollinger nahe am Thore ist, oder weit in der Stadt drin?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dollinger's Haus? oh nicht so weit in der Stadt drin + — aber was willst Du dort?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mein Bruder ist in Herrn Dollinger's Geschäft — wohnen +auch die Leute bei ihm im Hause?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nicht daß ich wüßte,« sagte Kellmann.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber man kann es doch dort erfahren wo sie wohnen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gewiß — gleich unten im Haus bei dem Hausmann; +frage nur nach der Poststraße, wenn Du in's Thor kommst.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gute Nacht Ihr Herren, und nochmals schönsten Dank + — Gott mag es Ihnen vergelten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gute Nacht Kind, guten Weg,« sagte Kellmann, »aber + — wie heißt denn Dein Bruder?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Franz Loßenwerder,« sagte das Mädchen und ging langsam +die Straße hinab.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Oh Du mein Gott,« rief der Actuar leise und erschreckt +vor sich hin, wie er den Namen hörte — »das ist ja schrecklich.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Du lieber Gott, das arme Ding muß von dem Schicksal +des Bruders gar Nichts wissen,« seufzte auch Kellmann — +»und wenn sie das jetzt heute Abend erfährt — o wo wird sie +nur die Nacht bleiben?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page199">[pg 199]</span><a name="Pg199" id="Pg199" class="tei tei-anchor"></a>»Armes, armes Kind,« sagte der Actuar, »und selbst +ohne Geld in der fremden Stadt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich geb' ihr etwas,« rief Kellmann, rasch entschlossen, +und eilte »heh! — pst!« rufend die Straße hinab dem Mädchen +nach, das stehen blieb und nach Bündel und Tuch fühlte +als sie den Ruf hörte, weil sie glaubte daß sie vielleicht etwas +vergessen hätte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Liebes Kind,« stotterte aber Kellmann verlegen, als er +sie eingeholt, denn er konnte es nicht über's Herz bringen ihr +die Wahrheit zu sagen — »ich — ich kenne Deinen Bruder, +aber — er ist jetzt nicht in Heilingen — Du — Du wirst es +morgen schon hören, und im Dollingerschen Hause können sie +Dir auch heute nichts weiter sagen, es ist sogar sehr die +Frage ob der Mann unten im Haus noch auf ist. Gleich +wenn Du in's Thor hineinkommst, das dritte Haus an der +rechten Seite, vor dem die beiden Laternen stecken, ist ein +Gasthaus — ein gutes anständiges Haus, wo sie Dir Quartier +geben werden — da gieb ihnen diese Karte, der Wirth +kennt mich, und sage ihm nur ich hätte Dich hingeschickt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber bester Herr,« sagte das Mädchen bestürzt, als ihr +der gutmüthige Kürschnermeister mit der Karte zwei große +Stücken Geld — es waren zwei Thaler — in die Hand +drückte — »ich weiß gar nicht — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Kellmann ließ sie aber gar nicht zu Worte kommen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Schon gut — schon gut,« rief er, drehte sich um, und +kehrte, das Mädchen allein auf der Straße zurücklassend, eben +<span class="tei tei-pb" id="page200">[pg 200]</span><a name="Pg200" id="Pg200" class="tei tei-anchor"></a>so rasch nach dem Platz zurück, wo der Actuar noch seiner +harrend stand.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Haben Sie es ihr gesagt?« frug dieser ihn.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein — um Gottes Willen nein; das mögen Andere +thun, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ich</span></em> könnte es nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber was soll jetzt aus ihr werden?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich werde mich im Löwen schon nach ihr erkundigen,« +sagte Kellmann nach kurzer Ueberlegung — »und wenn es +ein ordentliches Mädchen ist, hab ich Bekannte genug hier in +der Stadt, ihr einen Dienst zu verschaffen. Aber wie ist es +denn mit der Loßenwerderschen oder Dollingerschen Geschichte +geworden? ist denn noch etwas von dem gestohlenen Gut zu +Tage gekommen? — man hört ja keine Sterbenssylbe mehr +darüber.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nichts — gar nichts weiter,« sagte der Actuar; »im +Gegentheil hat der arme Teufel von Loßenwerder ein kleines +Tagebuch geführt gehabt, was sich unter den confiscirten +oder mit Beschlag belegten Sachen fand, und worin er +jeden bis dahin eingenommenen Groschen sorgfältig und ordentlich, +mit seinen höchst bescheidenen Ausgaben, aufnotirt. +Das aber als gültig angenommen — und wir haben nicht +die mindeste Ursache es zu bezweifeln da es fast zwölf Jahre +zurückführt — wäre im Gegentheil der Beweis geliefert daß +die aufgefundenen zweihundert Thaler mühsam und redlich +gespartes Geld gewesen wären.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kein</span></em> anderer Beweis hat sich gegen ihn herausgestellt?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page201">[pg 201]</span><a name="Pg201" id="Pg201" class="tei tei-anchor"></a>»Keiner, als daß er im Hause war und sich auffällig +heimlich daraus entfernt hat; aber auch selbst das findet nach +den Acten eine wahrscheinliche, wenn auch etwas wunderliche +Erklärung. Nach einer Zahl vieler höchst mittelmäßiger, oft +aber auch ziemlich guter Gedichte, in denen sich besonders viel +Gemüth ausspricht, scheint der arme verwachsene und hülflose +Mensch eine Art von — Liebe — ich kann es nicht anders +nennen, gegen Dollinger's jüngste Tochter und Henkel's Braut +in seinem unschönen Körper mit herumgetragen, und nur, +seinen Standpunkt gar wohl erkennend, den einzelnen, in seinem +Pult verschlossenen Blättern anvertraut zu haben — +doch das unter uns. Diese unglückselige und hoffnungslose +Neigung <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kann</span></em> ihn möglicher Weise dazu getrieben haben, +dem jungen Mädchen zu ihrem Geburtstag einen Blumenstock +zu schenken — er hat sogar ein Gedicht geschrieben was den +Punkt berührt, und worin er sich glücklich fühlt daß sie eine +Blume pflegen könnte die er gezogen, wenn sie auch nicht +wüßte von wem sie käme. Daß er unter solchen Umständen +nicht wollte im Hause gesehen sein läßt sich denken, und ein +Diebstahl in ihrem eigenen Zimmer verliert, diesen Thatsachen +gegenüber, an Wahrscheinlichkeit, wenn er auch nicht eben zu +einer Unmöglichkeit gehörte. Das Menschenherz ist schwach, +und Mancher schon ist geringerer Verführung erlegen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hm, hm, hm,« sagte Kellmann vor sich hin — »das +ist ja eine rechte, rechte böse Geschichte, und der arme Teufel +da am Ende ganz und gar unschuldig in sein Verderben +gesprungen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page202">[pg 202]</span><a name="Pg202" id="Pg202" class="tei tei-anchor"></a>»Ja, und eine Sache die mir selber schon manche schlaflose +Nacht gemacht hat,« sagte der Actuar, »denn ich <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kann</span></em> +den Gedanken nicht los werden, welchen Antheil ich selber +daran gehabt, den Unglücklichen dahin zu treiben — obgleich +ich eben nicht mehr als meine Pflicht gethan, und an einen +solchen verzweifelten Schritt nicht denken konnte; war er +unschuldig, hätte sich das ja bald in der Untersuchung herausgestellt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, und die Untersuchung rechnet Ihr Herrn vom Gericht +eben für Nichts,« sagte Kellmann finster — »aber wenn +das sein erspartes, und Gott weiß dann <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">wie</span></em> mühsam erspartes +Geld war, wird es doch auch seinen Erben nicht können +vorenthalten werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Die Untersuchung ist noch nicht ganz geschlossen,« sagte +der Actuar, »aber ich glaube auch nicht daß irgend Jemand +anders einen Anspruch darauf wird geltend machen können. +Diese Schwester erwähnte er überhaupt mehrmals in seinen +Notizen, und hat sie auch dann und wann unterstützt, das +Geld wird ihr später allerdings zugesprochen werden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und keine Spur ist sonst aufgefunden von dem möglichen, +von dem wirklichen Dieb?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Keine — die Dienstboten sind Alle mehrmals scharf inquirirt +und auf das Genauste die ganze Zeit beobachtet, zu +sehen ob eins von ihnen vielleicht größere Ausgaben als gewöhnlich +mache, oder sich durch irgend etwas anderes verrathen +würde; ja die Leute haben untereinander fast eben so +scharfe Wacht gehalten, den Verdacht von sich abzuwälzen +<span class="tei tei-pb" id="page203">[pg 203]</span><a name="Pg203" id="Pg203" class="tei tei-anchor"></a>und den Schuldigen aufzufinden, aber es hat sich bis jetzt nicht +das Mindeste herausstellen wollen. Mit Geld ist das eine +böse Sache, und wenn der Dieb die Juwelen nur vorsichtig ein +paar Jahr an sich hält, und dann vielleicht noch gar außer +Landes schafft, wer soll ihn da aufspüren? allwissend sind wir +auch nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das weiß Gott,« sagte Kellmann — »wie damals mit +der Pelzdecke, die mir Jemand von der Ladenthür weggestohlen, +und die ich zwei Jahr später ganz gemüthlich im Polizeibureau, +beim Polizeidirector selber in der Stube wiederfand; da +hört denn doch Alles auf. Aber mir ist wahrhaftig jetzt nicht +wie spaßen zu Muth; der Anblick des armen Mädchens hat +einen wehmüthigen Eindruck auf mich gemacht; lieber Himmel, +was es doch für Elend auf der Welt giebt, und still und bewußtlos +gehen wir meist daran vorüber.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und die Musik da drinnen, während das arme Kind +dort allein und freundlos seine Straße geht, und trotzdem jetzt +noch glücklich ist gegen den Augenblick, wo es das Furchtbare +doch erfahren <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">muß</span></em>. Mich leidet's heute nicht länger hier +draußen, Kellmann,« brach er kurz ab — »ich mag die Tanzmusik +nicht hören — wollen wir zurück in die Stadt gehn? +es ist überdies schon spät.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich habe Nichts dagegen,« sagte Kellmann, tief aufseufzend + — »mir ist der Abend heute auch verdorben, aber +wir wollen Schollfeld erst abrufen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Da drin ist wohl Prügelei?« sagte da Ledermann, +als aus dem Hause wilder Lärm zu ihnen heraus tönte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page204">[pg 204]</span><a name="Pg204" id="Pg204" class="tei tei-anchor"></a>»Das wäre früh,« meinte Kellmann — »die kommt gewöhnlich +sonst erst später, oder ganz zum Schluß. Es ist +doch sonderbar, daß ein deutscher »Tanz« nie ohne eine +Schlägerei enden kann; es scheint auch ungefähr dasselbe, wie +der Cotillon bei einem Ball, nur daß sich die jungen Mädchen +nicht dabei betheiligen — höchstens verheirathete Frauen, ihre +Eheherren zu schützen, und die Verwirrung womöglich noch +größer zu machen — hallo aber das kommt hier heraus.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie werden Jemanden hinauswerfen,« sagte der Actuar +ruhig — »lassen Sie uns an die Seite treten daß wir nicht +in das Gewirr gerathen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Actuar hatte allerdings recht, denn unter dem Lachen, +Schreien und Jubeln der Menge, durch das einzelne wilde +Flüche einer, ihnen keineswegs unbekannten Stimme tönten, +wälzte sich ein Haufen Menschen aus dem Saal heraus, in +der Mitte einen Mann schleppend, der sich mit Händen und +Füßen, wenn auch umsonst, gegen solche unwürdige Behandlung +sträubte, und in dem die beiden Freunde sehr zu ihrem +Erstaunen den Auswanderungsagenten Weigel erkannten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Laßt mich los!« schrie dieser dabei, mit den wildesten, +ungemessensten Flüchen und Schimpfreden — »laßt mich los +oder ich rufe die Polizei — Hülfe! — Mörder! Feuer!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Brüll nur mein Herzchen!« sagte aber der Verwalter +von Hohleck, eine riesige breitschultrige Gestalt, der den machtlos +dagegen Ankämpfenden wie in einer eisernen Klammer am +Kragen gepackt hielt — »Dich könnten wir hier brauchen, +die Leute heimlich beschwatzen daß sie Hof und Dienst verlassen +<span class="tei tei-pb" id="page205">[pg 205]</span><a name="Pg205" id="Pg205" class="tei tei-anchor"></a>und nach Amerika liefen — ei Du Hallunke, Du kommst mir +einmal wieder vor die Fäuste.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Halt da — Hohmeier! laßt ihn los!« rief aber in diesem +Augenblick eine andere, etwas schwer klingende Stimme, die +dem also Gefährdeten zu Hülfe zu eilen schien — »der hier — Homeier — der +hier ist mein Freund — mein ganz intimer +Freund und den laß ich mir — Homeier, den laß ich mir +nicht aus dem Hause werfen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es war Niemand anderes als der Wirth, Lobsich, selber, +aber, wie es die Seeleute nennen, »halb im Wind«, mit +schwerer Zunge und schon etwas taumelndem Gang, daß sich +der Zustand in dem er sich befand, nicht gut verkennen ließ. +Er versuchte dabei den Agenten zu halten und aus den Händen +derer die ihn gefaßt hatten fortzuziehn; Hohmeier, der Verwalter +schob ihn aber mit seinem linken Arm bei Seite, als +ob es ein Kind gewesen wäre, und sagte ruhig:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Geht zu Bett Lobsich, das wär' Euch viel besser heut +Abend, aber mischt Euch nicht in Sachen die Euch Nichts +kümmern.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nichts kümmern?« rief aber der Wirth gereizt, indem +er den Verwalter mit großen stieren Augen ansah — »nichts +kümmern <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Hoh</span></em>meier? — oh <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Hoh</span></em>meier wem gehört denn dies +Haus, heh? — nichts <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kümmern</span></em>? wem gehört denn der +rothe Drache, heh, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Hoh</span></em>meier.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Schaar war indessen bis grade dorthin gekommen, +wo Kellmann und der Actuar standen, und wo sie den Agenten +zwischen zwei ziemlich nah zusammen wachsenden Akazienbäu<span class="tei tei-pb" id="page206">[pg 206]</span><a name="Pg206" id="Pg206" class="tei tei-anchor"></a>men +durchtragen wollten als dieser, solche letzte Gelegenheit +vielleicht, benutzend, Arm und Beine auseinanderspreitzte, daß +sie ihn nicht hindurchbringen konnten, während er von Neuem +sein »Hülfe! Mörder! Feuer!« aus voller Kehle schrie.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn ihm nur Jemand die Beine ausheben wollte!« +sagte Herr Schollfeld, der ein höchst vergnügter Zeuge der +Scene war, ohne jedoch seines schwächlichen Körpers wegen +selber Theil daran zu nehmen, jetzt wohlmeinend. Ein paar +Knechte vom Hof, die ihren Verwalter in seinem Richteramt +unterstützten, ließen sich das auch nicht zweimal sagen, und +der wüthend, aber vergebens dagegen Antretende fand sich bald +in der vollkommnen Gewalt der Leute, ohne im Stande zu +sein auch nur den geringsten erfolgreichen Widerstand zu +leisten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Heh <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Hoh</span></em>meier!« schrie aber Lobsich, der sich indeß +durch die im Garten stehenden Stühle und Tische wieder nach +vorn gedrängt hatte den Mann frei zu machen, von dem er +sich plötzlich einbildete daß er sein Freund sei, »laßt mir den +Menschen los, sag ich Euch <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Hoh</span></em>meier — Donnerwetter ich +will doch einmal sehn wer hier in meinem eigenen Hause zu +befehlen hat. Ihr oder ich — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Hoh</span></em>meier. Es ist mir doch +was Unbedeutendes!« Er schien sich auch in der That den +Leuten entgegenwerfen zu wollen; im Vorspringen, und das +viele Getränk im Kopf, blieb er aber mit dem einen Fuß in +einer dort stehenden Fußbank hängen, und schlug der Länge +lang in den Garten, während die Knechte den jetzt wüthend +um sich schlagenden Agenten rasch aufgriffen und, lachend +<span class="tei tei-pb" id="page207">[pg 207]</span><a name="Pg207" id="Pg207" class="tei tei-anchor"></a>über des Wirthes Unfall, aus der Gartenthür auf die Straße +warfen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Ein furchtbarer Lärm entstand jetzt, die Leute jubelten +und lachten, und erzählten sich untereinander wie der »Auswanderungsmann« +einen Schaafknecht vom Gut hätte bereden +wollen als »Schaafmeister« nach Amerika auszuwandern, und +vom Verwalter dabei erwischt wäre, und der »Auswanderungsmann« +stand vor dem Gartenthor und schimpfte und wüthete, +bis einer der Knechte das Schloß wieder aufdrückte und hinaus +und ihm nach wollte, und dann auf der Chaussee stehen blieb +und hinter dem davon Laufenden herfluchte, und Steine hinter +ihm drein warf.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Drinnen im Saal tönte die Musik aber wieder rauschender +als vorher, und die jungen Burschen durften die Zeit hier +nicht länger im Garten versäumen. Während die aber wieder +in den Saal drängten, Tänzerinnen zu bekommen, und +Schollfeld von Kellmann angerufen war, mit ihnen zurück +nach der Stadt zu gehn, blieb Lobsich noch im Garten, an +dessen Thüre er trat, und nach der Straße hinaus mit lauter +und immer ärgerlicher werdender Stimme Weigel's Namen +schrie. Lobsich war jedenfalls stark angetrunken und wollte +sehr wahrscheinlich den Mann zurück holen, um ihm jetzt ernstlich +beizustehn und den Skandal noch einmal von Neuem zu +beginnen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die drei Freunde hielten sich dabei im Schatten eines +dichten Fliederbusches, von dem aufgeregten und jetzt doch nicht +zurechnungsfähigen Menschen nicht bemerkt zu werden, und +<span class="tei tei-pb" id="page208">[pg 208]</span><a name="Pg208" id="Pg208" class="tei tei-anchor"></a>dann unbelästigt den Garten zu verlassen, als Lobsich's Frau, +die das Toben ihres Mannes wohl im Haus gehört, von +dort her und den Mittelweg herunter eilte. Ohne daß er sie +bemerkte kam sie auch bis dicht an ihn hinan, und hier seinen +Arm ergreifend sagte sie mit leiser, bittender Stimme.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Lobsich — Vater — komm sei vernünftig, laß das +Schreien und Toben hier auf der Landstraße und geh zu Bette — thu +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">mir's</span></em> zu Liebe Lobsich, wenn ich Dich darum bitte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Laßmchfrieden,« stammelte aber der Betrunkene mit +schwerer Zunge und suchte sie von sich abzuschütteln — »laß +mchfrieden sag ich — Dnrrwttrrr — ich weiß — ich weiß +was ich ss — se thun habe — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Lobsich, ich bitte Dich um Gottes Willen,« flüsterte +die Frau in Todesangst — »Du machst Dich und mich +unglücklich wenn Du Dich nicht änderst — was soll daraus +werden?« — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Laßmch — frieden,« stammelte aber der Mann, sie +unwillig von sich abschüttelnd, aber er verließ den Thorweg +wenigstens und taumelte durch den Garten fort, seitwärts vom +Hause ab — »Weibervolk,« murmelte und fluchte er +dabei — Himmelsakkrments Weibervolk — Unsinn — violettblaues — ist +mir doch — ist mir doch was Unbe — Unbedeutendes — « +und er verschwand damit hinter den Büschen. Die Frau aber +blieb, den Ellbogen auf das Thürschloß gestützt und das Gesicht +in den Händen bergend, allein zurück, richtete sich aber +rasch wieder auf, als sie Schritte auf sich zukommen hörte, und +wollte nach dem Haus zurück.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page209">[pg 209]</span><a name="Pg209" id="Pg209" class="tei tei-anchor"></a>»Frau Lobsich,« sagte Kellmann, der es war, gutmüthig, +ja fast herzlich — »macht denn das Lobsich jetzt öfter daß er +so über die Schnur haut?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach Sie sind es Herr Kellmann,« sagte die arme Frau +beruhigt. »Lieber Gott, ich weiß meinem Herzen keinen Rath +mehr, wenn er's so fort treibt; wie soll das enden?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber ich habe Ihren Mann so doch noch in meinem +Leben nicht gesehn,« sagte Kellmann verwundert.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach ja,« seufzte die Frau — »es ist nicht das erste Mal, +aber ich habe immer gesucht es so viel als möglich zu verheimlichen, +es giebt gar solch ein böses Beispiel für die Leute. +Es sind auch eigentlich nur einige Wochen erst daß er so scharf +zu trinken anfängt. Lieber Gott, im Kopf hat er früher schon +manchmal eins gehabt, aber er artete doch nie aus, jetzt jedoch +geht der Spiritus mit ihm durch, und er wird zum Thier. +Ach guter Herr Kellmann, wenn Sie einmal ein recht ernstes +aber doch freundliches Wort mit ihm sprechen wollten; auf +Sie hält er etwas. Mir verspricht er's wohl auch,« setzte sie +leiser hinzu, »aber — er vergißt es immer nur zu rasch wieder.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich will mein Möglichstes mit ihm versuchen, Frau +Lobsich,« sagte Kellmann freundlich — »aber,« setzte er rascher +und leiser hinzu — »dort glaub' ich kommt er schon wieder +zurück, es wird besser sein wenn Sie versuchen ihn heute +Abend zu Bett zu bringen; mit einem betrunkenen Menschen +läßt sich Nichts anfangen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na? — Donnrrwttrrr,« stammelte aber in diesem Augenblick +der Wirth, der auf seinem Zickzack Cours wieder nach der<span class="tei tei-pb" id="page210">[pg 210]</span><a name="Pg210" id="Pg210" class="tei tei-anchor"></a> +Thür zurückkam, und die Arme einstemmend einen, wenn auch +vergebenen Versuch machte, mit gespreitzten Beinen vor seiner +Frau stehen zu bleiben — »Dnnrrrwttrrr,« wiederholte er, +herüber und hinüber schwankend — »was's das vor Wirthschaft +heh? wo gehört die — gehört die Frau hin, heh? — +in die Hofthür mit fremden Kerlen schwatzen heh? — ist +mir doch — ist mir doch was Unbe — Unbedeutendes.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber lieber Lobsich,« nahm hier der jetzt auch hinzugetretene +Schollfeld das Wort, »sein Sie doch vernünftig und +gehn Sie — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hallo?« rief aber der Wirth, sich halb nach dem Redner +herumdrehend, in dessen hell vom Mond beschienenen Zügen +er den Apotheker erkannte — »sin' wir auch hier? heh? — +haben auch mit g'holfen mein' besten Freund — mein' besten +Freund mit hinaus zu werfen — heh? Sie — Sie Giftmischer +Sie — Sie — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Herr Lobsich!« rief Schollfeld ärgerlich, »Sie sind +heute nicht zurechnungsfähig, sonst — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Was? — Pillendreher will noch — will noch raiss — +raiss'niren — heh?« rief aber der gereizte Wirth und that +einen Schritt gegen den Mann an.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Lobsich so bedenke doch um Gottes Willen was +Du sprichst,« bat ihn die Frau, seinen Arm ergreifend — +»komm mit mir in's Haus — wir haben noch so viel zu thun.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Viel zu thun? — heh? — habe keine Zeit mehr heut +Abend — hickup« — stammelte aber der Mann gegen den +Schlucken ankämpfend — »muß noch — muß noch — hickup — muß +<span class="tei tei-pb" id="page211">[pg 211]</span><a name="Pg211" id="Pg211" class="tei tei-anchor"></a>noch Wein abziehn und — und Bier trinken — +hickup — und — und hahahahaha — da ist — da ist ja die +ganze Gesellschaft — ja wohl — hickup — ja wohl, komme +schon — komme schon meine Herrn — Lobsich ist immer da — +ein verfluchter Kerl, der — der — hickup — der Lobsich — +ist mir doch — ist mir doch was Unbedeutendes;« — und in +einer unbestimmten Idee daß ihn vom Haus aus Jemand gerufen +hätte, wobei er seine Umgebung ganz vergaß, taumelte +er dem Saal wieder zu, wohin ihm die Frau ängstlich folgte. +Sie mußte ihn ja zurückhalten, daß er so seinen Gästen und +Leuten nicht wieder unter die Augen kam.</p> +</div> +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"><span class="tei tei-pb" id="page212">[pg 212]</span><a name="Pg212" id="Pg212" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc25" id="toc25"></a> +<a name="pdf26" id="pdf26"></a> +<a name="pdb27" id="pdb27"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 9.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Rüstungen.</span></h1> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach New-Orleans!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Das ausgezeichnet schöne, 360 Last große, schnellsegelnde, +kupferfeste und gekupferte dreimastige Bremer Schiff erster +Klasse:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Die Haidschnucke</span></em>, Capitain <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">E. Siebelt</span></em>, +mit vorzüglicher Gelegenheit für Cajüts- und Zwischendecks-Passagiere — wird +am 30. August expedirt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Agent dafür, I. G. Weigel,</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Hauptagent des Central-Bureau's für Norddeutsche Auswanderung +in Heilingen, am Markt Nr. 17.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Diese Anzeige stand am Morgen nach den, im letzten Capitel +beschriebenen Vorfällen im Heilinger Tageblatt, und Dr. +Haide, der Redacteur desselben, hatte die Gelegenheit nicht unbenutzt +wollen vorübergehen lassen, einige entsetzliche Mordgeschichten +und falsche Bankerotte aus den Vereinigten Staaten, +<span class="tei tei-pb" id="page213">[pg 213]</span><a name="Pg213" id="Pg213" class="tei tei-anchor"></a>wie zur Entmuthigung aller Auswanderungslustigen, in der +nämlichen Nummer seines Blattes abzudrucken.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Weigel war wüthend darüber, und schrieb augenblicklich +einen anderen Artikel dagegen; den nahm Doctor Haide aber +nicht auf, weil er, wie er ganz naiv erklärte, »sich dadurch selber +blamiren würde.« Uebrigens sei die Sache auch schon erledigt, +indem die Schiffsanzeige <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">für</span></em>, sein Artikel aber <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">gegen</span></em> Amerika +und die Auswanderung wäre, und er es sich zum Grundsatz +gemacht hätte, jeden Artikel nach beiden Seiten hin zu beleuchten — wenn +Herr Weigel etwas gegen ihn wolle einrücken +lassen, sei er keineswegs verpflichtet es aufzunehmen, und er +möge ihn deshalb, wenn er damit durchzukommen glaube, nur +ganz einfach darauf verklagen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Abfahrt dieses Schiffes war aber für Heilingen in +so fern von nicht unbedeutender Wichtigkeit, als sich mehre +Familien dieser Stadt ernstlich dahin entschlossen hatten, mit +demselben nach Amerika auszuwandern. So unter Anderen +Professor Lobenstein, der sein Haus jetzt verkauft, und der Stadt +überhaupt durch seine beabsichtigte Auswanderung höchst willkommenen +Stoff zu den mannichfaltigsten Vermuthungen und +Erörterungen geliefert hatte. Ja mehrere Kaffeegesellschaften +der näheren Bekannten Lobenstein's waren wirklich nur einzig +und allein zu dem Zweck gegeben worden, sich einmal ordentlich +über die Sache »aussprechen« zu können.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Auch in dem Dollinger'schen Haus hatten die letzten +Wochen bedeutende Veränderungen hervorgebracht, indem der +junge Henkel Briefe von Amerika erhielt, nach denen seine An<span class="tei tei-pb" id="page214">[pg 214]</span><a name="Pg214" id="Pg214" class="tei tei-anchor"></a>wesenheit +dort, dringend nothwendig geworden. Zwei Wechsel +trafen zugleich für ihn ein, wie ziemlich starke Aufträge zu Ankäufen +in Tuchen und Seidenwaaren von seinem Haus, welches +Geschäft er mit Herrn Dollinger in Gemeinschaft auszuführen +gedachte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der alte Herr Dollinger, so schwer es ihm auch wurde, +und so lange er sich dagegen gesträubt, mußte da wohl endlich +seine Einwilligung zu der Verbindung Clara's mit dem jungen +Amerikanischen Kaufmann, über dessen Familie und Geschäft +in New-Orleans er von einem dortigen Geschäftsfreund das +Beste erfahren hatte, geben. Nur wunderte man sich dort, daß +der junge Henkel in Nord-Deutschland sei, während man ihn +auf einer größern Tour durch Italien und Griechenland vermuthet. +Die Leute dort konnten nicht wissen daß der junge +Mann auf dem Rhein andere Pläne für seine Zukunft geschaffen, +als er sie früher vielleicht ausgesonnen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Am letzten Sonntag war also, ganz in der Stille, die +Trauung vollzogen und Clara, das liebe holde Mädchen, die +Frau des jungen reichen Amerikaners — wie man ihn überall +in der Stadt nannte, geworden. Jetzt galt es nun freilich noch, +in der kurzen Zeit all die nöthigen und so mannichfachen Vorbereitungen +zu einer Reise nach Amerika für die junge Frau +zu treffen. Es sollte aber wirklich auch nicht viel mehr als +eine Reise werden, denn Henkel hatte sich schon selber fest erklärt, +seinen künftigen Wohnsitz keineswegs in Amerika, sondern +in Havre nehmen zu wollen, wo überdies, der bedeutenden +Geschäftsverbindung wegen mit diesem Hafen, ein Associé +<span class="tei tei-pb" id="page215">[pg 215]</span><a name="Pg215" id="Pg215" class="tei tei-anchor"></a>des Hauses sich aufhalten mußte. Ein oder zwei Monate gedachten +die jungen Eheleute dann jedes Jahr in dem reizend +gelegenen Heilingen zuzubringen, was ihnen, wie den Eltern, +die jetzige Trennung sehr erleichterte, und spätestens im März +oder April schon wieder nach Europa zurückkehren zu können. +Die ganze Reise war dadurch wirklich fast nur zu einer etwas +längeren Vergnügungsfahrt geworden.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Auch für Clara's Mutter war das Bewußtsein, ihr Kind +nicht für immer zu verlieren und bald wieder in die Arme +schließen zu können, eine unendliche Beruhigung, und selbst +hierzu hatte es ihr einen großen Kampf gekostet, ihre Einwilligung +zu geben. Clara selbst aber hing mit ganzem Herzen +an dem theuren Mann, und fühlte sich vollkommen glücklich +in einer Verbindung, die seit sie den Fremden kennen und lieben +gelernt, ihr das Ziel ihrer irdischen Wünsche geschienen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Was war ihr die Reise, was die Gefahr und Mühseligkeit +derselben? sie wäre ihm in eine Wildniß gefolgt, und hätte +sich doch glücklich an seiner Seite gefühlt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der junge Henkel wünschte nun die Ueberfahrt in einem +Englischen Dampfer nach New-York, und von da mit einem +Amerikanischen Dampfschiff nach New-Orleans zu bewerkstelligen, +Clara fürchtete sich aber an Bord eines Dampfers zu gehn, +theils der doppelten Gefahr, theils der unangenehmen Bewegung +derselben in schwerem Wetter wegen, von der sie viel +gehört, und da es sich jetzt gerade so traf daß eine ihr befreundete +Familie, Professor Lobenstein's, ebenfalls nach New-Orleans, +und in einem Segelschiff von Bremen ab auswan<span class="tei tei-pb" id="page216">[pg 216]</span><a name="Pg216" id="Pg216" class="tei tei-anchor"></a>derte, +bat sie mit diesen reisen zu dürfen. Henkel selber schien +nicht recht damit einverstanden, fügte sich aber doch endlich den +Bitten seiner jungen Frau.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Wenn aber bei Dollinger's im Haus wenig mehr als +Wäsche und Kleider herzurichten waren, nur zu einer Reise +nicht zu einer Uebersiedlung nach Amerika, und man diese schon +großenteils gepackt und vorausgeschickt hatte, die letzten Stunden +in der Heimath durch kein Aussuchen und Packen gestört +zu haben, so schien dagegen bei Professor Lobenstein das ganze +Haus von innen nach außen gekehrt zu sein.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Professor nämlich hatte auf keinerlei Weise bewogen +werden können mit seinen Sachen eine Auction anzustellen, +und nur das Nothwendigste mitzunehmen, da Fracht und +Spesen unterwegs ein wirkliches Capital auffressen würden, +für das er sich Alles was er dort brauchte auch an Ort und +Stelle neu anschaffen könnte. Allen die ihm dies riethen +zeigte er aus verschiedenen Schriften die statistisch aufgestellten +Arbeitslöhne der verschiedenen Handwerker, wie die Preise der +Provisionen, und bewieß ihnen auf das Klarste und Unumstößlichste +was jedes einzelne Stück Meublen und Hausgeräth +in notwendiger Folgerung in Amerika kosten müsse. Eben +so hatte er sich mit unendlicher Ausdauer einen Ueberschlag +der verschiedenen Frachtpreise nach New-Orleans, und von +da in's Innere gemacht, bis er endlich zu dem obigen Resultat +gekommen, und nun auch augenblicklich eine Anzahl Tischler +in Arbeit setzte, lauter neue Kisten für seine Sachen anzufertigen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page217">[pg 217]</span><a name="Pg217" id="Pg217" class="tei tei-anchor"></a>Eine große Anzahl von diesen war nun schon, gepackt +und mit eisernen Reifen beschlagen, als Fracht vorausgeschickt, +eine andere Sendung sollte heute abgehn, und die letzten dann +in den nächsten Tagen befördert werden, noch zur rechten Zeit +an Ort und Stelle zu sein. Kellmann selbst, dem Hause eng +befreundet, hatte dahin mehrere Aufträge übernommen, und +kam heute Morgen, Bericht über die Ausführung derselben abzustatten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Er selber war natürlich mit der ganzen Uebersiedlung gar +nicht einverstanden, hatte aber doch, als er alle Gründe des +Professors dafür gehört, weit weniger dagegen gesagt, als die +Familie im Anfang vermuthet und auch wohl gefürchtet haben +mochte. Der Professor sei eben ein Professor, meinte er nur, +und wo der einmal seinen Kopf aufgesetzt habe, ließ sich auch +Nichts mehr abstreiten oder gar dagegen beweisen, man müsse +ihn eben sich selber überlassen, und — es thue ihm nur um +die Familie leid. Nichtsdestoweniger gab er sich jede erdenkliche +Mühe ihnen, wo er es nur irgend vermochte, beizustehn, +wobei er den Professor doch von manchem unüberlegten oder +unpraktischen Schritt zurückhielt. So kämpfte er, und zwar +glücklicher Weise mit Erfolg, gegen die unglückselige Idee des +Professors an, sich hier, trotz Allem was er darüber schon gelesen, +von dem Auswanderungsagenten Land und eine Farm +zu kaufen. Er wollte drüben nicht »in Gefahr kommen« von +Amerikanischen und betrügerischen Landspeculanten hintergangen +zu werden, und seine Berechnung sämmtlicher Kosten gleich +<span class="tei tei-pb" id="page218">[pg 218]</span><a name="Pg218" id="Pg218" class="tei tei-anchor"></a>hier an Ort und Stelle machen können, was ihm nicht möglich +sei, wenn er die Contracte nicht in der Tasche habe.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Kellmann, auf dessen praktisches und gesundes Urtheil er +sonst überhaupt viel gab, machte ihn mit seinen ernstlichen +Vorstellungen aber doch stutzig, und noch eine authentische Person +über die dortigen Verhältnis zu hören, wandte er sich zuletzt +an den jungen Henkel, und bat diesen um Meinung und +Rath über die, ihm allerdings sehr am Herzen liegende Sache. +Dieser rieth ihm aber ebenfalls auf das Entschiedenste ab, sein +Geld hier an eine solche Speculation wegzuwerfen, denn dieser +Weigel scheine ihm, was er bis jetzt von ihm gesehn, eine keineswegs +volles Vertrauen verdienende Persönlichkeit. Er solle +warten bis sie drüben wären, dort habe er Zeit genug (Kellmann +hatte ihm dasselbe gesagt), und finde er in New-Orleans +oder Missouri nichts Besseres, so sei er selber vielleicht im +Stande ihm ein kleines reizendes Gut abzutreten, das er einmal +auf einem Jagdzug in's innere Land gekauft, und jetzt +noch verpachtet hätte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und der Preis?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Er würde zufrieden sein.« Damit war die Sache für +jetzt abgemacht; freilich zu Weigels Verdruß, der die Farm, +wie er sich ausdrückte, nun noch »zur Verfügung« behielt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Es mochte etwa Morgens um elf sein, als Kellmann +Professor Lobensteins besuchte. Das Haus war am vorigen +Tag öffentlich verauctionirt und von einem reichen Weinhändler +in Heilingen erstanden worden, die Familie aber jetzt in +angestrengter Arbeit eifrig bemüht das unangenehme Gefühl +<span class="tei tei-pb" id="page219">[pg 219]</span><a name="Pg219" id="Pg219" class="tei tei-anchor"></a>nicht allein zu verscheuchen, sondern auch eines vor dem anderen +zu verbergen, »zum <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ersten</span></em> Male in der <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">eigenen</span></em> Heimath +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">fremd</span></em> zu sein;« zum ersten Mal fremd in den Räumen, +die ihrer Kindheit Spiele gesehn, und Zeuge gewesen waren +ihrer keimenden Hoffnungen und Träume.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der erste schwere Schritt zu einem neuen Leben und Wirken +war aber damit geschehn; freilich auch zu gleicher Zeit die +Brücke abgebrochen, die noch zurück hätte führen können in das +Vaterland. Das Band war damit zerrissen, das sie noch an +dieses knüpfte, und wunderbarer Weise hatte sich jetzt, wie sie +sich gestern noch fast Alle gefürchtet vor dem Gedanken die +lieben theueren Räume zu verlassen, ein fremdes unheimliches +Gefühl zwischen sie und das Haus geworfen, und sie <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">ersehnten</span></em> +den Augenblick wo sie hinaus konnten, fort, nur fort von +hier — aus den Erinnerungen fort. Und doch sprachen sie das +nicht aus gegen einander; Jedes hielt sich nur allein für so +thöricht und kindisch, mit den quälenden Gedanken; keines +wußte daß das Gefühl in ihrer Aller inneres Leben verwoben +sei, und in des Herzens feinsten Fasern Wurzel schlug.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Stimmung Aller, so sehr sie sich auch hüteten dem +was sie dachten Worte zu geben, war denn auch an dem ganzen +Morgen schon eine stille, gedrückte gewesen, und Kellmann's +Erscheinen befreite Alle wie von einer Last. Unten auf der +Treppe wurde der aber schon laut.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na, ist das ein Vergnügen zu so einer Auswanderungsfamilie +in's Haus zu kommen,« rief er, als er sich mit zusammengehaltenen +Schößen zwischen einer Reihe Kistendeckel hin<span class="tei tei-pb" id="page220">[pg 220]</span><a name="Pg220" id="Pg220" class="tei tei-anchor"></a>durchdrückte, +die, mit den Nägeln nach außen, an der Wand +lehnten, und dabei noch über eine Unzahl Körbe und Schachteln +wegsteigen mußte, nur in die Stube zu kommen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nehmen Sie sich in Acht, lieber Kellmann,« rief ihm +der Professor, der seine Stimme gehört hatte, aus der halbgeöffneten +Thüre entgegen (er konnte diese nicht ganz aufmachen +da ebenfalls eine Kiste dahinter stand). »Sie möchten sich da +draußen die Kleider zerreißen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ist schon bereits geschehen,« brummte Kellmann, indem +er versuchte einen Blick nach seinem, allerdings beschädigten +Rücktheil zu gewinnen, »meine Güte, wie sieht das bei Ihnen +aus — ah guten Morgen meine Damen — und schon so +fleißig? — was um Gottes Willen nähen Sie denn da? — Getraidesäcke +für die nächste Erndte?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Fehlgeschossen Herr Kellmann,« rief ihm aber Marie, die +sich gern mit dem freundlichen Mann neckte, entgegen — »Jacken +sind das für uns, in den Busch, zwischen den Dornen und +Schlingpflanzen, die uns sonst das leichte Zeug von den Schultern +rissen. Warten Sie einen Augenblick, da können Sie uns +gleich Ihre Meinung sagen; die meinige ist gerade fertig, und +ich will sie eben anprobiren. Lassen Sie nur, ich werde +schon allein fertig, dort drüben müssen wir überdies Alles +allein machen — So — nun, wie gefalle ich Ihnen darin?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gar nicht,« sagte Kellmann mürrisch, »ich sähe Sie +weit lieber in einem leichten Ballkleid und mit Ihrem gewöhnlichen +heiteren Gesicht, als in der Sackleinwand und — hm — +das verdammte Amerika. Geht denn Eduard jetzt noch mit, +<span class="tei tei-pb" id="page221">[pg 221]</span><a name="Pg221" id="Pg221" class="tei tei-anchor"></a>oder bleibt er da? wo steckt er denn wieder? — der ist immer +fort wenn ich komme.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der geht mit, lieber Kellmann,« rief der Professor, »er +konnte sich nicht dazu entschließen, seine Eltern und Geschwister +allein in die Welt ziehn zu lassen, wo er ihnen vielleicht, zum +ersten Mal in seinem Leben, nützlich sein würde, und ist jetzt +noch in der Geschwindigkeit zu einem Tischler gegangen, die +paar Wochen wenigstens zu benutzen, und doch eine Idee von +dem Handwerk zu gewinnen; wer weiß was wir da Alles zu +thun bekommen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wird auch was recht's davon in den paar Tagen profitiren,« +brummte Kellmann — »bei wem ist er denn, bei +Leupold?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Leupold?« rief der Professor, »der geht ja mit unserem +Schiff nach New-Orleans.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Der Tischlermeister Leupold wandert auch aus?« rief +Kellmann laut und verwundert.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hat sein Häuschen und seine Werkstätte verkauft, und +ist jetzt wahrscheinlich schon unterwegs nach Bremen,« betätigte +ihm der Professor.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Na nu ist mir's aber doch über den Spaß,« rief Kellmann + — »da läuft ja halb Heilingen fort; jetzt freut mich +mein Leben; nächstens werden wir uns unsere Schränke und +Schuhe und Röcke selber machen können wenn wir 'was haben +wollen; ich darf nur gleich den meinigen zum Schneider schicken +daß er ihn mir noch ausbessert, ehe er auch durchbrennt. S'ist +wirklich zum Verzweifeln.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page222">[pg 222]</span><a name="Pg222" id="Pg222" class="tei tei-anchor"></a>»Lieber Gott,« sagte der Professor — »die Leute verlangen +nur Ellbogenraum sich zu rühren; sie wollen einen Platz haben, +der ihren Bedürfnissen Befriedigung verspricht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Da haben Sie gleich den faulen Fleck,« rief Kellmann, +»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Bedürfnisse befriedigen</span></em>, wenn die Leute lebten wie ihre +Voreltern gelebt haben, und nicht mit jedem Jahre auch neue +Bedürfnisse kennen lernten und befriedigt haben wollten, so +hätten wir alle Platz, und das verwünschte Amerika könnte +sehen wo es Hände und Fäuste bekäm zuzupacken und ihm den +Boden zu bestellen. Aber ich will mich nicht länger ärgern — laßt +sie laufen, nachher wird's hier erst recht gemüthlich — apropos — Ihren +Freund Weigel haben sie gestern Abend im +rothen Drachen hinausgeworfen — er wollte Dienstleute, ich +glaube einen Schäfer, verlocken nach seinem gerühmten Amerika +auszuwandern.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Meinen <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Freund</span></em>?« sagte der Professor achselzuckend, +»ich habe mit Herrn Weigel nie in einer solchen Beziehung +gestanden, aber ich achte ihn als einen Mann der ein gutes +Herz mit einer tüchtigen Portion gesundem Menschenverstand +verbindet, und besonders schätzenswerthe statistische Kenntnisse +Amerika's besitzt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bah!« sagte Kellmann, den Kopf auf die Seite werfend, +und mit den Fingern schnalzend, »so viel für seine statistischen +Kenntnisse; <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">unverschämt</span></em> ist er, das halt' ich für seine +Hauptforce, und er wirft Ihnen da mit der größten Kaltblütigkeit +eine Masse Zahlen in den Bart, denen man nicht gleich widersprechen +kann, weil sich der Gegenbeweis eben nicht führen +<span class="tei tei-pb" id="page223">[pg 223]</span><a name="Pg223" id="Pg223" class="tei tei-anchor"></a>läßt. Wenn das Alles wahr ist was er über Amerika sagt, +wäre <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">er</span></em> der größte Esel wenn er nicht selber hinüberginge.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Seine Verhältnisse gestatten es ihm nicht, wie er mich +oft versichert hat,« vertheidigte ihn aber der Professor.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, das kennen wir schon,« sagte Kellmann, »und wenn +mich irgend etwas glauben machen könnte daß <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">er</span></em> wirklich +Amerika kennt, so wäre es der Umstand daß er selber nicht +hinübergeht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Im rothen Drachen war ja wohl gestern ein kleines +Fest?« frug die Frau Professorin dazwischen, die das unerquickliche +Gespräch abzubrechen wünschte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, für die Dienstleute von Hohleck,« sagte Kellmann, +»und Schollfeld und ich waren ebenfalls hinausgegangen um +den Spaß mit anzusehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und ihr Freund, der lange Actuar war nicht dabei?« +lachte Marie.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Er kam später nach,« sagte Kellmann — »der arme +Teufel ist jetzt auch immer verdrießlich und niederschlagen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Er hat sein Kind verloren,« sagte Anna mitleidig.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja, und zu Hause fühlt er sich auch wohl nicht so recht +wohl und behaglich.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wir haben davon gehört,« sagte die Professorin — »seine +Frau soll eigenwillig und heftig sein, und ihm oft gar +unangenehme Scenen bereiten.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Seine Frau ist — « fuhr Kellmann auf, aber er unterbrach +sich selber wieder, und trommelte eine Weile mit den +Fingern auf dem vor ihm stehenden Tisch.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page224">[pg 224]</span><a name="Pg224" id="Pg224" class="tei tei-anchor"></a>»Was ist Ihnen denn nur heute, Herr Kellmann?« sagte +aber Marie, jetzt zu ihm tretend und seinen Arm berührend — »Sie +schneiden ja heut Morgen ein so bitterböses Gesicht, wie +ich noch fast in meinem Leben nicht an Ihnen gesehn. Ist +Ihnen irgend etwas Aergerliches begegnet? — oder — Sie +sind doch nicht böse mit uns?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Böse mit Ihnen? lieber Gott Mariechen,« sagte Kellmann +herzlich ihre Hand ergreifend — »ich müßte böse mit +Ihnen sein daß Sie fortgehn und mich hier allein zurücklassen; +sonst wüßt' ich wahrhaftig nicht weshalb.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So kommen Sie mit,« lachte Marie, indem sie neckisch +zu ihm aufsah.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Kellmann seufzte tief auf, sagte dann aber kopfschüttelnd, +und mit der Hand über seine Stirn streichend, als ob er sich +daraus all' die trüben Gedanken verscheuchen wollte — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nach Amerika? — ja, weiter fehlte mir gar Nichts; +aber heute sind es wirklich andere Sachen die mir im Kopf +herumgehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ist etwas vorgefallen, und können wir Ihnen helfen, +lieber Herr Kellmann?« sagte Anna freundlich.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach Gott nein,« sagte der kleine Mann seufzend — »es +ist ein Stück von dem allgemeinen Elend, das über den ganzen +Erdball hinspielt, und das uns gewöhnlich mit einem unheimlichen +Gefühl, auch nicht außer dem Bereich desselben zu liegen, +durchschauert, wenn wir ihm einmal auf unserem Lebenspfad +begegnen. Sie sahen mich als ich vor dritthalb Stunden +etwa drüben aus dem Löwen kam?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page225">[pg 225]</span><a name="Pg225" id="Pg225" class="tei tei-anchor"></a>»Ja, Sie grüßten ja herauf,« sagte die Professorin — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun gut; ich war dort, einem armen Mädchen nachzufragen, +das wir gestern Abend spät auf der Straße trafen, und +das ich dorthin schickte Nachtquartier zu suchen« — Und nun +erzählte ihnen Kellmann mit kurzen Worten das gestrige Zusammentreffen +mit des unglücklichen Loßenwerder Schwester, +und ebenfalls daß sich schon jetzt herauszustellen scheine, wie der +arme Teufel von Loßenwerder unschuldig in Verdacht gerathen +sei. Nur in reiner Verzweiflung mochte er sich den Tod gegeben +haben, als man ihm das letzte, einzige das er auf der +Welt hatte — seinen ehrlichen Namen — nehmen wollte — oder +eigentlich schon von Gerichts wegen genommen hatte. Unsere +wackeren Polizeigesetze halten ja nun einmal jeden Menschen +für einen Spitzbuben, bis er nicht durch Atteste genügend dargethan +hat daß — »gegen ihn noch nichts Gravirendes bekannt +geworden.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und was geschieht jetzt mit dem armen, armen Mädchen?« +frugen fast gleichzeitig Marie und Anna — »lieber +Gott, hier in der fremden Stadt, allein, ohne Mittel, ohne +Freunde, wie entsetzlich müßte es da sein, wenn sie vielleicht +aus rohem Munde zuerst die furchtbare Nachricht vernähme.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gestern Abend,« sagte Herr Kellmann etwas verlegen, +»kam uns das Ganze wirklich so schnell und überraschend, daß +wir nicht die geringste Zeit zum Ueberlegen behielten; wir — wir +gaben ihr nur ein paar Groschen und schickten sie in den +Löwen, hier gegenüber, um da zu übernachten, damit sie nicht +in der Stadt nach ihrem Bruder früge, und die entsetzliche<span class="tei tei-pb" id="page226">[pg 226]</span><a name="Pg226" id="Pg226" class="tei tei-anchor"></a> +Geschichte gleich in der ersten Viertelstunde erführe; heute +Morgen wollte ich dann selber herkommen und sehn was sich +thun ließ — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und jetzt? — weiß sie was geschehen ist? frug die Professorin +mitleidig die Hände faltend — Herr Kellmann zuckte +mit den Achseln und sagte:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sie ist fort — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Fort? — wohin?« riefen die Frauen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Kein Mensch konnte mir darüber Auskunft geben, gestern +Abend war sie richtig dort angekommen, und ihres dürftigen +Aussehns wegen in die Gesindestube gewiesen, und dort muß +sie unglückseliger Weise ihren Namen genannt, vielleicht nach +ihrem Bruder gefragt und das Schrecklichste gleich erfahren +haben, denn sie war, selbst ihr Bündel im Stich lassend, hinausgelaufen +in Nacht und Nebel und — und nicht wieder +zurückgekehrt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Du lieber Gott,« sagte Anna, »wenn sie sich nur kein +Leides gethan.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich bin gleich zu Ledermann und dann auf die Polizei +gegangen, diese aufmerksam zu machen,« sagte Kellmann etwas +kleinlaut, »werde auch selber noch mein möglichstes thun das +arme Ding wieder aufzufinden, aber — ich weiß wahrhaftig +nicht wo man die eigentlich suchen soll, denn sie kennt ja keinen +einzigen Menschen in der Stadt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und in ihres Bruders früherem Logis? — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hat sie Niemand gesehn — ich war dort.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page227">[pg 227]</span><a name="Pg227" id="Pg227" class="tei tei-anchor"></a>»Waren Sie auch schon — auf dem Kirchhof?« frug +ihn Marie jetzt leise und schüchtern.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wahrhaftig, daran hatte ich gar nicht gedacht,« sagte +Kellmann rasch seinen Stuhl zurückschiebend, »die Möglichkeit +ist da, und ich will keinen Augenblick mehr versäumen — vielleicht +ist es jetzt noch nicht zu spät.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und Sie sagen uns Antwort?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sowie ich etwas Bestimmtes über sie weiß — aber — aber +was dann mit ihr anfangen? — hier in der Stadt <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">kann</span></em> +sie nicht bleiben,« sagte Kellmann, die Thürklinke schon in der +Hand, »und überhaupt scheint mir ihr schwächlicher Körper +zu grober Handarbeit gar nicht geeignet.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Vielleicht bietet sich da für die Schwester in demselben +Haus ein Ausweg,« rief Anna plötzlich, »das für den Bruder +ja so viel gut zu machen, wenn er wirklich unschuldig gelitten. +Gestern Nachmittag noch klagte mir Clara ihr Leid, daß ihre +Kammerjungfer, mit der sie sehr zufrieden ist, und die ihr bis +dahin fest versprochen mitzugehn, plötzlich anderes Sinnes geworden +wäre, und sich jetzt weigerte Heilingen zu verlassen. +Clara ist so seelensgut, sie würde gewiß Alles thun was nur +in ihren Kräften steht, das arme Kind den herben Verlust vergessen +zu machen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber wird sich das Mädchen selber dazu eignen?« sagte +Kellmann.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Weshalb nicht,« rief aber auch jetzt Marie — »bringen +Sie die Arme nur hierher, sobald Sie sie finden, und nehmen +sie Henkel's nicht mit, findet Papa gewiß einen Ausweg.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page228">[pg 228]</span><a name="Pg228" id="Pg228" class="tei tei-anchor"></a>»Ja, Papa einen Ausweg,« sagte aber der Professor — »ich +kann <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Niemanden</span></em> mehr mitnehmen Kinder, so viel +solltet Ihr eigentlich jetzt schon wissen, denn wir sind Leute +genug.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ach wenn sie überhaupt gehen will,« rief Kellmann, +»die Passage bringen wir hier schon zusammen, und wenn sich +Fräulein Anna bei Frau Henkel für sie verwenden will, wär' +es ein Glück für das arme Mädchen, den hiesigen für sie so +trüben Verhältnissen so rasch wieder entrissen zu werden. Doch +jetzt leben Sie wohl — ich habe da nicht lange Zeit mehr zu +verlieren, und hoffe Ihnen bald günstige Nachrichten bringen +zu können.«</p> + +<div class="tei tei-tb">* * * * * </div> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Actuar Ledermann hatte die Nacht einen heftigen Fieberanfall +bekommen, und sich am anderen Morgen auf seinem +Bureau entschuldigen lassen. Erst um zehn Uhr etwa fühlte +er sich etwas besser, und beschloß ein wenig an die frische Luft +zu gehn, in dem sonnigen Morgen draußen die trüben quälenden +Gedanken zu verscheuchen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Er ging auf den Kirchhof, das Grab seines kleinen Lieblings +zu besuchen, und nahm einen Monatsrosenstock mit hinaus, +ihn darauf zu pflanzen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Weg der zu dem Grab, zwischen den andern Hügeln +hin, führte, lief eine kurze Strecke die Mauer entlang, die bis +jetzt leer gelassen und von Unkraut überwuchert lag. Nur ein +einziger, unter Gras und Unkraut fast versteckter flacher Hügel war +<span class="tei tei-pb" id="page229">[pg 229]</span><a name="Pg229" id="Pg229" class="tei tei-anchor"></a>dort aufgeworfen, über dem kein Kreuz den Namen des Hingeschiedenen +kündete, keine Blume ein sorgendes Herz verrieth, +das dem Entschlafenen die stille Thräne nachgeweint. Und +dort? — in das hohe, feuchte Gras geschmiegt, lag eine schlanke +Mädchengestalt, Stirn und Antlitz in dem wuchernden Unkraut +verborgen, auf dem die vollen aufgelösten Locken ruhten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Lieber Gott,« sagte der Actuar, mit dem Blumenstock im +Arm neben ihr stehen bleibend, leise vor sich hin — »es ist +doch noch viel, viel Elend in der Welt, und wenn Einem recht +traurig und weh um's Herz ist, sollte man eigentlich immer +hinaus auf den Kirchhof gehn. Da haben die Leute nicht +ihre glatten unbewegten Alltagsgesichter vor, sondern geben +sich wie sie sind, und wenn es auch eben kein Trost sein sollte +andere Menschen unglücklich zu sehn, ist es doch jedenfalls +einer, zu wissen daß man es nicht allein ist.« Und sich +langsam abwendend schritt er dem Grabe seines Kindes zu, +setzte den Blumentopf auf den kleinen Hügel, und sich selber +dann auf eine dicht daneben liegende Marmorplatte, die das +Grab eines anderen Menschen deckte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Dort blieb er lange, das Gesicht mit den Händen bedeckt, +und regungslos in seiner Stellung verharrend, seinen schmerzlichen +Gedanken überlassen, bis die Sonne höher und höher +stieg, und ein stechender Kopfschmerz ihn mahnte den, den heißen +Strahlen vollkommen ausgesetzten Platz zu verlassen, wenn er +sich nicht noch kränker machen wollte als er schon war. Er +stand auf, und sah sich nach dem Todtengräber um, diesen zu +bitten den Blumenstock für ihn einzusetzen, und fand ihn auch, +<span class="tei tei-pb" id="page230">[pg 230]</span><a name="Pg230" id="Pg230" class="tei tei-anchor"></a>nicht weit von dort entfernt, mit einem neuen Grabe beschäftigt. +Langsam seinen Spaten schulternd ging er mit ihm zu +dem verlangten Platz, und dort sein Handwerksgeräth neben +sich in den Boden stoßend und sich den Schweiß von der <span class="tei tei-corr">glühenden</span> +Stirne trocknend, sagte er freundlich:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Warmer Tag heute, Herr Actuar — sehn Sie einmal +was für ein schönes <span class="tei tei-corr">Stöckchen</span>; das müssen wir aber ordentlich +angießen, sonst vertrocknet es gleich in der lockeren Erde — werde +Ihnen das schon besorgen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bitte sein Sie so gut,« sagte Ledermann, und der Mann +nahm den Stock auf, drehte ihn um und schlug mit der flachen +Hand unter den Topf, diesen locker und los zu bekommen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Kennen Sie das junge Mädchen was da auf dem Grabe +an der Mauer liegt?« frug der Actuar jetzt, als sein Blick wieder +zufällig dort hinüber streifte — »dort drüben meine ich.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja ich weiß schon,« sagte der Mann, ohne den Kopf zu +wenden und mit seiner Arbeit beschäftigt — »nein — sie saß +vor dem Kirchhofsgitter schon heut' Morgen wie ich <span class="tei tei-corr">öffnete</span>, +um drei Uhr <span class="tei tei-corr">früh</span>, und muß die ganze Nacht da zugebracht +haben. Wie ich das Thor aufmachte frug sie mich nur nach +dem Grabe eines armen Teufels, den wir hier vor kurzer Zeit +zu Ruh gebracht, und ist seit der Zeit nicht von dort weggegangen. +Das kommt manchmal vor.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und wer liegt da begraben?« frug Ledermann schnell, +dem ein plötzlicher Gedanke an das Mädchen von gestern Abend +aufstieg.</p> + +<p class="tei tei-p" style="text-align: center; margin-bottom: 1.00em"> +</p><div class="tei tei-figure" style="text-align: center"><img src="images/illu005.jpg" width="511" height="729" alt="Capitel 9" /></div> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dort an der Mauer?« sagte der <span class="tei tei-corr">Todtengräber</span>, »ih Sie +<span class="tei tei-pb" id="page231">[pg 231]</span><a name="Pg231" id="Pg231" class="tei tei-anchor"></a>wissen ja, der kleine bucklige Bursche, der von der Brücke gesprungen +war, und sich den Kopf aufgeschlagen hatte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Dem Actuar fuhr es mit einem eisigen Stich durchs +Herz, aber er erwiederte Nichts, gab dem Mann eine Kleinigkeit +für seine Dienstleistung, und ging dann langsam, als ihn +dieser wieder verlassen und seine frühere Arbeit aufgenommen +hatte, zu Loßenwerder's Grab, wo die Trauernde noch still und +regungslos in ihrem Jammer lag. Nur das krampfhafte Zittern +des Körpers verrieth das darin wohnende Leben.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Liebes Kind,« sagte Ledermann leise — das Mädchen +bewegte sich nicht — »mein liebes Kind,« sagte er lauter, und +berührte ihre Schulter mit seinem Finger. Langsam hob sie +das bleiche, Thränen überströmte Gesicht zu ihm empor, und +als sie den fremden Mann neben sich sah, richtete sie sich verwirrt, +beschämt aus ihrer Stellung auf.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber wie können Sie sich hier so Stunden lang in das +feuchte Gras werfen,« sagte der Actuar mit freundlichem Vorwurf — »Sie +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">müssen</span></em> ja krank werden — nicht wahr, Sie +kennen mich nicht mehr?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das Mädchen sah ihn groß und verwundert an, und schüttelte +dann langsam mit dem Kopf.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich sprach gestern Abend mit Ihnen, draußen vor dem +Thor, wo die Musik in dem Hause war,« sagte Ledermann — »hatten +Sie gar keine Ahnung von dem Schicksal des +Bruders?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Keine,« sagte die Arme leise, das Köpfchen wieder +senkend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page232">[pg 232]</span><a name="Pg232" id="Pg232" class="tei tei-anchor"></a>»Und wo erfuhren Sie seinen Tod?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Das Mädchen schauderte zusammen als sie des Augenblicks +gedachte, und sagte endlich, wie mit angstgepreßter +Stimme:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gestern Abend in dem Haus — die Leute in der Gesindestube +frugen mich wo ich herkäme und um meinen Namen, +und dann — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und dann?« frug der Actuar mitleidig, als das Mädchen +schwieg und ihr Antlitz wieder zitternd in den Händen +barg — </p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Dann sagten sie« — setzte das Mädchen, am ganzen +Körper bebend hinzu — »daß Einer der so hieß — und sie +spotteten dabei über sein Gebrechen — daß Einer — hier — « +sie vermochte nicht auszureden und warf sich, rücksichtslos um +den neben ihr stehenden Fremden, und in krampfhafter Verzweiflung, +wieder auf das Grab nieder, das sie laut schluchzend mit +ihren Armen umschlang, und den Bruder rief, sie zu sich zu +nehmen in sein stilles, kühles Bett.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Nur mit Mühe, und herzlichen tröstenden Worten die er +zu ihr sprach, brachte sie Ledermann, als sich ihr Schmerz in +etwas ausgetobt, endlich dahin sich etwas zu fassen und zu beruhigen, +und ihm mehr über ihr Schicksal und sich selber zu +sagen. Sie hieß Hedwig, war funfzehn Jahr alt und hatte +bis zu ihrem elften Jahr bei einer entfernten armen Verwandten +zugebracht, nach deren Tode sie, ein Kind noch, bei fremden +Leuten in Dienst gehen mußte. Ihre Elteren schienen in +besseren Verhältnissen gelebt zu haben, waren aber früh ge<span class="tei tei-pb" id="page233">[pg 233]</span><a name="Pg233" id="Pg233" class="tei tei-anchor"></a>storben, +und die Waisen sich selber überlassen gewesen. Ihr +um zehn Jahr älterer Bruder Franz hatte sie dabei noch immer +dann und wann von dem Wenigen was er selber verdiente, +unterstützt, auch ihr vor einigen Monaten — und das mußte +etwa grade vor seinem Tode gewesen sein, geschrieben, daß er +recht sparsam lebe, und bald so viel zusammen zu haben hoffe +mit ihr, der Schwester, nach Amerika auszuwandern, dort +vielleicht ein kleines Geschäft oder irgend etwas Anderes anzufangen, +ehrlich durch die Welt zu kommen. Hedwigs Aussage +nach mußte er ihr auch die genaue Summe geschrieben +haben, die er besaß, und als sie der Actuar dringend bat ihm +den Brief zu verschaffen, wenn es irgend möglich sei, da der +vielleicht vollständig des Bruders Unschuld beweisen konnte, +zog sie aus ihrer Brust das zusammengefaltete und dort bis +jetzt sorgfältig bewahrte Papier. Es war das letzte was sie +von ihm bekommen, und als Monat nach Monat verstrich +und keine neue Nachricht kam, wurde sie zuletzt unruhig und +schrieb nach Heilingen. Aber auch hierauf erhielt sie keine +Antwort und nicht mehr im Stande die Ungewißheit zu ertragen, +verließ sie ihren Dienst und machte sich, mit wenigen +Groschen in der Tasche auf, den weiten Weg zu Fuß zurückzulegen. +Und ihr Empfang? großer Gott mit Spott und +Hohn wurde ihr Bruder — das einzige noch auf der Welt +ihr gehörende Wesen, das sie mehr als sich selber liebte — eines +furchtbaren Verbrechens beschuldigt, in Folge dessen er +sich selber das Leben genommen, und schlimmer, gewaltiger +noch als die Nachricht seines Todes, erschütterte das reine, +<span class="tei tei-pb" id="page234">[pg 234]</span><a name="Pg234" id="Pg234" class="tei tei-anchor"></a>vertrauensvolle Herz des armen Kindes der erste <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Zweifel</span></em> an +den Hingeschiedenen, der doch heimlich und quälend in ihr aufsteigen +wollte, wie sie sich auch dagegen sträubte; und doch +<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">wußte</span></em> sie daß er keiner schlechten Handlung fähig gewesen sei.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Während dieser Erzählung flossen ihre Thränen stärker; +wenn aber der Schmerz auch nur mehr aufgerüttelt wurde durch +das Wiederdurchleben vergangener Scenen, fand sie doch auch +einen Trost in dem Aussprechen über ihren Verlust. Der Actuar +überlas indeß flüchtig den Brief, und den Datum mit +dem verübten Raub vergleichend sah er, ob Loßenwerder nun +schuldig oder unschuldig sei, daß jenes, bei ihm gefundene +Geld sein Eigenthum gewesen sein müsse, schon vor dem Tag, +und nicht mehr als Beweis gegen ihn gelten konnte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">So traf sie Kellmann, der von Lobensteins direct auf den +Gottesacker gegangen war, das arme Mädchen aufzusuchen. +Mit wenigen Worten sagte ihm der Actuar was er von ihr +erfahren, und der gutmüthige kleine Kürschner setzte sich neben +sie auf das Grab des Bruders, nahm ihre Hand in die seine, +und diese streichelnd sprach er ihr Muth und Hoffnung in das +arme gequälte Herz. Sie sollte nicht mehr allein stehn auf +der Welt; er wollte Freunde für sie finden, die sich ihrer annähmen, +und sie Beide, Ledermann und er, wollten nicht ruhen +noch rasten bis ihres Bruders Name wieder ehrlich gemacht +sei vor der ganzen Stadt; lieber Gott, sie konnten ja nichts mehr +für den Armen thun.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Hedwig weinte, während er sprach; aber die Thränen +lösten ihren Schmerz — die freundlichen Worte; oh die ersten +<span class="tei tei-pb" id="page235">[pg 235]</span><a name="Pg235" id="Pg235" class="tei tei-anchor"></a>wieder seit so langer, langer Zeit die sie gehört, thaten ihr +wohl und bannten die Verzweiflung aus ihrem Herzen, der sie +ja sonst wohl rettungslos verfallen wäre. Wieviel Segen hat +schon ein herzliches Wort gebracht, dem Unglücklichen gespendet — wie +viele Thränen getrocknet, wie manches Weh, +wenn es nicht heilen konnte, doch gelindert.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Kellmann erbot sich dann auch, sie zu seiner Mutter zu +führen, wo sie wenigstens bleiben konnte bis sich etwas Weiteres +entschieden. Von Amerika sagte er ihr noch Nichts, die +nächsten Tage mochten sie erst mit dem Gedanken vertrauter +machen, wenn sie hörte wie viel Leute die auch ihren Bruder +gekannt und liebe Freunde von ihm selber seien, gerade jetzt +nach dort hinübergingen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Hedwig zögerte noch schüchtern das gütige Erbieten anzunehmen, +aber die Worte klangen so herzlich, so gut gemeint, +sie stand so hülflos, so allein in der weiten Welt, der fremde +Mann erschien ihr wie ein Engel des Himmels in ihrem +Schmerz, und unter Thränen nahm sie seine Hand und dankte +ihm, und sagte daß sie ihm folgen würde, wohin er sie führe.</p> +</div> +<hr class="page" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"><span class="tei tei-pb" id="page236">[pg 236]</span><a name="Pg236" id="Pg236" class="tei tei-anchor"></a> +<a name="toc28" id="toc28"></a> +<a name="pdf29" id="pdf29"></a> +<a name="pdb30" id="pdb30"></a> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Capitel 10.</span></h1> +<h1 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Die beiden Familien.</span></h1> +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Leser muß mir noch, ehe wir unsere weitere Wanderung +zusammen antreten, zu zwei Stellen folgen, in Lage +und Art freilich gar sehr verschieden. Den Characteren, die wir +dort finden, begegnen wir später wieder, theils auf der Reise, +theils in ihrem neugewählten Vaterland.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">An der Hannöverschen Grenze lag ein kleines Dorf, Waldenhayn +mit Namen, und fast versteckt zwischen mächtigen +Linden und Fruchtbäumen, die es von allen Seiten dicht umgaben.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Mitten im Dorf auf einem flachen, aber die ganze Ortschaft +überschauenden Hügel stand die Kirche, und daneben das +kleine freundliche Pfarrhaus, das sein Dach über gute und +glückliche Menschen gespannt hatte, Jahrzehnte lang — und +heute? — Guter Gott welche Veränderung in dem Haus — der +Vater, Pastor Donner, still und ernst in seinem Sorgen<span class="tei tei-pb" id="page237">[pg 237]</span><a name="Pg237" id="Pg237" class="tei tei-anchor"></a>stuhl, +und, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, ordentlich +eingehüllt in eine dichte Tabakswolke, die Mutter mit verweinten +Augen, und doch immer geschäftig herüber- und hinübergehend, +bald aus der in jene Stube, Kleinigkeiten zu besorgen +die sie immer wieder vergaß, ehe sie nur das andere Zimmer +betreten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der älteste Sohn Georg ging zu Schiff — ging nach +Amerika über das weite, wilde Weltmeer nach einem anderen +Vaterland, dort für den unruhigen Geist das Glück zu suchen, +das er hier nicht fand, und »wann würden sie ihn — ja würden +sie ihn je wieder sehen?« Oh es ist ein großer Schmerz +für ein Elternherz ein Kind in der Blüthe der Jahre zu verlieren — wie +viel Sorge, wie viel schlaflose Nächte hat es gemacht, +bis es wuchs und gedieh; welche Hoffnungen knüpften +sich an das junge Wesen, und blühten und reisten mit ihm; +wie treulich wurde da nicht jeder Schritt bewacht, den noch +unsicheren Fuß vor Stoß und Fall zu schützen, wie ängstlich +jedem bösen Eindruck gewehrt, der Herz oder Geist hätte vergiften +können. Und nun das Alles preiszugeben der Welt, +ihren Verführungen, ihren Gefahren für Geist und Körper, +das Alles preiszugeben und hinausgeworfen zu sehn auf die +stürmischen Wogen des Lebens — sich selbst überlassen, und +der eigenen, vielleicht doch noch zu schwachen Kraft. Wie viele +heimliche Thränen werden da geweint, wie trüb und traurig +liegt da oft des Kindes Zukunft vor dem ahnenden Blick des +Vaters und der Mutter — Krankheit wird es erfassen und +halten, und keine liebende Hand in der Nähe sein, es zu pflegen +<span class="tei tei-pb" id="page238">[pg 238]</span><a name="Pg238" id="Pg238" class="tei tei-anchor"></a>und ihm den Schweiß von der heißen, glühenden Stirn zu +trocknen, die Verführung ihre falschen, goldblinkenden Netze +nach ihm auswerfen, und keine treu warnende Stimme ihm +zur Seite stehn — Noth und Mangel vielleicht in bitterem +Weh auf ihm lasten, und Niemand da sein, der ihm Hülfe +bringt, und den Unglücklichen tröstet und unterstützt — Mutter +und Vater sind fern, fern von dem Geliebten, seine Klage +dringt nicht herüber zu ihnen — ihr Trost und Hülfswort +nicht zurück zu ihm.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Und ein solcher Abschied dann — der Tod pocht nicht +viel härter an des Glückes Thor, und das Bewußtsein den +Geschiedenen still und geschützt in kühler Erde zu wissen, auf +der die treu gepflegten Blumen keimen, ist oft noch weniger +bitter als dieser <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">freiwillige</span></em> Tod — der Fortgang über's +Meer, in eine fremde, ungekannte Welt — vielleicht so ohne +Wiederkehr wie jener, und ohne jedes beruhigende Gefühl der +Sicherheit. Der Scheidende ist da noch immer besser, weit +besser daran als die Zurückbleibenden; ihm liegt die Welt jetzt +frei und offen da, jede Stunde draußen, jede Meile Wegs +bringt ihm Neues, Unbekanntes, und wehrt dem Blick nur an +dem einen Schmerz zu haften. Er hat auch zu sorgen, für +sich und sein Gepäck, seine ganze Zukunft ist ihm in der einen +Stunde in die eigene Hand gegeben — ein ungewohnt Geschäft +bis jetzt — und fremde Landschaft, fremde Scenen wechseln +so rasch an ihm vorüber, daß jedes Bild einen Theil des +alten Schmerzes fortführt mit sich. Selbst der Gedanke an die +Verlassenen hat nicht das Herbe, Bittere für ihn, als es für +<span class="tei tei-pb" id="page239">[pg 239]</span><a name="Pg239" id="Pg239" class="tei tei-anchor"></a>diese hat, wenn sie sein gedenken, und sich mit Vermuthungen +quälen müssen wie es jetzt ihm geht, was er thut, was er +treibt, wo er jetzt gerade weilt. <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Er weiß</span></em> in welchem Kreis +die Seinen sich bewegen, kennt in jeder Tageszeit ihre kleinen, +häuslichen Beschäftigungen, ihr gleichmäßiges Wirken und +Schaffen, und sein Herz, das immer noch daheim bei ihnen +weilt, wahrt seinen festen Anhaltspunkt an sie sich unverkümmert +fort, bis das Bild, von anderen dicht umdrängt in weiter +immer weiterer Ferne langsam erbleicht, und nur noch auf dem +Hintergrund des Herzens wie schlummernd liegt, in seinen +Träumen ihn zu segnen, oder dereinst, wenn die Welt ihn kalt +und rauh von sich stößt, und er allein und freundlos sich da +fühlt, wieder aufzuglühen in aller Frische und Wärme, ein +Trost und Hoffnungsziel, dem armen, einsamen Wanderer.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Georg war ein junger lebenskräftiger Mann von dreiundzwanzig +Jahren, mit dunkelbraunen, vollen, ihm frei und ungescheitelt +über die offene sonngebräunte Stirn fallenden Locken, +schwarzen klaren Augen und freien, gutmüthigen Zügen, die +selbst eine breite dunkle Narbe über den rechten Backen, der +Autograph eines Commilitonen, nicht entstellen konnte. Er hatte +Medicin studirt, und sich das Doctordiplom mit eifrigem Fleiß +verdient, aber die Aussichten für einen jungen Arzt waren trüb +und unversprechend in seiner Heimath, und jene fremde Welt, +von der er schon so viel gelesen und gehört, zog ihn mächtig +an. Sein Vater konnte und wollte dieses Streben nicht bei +ihm unterdrücken; auch er erkannte die Banden, die hier einen +kräftigen Geist so leicht in Fesseln legen, und ehrte den Wunsch +<span class="tei tei-pb" id="page240">[pg 240]</span><a name="Pg240" id="Pg240" class="tei tei-anchor"></a>und Drang der jungen, nach Thaten dürstenden Brust, einen +Schauplatz zu finden für ihr Sehnen und Wirken, wenn er +sich auch wohl selber dann wieder mit einem schweren Seufzer +gestehen mußte, wie manche Hoffnung der Sohn zertrümmert, +wie manche Erwartung er getäuscht sehn würde in dem neuen +Leben, das jetzt ihm freilich im vollen Glanz einer aufsteigenden +Sonne, von warmem Lichte übergossen winkte. Und wie +würde sich sein Herz dann bewähren, das jetzt jubelnd zu den +blinkenden, Flaggen- und Blumengeschmückten Wällen seiner +eigenen Luftschlösser aufschaute, wenn es an deren Trümmern +stand? oh daß er dann hätte an seiner Seite stehen und ihn +leiten dürfen den dunklen, schmalen Pfad zum wahren Glück — retten +ihn dann vor sich selbst und seinem bittern Weh.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Aber die Zeit lag noch fern, und weshalb sich selbst den +Augenblick vergiften, wo sich der Himmel noch blau und rein +über seiner Zukunft spannte. Georg selbst sah auch Nichts +von solchen trüben Bildern, die das Herz des Vaters oft mit +banger Trauer füllten; ihm war das Thor jetzt weit und frei +geöffnet, das hinaus in's Leben führte und an dessen Schwelle +er stand, und nur die Trennung noch vom Vaterhaus lag +schwer auf seiner Seele.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Am schwersten freilich trug gerade diese Stunde, weil +ganz und ungetheilt, das Mutterherz. Nicht dachte <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">sie</span></em> in diesem +Augenblick an die Hoffnungen die dem Sohne in der Welt +draußen blühen, an die Gefahren die ihm drohen könnten; sie +sah und fühlte Nichts, als die Trennung von dem <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Kind</span></em>, den +Abschied von dem Heißgeliebten, und wie im Traum hatte sie +<span class="tei tei-pb" id="page241">[pg 241]</span><a name="Pg241" id="Pg241" class="tei tei-anchor"></a>schon den ganzen Tag ihren gewöhnlichen Beschäftigungen +obgelegen, wie im Traum noch einmal seine Lieblingsgerichte +bereitet für den Abend, den letzten Abend, den er im Vaterhause +zubringen würde.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Lieber Gott, die Speisen kamen Abends auf den Tisch +und wurden gegessen, aber Keiner von allen, die jüngsten Geschwister +ausgenommen, schmeckten was sie aßen; man sprach +dabei über das an dem Nachmittag fortgesandte Gepäck, über +das Wetter, über die Uhr die zehn Minuten vorging — Georg +trug Grüße auf an alle seine Bekannte, die sich noch seiner erinnerten. +Er hatte an dem Tag noch selber ein paar Briefe +schreiben wollen, war aber nicht dazu gekommen — Vieles +Andere war ihm ebenfalls entfallen; so wollte er einen Absenker +von dem Rosenstock mitnehmen der vor der Mutter Fenster +blühte, und jetzt blieb ihm doch keine Zeit mehr; aber während +dem Essen stand die Schwester — unvermißt — vom Tische +auf, ging hinaus, grub einen Absenker aus, und brachte ihn +in einem kleinen Topf dem Bruder, dem sich die Thränen in +die Augen zwangen — er mochte kämpfen dagegen wie er +wollte als er die Gabe sah. Die Mutter stand vom Tisch +auf und ging hinaus — nicht ein Wort wurde gesprochen +so lange sie fort war. Die Speisen verschwanden dabei von +den Tellern und der Wein wurde getrunken, und die Mutter +kam zurück und nahm ihren Platz wieder ein, lautlos wie +vorher; man konnte den langsamen Gang der Uhr hören, an +der Wand.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Da endlich füllte der Vater sein Glas bis zum Rand, +<span class="tei tei-pb" id="page242">[pg 242]</span><a name="Pg242" id="Pg242" class="tei tei-anchor"></a>hob es mit der Linken und ergriff mit der anderen Georgs +Hand. Er hatte etwas zum Herzen des Sohnes, zum Trost +vielleicht der Mutter sprechen wollen, aber die Worte schwollen +ihm im Mund — er brachte eine volle Minute keine Sylbe +über die Lippen, und sich gewaltsam fassend und zusammennehmend +sagte er endlich.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Auf ein frohes Wiedersehn Georg!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Georg preßte des Vaters Hand und trank ihm und der +Mutter und den Geschwistern zu — und die Mutter hob ihr +Glas und stieß mit dem Sohne an, aber mehr vermochte das +Mutterherz nicht — zu lange hatte sie jetzt gewaltsam gegen +ihr eigenes Gefühl an- und den Schmerz niedergekämpft, den +Anderen zu Liebe; länger war sie es nicht im Stande, und das +Glas mit zitternder Hand niedersetzend, daß der Wein über +und auf das Tischtuch floß, stand sie auf, warf die Arme +krampfhaft um den Hals des Sohnes und schluchzte laut.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mutter, liebe — liebe Mutter — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mein Kind — mein Kind,« jammerte die Frau und der +Schmerz wuchs an Heftigkeit, wie der mächtig aber still dahinwälzende +Strom schäumend hinausdonnert in's Freie, wo er +sich erst einmal Bahn gebrochen aus seinem Bett — »mein +liebes — liebes Kind.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Mutter,« bat der Pastor, »fasse Dich; es ist ja doch +nur vielleicht auf kurze Zeit, bis sich der Junge draußen die +Hörner abgelaufen, und ihm die Heimath anders aussieht wie +jetzt; dann kommt er wieder.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Liebe — liebe Mutter,« flüsterte Georg, sie innig an sich +<span class="tei tei-pb" id="page243">[pg 243]</span><a name="Pg243" id="Pg243" class="tei tei-anchor"></a>schließend, und auch ihm erstickten unaufhaltsam fließende +Thränen die Stimme.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Geschwister weinten auch, und der Vater war aufgestanden +und ein paar Mal mit raschen Schritten, wie um +den Anderen Zeit zu geben, eigentlich aber nur seine eigene +Fassung wiederzugewinnen, im Zimmer auf- und abgegangen. +Jetzt blieb er neben der Gattin und dem Sohne stehn, und +sie langsam trennend sagte er mit sanfter, bittender Stimme:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Kommt Kinder, kommt — macht Euch selber nicht das +Herz zum Brechen schwer; das ist unrecht. Ueberdies quält Ihr +Euch zweimal, und habt morgen früh noch dasselbe Leid. Es +ist eine lange Trennung, aber keine Trennung für's Leben — wir +sind Alle noch rüstig und gesund, und werden uns, +will es Gott, hoffentlich Alle einmal froh und freudig in die +Arme schließen können.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Du schreibst bald, Georg,« flüsterte die Mutter sich +mit aller Kraft zusammennehmend — »Du läßt uns nie lange +ohne Nachricht, nicht wahr Du versprichst mir das?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gewiß Mutter, gewiß — so oft ich kann — aber ängstigt +Euch nur auch nicht, wenn einmal ein Brief länger ausbleibt +als gewöhnlich; der Weg ist weit, und ein Brief kann +leicht verloren gehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So, und jetzt zu Bett Kinder,« mahnte der Vater — »es +ist spät geworden, sehr spät, und Du mußt früh wieder heraus +Georg, die Post nicht zu versäumen; sind Deine Koffer hinübergeschafft?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Es ist Alles drüben,« sagte die Mutter, sich aus den<span class="tei tei-pb" id="page244">[pg 244]</span><a name="Pg244" id="Pg244" class="tei tei-anchor"></a> +Armen des Sohnes windend und ihre Thränen trocknend, +»nur sein Ueberrock ist noch hier, den er anzieht, und die kleine +Tasche in die er morgen früh sein Nacht- und Waschzeug steckt — doch +das besorg' ich schon selber und werd' es nicht vergessen. +Ich bin früh auf, Georg, Du mußt ja doch auch noch +Deinen Kaffee haben bevor Du gehst.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gute Nacht Mutter!« rief Georg, umschlang sie noch +einmal und küßte ihr Lippen, Augen und Stirn, »gute Nacht +meine gute, gute Mutter — gute Nacht!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gute Nacht mein Georg, mein Kind,« sagte die arme +Frau unter Thränen — »schlaf nur jetzt recht aus — zum +letzten Mal unter unserem Dach — für die nächste Zeit wenigstens,« +setzte sie rasch hinzu — »denn mit Gottes Beistand +hoff' ich soll es nicht das letzte Mal gewesen sein — und — und +meinen Segen nimm mit Dir, wohin Du gehst — wo +Du weilst — was Du thust — — er ruhe auf Dir, mein +gutes, gutes Kind!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Georg beugte sich unwillkürlich dem ernsten heiligen Wort — seine +ganze Gestalt zitterte dabei, und die Mutter mußte +sich endlich mit freundlicher Gewalt aus seinen Armen winden; +dann aber floh sie auch hastigen Schrittes aus dem Zimmer, +sich in dem eigenen Kämmerlein recht, recht herzlich auszuweinen.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Geschwister sagten dem Bruder jetzt gute Nacht — die +älteste Schwester Louise hing lange an seinem Hals, aber +riß sich los, den Schmerz der Eltern nicht zu vermehren. Die +Jüngeren küßten ihn auf die Wangen und sagten. »Gute<span class="tei tei-pb" id="page245">[pg 245]</span><a name="Pg245" id="Pg245" class="tei tei-anchor"></a> +Nacht Georg — weck' uns nicht zu spät morgen früh, daß wir +Dir auch noch können glückliche Reise wünschen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Georg küßte sie herzlich und bat sie brav und gut zu sein, +und Vater und Mutter Freude — viel Freude zu machen, +denn er selber ginge nun fort, und die Eltern würden deshalb +recht traurig sein.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gute Nacht Georg,« sagte der Vater, als die Kinder zu +Bett gegangen waren, und Alle, außer ihm, das Zimmer verlassen +hatten, »habe keine Angst daß Du die Post morgen verschläfst, +ich wache schon auf zur rechten Zeit — gute Nacht +mein Sohn. Komm komm, fange nicht selber wieder an, +und mach' mir das Herz nicht schwer vor der Zeit — aber +Georg, um Gottes Willen was ist Dir? — sei ein Mann — Nun +ja — so lange die Frauen da waren hat es mir auch +das Herz fast abgedrückt — man darf es sie ja nicht so merken +lassen, sonst zerfließen sie ganz — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mein lieber — lieber Vater,« schluchzte Georg an seinem +Halse.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mein guter, guter Sohn!« flüsterte der Pastor, des +Kindes Stirne küssend, und jetzt selber im Innersten ergriffen +und bewegt — »bleibe brav — bleibe so brav wie Du +bist — ich kann Dir nichts Besseres wünschen — trage Gott +im Herzen und Dich selbst, und — Deiner alten Eltern Bild, +deren Segen Dir folgt auf allen Deinen Wegen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mein Vater!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So mein Sohn — jetzt gute Nacht und bete zu Deinem<span class="tei tei-pb" id="page246">[pg 246]</span><a name="Pg246" id="Pg246" class="tei tei-anchor"></a> +Schöpfer daß er uns morgen in der schweren Abschiedsstunde +stärkt — gute Nacht mein Georg — gute Nacht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Leise machte er sich los aus des Sohnes Arm, küßte ihn +noch einmal, und verließ dann rasch das Zimmer. Georg +aber blieb lange, lange Minuten auf dem Stuhle sitzen wo +ihn der Vater verlassen, das Gesicht in seinen Händen bergend.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Gute Nacht,« flüsterte er endlich leise und kaum hörbar, +als Alles schon im Hause still war, und zu Ruhe gegangen — »gute +Nacht Ihr Lieben und Gott schütze Euch und mich; aber +nicht möglich wäre es mir, die furchtbare Trennungsstunde noch +einmal durchzuleben, nicht möcht' ich Dir Vater, Dir Mutter den +Schmerz, das bittere Weh zum zweiten Mal bereiten. Es ist +vorbei — Alles vorbei, und wenig Stunden noch und die +Heimath selber liegt, ein schöner Traum nur, in der Erinnerung +Tiefe. So denn an's Werk« setzte er fest und entschlossen hinzu, +»und ob das Herz darüber brechen will, »durch« ist mein Wahlspruch +jetzt, durch Nacht zum Licht — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">durch</span></em>.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Und mit den, fest zwischen den zusammengebissenen Zähnen +gemurmelten Worten stand er auf, und sein Schlafzimmer +öffnend warf er den Rock ab, und badete Gesicht und Nacken +in kühlem Wasser. Dann, als er die Glut die ihn durchtobte, +in etwas gelöscht, packte er den kleinen Nachtsack mit den, sorglich +für ihn auf dem Waschtisch ausgebreiteten Gegenständen, +zog sich wieder an, knöpfte den Ueberrock bis an den Hals zu, +denn die Nacht war kalt, und nach der gehabten Aufregung +fröstelten ihn die Glieder, und im Zimmer umherschauend fiel +sein Blick auf den, unter dem Spiegel stehenden, für ihn ein<span class="tei tei-pb" id="page247">[pg 247]</span><a name="Pg247" id="Pg247" class="tei tei-anchor"></a>geschlagenen +Rosenstock. Rasch barg er ihn in der weiten Tasche +seines Ueberrocks, öffnete dann das Fenster, das in den Garten +hinaus und von da über den Kirchhof führte, der Landstraße +zu, und schwang sich auf das Fensterbret.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ade!« flüsterte er, »ade Du trautes, liebes Haus, ade — Gott +halte seine Hand über Dir, und schütze die lieben Menschen — ade, +ade.« Und von dem Bret hinunterspringend in +den Garten, durcheilte er diesen, schwang sich leicht über die +Kirchhofmauer, die er als Kind unzählige Male überklettert, +und schritt dann langsam und traurig seinen einsam dunklen +Weg entlang.</p> + +<div class="tei tei-tb">* * * * * </div> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Noch hob sich die Sonne nicht über den östlichen Fichtenhang, +und der dämmernde Tag grüßte eben die schlummernde +Erde, als sich die Mutter von ihrem Lager hob, das Mädchen +weckte daß es Feuer in der Küche mache, den Kaffee bereit zu +halten, und dann den Mann rief, dem Sohn ade zu sagen. +Pastor Donner hatte aber auch nur in unruhigem Schlaf +gelegen — die Gedanken und Sorgen ließen ihn nicht ruhen, +und wie aus bösem Traum fuhr er oft empor, mit einem +wehen Stich durch's Herz zurückzusinken, <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">daß</span></em> es eben kein +Traum sei, der ihn bedrücke und quäle.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Er stand auf, zog sich an, und während die Mutter draußen +in der Küche sorgte, dem Sohn ein rasches Frühstück zu bereiten, +ging der Vater hin ihn zu wecken.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page248">[pg 248]</span><a name="Pg248" id="Pg248" class="tei tei-anchor"></a>»Georg!« sagte er, als er die Thür öffnete, die in des +Sohnes Kammer führte — »Georg — es wird Zeit — heiliger +Gott!« unterbrach er sich aber rasch und erschreckt als er +das Gemach leer, das Bett unberührt und keine Spur mehr +von dem Kinde fand — »heiliger, erbarmender Gott — er ist +fort.« Und wie er sich auch vorgenommen sich zu fassen, und +der Frau, dem Kind, die letzten Augenblicke nicht mehr zu erschweren, +durch seine eigene Schwäche, traf ihn <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">der</span></em> Schlag +doch zu hart — zu unerwartet. In diesem Augenblick betrat +die Mutter das Zimmer, und sah wie der Vater sich erschüttert +von der Thür abwandte und das Antlitz in den Händen barg.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Mein Sohn — mein Kind!« stammelte sie, in der sie +durchzuckenden Ahnung des Geschehenen, der sie wie ein jäher +Schlag in's Herz traf — »wo ist — wo ist Georg?« Aber +der Vater zog sie an die Brust, und ihre Stirn, auf die seine +heißen Thränen fielen, küssend, flüsterte er leise:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Er hat uns den Schmerz des Abschiedes sparen wollen, +Louise — er ist fort.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»<em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">Fort!</span></em>« hauchte die Frau — kaum noch den Sinn der +Worte fassend, und brach bewußtlos in den Armen des Gatten +zusammen.</p> + +<div class="tei tei-tb">* * * * * </div> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Außerhalb Waldenhayn, wenn auch noch zu demselben +Kirchspiel gehörend, und dicht an der Grenze des bis hier herniederlaufenden +Holzes, stand ein kleines, schon halb verfallenes<span class="tei tei-pb" id="page249">[pg 249]</span><a name="Pg249" id="Pg249" class="tei tei-anchor"></a> +Haus, das früher einmal von einem Forstgehülfen des herrschaftlichen +Waldes bewohnt, dann aber nicht mehr benutzt, +und um ein Billiges, eigentlich auf Abbruch, verkauft worden +war. Der Mann der es kaufte aber, hatte früher ebenfalls in +herrschaftlichen Diensten gestanden, und dann das Metzger-Handwerk +getrieben; sein wildes, liederliches Leben jedoch +ließ sein Geschäft nicht fördern, noch vorwärts gehn. Er schien +auch keine rechte Lust an einer regelmäßigen Arbeit zu haben, +heirathete dann, als er Alles was er sein nannte, durchgebracht, +ein Mädchen vom herrschaftlichen Gut, das den Dienst +dort verlassen mußte und von dem Herrn selber eine Abstandssumme +bekam, und kaufte mit dem Gelde eben das kleine unwohnliche +Gebäude, das er nichtsdestoweniger bezog, und sich +jetzt angeblich vom Viehhandel ernährte. Er zog im Lande +herüber und hinüber, und kaufte und verkaufte Vieh, mehr +aber noch trieb er sich in den Wirthshäusern herum, wo er +trank und spielte, und den schlimmsten Ruf im Lande hatte, +den ein Mensch haben kann, ohne daß jedoch die Polizei den +mindesten Halt an ihn bekommen konnte. Aber die ordentlichen +Leute zogen sich von ihm zurück; Niemand mochte Umgang +mit ihm oder seinem Weibe haben, und auf dem Weg +zu seinem Hause wuchs Gras; wen dort nicht ein besonderes +Geschäft hinführte, betrat ihn nimmer.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">So hatte der »schwarze Steffen,« wie er im Lande seines +dunklen Haares und Aussehns wegen hieß, sechs Jahre in dem +kleinen Haus gewohnt, und sein Weib ihm, außer dem Kind +das sie in die Ehe gebracht, noch drei andere geboren. In der +<span class="tei tei-pb" id="page250">[pg 250]</span><a name="Pg250" id="Pg250" class="tei tei-anchor"></a>letzten Zeit tauchte dabei ein anderer Verdacht gegen ihn auf, +daß er sich nämlich unter der Hand mit Wilddieben einlasse, +und — wenn auch vielleicht nicht selber wildere, doch das Gestohlene +kaufe und unterbringe.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Sicher ist, daß nicht alles Fleisch was er zu Markte führte, +im Stall gemästet worden, und als nun auch gar einmal, und +vor nicht so sehr langer Zeit, ein Forstgehülfe, in Ausübung +seiner Pflicht, erschossen worden, wurde die Aufsicht über den +schwarzen Steffen, dem man aber doch nicht zu Kragen konnte, +so scharf geführt, und diesem zuletzt so unerträglich, daß er +schon ein paar Mal mit den Forstbeamten im Wirthshaus +Streit gesucht und gefunden, und ihm zuletzt von der Herrschaft, +nach lange geübter Nachsicht, der Befehl zugestellt wurde, +das auf den Abbruch damals erstandene Haus, von dem übrigens +kein Ziegel mehr sein gehörte, zu räumen und abzutragen +oder stehen zu lassen, wie es ihm gefalle, seinen Wohnsitz aber, +wider ihn eingelaufener Klagen wegen, wo anders zu nehmen, +vom ersten des nächsten Monats an.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Steffen war heute einmal ausnahmsweise den ganzen +Tag zu Haus geblieben, und hatte manche von seinen Sachen, +wobei ihm die Frau half, zusammengetragen und in einen +Ranzen gepackt. Die Kinder aber achteten wenig darauf; sie +waren gewohnt daß der Vater oft fortging, und dann immer +mehre, manchmal sogar acht Tage fortblieb, ehe sie ihn wieder +zu sehen bekamen, oder auch nur von ihm hörten. Fragen, +wohin er ging, durften sie nie.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Der Vater war übrigens mürrischer heute als je — er +<span class="tei tei-pb" id="page251">[pg 251]</span><a name="Pg251" id="Pg251" class="tei tei-anchor"></a>sprach fast kein Wort, trank aber oft aus der Flasche, die zum +ersten Mal offen in der Stube stand, und woraus sich auch +die Mutter zweimal einschenkte, und sich dann zu dem jüngsten +Kinde setzte, und es auf den Schoos nahm und küßte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Weshalb weinst Du, Mama?« sagte das zweite Kind, +ein Junge von etwas über fünf Jahren — »hat Dir Jemand +'was zu Leid gethan?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Weil sie eine Närrin ist,« brummte der Vater, der die +Frage gehört hatte, und jetzt einen ärgerlichen Blick nach der +Frau schoß — »ich dächte wir hätten nun genug darüber geschwatzt +und die Sache wär' abgemacht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nun ja — ich sage ja auch kein Wort mehr dagegen,« +erwiederte die Frau — »es — es überkommt Einen nur noch +manchmal so — nachher wird's besser und — es geht ja doch +nun einmal nicht anders,« setzte sie still und schwer vor sich +hinseufzend, hinzu.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Steffen entgegnete nichts weiter darauf, schickte aber bald +darauf, unter irgend einem Vorwand, die Kinder mitsammen +hinaus in den Garten, und sagte dann, als er sich mit der +Frau allein sah, mürrisch und finster.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Du flennst und flennst, und wirst die Bälge noch zuletzt +aufmerksam und ängstlich machen mit Deiner Heulerei — kannst +Du sie hier ernähren, so bleib da, ich habe Nichts dagegen; +kannst Du's aber nicht, dann sei auch vernünftig +und mach' jetzt keine dummen Streiche — es wär' ein Spaß, +wenn sie uns abfaßten, und Du weißt am Besten was uns +nachher bevorstünde.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page252">[pg 252]</span><a name="Pg252" id="Pg252" class="tei tei-anchor"></a>Die Frau war schlank und voll gewachsen, mit besonders +kleinen Händen und Füßen, mußte auch einmal in früheren +Jahren wirklich schön gewesen sein, und mehr noch als nur +die Spuren war ihr davon geblieben, hätte sie eben etwas gethan +sich das zu erhalten. Aber in ihrem ganzen Aeußeren +ging sie, wenn nicht geradezu unreinlich, doch vernachlässigt; +die ungeordneten Haare wurden durch einen zerbrochenen, +ächten Schildpatkamm, und durch ein schwarzes abgescheuertes +Sammetband, in dem vorn eine große bronzene Broche mit +einem unächten Turquis saß, gehalten; in den Ohren hingen +ihr ebenfalls lange emaillirte unächte Ohrringe, die mit dazu +beigetragen hatten ihr bei ihren bescheidenen und einfachen +Nachbarn den Namen der »stolzen Jule« zu geben, und das +Kleid von gutem Stoff und nach neuem Schnitt gemacht, +zeigte unausgebesserte Risse, und Spuren von Fett, in Streifen +und Flecken, die schlecht zu dem blitzenden falschen Schmucke +paßten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Auch in den Augen selber lag etwas Keckes, Unweibliches, +das aber doch jetzt einem mächtigeren Gefühl gewichen war, +denn nur manchmal, bei den rauhen Worten, blitzte es an +gegen den Mann, und um die Lippen zog sich dann ein eigener +fester Zug von Trotz und Zorn.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich hab' Dir genug zu Willen gethan, daß ich mit Dir +gehe und die Kinder zurücklasse,« sagte sie dann nach kleiner +Weile — »wenn's mir das Herz dabei zusammenzieht, wärst +Du schlimmer wie ein Thier, wolltest Du's mir wehren. Der +Wolf läßt seine Brut nicht im Stich, und wir wollen fort — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page253">[pg 253]</span><a name="Pg253" id="Pg253" class="tei tei-anchor"></a>»Der Wolf hat auch draußen zu leben, und für die Jungen +Milch — wer giebt's uns?« zischte der Mann zwischen den +zusammgebissenen Zähnen durch — »wir könnten krepiren hier +im Nest, keine Katze miaute deshalb im ganzen Kreis.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich weiß es, ich weiß es,« sagte die Frau, »und das +ist das Einzige was mich freut, daß wir ihnen jetzt einen +Streich spielen — den Lumpen. Und wie sie schreien und +schimpfen werden — aber ernähren müßen sie sie doch, davon +hilft ihnen kein Gott. Leid thut's Einem freilich immer, die +armen Dinger, die noch Nichts von der Welt wissen und begreifen, +so allein zurückzulassen — wenn ich das Jüngste nur +mitnehmen dürfte — « setzte sie leise hinzu.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Komm mir nur jetzt nicht wieder mit dem alten Gewäsch,« +rief aber der Mann finster und ärgerlich — »ich dächte +das hätten wir über und genug besprochen und überlegt, und +wären einig darüber.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ueberlegt gar nicht,« sagte aber die Frau, die Brauen +fest zusammenziehend — »wenn ich davon anfing hast Du +mich immer grob angefahren und ausgezankt, und Deinen +Willen gehabt dabei, wie bei allem Anderen. Ich weiß daß +ich nicht zu den Weichen gehöre, aber — Mutter bleibt doch +Mutter, und — 's ist immer ein häßlich unnatürlich Ding.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Papperlapapp!« sagte der Mann den Kopf herüber und +hinüber werfend — »unnatürlich — natürlich ist's allerdings +nicht daß die Scheunen ringsherum voll liegen, und das reiche +Lumpenpack das Geld mit vollen Fausten zum Fenster hinaus<span class="tei tei-pb" id="page254">[pg 254]</span><a name="Pg254" id="Pg254" class="tei tei-anchor"></a>wirft, +während wir hier trocken Brod nagen sollen, und das +nicht einmal immer kriegen — schöne Natürlichkeit das.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wenn Du nur nicht den dummen Streich mit dem — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Halt's Maul!« brummte aber der Mann mürrisch — »ich +sollte mich wohl erwischen und anzeigen lassen, daß ich +jetzt im Zuchthaus säß und spänn — Gott verdamm mich, ich +schösse eher die ganze Bande über den Haufen, einen nach dem +anderen — bist Du nun fertig mit Deinen Sachen?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja!« sagte die Frau leise und unwillkürlich zusammenschaudernd — »es +kann fort gehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Wir wollen aber doch warten bis es dunkel ist,« sagte +Steffen nach kleiner Pause; »besser ist besser, und der Märtens +unten an der Straße braucht nicht gleich zu wissen daß wir +fortgefahren sind, beide zusammen, seine Nase hineinzustecken +vor der Zeit; er ist mir so schon ein paar Mal hier oben herumgekrochen, +wo er Nichts zu suchen hatte.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber wenn sie uns nun doch vor der Zeit vermissen?« +sagte die Frau, »und unserer Spur nachgehn; wenn's jetzt +schlimm ist, nachher wird's erst bös, und wir dürften dann nur +gleich mit Sack und Pack abziehn.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»In's Arbeitshaus, eh? — nein, eine Weile halt' ich sie +uns schon von den Hacken, und Gefahr daß sie uns finden, +hat es auch nicht. Wo wir zur Eisenbahn kommen bin ich +bekannt, und habe schon manchmal Vieh da gekauft, wenn sie +auch eben meinen Namen nicht wissen, und wenn wir fortgehn, +lasse ich einen alten Hut von mir und das gelbe Tuch von +Dir unten an dem tiefen Wasserloch unter den Erlen. Sobald<span class="tei tei-pb" id="page255">[pg 255]</span><a name="Pg255" id="Pg255" class="tei tei-anchor"></a> +Jemand hier in der Gegend vermißt wird, suchen sie dort immer +zuerst, und der Schulze im Dorf hat das Pulver nicht +erfunden, dem ist leicht was aufgehängt. Bis sie eine Weile +stromab geangelt haben, sind wir hoffentlich unterwegs, und +wenn nicht unter, doch über dem Wasser. Aber ich will jetzt +noch einmal hinunter zum Märtens gehn und Mehl holen; +es ist auch heute der gewöhnliche Tag, und hierher kommt nachher +keiner so leicht, nimm Du indeß die Kinder vor, und instruire +sie wie sie sich zu verhalten haben.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Und seine Mütze aufgreifend steckte Steffen die Hände in +die Taschen, und schlenderte langsam den Hang hinunter dem +nächsten, eine gute Viertelstunde entfernten Hause zu, während +die Frau die Kinder zu sich hereinrief, das Jüngste, ein +kleines liebes Mädchen von anderthalb Jahren, auf den +Schoos nahm, und sich damit still und lautlos in die Ecke +setzte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Sonne neigte sich indessen ihrem Untergang, und der +Vater kam nach etwa einer Stunde, als es schon völlig dunkel +geworden war zurück — die Mutter saß noch immer mit dem +Kind auf dem Schoos, das bei ihr eingeschlafen war, und hielt +es fest an sich gedrückt.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So Jule, es ist Zeit,« sagte der Mann, seine Arbeitsjacke +abwerfend und den Rock anziehend, »weiß die Albertine was +sie zu thun hat?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Frau zitterte am ganzen Leib, aber sie erwiederte kein +Wort, stand auf, küßte das Kind das sie auf dem Arm trug, +<span class="tei tei-pb" id="page256">[pg 256]</span><a name="Pg256" id="Pg256" class="tei tei-anchor"></a>und legte es in sein Bettchen — einen Kasten, der in der Ecke +der Stube stand.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Albertine,« sagte sie dann zu der Aeltesten, und wandte +sich von der düster brennenden Oellampe, die Steffen auf den +Ofen gestellt hatte, ab, daß die Tochter ihr nicht in die jetzt +wirklich todtenbleichen Züge schauen sollte — »ich gehe mit +dem Vater heute Abend eine Weile fort — den Karl bring ich +erst noch zu Bett — sollten wir morgen früh nicht bei Zeiten +da sein, so — so zieh die Kinder an und gieb ihnen zu essen — der +Brodschrank ist offen, und Milch steht unter der Diele +in der Schüssel — Du paßt mir auf daß den Kleinen Nichts +passirt — Du — Du bist ja schon ein großes Mädchen.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und geht mir nicht vor die Thür morgen, bis wir nicht +wieder da sind,« sagte Steffen, »wie ich heut Abend drunten +gehört habe, ist hier ein toller Hund herumgelaufen. Das +Beste wird sein Ihr haltet die Hausthür zu, daß er nicht etwa +gar herein kommt.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Die Frau hatte dabei das etwa dreijährige Mädchen +das indeß gar schläfrig geworden war, ausgezogen und in sein +Bettchen gelegt — und der Junge, Carl, saß auf der Bank +am Fenster, noch auf sein Abendbrod wartend. Aber er sah +auch erstaunt dabei die Eltern an, die noch nie so spät Abends +fortgegangen waren, und auch wohl noch nie, oder doch nur +selten gar so freundlich mit ihnen gesprochen hatten.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Was für ein Hund ist es, Vater?« frug er jetzt, da der +Gedanke an den tollgewordenen Hund ihn besonders interessiren +<span class="tei tei-pb" id="page257">[pg 257]</span><a name="Pg257" id="Pg257" class="tei tei-anchor"></a>mochte — »Märtens' Bello? der kennt mich, und beißt mich +nicht.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Nein, der große Türk aus dem Dorfe unten,« sagte +Steffen — »der den Müller auch schon einmal gebissen hat.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Oh der ist schlimm!« rief der Knabe erschreckt — »da +geh' ich gewiß nicht hinaus.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Geh' nun zu Bett Carl, es ist spät,« sagte der Vater.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich habe mein Abendbrod noch nicht,« brummte der arme +kleine Bursch.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»So? — dann wird Dir's Albertine geben — und — seid +brav und folgt ihr — «</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Er gab dem Knaben und ältesten Mädchen die Hand, +und ging zu den Bettchen der Kleinen die er küßte; dann aber +als ob er sich einer solchen Regung schäme, richtete er sich rasch +wieder auf, drückte den Hut in die Stirn, und sagte, das Zimmer +verlassend, und noch in der Thür sich umdrehend:</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ich warte auf Dich unten am Wasser — mach schnell!«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Sei ein gut Kind Albertine, und hab mir gut auf die +Kleinen Acht,« flüsterte die Frau jetzt dem Mädchen zu, das +eben dem Bruder ein Stück Brod und Salz gegeben hatte, an +dem der aß und verwundert dabei hinter den Vater her aus +der Thür, und nach der Mutter schaute, die lange — o lange +Zeit nicht so freundlich mit ihnen gesprochen hatte.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Mutter wo geht Ihr nur hin?« — frug das Mädchen, +der das Benehmen der Eltern ebenfalls auffiel, verwundert.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Auf's Amt,« sagte die Frau, auf die Frage schon vor<span class="tei tei-pb" id="page258">[pg 258]</span><a name="Pg258" id="Pg258" class="tei tei-anchor"></a>bereitet — »wir +müssen morgen früh mit Tagesanbruch in der +Stadt sein, und wollen gehn so lang's kühl ist.«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Und wann kommst Du wieder?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Hoffentlich morgen gegen Abend — wenn wir fertig +werden; auf dem Amt sind sie aber gar weitläufig — manchmal +dauert's länger als man denkt. Geht mir aber nicht vor +die Thür, Ihr habt zu essen genug — jedenfalls sind wir morgen +Abend um die Zeit wieder da — und acht' mir auf die +Kleinen, Tine — sei ein vernünftig gutes Mädchen — Du +bist groß genug. Und — wenn Jemand nach uns fragen +sollte, so sag nur wir wären in den Wald gegangen, und +kämen gleich wieder — es wird aber wohl Niemand fragen,« + — setzte sie leise, und wie zu ihrer eigenen Beruhigung +hinzu.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Sie sah sich im Zimmer um, ob sie Nichts vergessen habe + — ihr Bündel lag aber versteckt draußen vor der Thür, wie +der Mann seine gepackte Jagdtasche ebenfalls draußen verborgen +gehabt und jetzt mitgenommen hatte. Ihr Blick überflog +auch nur flüchtig den kleinen Raum, und haftete dann auf dem +Bettchen des jüngsten Kindes — sie konnte nicht widerstehn, +und trat noch einmal zu dem schlummernden Kind.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Geh doch hinaus Tine, und hole ein paar Stücken Holz +herein, so lang ich noch hier bin, daß Du morgen früh Kaffee +kochen kannst — ich bleibe so lang bei den Kindern,« setzte sie +langsam und ohne das älteste Mädchen dabei anzusehn, hinzu. +Dieses ging, und in wilder, fast ängstlicher Hast küßte die Frau +jetzt die kleine, schon sanft schlummernde Line, und hob dann +<span class="tei tei-pb" id="page259">[pg 259]</span><a name="Pg259" id="Pg259" class="tei tei-anchor"></a>das Jüngste aus seinem Kasten, auf dessen rosige Lippen sie +den eigenen Mund in wilder Heftigkeit preßte, bis es schrie. +Die Thränen — die Mutter <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">konnte</span></em> sich nicht ganz verleugnen +in dem Augenblick — liefen ihr dabei voll und +schwer die Wangen hinunter, und erst als sie das Aelteste +mit dem Holz zurückkehren hörte, legte sie das leicht beruhigte +Kind wieder auf sein Lager, und küßte den Jungen, dem die +Thränen auch anfingen in die Augen zu steigen. Er wußte +freilich nicht recht weshalb, und nur vielleicht weil er die +Mutter weinen sah, wurd' es ihm auch so weh und weich +um's Herz.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Aber Mutter, was ist Dir nur heute Abend?« sagte das +Mädchen, dem die außergewöhnliche Bewegung derselben unmöglich +entgehen konnte — »was habt Ihr nur, Du und der +Vater?«</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Bah — der Vater war garstig mit mir, und wir haben +uns gezankt,« sagte die Mutter, das Gesicht abwendend von +dem Kind.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Ein scharfer Pfiff von draußen her schlug an ihr Ohr, +und sie fuhr erschreckt in die Höhe.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">»Ja — ich komme schon!« murmelte sie, kaum hörbar, +vor sich hin, »so adieu Albertine — hab auf die Kinder Acht, +und — <em class="tei tei-emph"><span style="letter-spacing: 0.20em">behüt Euch Gott</span></em>!« und mit dem, wie scheu geflüsterten +und vielleicht seit langer, langer Zeit nicht ausgesprochenen +Segen, verließ sie rasch das Zimmer und das +Haus.</p> + +<p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-pb" id="page260">[pg 260]</span><a name="Pg260" id="Pg260" class="tei tei-anchor"></a>»Was zum Teufel trödelst Du denn da drin, und läßt +mich eine Stunde hier warten?« rief der Mann mürrisch, als +sie ihn endlich an der verabredeten Stelle traf — aber die +Frau erwiederte kein Wort, und die fieberheiße Stirn in die +Hand pressend, folgte sie dem, jetzt ebenfalls finster und schweigend +Voranschreitenden, durch die Nacht.</p> +</div> +</div> + +<div class="tei tei-back" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 6.00em"> +<hr class="doublepage" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 5.00em; margin-top: 5.00em"> +<div id="pgfooter" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 4.00em; margin-top: 4.00em"><pre class="pre tei tei-div" style="margin-bottom: 3.00em; margin-top: 3.00em">***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACH AMERIKA! ERSTER BAND*** +</pre><hr class="doublepage" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 3.00em; margin-top: 3.00em"><a name="rightpageheader31" id="rightpageheader31"></a><a name="pgtoc32" id="pgtoc32"></a><a name="pdf33" id="pdf33"></a><h1 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">Credits</span></h1><table summary="This is a list." class="tei tei-list" style="margin-bottom: 1.00em; margin-top: 1.00em"><tbody><tr><th class="tei tei-label tei-label-gloss">May 2006 </th></tr><tr><td class="tei tei-item tei-item-gloss"><table summary="This is a list." class="tei tei-list" style="margin-bottom: 1.00em; margin-top: 1.00em"><tbody><tr class="tei tei-labelitem"><th class="tei tei-label"></th><td class="tei tei-item">Project Gutenberg Edition</td></tr><tr class="tei tei-labelitem"><th class="tei tei-label"></th><td class="tei tei-item"><span class="tei tei-respStmt"> + <span class="tei tei-name">richyfortytwo<br /></span> + <span class="tei tei-name">Joshua Hutchinson<br /></span> + <span class="tei tei-name">Online Distributed Proofreading Team</span> + </span></td></tr></tbody></table></td></tr></tbody></table></div><hr class="doublepage" /><div class="tei tei-div" style="margin-bottom: 3.00em; margin-top: 3.00em"><a name="rightpageheader34" id="rightpageheader34"></a><a name="pgtoc35" id="pgtoc35"></a><a name="pdf36" id="pdf36"></a><h1 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 3.46em; margin-top: 3.46em"><span style="font-size: 173%">A Word from Project Gutenberg</span></h1><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">This file should be named + 18475-h.html or + 18475-h.zip.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">This and all associated files of various formats will be found + in: + + <a href="http://www.gutenberg.org/dirs/1/8/4/7/18475/" class="block tei tei-xref" style="margin-bottom: 1.80em; margin-left: 3.60em; margin-top: 1.80em; margin-right: 3.60em"><span style="font-size: 90%">http://www.gutenberg.org</span><span style="font-size: 90%">/dirs/1/8/4/7/18475/</span></a></p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Updated editions will replace the previous one — the old + editions will be renamed.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Creating the works from public domain print editions means that + no one owns a United States copyright in these works, so the + Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United + States without permission and without paying copyright royalties. + Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this + license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works + to protect the Project Gutenberg™ concept and trademark. 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It may only be used on or + associated in any way with an electronic work by people who agree to be + bound by the terms of this agreement. There are a few things that you + can do with most Project Gutenberg™ electronic works even without complying with the + full terms of this agreement. See paragraph <a href="#pglicense1C" class="tei tei-ref">1.C</a> below. There are a lot of things you can + do with Project Gutenberg™ electronic works if you follow the terms of this + agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg™ electronic + works. See paragraph <a href="#pglicense1E" class="tei tei-ref">1.E</a> below.</p></div><div id="pglicense1C" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h3 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.40em; margin-top: 2.40em"><span style="font-size: 120%">1.C.</span></h3><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">The Project Gutenberg Literary Archive Foundation (<span class="tei tei-q">„the Foundation“</span> or PGLAF), owns a compilation + copyright in the collection of Project Gutenberg™ electronic works. Nearly all the + individual works in the collection are in the public domain in the + United States. If an individual work is in the public domain in the + United States and you are located in the United States, we do not claim + a right to prevent you from copying, distributing, performing, + displaying or creating derivative works based on the work as long as all + references to Project Gutenberg are removed. 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If you are outside the United States, check + the laws of your country in addition to the terms of this agreement + before downloading, copying, displaying, performing, distributing or + creating derivative works based on this work or any other Project Gutenberg™ work. + The Foundation makes no representations concerning the copyright status + of any work in any country outside the United States.</p></div><div id="pglicense1E" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h3 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.40em; margin-top: 2.40em"><span style="font-size: 120%">1.E.</span></h3><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Unless you have removed all references to Project Gutenberg:</p><div id="pglicense1E1" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.E.1.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">The following sentence, with active links to, or other immediate + access to, the full Project Gutenberg™ License must appear prominently whenever any + copy of a Project Gutenberg™ work (any work on which the phrase <span class="tei tei-q">„Project Gutenberg“</span> + appears, or with which the phrase <span class="tei tei-q">„Project Gutenberg“</span> is associated) is + accessed, displayed, performed, viewed, copied or distributed: + + </p><div class="block tei tei-q" style="margin-bottom: 1.80em; margin-left: 3.60em; margin-top: 1.80em; margin-right: 3.60em"><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 0.90em"><span style="font-size: 90%">This eBook is for the use of + anyone anywhere at no cost and with almost no + restrictions whatsoever. You may copy it, give it + away or re-use it under the terms of the Project + Gutenberg License included with this eBook or + online at </span><a href="http://www.gutenberg.org" class="tei tei-xref"><span style="font-size: 90%">http://www.gutenberg.org</span></a></p></div></div><div id="pglicense1E2" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.E.2.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">If an individual Project Gutenberg™ electronic work is derived from the public + domain (does not contain a notice indicating that it is posted with + permission of the copyright holder), the work can be copied and + distributed to anyone in the United States without paying any fees or + charges. 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Any alternate format must include the full Project Gutenberg™ License + as specified in paragraph <a href="#pglicense1E1" class="tei tei-ref">1.E.1.</a></p></div><div id="pglicense1E7" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.E.7.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Do not charge a fee for access to, viewing, displaying, performing, + copying or distributing any Project Gutenberg™ works unless you comply with + paragraph <a href="#pglicense1E8" class="tei tei-ref">1.E.8</a> or 1.E.9.</p></div><div id="pglicense1E8" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.E.8.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">You may charge a reasonable fee for copies of or providing access to + or distributing Project Gutenberg™ electronic works provided that</p><table summary="This is a list." class="tei tei-list" style="margin-bottom: 1.00em; margin-top: 1.00em"><tbody><tr class="tei tei-labelitem"><th class="tei tei-label">• </th><td class="tei tei-item"><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from + the use of Project Gutenberg™ works calculated using the method you already use to + calculate your applicable taxes. 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Royalty payments should be clearly + marked as such and sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in <a href="#pglicense4" class="tei tei-ref">Section 4, <span class="tei tei-q">„Information about donations to the + Project Gutenberg Literary Archive Foundation.“</span></a></p></td></tr><tr class="tei tei-labelitem"><th class="tei tei-label">• </th><td class="tei tei-item"><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">You provide a full refund of any money paid by a user who notifies + you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he does + not agree to the terms of the full Project Gutenberg™ License. You must require such + a user to return or destroy all copies of the works possessed in a + physical medium and discontinue all use of and all access to other + copies of Project Gutenberg™ works.</p></td></tr><tr class="tei tei-labelitem"><th class="tei tei-label">• </th><td class="tei tei-item"><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">You provide, in accordance with paragraph <a href="#pglicense1F3" class="tei tei-ref">1.F.3</a>, a full refund of any money paid for a + work or a replacement copy, if a defect in the electronic work is + discovered and reported to you within 90 days of receipt of the + work.</p></td></tr><tr class="tei tei-labelitem"><th class="tei tei-label">• </th><td class="tei tei-item"><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">You comply with all other terms of this agreement for free + distribution of Project Gutenberg™ works.</p></td></tr></tbody></table></div><div id="pglicense1E9" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.E.9.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg™ electronic work or + group of works on different terms than are set forth in this agreement, + you must obtain permission in writing from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael + Hart, the owner of the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set + forth in <a href="#pglicense3" class="tei tei-ref">Section 3</a> below.</p></div></div><div id="pglicense1F" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h3 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.40em; margin-top: 2.40em"><span style="font-size: 120%">1.F.</span></h3><div id="pglicense1F1" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.F.1.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable effort to identify, + do copyright research on, transcribe and proofread public domain works + in creating the Project Gutenberg™ collection. Despite these efforts, Project Gutenberg™ + electronic works, and the medium on which they may be stored, may + contain <span class="tei tei-q">„Defects,“</span> such as, but not limited to, incomplete, + inaccurate or corrupt data, transcription errors, a copyright or other + intellectual property infringement, a defective or damaged disk or other + medium, a computer virus, or computer codes that damage or cannot be + read by your equipment.</p></div><div id="pglicense1F2" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.F.2.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES — Except for the <span class="tei tei-q">„Right of + Replacement or Refund“</span> described in <a href="#pglicense1F3" class="tei tei-ref">paragraph + 1.F.3</a>, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project Gutenberg™ trademark, and any + other party distributing a Project Gutenberg™ electronic work under this agreement, + disclaim all liability to you for damages, costs and expenses, including + legal fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT + LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE + PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE TRADEMARK + OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE LIABLE TO + YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR INCIDENTAL + DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH DAMAGE.</p></div><div id="pglicense1F3" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.F.3.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND — If you discover a defect in + this electronic work within 90 days of receiving it, you can receive a + refund of the money (if any) you paid for it by sending a written + explanation to the person you received the work from. If you received + the work on a physical medium, you must return the medium with your + written explanation. The person or entity that provided you with the + defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a + refund. If you received the work electronically, the person or entity + providing it to you may choose to give you a second opportunity to + receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy + is also defective, you may demand a refund in writing without further + opportunities to fix the problem.</p></div><div id="pglicense1F4" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.F.4.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Except for the limited right of replacement or refund set forth in + <a href="#pglicense1F3" class="tei tei-ref">paragraph 1.F.3</a>, this work is provided + to you 'AS-IS,' WITH NO OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR + IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR + FITNESS FOR ANY PURPOSE.</p></div><div id="pglicense1F5" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.F.5.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Some states do not allow disclaimers of certain implied warranties or + the exclusion or limitation of certain types of damages. If any + disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the law of + the state applicable to this agreement, the agreement shall be + interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by + the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any + provision of this agreement shall not void the remaining provisions.</p></div><div id="pglicense1F6" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h4 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em">1.F.6.</h4><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">INDEMNITY — You agree to indemnify and hold the Foundation, the + trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone + providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in accordance with this + agreement, and any volunteers associated with the production, promotion + and distribution of Project Gutenberg™ electronic works, harmless from all + liability, costs and expenses, including legal fees, that arise directly + or indirectly from any of the following which you do or cause to occur: + (a) distribution of this or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, + modification, or additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any + Defect you cause.</p></div></div></div><div id="pglicense2" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h2 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Section 2.</span></h2><h2 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.40em; margin-top: 2.40em"><span style="font-size: 120%">Information about the Mission of Project Gutenberg™</span></h2><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of electronic works + in formats readable by the widest variety of computers including + obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the + efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks + of life.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Volunteers and financial support to provide volunteers with the + assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg™'s goals and + ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for + generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a + secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn + more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see + Sections <a href="#pglicense3" class="tei tei-ref">3</a> and <a href="#pglicense4" class="tei tei-ref">4</a> and the Foundation web page at <a href="http://www.pglaf.org" class="tei tei-xref">http://www.pglaf.org</a>.</p></div><div id="pglicense3" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h2 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Section 3.</span></h2><h2 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.40em; margin-top: 2.40em"><span style="font-size: 120%">Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation</span></h2><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation + organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax + exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or + federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter + is posted at <a href="http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf" class="tei tei-xref">http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf</a>. Contributions + to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. + federal laws and your state's laws.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. + S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are + scattered throughout numerous locations. Its business office is + located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) + 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date + contact information can be found at the Foundation's web site and + official page at <a href="http://www.pglaf.org" class="tei tei-xref">http://www.pglaf.org</a></p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">For additional contact information: + + </p><div class="block tei tei-address" style="margin-bottom: 1.80em; margin-left: 3.60em; margin-top: 1.80em; margin-right: 3.60em"><span class="tei tei-addrLine"><span style="font-size: 90%">Dr. Gregory B. Newby</span></span><br /><span class="tei tei-addrLine"><span style="font-size: 90%">Chief Executive and Director</span></span><br /><span class="tei tei-addrLine"><span style="font-size: 90%">gbnewby@pglaf.org</span></span><br /></div></div><div id="pglicense4" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h2 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Section 4.</span></h2><h2 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.40em; margin-top: 2.40em"><span style="font-size: 120%">Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation</span></h2><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without wide spread public + support and donations to carry out its mission of increasing the number + of public domain and licensed works that can be freely distributed in + machine readable form accessible by the widest array of equipment + including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are + particularly important to maintaining tax exempt status with the + IRS.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">The Foundation is committed to complying with the laws regulating + charities and charitable donations in all 50 states of the United + States. Compliance requirements are not uniform and it takes a + considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up + with these requirements. We do not solicit donations in locations where + we have not received written confirmation of compliance. To SEND + DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state + visit <a href="http://www.gutenberg.org/fundraising/donate" class="tei tei-xref">http://www.gutenberg.org/fundraising/donate</a></p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">While we cannot and do not solicit contributions from states where we + have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition + against accepting unsolicited donations from donors in such states who + approach us with offers to donate.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">International donations are gratefully accepted, but we cannot make + any statements concerning tax treatment of donations received from + outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and + addresses. Donations are accepted in a number of other ways including + checks, online payments and credit card donations. To donate, please + visit: <a href="http://www.gutenberg.org/fundraising/donate" class="tei tei-xref">http://www.gutenberg.org/fundraising/donate</a></p></div><div id="pglicense5" class="tei tei-div" style="margin-bottom: 2.00em; margin-top: 2.00em"><h2 class="tei tei-head" style="text-align: left; margin-bottom: 2.88em; margin-top: 2.88em"><span style="font-size: 144%">Section 5.</span></h2><h2 class="tei tei-head" style="text-align: center; margin-bottom: 2.40em; margin-top: 2.40em"><span style="font-size: 120%">General Information About Project Gutenberg™ electronic + works.</span></h2><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em"><span class="tei tei-name">Professor Michael S. Hart</span> is the + originator of the Project Gutenberg™ concept of a library of electronic works that + could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and + distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of volunteer + support.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed editions, all of + which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright + notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in + compliance with any particular paper edition.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Each eBook is in a subdirectory of the same number as the eBook's + eBook number, often in several formats including plain vanilla ASCII, + compressed (zipped), HTML and others.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Corrected <em class="tei tei-emph"><span style="font-style: italic">editions</span></em> of our eBooks replace the old file + and take over the old filename and etext number. The replaced older file + is renamed. <em class="tei tei-emph"><span style="font-style: italic">Versions</span></em> based on separate sources are treated + as new eBooks receiving new filenames and etext numbers.</p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">Most people start at our Web site which has the main PG search + facility: + + <a href="http://www.gutenberg.org" class="block tei tei-xref" style="margin-bottom: 1.80em; margin-left: 3.60em; margin-top: 1.80em; margin-right: 3.60em"><span style="font-size: 90%">http://www.gutenberg.org</span></a></p><p class="tei tei-p" style="margin-bottom: 1.00em">This Web site includes information about Project Gutenberg™, including how to + make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and + how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.</p></div></div></div> +</div> +</div> + +</div> +</body></html> diff --git a/18475-h/images/illu001.jpg b/18475-h/images/illu001.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..7df80ac --- /dev/null +++ b/18475-h/images/illu001.jpg diff --git a/18475-h/images/illu002.jpg b/18475-h/images/illu002.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..98522b0 --- /dev/null +++ b/18475-h/images/illu002.jpg diff --git a/18475-h/images/illu003.jpg b/18475-h/images/illu003.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..303255e --- /dev/null +++ b/18475-h/images/illu003.jpg diff --git a/18475-h/images/illu004.jpg b/18475-h/images/illu004.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..653df65 --- /dev/null +++ b/18475-h/images/illu004.jpg diff --git a/18475-h/images/illu005.jpg b/18475-h/images/illu005.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..4013a9d --- /dev/null +++ b/18475-h/images/illu005.jpg diff --git a/18475-pdf.pdf b/18475-pdf.pdf Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..56bb6ed --- /dev/null +++ b/18475-pdf.pdf diff --git a/18475-pdf.zip b/18475-pdf.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..63e2847 --- /dev/null +++ b/18475-pdf.zip diff --git a/18475-tei.tei b/18475-tei.tei new file mode 100644 index 0000000..365179b --- /dev/null +++ b/18475-tei.tei @@ -0,0 +1,8745 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" ?> + +<!-- +The Project Gutenberg EBook of Nach Amerika! Erster Band by Friedrich Gerstäcker + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at http://www.gutenberg.org/license + +Title: Nach Amerika! Erster Band + +Author: Friedrich Gerstäcker + +Release Date: 2006 [Ebook #18475] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 +--> + +<!DOCTYPE TEI.2 SYSTEM "http://www.gutenberg.org/tei/marcello/0.4/dtd/pgtei.dtd"> +<TEI.2 lang="de"> + +<teiHeader> + +<fileDesc> +<titleStmt> +<title>Nach Amerika! Erster Band</title> +<author><name reg="Gerstäcker, Friedrich">Friedrich Gerstäcker</name></author> +<editor role="illustrator"><name reg="Hosemann, Theodor">Theodor Hosemann</name></editor> +</titleStmt> + +<editionStmt> +<edition n="1">Edition 1</edition> +</editionStmt> + +<publicationStmt> +<publisher>Project Gutenberg</publisher> +<pubPlace>Urbana</pubPlace> +<date>May 2006</date> +<idno type="etext-no">18475</idno> +<idno type="DPid">projectID423450f484829</idno> +<availability> +<p>This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and +with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it +away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg +License online at www.gutenberg.org/license</p> +</availability> +</publicationStmt> + +<sourceDesc> +<bibl> +<title>Nach Amerika! 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hast Du von den Zaubersprüchen gehört, die +vor alten Zeiten weise Männer gekannt, Geister heraufzurufen +aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich +dienstbar zu machen? — Mit dem ersten Klang der einfachen +Sylbe schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im +Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner zusammen, +die Erde bebte, und das kecke, tollkühne Menschenkind das sie +gesprochen, bebte zurück vor der furchtbaren Gewalt die es +heraufbeschworen.</p> + +<p><emph rend="letter-spacing: 0.20em">Die</emph> Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem +Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder +wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergeben sie zu +rufen — aber ein anderes dafür gefunden das, kaum minder +stark, mit <emph rend="letter-spacing: 0.20em">einem</emph> Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, +den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen +und Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden +reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern +treulich festgehalten.</p> + +<p>»Nach Amerika,« leicht und keck ruft es der Tollkopf +trotzig der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die +seine Kraft prüfen sollte, seinen Muth stählen — »nach Amerika,« +flüstert der Verzweifelte der hier am Rand des Verderbens +dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde — »nach +Amerika,« sagt still und entschlossen der Arme, der +mit männlicher Kraft, und doch immer und immer wieder vergebens +gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um +sein »tägliches Brod« mit blutigem Schweiß gebeten — und +es nicht erhalten, der keine Hülfe für sich und die Seinen hier +im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln <emph rend="letter-spacing: 0.20em">will</emph>, nicht stehlen +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">kann</emph> — »nach Amerika« lacht der Verbrecher nach glücklich +verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, +die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts — »nach +Amerika,« jubelt der Idealist, der wirklichen Welt +zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über dem Ocean drüben +ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht — »nach Amerika« und mit dem einen Wort +liegt hinter ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, +Wirken, Schaffen — liegen die Bande die Blut oder Freundschaft +hier geknüpft, liegen die Hoffnungen die sie für hier gehegt, +die Sorgen die sie gedrückt — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">»nach Amerika!«</emph></p> + +<p>So gährt und keimt der Saame um uns her — hier +noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, +dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der +reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer +draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain, der ihn +zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so +schwer geärgert, und der im Geist schon die langen geraden +Furchen zieht, weit über dem Meer drüben, in dem fetten, +herrlichen Land; — der Handwerker in seiner Werkstatt, dem +sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt, mit Neuerungen +und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen +Kunden die ihm bis dahin noch geblieben in <emph rend="letter-spacing: 0.20em">seine</emph> Thür zu +locken; der Künstler in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, +der über einer freieren Entwickelung brütet, und von einem +Lande schwärmt wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und +Hände binden; — der Kaufmann hinter seinem Pult, der +Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern +zieht, und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von +einem neuen, andern Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, +von reich gefüllten Waarenhäusern träumt; in Tausenden von +ihnen drängt's und treibt's und quält's, und wenn sie auch +noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe +wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke fort — ein +stiller aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über +das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arzenei, +neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, +und wie weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht +nicht errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem +Ding — nach Leuten die vordem »hinüber« gezogen und denen +es gut gegangen — nach Land- und Fruchtpreis, Klima, +Boden, Volk — für Andere natürlich, nicht für sich etwa — sie +lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will +hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie +wünschen daß es dem wohl geht, und häufen mehr und mehr +Zunder für sich selber auf.</p> + +<p>So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner +ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter +den <foreign rend="font-style: italic">salto mortale</foreign> gethan, und Alles hinter sich gelassen, +was ihm einst lieb und theuer war — aus dem, aus +jenem Grund — und täglich, stündlich noch hören wir von +anderen, von denen wir im Leben nie geglaubt daß <emph rend="letter-spacing: 0.20em">sie</emph> je an +Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind und Hab und +Gut hinüberziehn.</p> + +<p>Und dort? — </p> + +<p> — Die vorliegenden Blätter sollen dem Leser ein Bild +geben von dem Leben und Treiben solcher Leute. Hier aus +unserer Mitte heraus, aus den verschiedenartigsten Verhältnissen +und Sphären, aus allen Schichten der menschlichen +Gesellschaft sehen wir sie ziehen — Gute und Böse, den Leichtsinnigen +und den Spekulanten, den Bauer und Handwerker, +den Gelehrten und den Arbeiter, den rechtschaffenen Bürger +und den heimlichen Verbrecher, Alle dem <emph rend="letter-spacing: 0.20em">einen</emph> Ziel entgegenstrebend. +Und <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Alle</emph> vereinigt sie das Schiff; der eine +kleine Bau, der hunderte von Menschen auf seinem schwanken +Kiel hinüberträgt, dem fernen Welttheil zu; oh was für Hoffnungen, +was für Pläne und Träume birgt er in seinem Schooß. +Aber die Auswanderer liegen die langen Wochen, ja Monate, +verpuppten Raupen gleich, im engen Haus, still und gedrängt +beisammen; Jeder mit dem alten Leben abgeschlossen hinter +sich, mit dem neuen noch nicht begonnen, in einem wunderlichen +unnatürlichen Zustand, ungeduldiger Ruhe, bis der +Anker in die Tiefe rollt, und die ausgeschobene schmale Planke +der bunten Schaar von Tag- und Nachtfaltern den Weg in's +Freie öffnet.</p> + +<p>Hinaus flattern sie da nach allen Seiten, wie eine Hand +voll Spreu, vom Winde fort geführt; die Einen selbstbewußt +und keck dem fremden, unbekannten Leben in die Arme springend, +die Anderen scheu und zaghaft bei jedem Schritte fast moralische +Selbstschüsse und Fußangeln fürchtend; Alle aber entschlossen, +die meisten sogar gezwungen, dem neuen Vaterlande +die, im alten aufgegebene Existenz abzuringen, Jeder in seiner +Art, auf seine Weise.</p> + +<p>Dort nun sehen wir sie schaffen und wirken in Gutem +und Bösen, die Einen mit ihren kühnsten Hoffnungen erfüllt, +Andere, zerknirscht und zertreten, die Stunde verwünschend, +die den Gedanken an Auswanderung gebar — sehn wie sich +die Wildniß lichtet, wie Farmen und Städte entstehn, und +sich das deutsche Element ausbreitet nach allen Seiten, und +folgen den einzelnen Bekannten und Freunden, die wir zu +Hause schon, oder auf der Fahrt erst lieb gewonnen, oder für +die wir uns interessiren, auf ihren verschiedenen, oft wunderlichen +Bahnen.</p> + +<p>Manchen alten Reisegefährten führ ich dabei dem Leser +vor, und hoffe ihn nicht zu langweilen, den weiten Weg; +schlafen wir dann auch manchmal draußen im Freien, oder in +niederer Blockhütte auf dünnem »Quilt«, müssen wir auch +eine Zeit lang mit Maisbrod und Wildpret, oder gar mit +Speck und Syrup verlieb nehmen, wie es der Farmer am +Ohio liebt, wir lernen doch das Land kennen, mit seinen +guten und schlechten Eigenschaften, seinen Vortheilen und +Mängeln, seinen Bürgern und Einwanderern, seinen inneren +Verhältnissen, seinem Leben und seiner Lebenskraft, und bin +ich im Stande ihn auch nur einen Blick in jene ferne, von +Tausenden so heiß ersehnte Welt, wie ich sie selbst gefunden, +thun zu lassen, so hab ich meinen Zweck mit diesem Buch +erreicht.</p> + +<p><hi rend="letter-spacing: 0.20em">Rosenau</hi> bei Coburg im September 1854.</p> + +<p rend="text-align: right">Friedrich Gerstäcker.</p> +</div> + +<div rend="page-break-before: right"> +<head rend="text-align: center">Inhalt des ersten Bandes.</head> +<divGen type="toc" /> +</div> + +<div rend="page-break-before: always"> +<pb n="001" /><anchor id="Pg001" /> +<index index="toc" level1="Das Dollinger'sche Haus" /> +<index index="pdf" level1="Das Dollinger'sche Haus" /> +<index index="pdb" level1="Dollingers Haus" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 1.</head> +<head rend="text-align: center">Das Dollinger'sche Haus.</head> + +<p>Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger zu Heilingen — einer +nicht unbedeutenden Stadt Deutschlands — hatte +am Sonntag Mittag, ein kleines Familienfest die Glieder +des Hauses um den Speisetisch versammelt, und diesen heute +in außergewöhnlicher Weise mit Blumen geschmückt, und delicaten +Speisen und Weinen gedeckt. Es war der Geburtstag +der zweiten Tochter des Hauses, der liebenswürdigen Clara +und nur ihr erklärter Bräutigam, ein junger deutscher, in +New-Orleans ansässiger Kaufmann, als Gast der Familie +zugezogen worden.</p> + +<p>Am oberen Ende des Tisches, um dem Leser die Personen +gleich in Lebensgröße vorzuführen, saß Vater Dollinger, ein +etwas wohlbeleibter aber behäbiger, stattlicher Mann, mit klaren, +blauen, unendlich gutmüthigen Augen und schneeweißen +Locken und Augenbrauen, die aber dem edel geschnittenen Ge<pb n="002" /><anchor id="Pg002" />sicht +gar gut und ehrwürdig standen. Ihm zur Rechten saß +seine Frau, allem Anschein nach etwa funfzehn oder sechzehn +Jahre jünger wie er selber, und durch ihr volles, dunkelbraunes +Haar vielleicht auch noch sogar jünger aussehend, als sie wirklich war. +Sie ebenfalls, mit ihrer stattlichen Gestalt, hatte +einen leichten Anflug zu Corpulenz, aber das etwas ausgeschnittene +Kleid, wie die schwere goldene Kette, Broche und +Ohrringe, die sie fast etwas zu reichlich schmückten, paßten +nicht ganz zu dem sonst so freundlichen, matronenhaften +Aeußern.</p> + +<p>Clara neben ihr, war das veredelte Bild der Eltern; die +lieben treublauen Augen schauten gar so vertrauungs- und +unschuldsvoll hinein in die Welt, an deren Schwelle sie stand, +und die ihr, wie ein eben geöffnetes, prachtvoll gebundenes +Buch auf den ersten, flüchtig durchblätterten Seiten, nur freundliche +Blumen und ihr zulächelnde Gestalten zeigte. Kein +Schmerz hatte diese engelsanften Züge noch je durchzuckt, keine +Thräne wirklichen Schmerzes den reinen Blick getrübt, und die +ganze zarte, sinnige Gestalt glich der eben entkeimenden Frühlingsblüthe +im sonnigen Wald, die dem jungen Frühlingstag +in Glück und Unschuld die schwellenden Lippen zum Kusse +bietet, und in der blitzenden Thauperle ihres Kelchs, den reinen +Aether über sich, nur schöner, nur glühender zurückspiegelt.</p> + +<p>Ihre um nur wenige Jahre ältere Schwester, Sophie, die +an des Vaters Seite saß, ähnelte der Schwester in mancher +Hinsicht an Gestalt, aber das einfach kindliche, was Clärchen +jenen unendlichen Reiz verlieh, fehlte ihr. Ihre Gestalt war +<pb n="003" /><anchor id="Pg003" />voller, majestätischer, aber auch ihr Blick mehr kalt und stolz; +»ich bin des reichen Dollingers Kind« lag klar und deutlich +in den scharf zusammengezogenen Mundwinkeln, in dem fest +und entschieden, blitzenden Auge, und auch ihre Kleidung, ihr +Schmuck war, wenn nicht reicher, doch jedenfalls mehr in's +Auge springend, Bewunderung fordernd.</p> + +<p>Zwischen Beiden saß Clara's Bräutigam, ein junger, bildhübscher +Mann in moderner, fast für einen Mann etwas zu gewählter +und sorgfältig geordneter Kleidung; er trug das Haar in +natürlichen dunkelbraunen Locken und das Gesicht glatt rasirt, +bis auf einen kleinen, aufmerksam gekräußten, und nur bis zur +halben Backe reichenden Backenbart, an den Fingern aber mehre +sehr kostbare Diamant-Ringe, eine Brillant-Tuchnadel von +prachtvollem Feuer, und eine schwere goldene, ebenfalls mit +kleinen Edelsteinen besetzte Uhrkette.</p> + +<p>Die Bekanntschaft Clara's und ihrer Eltern hatte er dabei +auf eine etwas romantische Weise, und zwar gleich als ihr +Lebensretter oder doch Befreier aus einer nicht unbedeutenden +Gefahr gemacht. Herr und Frau Dollinger waren nämlich +mit ihren beiden Töchtern im vorigen Herbst auf einer Rheinreise +bei Rüdesheim aus- und zu dem kleinen Waldtempel +oben über Asmannshausen hinaufgestiegen, um sich von dort +nach dem Rheinstein übersetzen zu lassen; die Mutter hatte aber +durch das nicht gewohnte Bergsteigen heftige Kopfschmerzen +bekommen oder, was wahrscheinlicher ist, ennuyirte sich am Land +und wünschte an Bord des Dampfers zurückzukehren, und als +sie gerade mit dem Kahn über den Rhein fuhren, kam ein<pb n="004" /><anchor id="Pg004" /> +Dampfboot stromab, und hielt auf ihr Winken, sie an Bord +zu nehmen. Herr und Frau Dollinger, mit Sophie, von den +Kahnführern unterstützt, hatten auch schon glücklich die Treppe +und das Deck erreicht, und dicht hinter ihnen folgte Clara, als +diese sich plötzlich erinnerte, ihre Geldtasche im Kahn vergessen +zu haben, und anstatt diese sich heraufreichen zu lassen, +selber wieder zurücksprang sie zu holen. Durch das Hineinspringen +fing aber der schmale Kahn an zu schwanken, während +sie, die vergessene kleine Tasche aufhebend, das Gleichgewicht +verlor und, mit dem Kopf voran, in den Rhein stürzte. +Unglücklicher Weise waren gerade in dem nämlichen Augenblick +die Kahnleute an Deck des Dampfers gestiegen, den Koffer +eines Passagiers, der mit an Land fahren wollte, in ihren +Kahn zu heben, und wenn sie jetzt auch, auf das Geschrei an +Bord, rasch in diesen zurücksprangen, trieb doch Clara schon +hinter dem Dampfboot aus, als der junge, eben von Amerika +zurückgekehrte Mann, der dem ganzen Vorfall vom Deck des +Dampfers zugesehn, mit keckem Muth ins Wasser sprang und +die Jungfrau doch wenigstens so lange an der Oberfläche unterstützte, +bis das Boot herbeikam sie beide aufzunehmen.</p> + +<p>Das Weitere nahm einen ziemlich einfachen Verlauf, +Joseph Henkel, wie der junge Mann hieß, gewann sich in den +nächsten Wochen, die er in der Gesellschaft der ihm zu großen +Dank verpachteten Familie zubrachte, die Achtung des Vaters +und die Liebe von Mutter und Tochter, und als er zuerst bei +der Mutter um die Hand der Tochter anhielt, sagten Beide +nicht nein. Allerdings wollte der Vater erst, wenn auch nicht +<pb n="005" /><anchor id="Pg005" />gerade Schwierigkeiten machen, doch etwas Genaueres über +die Existenzmittel eines Mannes erfahren, dem er das Glück +und Leben eines lieben Kindes anvertrauen sollte. Henkel +selber bot ihm dazu die Hand und gab ihm Adressen an verschiedene +Häuser in New-Orleans, die ihm über seine dortige +Stellung genaue Auskunft geben konnten.</p> + +<p>Nach seinem Vermögen mochte der alte Dollinger, wenn +auch Kaufmann, nicht so genau forschen; er war selber +reich genug, einen <emph rend="letter-spacing: 0.20em">reichen</emph> Schwiegersohn entbehren zu +können, und etwas Vermögen mußte der junge Mann +haben, dafür bürgte sein ganzes Auftreten, bürgte besonders +in den Augen seiner Frau der reiche und wirklich kostbare +Schmuck, den er trug. Joseph Henkel war aber auch außerdem +ein interessanter und sehr gescheidter Mann, der Manches +in der Welt schon gesehen und erlebt, und das Gesehene +und Erlebte mit lebendigen Farben und Worten zu schildern +wußte. Er hatte die ganzen Vereinigten Staaten von +Nord nach Süd und von Ost nach West durchstreift, und dort +theils seinen Geschäften gelebt, theils gejagt, sogar ein kleines +Dampfschiff auf dem Arkansas laufen gehabt, mit den Indianern +Handel zu treiben, und ihnen die Produkte des Ostens +gegen ihre eigenen Fabrikate und den Gewinn ihrer Jagden +einzutauschen. Er war auch einmal von jenen wilden trotzigen +Stämmen, die uns Cooper so herrlich und unübertroffen beschrieben, +gefangen genommen und zum Opfertod verdammt, +und damals wirklich nur durch ein halbes Wunder gerettet +worden, und Clara hatte eine ganze Nacht nicht schlafen kön<pb n="006" /><anchor id="Pg006" />nen, +nur in der Angst und Unruhe um die entsetzliche Gefahr, +der sich der tollkühne Mensch damals schon ausgesetzt.</p> + +<p>Der junge Mann schien aber zwischen jenen wilden Stämmen +den Umgang mit civilisirten Menschen keineswegs verlernt +zu haben, und besaß ganz besonders ein fast wunderbares +Geschick, sich seiner Umgebung anzuschmiegen, und sich in ihre +Charaktere ordentlich hineinzuleben. Als ein tüchtiger und +raffinirter Kaufmann, der vorzüglich eine vortreffliche statistische +Kenntniß der Union besaß, gewann er sich dabei, und gleich +von allem Anfang an, die Achtung des alten Dollinger. Der +Frau aber hatte er leicht ihre kleinen, oft liebenswürdigen +Schwachheiten abgelauscht, und wußte ihnen auf so geschickte +Art zu begegnen, daß Frau Dollinger, mit der Rettung des +geliebten Kindes im Hintergrund, schon nach sehr kurzer Zeit +ganz entzückt von ihm war, und sein Lob dem Gatten unaufhörlich +redete. Auch mit der älteren Schwester, Sophie, wußte +sich Henkel bald auf guten Fuß zu stellen; er hatte bei ihr das +leichteste Spiel, denn ihre Schwächen lagen offen zu Tag, +denen aber schmeichelte er mit solcher Liebenswürdigkeit, daß +ihm Clara, die es fühlte wie er dabei aus sich herausging +und etwas annahm was ihm nicht natürlich war, oder doch +jedenfalls dem Mann, den sie liebte, nicht natürlich sein <emph rend="letter-spacing: 0.20em">sollte</emph>, +dennoch nicht böse darüber werden konnte.</p> + +<p>Desto freier, offener und natürlicher war er dafür gegen +sie selber; er las, sang und spielte Pianoforte mit ihr, lehrte +sie eine Menge kleiner reizender, schottischer und irischer Lieder, +oder plauderte mit ihr leicht und sorglos Stunden lang in den<pb n="007" /><anchor id="Pg007" /> +Tag hinein, und konnte oft so herzlich dabei lachen, daß es +Einem ordentlich gut that, ihm zuzuhören. Selbst Sophie entsagte +dann nicht selten ihrem sonst etwas mehr abgeschlossenen, +fast steifen Wesen und kam zu ihnen, Theil an ihrer Fröhlichkeit +zu nehmen.</p> + +<p>Nur in den letzten Tagen war der junge »Amerikaner« +wie er im Hause gewöhnlich scherzhaft hieß, oder der »Delaware« +wie ihn Sophie, wenn sie manchmal bei recht guter +Laune war, nannte, auffällig niedergeschlagen gewesen; er hatte +Briefe von Amerika bekommen, wie er sagte, und ein sehr +lieber Freund von ihm war dort schwer erkrankt, auch ein +Schiff das ihm gehörte, und das nicht versichert worden, so +lange ausgeblieben, daß sein Compagnon fast den Untergang +desselben befürchte. Der alte Herr Dollinger tröstete ihn deshalb, +und er schien sich auch darüber hinwegzusetzen, die sonst +so blühende Farbe seiner Wangen wollte aber doch nicht +sogleich wieder dorthin zurückkehren, und das Auge hatte etwas +Unsicheres, Unstätes, ihm sonst gar nicht Eigenes bekommen.</p> + +<p>Nur heute, zu dem Fest der holden Jungfrau, die er bald +die seine zu nennen hoffte, hatte er all die trüben Gedanken, +welcher Art sie auch gewesen, und woher sie stammten, von +sich abgeschüttelt, und war ganz wieder der frohe glückliche +Mann, wie ihn Clara kennen — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">lieben</emph> gelernt. Auf seinen +Wunsch nur, womit Frau Dollinger eigentlich nicht ganz einverstanden +gewesen, war auch heute keine größere Gesellschaft +geladen worden, sondern die kleine Familie speiste ganz »unter +sich« in dem festlich mit Blumen und Guirlanden geschmückten<pb n="008" /><anchor id="Pg008" /> +Zimmer des jungen liebenswürdigen Geburtstagkindes. Frau +Dollinger hatte sich eigentlich schon länger auf eine zu diesem +Zweck einzuladende, größere Gesellschaft gefreut. Herr Dollinger +selber hielt aber nicht viel von solchen Fêten; dafür jedoch bedung +sie sich aus, daß sie wenigstens den Nachmittag spatzieren +fahren wollten, wobei sie der junge Henkel gewöhnlich zu Pferde +begleitete.</p> + +<p>Etwas that aber der alte Herr Dollinger gern, und zwar +ein Glas Champagner trinken, und der zweite Stöpsel war +eben lustig hinausgeknallt, der Gesundheit des »jungen Brautpaares« +zu Ehren, als die Thür aufging und Loßenwerder, +ein Comptoirdiener des Hauses, mit einem kleinen Paket in's +Zimmer trat.</p> + +<p>Loßenwerder war schon seit elf oder zwölf Jahren im +Haus, und seinem Aeußern nach eben keine angenehme Persönlichkeit; +er hinkte auf dem linken Bein, das er als Kind +einmal gebrochen, war überhaupt häßlicher und magerer Natur, +und schielte auf dem rechten Auge, wodurch sein sonst gerade +nicht unangenehmes Gesicht einen etwas falschen Ausdruck bekam. +Das Störendste aber an dem ganzen Menschen war sein +Stottern, wegen dem man sich auf ein längeres Gespräch gar +nicht mit ihm einlassen konnte, und kam er einmal in Affekt, +konnte er kein Wort mehr herausbringen. Frau Dollinger +sowohl wie Sophie konnten ihn auch nicht leiden, ja die letztere +behauptete sogar er verstelle sich und sie habe ihn schon ganz +ordentlich, wenigstens zehntausend Mal besser sprechen hören, +als er es jedesmal affektire, wenn er zu ihnen in die Wohnung +<pb n="009" /><anchor id="Pg009" />komme; Clara aber hatte Mitleid mit dem armen Menschen, +den sie seines Unglücks wegen innig bedauerte, schenkte ihm +oft eine Kleinigkeit und spottete nie über ihn, während Herr +Dollinger selber, ihn als einen brauchbaren und treuen Diener, +der noch außerdem eine vortreffliche Hand schrieb, kannte und +sehr zufrieden mit ihm war, ihm auch jedes nur mögliche Vertrauen +bewieß.</p> + +<p>»Hallo, Loßenwerder, was bringst Du mir da in's Haus?« +rief ihm sein Principal jetzt halb lachend, halb erstaunt entgegen, +als der kleine Mann das Zimmer betrat und schüchtern +an der Thüre stehen blieb — »ist das für mich oder meine +Tochter?«</p> + +<p>»Gewiß für mich, Väterchen,« rief Clara, rasch von ihrem +Sitze aufspringend — »siehst Du, der Onkel hat mich doch +nicht ganz vergessen mit meinem Fest, und mir Gruß und Geschenk +geschickt.«</p> + +<p>»Hehehe — mö — mö — möchten es sich wo — wo — wo — wo — wohl +wü — n — nschen Fräulein« lachte aber der Stotternde, +indem er Herrn Dollinger zuwinkte, daß das Paket für ihn +sei — »ka — ka — ka — kann ich mir de — de — de — de — denken — Go — go — gold +und Ba — ba — ba — ba — bank — no — noten.« +Er zog dabei einen Brief aus der Tasche, den er dem Herrn +übergab.</p> + +<p>»Hm, hm, hm« sagte aber dieser kopfschüttelnd, »und das +bringst Du mir jetzt in's Haus — gerade wo ich ausfahren +will — warum hast Du es denn nicht dem Cassirer gegeben?«</p> + +<p><pb n="010" /><anchor id="Pg010" />»Ni — ni — nirgends zu fi — fi — fi — finden« stotterte Loßenwerder.</p> + +<p>Herr Dollinger warf den Kopf, den Brief flüchtig durchfliegend, +herüber und hinüber, sagte dann aber, aufstehend und +das Papier vor sich hinlegend:</p> + +<p>»Ja, da läßt sich denn weiter Nichts ändern; gieb mir +das Paket Loßenwerder, und sieh dann zu, daß Du Herrn +Reibich findest. Ich lasse ihn bitten um sieben oder halb acht +Uhr heute Abend auf einen Augenblick zu mir zu kommen — verstanden?«</p> + +<p>»Ja — ja — jawohl He — he — he — herr Do — do — do — Do — «</p> + +<p>»Schon gut« lachte Herr Dollinger, ihm zuwinkend, +»und hier, Loßenwerder, magst Du auch einmal ein Glas auf +das Wohl meiner Tochter trinken. Fräulein Clara's Geburtstag +ist heute — hier Clara, reich es dem jungen Herrn.« Er +füllte dabei ein Wasserglas bis zum Rande voll von dem +funkelnden, schäumenden Naß, und während Clara mit freundlichem +Lächeln dem armen Teufel das Glas credenzte, nahm +Herr Dollinger das Paket mit Geld, ging zu dem nahen Secretair, +in dem der Schlüssel stak, öffnete ihn, legte das Geld +hinein, zog dann den Schlüssel ab und sagte, diesen der Tochter +überreichend:</p> + +<p>»So Kinder, heute müßt Ihr einmal auf ein paar Stunden +mein Cassirer sein, bis der andere aufgefunden werden +kann.«</p> + +<p>Clara nickte dem Vater freundlich zu, und Loßenwerder, +<pb n="011" /><anchor id="Pg011" />der das volle Glas in der Hand hielt und auf einmal ganz +blutroth im Gesicht geworden war, hob es empor und rief +stotternd:</p> + +<p>»Fr — re, re, re, re, re, räu — le — le — lein Cla — ra — ra — ra — ra — aus +ga — ga — ganzem He — he — he — he — he — he — her — ze — ze — zen.«</p> + +<p>Als ob er aber mit den Worten in der Kehle Luft gemacht, +setzte er das Glas an, und der Wein verschwand wie +durch Zauberei.</p> + +<p>»Alle Wetter« lachte Herr Dollinger, der sich gerade nach +ihm umdrehte, »Loßenwerder hat einen vortrefflichen Zug — nun? — hat's +geschmeckt?«</p> + +<p>»Gu — gut Herr Do — do — do — do — do.«</p> + +<p>»Genug, genug« winkte ihm der Principal wieder ab — »also +bestell mir das ordentlich.«</p> + +<p>Loßenwerder, der Art entlassen, und vielleicht froh aus +einer Umgebung zu kommen, in der er sich nicht heimisch +fühlen konnte, setzte das Glas auf einen Seitentisch ab, machte +eine etwas linkische Verbeugung, und wohl wissend daß er zu +einem ordentlichen Danke doch keine Zeit mehr übrig hatte, +empfahl er sich ohne weiter auch nur einen Versuch zu mündlichem +Abschied zu machen.</p> + +<p>»Eine unangenehme Persönlichkeit« sagte Frau Dollinger +zu ihrem Schwiegersohn <foreign rend="font-style: italic">in spe</foreign>, als der Mann noch die Thür +nicht einmal ordentlich hinter sich geschlossen hatte; »ich kann +mir nicht helfen, auf mich macht der Mensch immer einen fatalen +Eindruck.«</p> + +<p><pb n="012" /><anchor id="Pg012" />»Wie — wie befehlen Sie meine Gnädige?« sagte der +junge Henkel etwas zerstreut; Sophie bog sich in diesem Augenblick +zu ihm nieder und flüsterte ihm ein paar Worte zu — </p> + +<p>»Er kann ja doch Nichts für seine Gebrechen« nahm Clara +aber die Antwort auf, »und thut gewiß Alles in seinen Kräften +sie eben durch gutes Betragen vergessen zu machen.«</p> + +<p>»Papa, ich würde das Geld auch nicht so offen in dem +Secretair da liegen lassen« sagte Sophie.</p> + +<p>»Nicht so offen? — ich habe ja zugeschlossen — «</p> + +<p>»Nun, es ist immer nicht gerade gut, wenn die Dienstleute +wissen wo man Geld liegen hat« stimmte die Mutter bei.</p> + +<p>»Dienstleute?« meinte Herr Dollinger — es war ja Niemand +von ihnen im Zimmer — «</p> + +<p>»Doch Loßenwerder?«</p> + +<p>»Bah« lachte der Kaufmann, mit dem Kopf schüttelnd.</p> + +<p>»Ist es denn viel?« frug seine Frau.</p> + +<p>»Nun, der Mühe werth wär's immer« sagte Herr Dollinger, +»fünf Tausend Thaler etwa — es soll aber auch nicht +über Nacht da liegen bleiben, und Loßenwerder hat mir auf +heute Abend den Cassirer zu bestellen, das Geld an sicheren +Ort zu legen, bis ich morgen darüber verfügt habe.«</p> + +<p>»Der Loßenwerder verwandte keinen Blick von dem Geld, +so lang er im Zimmer war« sagte die Mutter, mit dem Finger +vor sich hindrohend.</p> + +<p>»Lieber Gott, Mütterchen, Du weißt ja aber doch daß er +schielt« vertheidigte ihn lachend Clara — »eben so fest und +unverwandt hat er mich indessen mit dem andern Auge ange<pb n="013" /><anchor id="Pg013" />sehen; +seine Schuld ist's nicht daß er zwei Stellen auf einmal +im Auge behalten muß.«</p> + +<p>»Laßt mir den armen Teufel zufrieden« sagte aber auch +Herr Dollinger — »der ist mir nützlicher wie zwei von meinen +anderen Leuten; mehr zum Nutzen wie Staat freilich, aber Staat +will er auch nicht machen. Jetzt übrigens Kinder wird es Zeit +daß wir uns rüsten, und Henkel, Sie müssen noch Ihr Pferd +holen lassen.«</p> + +<p>»Ich habe es schon, in der Voraussetzung daß wir bei +dem schönen Wetter doch wohl eine kleine Parthie machen +würden, hierher bestellt,« erwiederte rasch der junge Mann — wünschen +Sie den Wagen jetzt?«</p> + +<p>»Ich glaube ja, je eher, desto besser; die Tage sind kurz +und wenn wir noch eine Stunde oder zwei fahren wollen, dürfen +wir nicht mehr viel länger warten.«</p> + +<p>»Aber Ihr Mädchen möchtet Euch ein wenig warm einpacken« +sagte jetzt die Mutter, alles Andere in dem Gedanken +an ihre Toilette vergessend — »zum still im Wagen Sitzen +paßt ein Sommerkleid noch nicht und heute Abend wird es +kühl werden.«</p> + +<p>»Und nicht so lange machen,« mahnte der Vater, der sich +sein Glas noch einmal voll schenkte und leerte; »der Wagen +wird im Augenblick da sein.«</p> + +<p>Der Wagen fuhr auch wirklich kaum zehn Minuten später +vor, Herr Dollinger, der nun seinen Hut und Stock aufgenommen, +ging, seine Handschuh anziehend, im Hofe auf und +<pb n="014" /><anchor id="Pg014" />nieder, und endlich erschienen, diesmal in wirklich sehr kurzer +Zeit, die Damen, ihre Sitze einzunehmen.</p> + +<p>»Nun, wo ist Henkel?« sagte Herr Dollinger, sich nach +seinem zukünftigen Schwiegersohne umschauend, »ich habe sein +Pferd auch noch nicht gesehen; jetzt wird uns der warten +lassen.«</p> + +<p>Die Familie hatte indessen im Wagen Platz genommen, +und der alte Herr schaute etwas ungeduldig zum Schlag hinaus, +als der junge Henkel zum Thor, aber ohne Pferd, hereinkam.</p> + +<p>»Nun? und Sie sitzen noch nicht im Sattel?« rief er ihm +schon von weitem entgegen — »das ist eine schöne Geschichte; +jetzt dürfen wir den Frauen nie im Leben wieder vorwerfen, +daß sie uns warten lassen.«</p> + +<p>»Ich muß tausend Mal um Entschuldigung bitten,« +sagte der junge Mann, zum Wagen hinantretend, »aber mein +Stallmeister hat mich sitzen lassen. Wenn Sie mir erlauben +schicke ich einen der Leute danach, oder gehe selber, es ist nicht +weit von hier. Aber thun Sie mir die Liebe und fahren Sie +langsam voraus, ich hole Sie in Zeit von zehn Minuten ein.«</p> + +<p>»Wir können ja hier warten,« sagte die Mutter.</p> + +<p>»Ja, wenn die Pferde stehen wollten,« brummte Herr +Dollinger — »zieh nicht so fest in die Zügel Johann, das +Handpferd kann das nicht vertragen und wird nur noch immer +unruhiger — wir wollen langsam vorausfahren — machen +Sie aber daß Sie nachkommen; auf dem Balkon vom rothen<pb n="015" /><anchor id="Pg015" /> +Drachen trinken wir Kaffee, dort ist eine wundervolle Aussicht — der +Stalljunge mag hinüberlaufen und Ihnen das +Pferd holen.«</p> + +<p>Die Pferde zogen in diesem Augenblick an, Henkel mußte +aus dem Weg springen und verbeugte sich leicht gegen die +Damen, von denen ihm Clara freundlich lächelnd zunickte.</p> + +<p>Eine starke Viertelstunde später sprengte der junge »Amerikaner,« +seinem Thiere die Sporen gebend, daß es Funken +und Kies hintenaus stob, über das Pflaster, zum Entsetzen +der Fußgänger dahin, dem Wagen nach, den er nur erst eine +kurze Strecke vor dem bezeichneten Platz wieder einholte. +Im Stall wollte Niemand etwas davon gewußt haben, daß er +sein Pferd bestellt gehabt — Einer schob die Vergessenheit natürlich +auf den Andern, und Dollinger's Stallknecht mußte +die Leute sogar erst zusammensuchen, bis er das Pferd bekam, +deshalb hatte es so lange gedauert. Als er mit demselben +zurückkehrte, ging der junge Mann in dem kleinen, dicht am +Haus liegenden Garten auf und ab, sprang aber dann, dem +Burschen ein Trinkgeld zuwerfend, und dessen Entschuldigung +nur halb hörend, rasch in den Sattel und flog, wie vorher +erwähnt, in vollem Carrière die Straße nieder.</p> + +<p>Er hatte den Hof kaum verlassen, als Loßenwerder, einen +großen, wunderschön blühenden Monatsrosenstock unter dem +Arm, vorsichtig und wie scheu, daß ihn Niemand gewahre, +über den Hof und in die Hinterthür des Hauses schlich, und +sich leise und geräuschlos die Treppe damit hinaufstahl. Er +<pb n="016" /><anchor id="Pg016" />blieb etwa zehn Minuten im Haus und wollte dann aus +derselben Thür wieder über den Hof zurück, als der Stallknecht +aus der Futterkammer kam. Unschlüssig blieb der +kleine Mann eine kurze Zeit hinter der Thür stehen, und +schlich sich dann, als der Bursche den Platz nicht verlassen +wollte, vorn zur Hausthür hinaus auf die Straße, den Weg +nach seiner Wohnung einschlagend.</p> +</div> +<div rend="page-break-before: always"><pb n="017" /><anchor id="Pg017" /> +<index index="toc" level1="Der rothe Drachen" /> +<index index="pdf" level1="Der rothe Drachen" /> +<index index="pdb" level1="D. rothe Drache" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 2.</head> +<head rend="text-align: center">Der rothe Drachen.</head> +<p>Der »rothe Drachen«, ein Wirthshaus, das wegen seines +vortrefflichen Bieres, wie sonst mancher schätzenswerthen +Eigenschaften einen sehr guten Namen hatte, lag etwa eine +halbe Stunde von Heilingen, an der großen Landstraße, die +gen Norden führte. Ein freundlicher Thalgrund umschloß +Haus und Garten und die dunklen, den Gipfel des nächsten +Hanges krönenden Nadelhölzer hoben nur noch mehr das +freundliche Grün der jungen Birken und Weißeichen hervor, +die sich über die niedere Abdachung erstreckten, und bis scharf +hinan an den hocheingefriedigten und sorgfältig in Ordnung +gehaltenen Frucht-, Gemüse- und Blumengarten des Hauses +selber lehnten.</p> + +<p>Es war ein warmer, sonniger Frühlingsnachmittag; der +Bach, der am Hause dicht vorbeirieselte, plätscherte und schäumte +in frischem jugendlichen Uebermuth, des Eises Hülle, die ihn +<pb n="018" /><anchor id="Pg018" />so lange gefangen gehalten oder doch fest und ängstlich eingeklemmt, +nun endlich einmal enthoben zu sein, und die Vögel +zwitscherten so froh und munter in den Zweigen der alten +knorrigen Linde, die unfern der Thüre stand, und flatterten +und suchten herüber und hinüber, aus den blühenden Obstbäumen +fort über den Hof und von dem Hof wieder fort in dicht +versteckten Ast und Zweig hinein, mit einem gefundenen Strohhalm +oder einer erbeuteten Feder im Schnabel, daß Einem das +Herz ordentlich aufging über das rege glückliche Leben. Und +wie blau spannte sich der Himmel über die blühende, knospende +Welt, wie leicht und licht zogen weiße duftige Wolken, Schwänen +gleich, durch den Aether hin, farbige, flüchtige Schatten +werfend über Wiesen und Feld und die weite Thalesflucht, die +sich dem Auge in die Ferne öffnete und dem leuchtenden Blick +neue Schätze bot, wohin er fiel.</p> + +<p>Ein Frühling in Deutschland — ein Frühling im <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Vaterland</emph>; +oh wie sich das Herz da mit der wirbelnden, schmetternden +Lerche hebt und jubelnd, jauchzend gen Himmel steigt; +zwinge die Thräne da nicht zurück, die sich Dir, dem Glücklichen, +in's Auge drängt — in ihrem Blitzen preisest Du den +Vater droben, wie es die jubelnde Lerche dort thut, die mit +zitterndem Flügelschlag über den grünen Matten schwebt; — wie +das raschelnde flüsternde Blatt im Wald, wie der schwankende, +thaugeschmückte Halm und die knospende, duftende +Blüthe im Thal. Ein Frühling im Vaterland — oh wie +schön, wie jung und frisch die Welt da um uns liegt in ihrem +bräutlichen Glanz, voll neuer Hoffnungen in jedem jungen<pb n="019" /><anchor id="Pg019" /> +Keim, und wie sich das Herz der schönen Blume gleich zusammenzog, +als der Herbststurm über die Haide fuhr, mit +rauher Hand den Blattschmuck von den Bäumen riß und zu +Boden warf und Schnee und Eis vor sich hin jagte über die +erstarrende Flur, so öffnet es sich jetzt mit vollem Athemzug +wieder den balsamischen Frühlingsgruß, und vorbei, vergessen +liegt vergangenes Leid — wie der verwehte Sturm selber keine +Spur mehr hinterließ und die schönsten Blumen jetzt gerade +an den Stellen blühen, wo er am tollsten, rasendsten getobt.</p> + +<p>Ein warmer erquickender Regen war die letzten Tage gefallen, +und so gut er dem Land gethan, hatte er doch die Bewohner +des nahen Städtchens in ihre Häuser und Straßen +gebannt gehalten, von wo aus sie sehnsüchtig die nahen grünenden +Berge theils, theils die dunklen Wolken betrachteten, +die nicht nachlassen wollten Segen auf die Fluren niederzuträufeln. +Heute aber hatte sich das geändert; voll und warm +glühte die Sonne am Himmelszelt und hinaus strömten sie in +jubelnden Schaaren, hinaus in's Freie. Der »rothe Drachen« +vor allen anderen Plätzen, der so reizend an der Oeffnung des +Thales lag und die Aussicht bot in das darunter liegende +freie Land, hatte dabei sein reichlich Theil erhalten der fröhlichen +Schaar, daß die Wirthin mit ihren Kellnern und Mägden +nicht Hände genug hatte zu schaffen und herzurichten, und +die Tische und Bänke im Garten draußen fast alle besetzt waren +rund herum von Schmausenden.</p> + +<p>Der »rothe Drachen« sollte übrigens, wie die Sage ging, +seinen Namen von einem wirklichen Drachen bekommen haben, +<pb n="020" /><anchor id="Pg020" />der einmal vor vielen hundert Jahren in der Schlucht weiter +oben, die auch noch ebenfalls nach ihm die Drachenschlucht +hieß, gehaust und viele Menschen und Rinder verschlungen +hatte. Der Wirth des »rothen Drachen« nun, Thuegut Lobsich, +dessen Voreltern schon diesen Platz gehalten, behauptete +dabei, Einer seiner »Ahnen« habe den Drachen im Einzelkampf +erlegt — (die Gäste meinten, mit schlechtem Bier vergiftet) +und dafür von dem damals regierenden Fürsten Platz +und Wirtschaft als Gerechtsame, mit dem Schild als Wahrzeichen, +erhalten.</p> + +<p>Wie dem auch sei, Thuegut Lobsich that wirklich gut auf +dem Platz, der ihm vortreffliche Nahrung bot, und befand sich +so wohl, wie sich nur ein Wirth in einer gut gelegenen Wirthschaft +befinden kann. Seine Frau war aber dabei der Nerv +des Ganzen, in Küche und Stall, in Keller und Haus, und +während sich Vater Lobsich, wie er sich gern nennen ließ, obgleich +er noch jung und rüstig war, am Liebsten zu seinen +Gästen irgendwo an einen Tisch drückte und »das Bier controllirte«, +wie er sagte, daß ihm die Burschen kein Saures +brachten und die Gäste verjagten, arbeitete die Frau im +Schweiße ihres Angesichts vor dem Heerd, die bestellten Portionen +herzurichten und zu gleicher Zeit auch den Verkauf von +Kaffee, Thee, Milch und Kuchen zu überwachen. Dabei führte +sie die Kasse und rechnete mit Kellnern und Mädchen ab, und +wehe denen, die eine halbe Portion Kaffee oder Kuchen vergessen, +ein nichtbezahltes Glas nicht aufnotirt oder einem +<pb n="021" /><anchor id="Pg021" />schlechten Kunden noch einmal gegen den direkt gegebenen +Befehl geborgt hatten.</p> + +<p>Böse Zungen meinten dabei nicht selten, Frau Lobsich sei +der »einzige Mann im Hause« und Thuegut dürfe nur tanzen, +wenn sie nicht daheim wäre; böse Zungen erwähnten dann +aber nicht dabei, daß sie wirklich allein das Hauswesen in +Zucht und Ordnung hielt, und so scharf und heftig sie draußen +in Küche und Wirtschaft, wo sie fremde Leute doch auch +eigentlich nur zu sehen bekamen, sein konnte, und so große +Ursache sie dabei oft hatte ärgerlich zu sein, und die Ursache +dann auch für vollkommen genügend hielt, es wirklich zu werden, +so still und freundlich konnte sie sich betragen, wenn sie +allein mit ihrem Manne war, und so gern gab sie ihm in +Allem nach, was nicht eben zu Ruin und Schaden trieb. Salome +Lobsich war das Muster einer Hausfrau, und was ebensoviel +sagen will, eine gute Gattin dabei — ob ihr Mann +dasselbe auch von sich sagen konnte, stand auf einem anderen +Blatt.</p> + +<p>Heute hatte sich übrigens eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft +in dem gar so freundlich gelegenen Garten des rothen +Drachen eingefunden, und dicht vor der Thür desselben, unter +der alten breitschattigen Linde, die ihre Arme so weit nach +rechts und links hinüberstreckte, daß man sie schon hatte stützen +müssen, nur den Weg zu ihr und den Platz darunter frei zu behalten, +saß Lobsich selber mit einem kleinen Kreis guter +Bekannten, d. h. alter Kunden und quasi Stammgäste von +ihm, denn er selber kam selten irgend wo anders hin, und +<pb n="022" /><anchor id="Pg022" />wer also sein Bekannter <emph rend="letter-spacing: 0.20em">bleiben</emph> wollte, mußte ihn eben +besuchen.</p> + +<p>Zu diesen gehörte besonders Jacob Kellmann, ein Kürschner +und Pelzhändler aus Heilingen, dann der Aktuar Ledermann +von dort, eine lange hagere, etwas ungeschickte Gestalt, +mit aber nicht unangenehmen, gutmüthigen Gesichtszügen, und +der Apotheker aus Heilingen, Schollfeld mit Namen, die es +gewöhnlich so einzurichten wußten, daß sie an einen Tisch mit +einander zu sitzen kamen. Lobsich nahm ebenfalls am Liebsten +zwischen dieser kleinen Gesellschaft Platz, und nur dann und +wann, besonders wenn er die Stimme seiner Frau irgendwo +hörte, stand er auf und ging einmal durch den Garten und +die Reihen seiner Gäste, zu sehn ob Alle ordentlich bedient +würden, und keine Klagen einliefen gegen unaufmerksame Kellner, +die er in dem Fall auch wohl gleich an Ort und Stelle +mit einem Knuff oder einer Ohrfeige abstrafte, als warnendes +Beispiel. Er mußte an irgend Jemand seinen Aerger auslassen, +daß er nicht bei seinem Biere konnte sitzen bleiben.</p> + +<p>»Ist doch ein prachtvolles Wetter heute,« sagte Kellmann, +der eben einen tüchtigen Zug aus seinem Glase gethan, und +nun mit vollem zufriedenen Blick über das freundliche Bild +hinaus schaute, das sich, von der warmen Nachmittagssonne +beschienen, in all seinem blitzenden Glanz und Farbenschimmer +vor ihnen aufrollte »und es wächst und gedeiht Alles draußen +so schön und steht so prächtig — merkwürdig dabei, daß Alles +so theuer bleibt, und die Preise, statt herunter zu gehen, immer +nur steigen und steigen.«</p> + +<p><pb n="023" /><anchor id="Pg023" />»Ja das weiß Gott,« seufzte der Aktuar, dem der Gedanke +selbst den Geschmack am Bier wieder zu verderben schien, +denn er setzte das schon zum Mund gehobene Glas unberührt +vor sich nieder — »und wenn das noch eine Weile so fort +geht, können wir alle mit einander verhungern oder davonlaufen.«</p> + +<p>»Nun Ihr habt gut reden,« sagte Kellmann, »Ihr bekommt +vom Staat Euer Gewisses und könnt Euch genau danach +einrichten — Euer Geld muß Euch werden, wenn der +erste jedes Monats kommt, unsereins hängt aber allein von +den Zeiten ab, und wenn die Lebensmittel knapp werden, kauft +Niemand einen Pelz. Holz will auch sein und daran kann +sich nachher die ganze Familie wärmen.«</p> + +<p>»Ihr redet wie Ihr's versteht,« brummte der Aktuar, — »unser +Gewisses bekommen wir, das ist wahr, aber nur deshalb, +damit wir gewisses Elend vor den Augen haben. Ich +habe fünfhundert Thaler Gehalt, und Frau und Kind und +Dienstmädchen zu ernähren, und soll anständig dabei gekleidet +gehn, denn vor zehn und zwanzig Jahren hatte ein Aktuar in +meiner Stellung auch nicht mehr, und machte das Alles möglich, +ja befand sich wohl dabei. Jetzt aber wird Brod, Butter, +Fleisch, Holz, Wohnung, kurz Alles was wir nun einmal +zum Leben brauchen, gesteigert von Tag zu Tag, aber meine +fünfhundert Thaler <emph rend="letter-spacing: 0.20em">bleiben</emph>; vor zehn Jahren kaufte ich +zwanzig Pfund Brod für dasselbe Geld, für das ich jetzt nicht +zehn bekomme — aber <emph rend="letter-spacing: 0.20em">meine</emph> fünfhundert Thaler <emph rend="letter-spacing: 0.20em">bleiben</emph>. +Auch mein Hausherr verlangt höheren Zins — schon voriges<pb n="024" /><anchor id="Pg024" /> +Jahr bin ich höher gegangen, um nicht gesteigert zu werden, +d. h. für denselben Preis aus der zweiten in die dritte Etage +gezogen, aber dies Jahr muß ich ganz hinaus, denn er will +wieder zehn Thaler mehr haben und ich kann's ihm nicht +geben. Ihr Leute habt Euch gut in die Zeiten schicken, denn +wenn das Brod theuer wird, schlagt Ihr desto mehr auf Euere +Waare, der kleine Beamte aber, der Staatsdiener um geringen +Lohn, das ist das geplagte, gefährdete Geschöpf, und jede +neue Taxe macht ihm keine neue Berechnung, sondern schnallt +ihm nur den Leibriemen um ein Loch enger, daß er weniger +ißt, bis er in's <emph rend="letter-spacing: 0.20em">letzte</emph> Loch geworfen wird, zum ersten Mal +von seinen irdischen Strapatzen, ohne Furcht vor rasch abgelaufenen +Ferien, wirklich ungestört auszuruhen.«</p> + +<p>»Ach geht mit Eueren erbärmlichen Lamentationen an +solch freundlichem Tag,« fiel ihm der Wirth hier in die Rede, +der sich erst vor ein paar Augenblicken wieder mit zum Tisch +gesetzt und schon eine ganze Weile ungeduldig mit dem Kopf +geschüttelt hatte. »Das Reden macht's nicht besser und Stöhnen +und Seufzen hilft auch Nichts — Kopf oben, das ist die +Hauptsache; das andere macht sich von selber — aber hallo« — unterbrach +er sich plötzlich, von seinem Sitze aufstehend und +die Straße hinunterzeigend, die in das weite Thal führte — »was +kommt dort für ein Trupp den Weg entlang?« — und +in der That wurde dort oben ein ganzer Zug Männer, Frauen +und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspännigen +Wägelchen sichtbar.</p> + +<p>»Das sind Auswanderer!« rief Jacob Kellmann, von +<pb n="025" /><anchor id="Pg025" />seinem Stuhl aufspringend und dem Zug entgegenschauend — »seht +nur ein Mensch an, wieder ein ganzer Schwarm aus +dem Hessischen; Heiland der Welt, da muß doch endlich einmal +Platz werden.«</p> + +<p>»Na nu ist wieder der Frieden beim Henker,« rief aber +der Apotheker mürrisch — »hier Lobsich setzt Euch auf Eueren +Stuhl und trinkt Euer Bier aus, und Ihr Kellmann, laßt das +Volk da draußen laufen, wohin sie wollen — unzufriedene +Bande, die es ist und die es nirgends gut genug kriegen kann, +wo ihr nicht das Confekt auf goldenen Tellern präsentirt wird. +Na kommt nur hinüber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr +sticht — Euch werden sie schon noch das Fell über die Ohren +ziehn, daß Ihr am hellen lichten Tag die Sterne zu sehn +bekommt.«</p> + +<p>»Nein was für ein Zug!« rief aber Kellmann, die langsam +näher kommende Schaar mit unverkennbarem Interesse +betrachtend; »die armen Teufel.«</p> + +<p>»Hört Kellmann,« rief aber Schollfeld ärgerlich, »tretet +mir da ein wenig aus dem Weg, daß ich auch was sehen +kann, und setzt Euch wieder, ich dächte doch wahrhaftig, Auswanderer +hier an der Straße wären nichts so besonders Neues, +daß Ihr Maul und Nase aufsperrt und thut, als ob Euch so +etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen wäre.«</p> + +<p>Schollfeld war übrigens nicht umsonst so mürrisch; er +hatte einen Zorn auf Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung +als eine indirekte Beleidigung gegen den Staat, +gewissermaßen als eine Grobheit, die man ihm geradezu unter +<pb n="026" /><anchor id="Pg026" />die Nase sage — : »ich mag nicht mehr in Dir leben und weiß +einen Platz, wo's besser ist.« Das <emph rend="letter-spacing: 0.20em">dachten</emph> sich nämlich die +»Tölpel«, wie er sie nannte, aber Sie <emph rend="letter-spacing: 0.20em">wußten</emph> es nicht — gar +Nichts wußten sie und liefen blind und toll in die Welt +hinein. Der Staat hätte auch eigentlich den Skandal gar +nicht dulden sollen; hunderte von Menschen, reine Deserteure +aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei vorbei, Anderen +noch obendrein ein böses Beispiel gebend, und er begriff die +Regierung nicht, wie sie dem Volke nur noch einen Paß gestatten +konnte.</p> + +<p>Der Zug war indessen näher gekommen und Lobsich rasch +in das Haus gegangen Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen +Trupps gewöhnlich eine Menge junge Burschen befanden, +die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst hatten; +um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und +den Hals trocken machte.</p> + +<p rend="page-float: 'htb'; text-align: center"> +<figure url="images/illu002.jpg" rend="w50"> +<figDesc>Capitel 2</figDesc> +</figure> +</p> + +<p>Die ersten Wägen passirten still vorbei; die Führer warfen +einen langen, vielleicht sehnsüchtigen Blick nach den behaglich +hinter ihren Tischen sitzenden Gästen und dem <corr sic="kuhlen">kühlen</corr> +funkelnden Bier hinüber, aber hielten nicht an, sich längere +Rast dafür auf den Abend versprechend. Nur von den Fußgängern +blieben mehre Trupps unfern der Linde, unter der +unsere kleine Gesellschaft saß, und nicht weit von der <corr sic="Gartenthure">Gartenthüre</corr> +stehn, und während ein paar der Männer dem Kellner +winkten, ihnen Bier herauszubringen, als ob sie sich scheuten +in ihrer bestaubten schmuzigen Kleidung, mit der schweißbedeckten +Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen +<pb n="027" /><anchor id="Pg027" />herübersehenden Gruppen hineinzugehn, hielt ein Trupp Frauen +ebenfalls dort. Angezogen von der plötzlichen weiten und freien +Aussicht, die ihnen hier nach unten zu das Thal öffnete, durch +das sie gekommen, blieben sie erfreut und überrascht stehn und +schauten dabei auf das reizende Bild hin, das wie mit einem +Schlage so vor ihnen in's Leben sprang.</p> + +<p>»Heiland der Welt, Lisbeth,« rief ein junges, sechzehnjähriges +Mädchen der, vielleicht zwei Jahr älteren Schwester +zu — »dort drüben liegt Holstetten, und von da ist's nur noch +neun Stunden zu Haus — dahinter kann ich den weißen +Weg durch's schwarze Nadelholz sehn, der hinüberführt nach +Krisheim.«</p> + +<p>»Ja Marie,« antwortete das Mädchen, und während sie +sprach, liefen ihr die großen hellen Zähren an den bleichen +Wangen nieder, »gleich hinter dem Berg dort muß die Windmühle +liegen, und dann kommt Bachstetten und nachher« — sie +konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll und +sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren +Schmerz sah, noch schwerer machen. Aber zurückdämmen ließ +sich das auch nicht, die Wunde war noch zu frisch und blutete +zu stark, und beide Mädchen standen wenige Minuten still und +weinend da, die schönen thränenüberströmten Züge den ihr +nächsten Menschen ab- und der verlassenen Heimath, die sie +wohl nie im Leben wieder schauen sollten, zugekehrt.</p> + +<p>»Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich hält +und pflegt, wie sie es versprochen,« brach die Jüngste endlich +wieder mit leiser kaum hörbarer Stimme das Schweigen.</p> + +<p><pb n="028" /><anchor id="Pg028" />»Sie hat's ja versprochen,« flüsterte fast eben so leise die +Schwester zurück, »aber — — — — so lieb wird sie's doch +nicht haben wie wir.«</p> + +<p>»Komm Lisbeth,« sagte die Jüngere wieder und ergriff, +ohne sie aber dabei anzusehn, der Schwester Hand — »wir +wollen gehn — die Wagen sind schon ein Stück voraus.«</p> + +<p>Beide Mädchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen +Heimath zu und schritten dann schweigend Hand in +Hand den Weg entlang, der nach und durch Heilingen führte, +ihre weite, unbekannte Bahn.</p> + +<p>»He Marie, Lisbeth!« rief sie der Vater an, der eben an +der Thür des Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner +erhalten hatte — »wollt Ihr einmal trinken Kinder?«</p> + +<p>»Ich danke Vater,« sagte Marie zurück, ohne sich umzusehn +oder stehn zu bleiben, »wir sind nicht durstig.«</p> + +<p>»Woher des Wegs Ihr Leute?« wandte sich jetzt Kellmann, +der trotz Schollfeld's ärgerlichen Worten zu dem Alten +getreten war, an diesen.</p> + +<p>»Aus Hessen,« sagte der Mann ruhig und that einen +langen durstigen Zug aus dem, mit dem trefflichen Bier gefüllten, +schäumenden Glas.</p> + +<p>»Und wohin?«</p> + +<p>»Nach Amerika.«</p> + +<p>»Hm — ist ein weiter Weg — ist Euch wohl schlecht +gegangen hier im Lande?« sagte Kellmann, die kräftige und +doch gramgebeugte Gestalt des alten Landmanns teilnehmend +betrachtend.</p> + +<p><pb n="029" /><anchor id="Pg029" />Der Bauer, dessen Blick auch an dem fernen Punkt indeß +gehangen, wo seine frühere Heimath lag, ließ das Auge einen +Moment wie mißtrauisch über den Frager gleiten und erwiederte +dann leise und kopfschüttelnd:</p> + +<p>»Schlecht? — lieber Gott wie man's nimmt; man soll +g'rad nicht klagen; der liebe Gott hat geholfen und wird weiter +helfen.«</p> + +<p>»Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben +holen die in Amerika herumfliegen?« mischte sich hier der +Apotheker in's Gespräch, der nicht umhin konnte dem »Auswanderer«, +wie er sich ausdrückte, »einen Hieb zu versetzen« — »habt +Ihr auch Messer und Gabeln mit?«</p> + +<p>Der Bauer sah den kleinen, spöttisch lächelnden Mann +einen Augenblick ruhig von der Seite an, zahlte dann dem +neben ihm stehenden Kellner, dem er das Glas zurückgab, sein +Bier, und ohne irgend etwas auf die Frage zu erwiedern, oder +ärgerlich darüber zu scheinen, ja als ob er sie nicht gehört +hätte, wandte er sich und folgte mit einem »grüß Euch Gott +Ihr Herren«, seinen vorangegangenen Töchtern.</p> + +<p>»Holzkopf,« brummte der Apotheker, nur noch mehr gereizt +über diese anscheinende Misachtung, hinter ihm drein — »dem +Volk ist zu wohl hier,« setzte er dann, mit einem kräftigen +Zug aus seinem Glase hinzu — »der Art Leute fühlen +sich nicht behaglich, wenn sie nicht baumfest unter dem Daumen +gehalten werden.«</p> + +<p>»Guten Abend miteinander,« sagte in diesem Augenblick +ein Anderer der Auswanderer, der, mit einem kurzen Pfeifen<pb n="030" /><anchor id="Pg030" />stummel +in der Hand zu dem Tisch trat, auf dem in einem +schützenden Kelchglas ein Licht mit darum gesteckten Fidibus +zum Anzünden der Cigarren stand — »wenn's erlaubt ist, +möchte ich mir wohl einmal eine Pfeife bei Euch anbrennen.«</p> + +<p>»Mit Vergnügen,« sagte Ledermann, ihm einen Fidibus +anzündend und hinreichend.</p> + +<p>»Danke schön,« nickte der Mann, das Feuer benutzend und +den blauen Qualm in schnellen kurzen Zügen ausblasend. — </p> + +<p>»Und wo geht die Reise hin?« frug Ledermann dem Rauchenden.</p> + +<p>»Da hinüber,« sagte dieser; immer noch scharf ziehend, +indeß er mit dem linken, zurückgebogenen Daumen über die +linke Achsel wieß — »übers große Wasser.« — </p> + +<p>»Habt Ihr dort schon einen Platz?« frug der Aktuar.</p> + +<p>»Ja,« sagte der Mann freundlich — »mein Bruder hat +mir geschrieben aus dem Wiskonsin heraus; da soll's gut sein.«</p> + +<p>»Und geht Ihr Alle dorthin?« frug ihn Kellmann.</p> + +<p>»Die meisten von uns, ja; eine Parthie will aber auch +hinüber in's Missuri; da ist's wärmer.«</p> + +<p>»Es sind wohl lauter Landleute hier miteinander?«</p> + +<p>»Ja meistens — ein Schneider ist dabei, und der Schmied +aus dem Dorfe und der Herr Pastor ist schon voraus.«</p> + +<p>»Der Pastor geht auch mit?« frug Kellmann schnell.</p> + +<p>»Ahem,« nickte der Mann, »der ist aber mit der Post +gefahren, aber er hat gesagt er wollte sehn daß wir Alle auf +ein Schiff kämen. Danke schön Ihr Herren, adje.«</p> + +<p>»Glückliche Reise,« rief ihm Kellmann nach.</p> + +<p><pb n="031" /><anchor id="Pg031" />»Danke,« nickte der Mann noch einmal zurück, »könnens +brauchen,« und schloß sich den übrigen wieder an, von denen +die letzten gerade die Thür des Wirthshauses passirten.</p> + +<p>Es waren ärmliche, viele von ihnen kränklich oder wenigstens +bleich aussehende Gestalten, in die Bauerntracht ihrer +Gegend gekleidet; die meisten Frauen mit Kindern auf dem +Arm, Manche sogar deren an der Brust, und ein Bündel dazu +auf dem Rücken, die im Schweiß ihres Angesichts, wie sie bis +jetzt gelebt, mühsam der fernen ersehnten Heimath entgegenstrebten. +Hie und da waren auch ein paar kräftige junge +Burschen von zwölf bis vierzehn Jahren vor ein kleines leichtes +Handwägelchen gespannt, darauf gepackte Betten, Kleidungsstücke +und Lebensmittel die weite Straße entlang zu +ziehen. — Die Leute hatten kein Geld übrig, denn das wenige, +was sie zur Reise aufgespart, mußten sie für das Schiff aufheben, +und ein paar Thaler sollten doch auch noch wenigstens, +wenn das irgend anging, übrig bleiben, damit sie nur die +ersten Tage in Amerika, ehe sie Arbeit bekämen, vor Sorge +geschützt wären. Den glänzenden Schilderungen die ihnen von +dem neuen Lande ihrer Hoffnungen gemacht waren, trauten +die armen Frauen am wenigsten in ihrem vollen Umfange; +von Jugend auf, wie ihnen nur eben die Kräfte wurden ihre +jüngeren Geschwister in der Welt herumzuschleppen, hatten sie +arbeiten, hart arbeiten müssen, und viel anders würde es auch +wohl nicht da drüben sein. Der Sorgen waren hier nur gar +so viele angewachsen, mit jedem Jahre mehr, wie sie sich auch +plagten und quälten, und schlechter <emph rend="letter-spacing: 0.20em">konnte</emph> es dort drüben +<pb n="032" /><anchor id="Pg032" />nicht sein. Das war für jetzt der einzige Trost den sie mit +sich trugen die lange, heiße Straße entlang mit einer kleinen +Hoffnung möglicher Besserung vielleicht, und sie drückten +dann die Kinder nur fester an ihr Herz und küßten sie, und +flüsterten ihnen leise und heimlich zu daß sie nicht mehr schreien +sollten, denn sie gingen nach <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Amerika</emph>, und da würde schon +Alles gut werden, wie ihnen der Vater gesagt.</p> + +<p>Die Männer und Burschen zogen der fernen Welt aber +schon mit mehr Vertrauen entgegen; das Bewußtsein der eigenen +Fähigkeit und Kraft hob sie dabei auch über Manches +hinweg das die abhängigen Frauen schwerer zu Boden drückte. +Wer bei einer langen Wanderung voran geht, und für den +Weg zu <emph rend="letter-spacing: 0.20em">denken</emph> hat, wird nie so müde als der, der ihm +folgt, nur für sich denken läßt, und hinter drein zieht. Viele +von den Männern trugen auch Jagdtaschen und Gewehre auf +dem Rücken, Büchsen und Schrotflinten — was sollte es »da +drüben« nicht Alles zu schießen geben; — Manche auch nachgemachte +bunte Blumensträuße auf dem Hut. Einzelne, aus +Baiern und Thüringen, die sich ihnen angeschlossen, hatten +sogar ein paar kleine gefärbte Maraboutfedern mit ihren Landesfarben, +blau und weiß, und grün und weiß in ihrem Hutband +stecken; die Meisten aber schienen keine solche Erinnerung +an die Heimath mitnehmen zu wollen, in das neue Vaterland.</p> + +<p>Die Leute gingen vorüber, und die Gäste hatten ihnen +schweigend nachgeschaut, so lange fast, bis sie die nächste Biegung +der Straße ihren Blicken entzog. Auch Lobsich war +wieder vor die Thür seines Gartens getreten, und sich jetzt +<pb n="033" /><anchor id="Pg033" />kopfschüttelnd zurück zu seinem Tische wendend, brummte er +vor sich hin.</p> + +<p>»S'ist mir doch was Unbedeutendes« — es war dieses +eine seiner stehenden Redensarten, die in der That unbegrenztes +Erstaunen ausdrücken sollte — »was die Leute dieß Frühjahr +wieder an zu ziehen fangen; Tag für Tag geht das so fort; +Trupp nach Trupp kommt über die Berge herüber, mit Sack +und Pack, mit Weib und Kind — und Alles fort, Alles fort, +und man merkt nicht einmal von <emph rend="letter-spacing: 0.20em">wo</emph> sie fort sind.«</p> + +<p>»Doch, doch,« sagte Kellmann, die Augenbrauen in die +Höhe ziehend und mit dem Kopf nickend, »doch, doch Lobsich; +ob man's wohl merkt? — geht einmal da über die Berge hinüber +und seht Euch in den Dörfern um; da steht manches alte +halbzerfallene <emph rend="letter-spacing: 0.20em">leere</emph> Haus, an das irgend eine Familie da +drüben noch mit Schmerzen zurückdenkt, und in das Niemand +anderes mehr Lust hat einzuziehen, weil er noch eine Menge +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">bessere</emph>, ebenfalls leer, in demselben Dorfe findet. Es ist +immer ein trauriger Anblick solch ein leeres Haus, und ich +seh's nicht gern.«</p> + +<p>»Und was für <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Geld</emph> tragen sie außer Land,« fiel der +Apotheker hier ein, der indeß, sich zu zerstreuen, im Heilinger +Tageblatt gelesen hatte, jetzt aber nicht umhin konnte auch noch +ein Wort mit drein zu werfen — »was sie nicht mit hinübernehmen +können, lassen sie wenigstens in den Seestädten, und +zu uns kommt Nichts mehr davon zurück. Wenn ich nur das +erst einmal erlebe, daß die Leute zu ihrem Glück förmlich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">gezwungen</emph>, +und nicht mehr aus dem Land hinausgelassen wer<pb n="034" /><anchor id="Pg034" />den; +geht das aber so fort, so werden sie so lange auswandern, +bis uns hier weiter gar Nichts übrig bleibt als mitzugehen, +wenn wir nicht eben allein sitzen wollen in dem verödeten +Land, unseren Acker selber zu bauen. Hol sie der Teufel, +wofür hat sie denn eigentlich der liebe Gott in die Welt gesetzt +und ihnen den Holzkopf gegeben, der sie zu allem Anderen untauglich +macht. Ackern und Düngen müssen sie drüben doch +auch, und weshalb können sie das nicht eben so gut <emph rend="letter-spacing: 0.20em">hier</emph>? — Nein +Gott bewahre, die paar Thaler die sie sich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">hier</emph> erspart +haben, müssen erst wieder verschleppt und hinausgeworfen +werden an Experimente und reinen Uebermuth, und nachher +sitzen sie erst recht da; dort drüben <emph rend="letter-spacing: 0.20em">können</emph> sie Nichts mehr +sparen, und <emph rend="letter-spacing: 0.20em">müssen</emph> schon drüben bleiben, wenn sie auch +wieder herüber möchten. Die Paar die sich doch noch ein paar +Thaler zusammenscharren, die kommen nachher schnell genug +wieder zurück, aber es sind nur wenige, und die anderen armen +Teufel haben die Brücke muthwillig hinter sich abgebrochen, +und sitzen nun auf der wohlriechenden Haide ohne Unterfutter. +Jesus Maria und Joseph, es muß ein ordentlicher Jammer +drüben sein.«</p> + +<p>»Na, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">so</emph> arg nun denn doch wohl noch nicht, Schollfeld,« +sagte Kellmann kopfschüttelnd, »man hört doch nun auch +so Manches von da drüben was nicht gar so schlecht klingt, +und wo sich's schon aushalten ließe, wenn man — wenn man +eben einmal einen solchen verzweifelten Schritt absolut thun +müßte oder wollte.«</p> + +<p>»Nicht so arg?« rief aber Schollfeld, der hier sein Stecken<pb n="035" /><anchor id="Pg035" />pferd +ritt, und sich selten eine Gelegenheit entgehen ließ auf +Amerika zu schimpfen — »nicht so arg? da, hier lesen Sie +einmal das Tageblatt, was der wackere Dr. Hayde darüber +schreibt; das ist ein Mann, der hat Haare auf den Zähnen +und muß die Sache verstehn, denn er ist Einer von den Wenigen +die drüben gewesen und glücklich wiedergekommen sind. +Er bringt kaum eine Nummer in der er nicht ein oder den +anderen Hieb auf die Verhältnisse Ihres »glücklichen Amerika« +hat — das muß ja ein wahres Raubnest sein, lesen Sie nur +einmal.«</p> + +<p>»Hören Sie lieber Schollfeld, ich will Ihnen einmal 'was +sagen,« erwiederte ihm Kellmann ruhig, »dieser Dr. Hayde, +der Ihnen die schönen Artikel schreibt ist, der Meinung aller +ordentlichen Kerle in Heilingen nach, das wenigste zu sagen +eine kleine geschwollene Giftkröte, ein weggelaufener Advokat, +den die Verhältnisse aus Deutschland vertrieben, und den in +Amerika Niemand mit seinen Talenten haben mochte. Zu faul +zum arbeiten, und nicht im Stande etwas Anderes zu thun, +wurde er dort wahrscheinlich vom Schicksal hin- und hergestoßen, +und wie ein aus einer Thür geworfener Mops, stellt +er sich jetzt draußen hin, wo sich Niemand die Mühe giebt ihn +zu stören, und schimpft und klefft. Ich will Amerika eben +nicht in allem vertheidigen, aber was <emph rend="letter-spacing: 0.20em">der</emph> gerade darüber sagt +würde mich auch nicht bestimmen. Wie ein Dreckkäfer schleppt +er sich nur mit größter Mühe kleine Stückchen Koth herbei, +und rollt sie zusammen eine Kugel zu machen in die er sein +Ei legt — pfui über den Burschen.«</p> + +<p><pb n="036" /><anchor id="Pg036" />»Na jetzt freut mich aber mein Leben,« rief Herr Schollfeld +erstaunt aus — »erst schimpfen Sie selber auf Amerika, +und nun auf einmal soll der arme Doktor die ganze Schuld +tragen.«</p> + +<p>»Ich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">schimpfe</emph> nicht auf Amerika,« sagte Kellmann +ruhig, »ich kann nur nicht leiden wenn man es auf Kosten +unseres eigenen Vaterlandes herausstreicht, und gegen alle seine +Nachtheile blind ist. Es wäre allerdings noch viel gefährlicher +sich die Lichtseiten alle zu bunt auszumalen; die armen +Leute die nachher hinübergehn und es anders finden, sind dann +zu sehr enttäuscht, und fallen gewöhnlich, wie mir gesagt ist, +aus einem Extrem in's Andere — aber so taugt's auch Nichts.«</p> + +<p>»Guten Abend selbander,« sagte in dem Augenblick eine +andere Stimme dicht hinter ihnen, und als sie sich danach umschauten, +stand ein alter Bekannter von ihnen, Mathes Vogel, +ein reicher junger Bauer aus dem nächsten Dorf, an ihrem +Tisch und streckte ihnen freundlich die Hand entgegen.</p> + +<p>»Hallo Mathes, wie geht's?« rief Kellmann die gebotene +herzlich schüttelnd — »Wetter noch einmal Mann, wo habt +Ihr jetzt gerade in der Saatzeit gesteckt, daß Ihr in der Welt +herumreist wie ein Baron, der seine Güter verpachtet hat? +Ihr seid verreist gewesen.«</p> + +<p>»Ja Herr Kellmann, in Bremen.«</p> + +<p>»Wo seid Ihr gewesen?« frug Schollfeld erstaunt.</p> + +<p>»In Bremen, Herr Schollfeld!« rief der junge Bauer, +gegen diesen gewandt, »oben in der Hafenstadt.«</p> + +<p>»Guten Abend Mathes,« kam hier der Wirth dazwischen, +<pb n="037" /><anchor id="Pg037" />der den alten Kunden ebenfalls begrüßte — »lange nicht gesehn, +recht groß geworden mein Junge; hast Du Durst?«</p> + +<p>»Merkwürdigen,« sagte der Bauer lächelnd.</p> + +<p>»Na warte, den wollen wir begießen,« schmunzelte aber +Lobsich, rasch in den Garten zurückgehend, »der soll mir nicht +umsonst in den rothen Drachen gefallen sein.«</p> + +<p>»Aber was hat Euch nach Bremen geführt?« wiederholte +Kellmann, fast etwas mißtrauisch gemacht durch das wunderliche +halb verlegene Benehmen des jungen Burschen.</p> + +<p>»Ja Herr Kellmann,« sagte der reiche Bauerssohn, wirklich +jetzt verlegen seinen Hut um den Zeigefinger der linken +Hand drehend — »das hat — das hat so seine eigene Bewandtniß + — Ich bin — ich bin zu einem Entschluß gekommen + — ich will — ich will auswandern.«</p> + +<p>»Was will er?« schrie Schollfeld, der die Worte nicht +ganz verstanden, den ungefähren Sinn aber etwa errathen +hatte. Jedenfalls schöpfte er Verdacht und ehe Kellmann nur +im Stande war ein Wort darauf zu erwiedern rief er nochmals +laut: »wo will er hin?«</p> + +<p>»Nach Amerika,« sagte aber der junge Mann entschlossen +und wollte noch etwas hinzusetzen, aber der Apotheker schlug +dermaßen auf den Tisch, und fing so an zu schimpfen und zu +fluchen, Niemand wußte eigentlich auf was und gegen wen, +daß Mathes gar nicht gleich wieder zu Worte kommen konnte, +und vielleicht auch eben nicht böse darüber war.</p> + +<p>»Hallo, wer ist todt?« rief aber in dem Augenblick Lobsich, +der mit dem bestellten Bier für einen seiner besten Kunden +<pb n="038" /><anchor id="Pg038" />selber ankam — »daß Dich die Milz sticht, was ist denn dem +Apotheker eigentlich in die Krone gefahren?«</p> + +<p>»Dem Apotheker Nichts,« nahm aber Kellmann kopfschüttelnd +das Wort, »doch hier dem Dings da, dem Mathes — was +meint Ihr, Lobsich was er vor hat?«</p> + +<p>»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Heirathen</emph>?« sagte dieser, und ein breites vergnügtes +Schmunzeln über den so richtig und schnell gerathenen Vorsatz +zog sich über sein dickes gutmüthiges Gesicht.</p> + +<p>»Heirathen!« schrie aber der Apotheker dazwischen, indem +er sich seinen Hut in die Stirn drückte und seinen Rock anfing +zuzuknöpfen — »heirathen? — ja prost die Mahlzeit; <emph rend="letter-spacing: 0.20em">auswandern</emph> +will der Kerl, wie ein blindes Pferd das durch die +Stallwand bricht, in einen Teich zu fallen.«</p> + +<p>»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Auswandern</emph>?« schrie aber auch jetzt Lobsich in unbegrenztestem +Erstaunen — »na das ist mir aber doch wahrhaftig +was Unbedeutendes.«</p> + +<p>»Oh hol Euch der Teufel mit Eurer albernen Redensart!« +rief aber der nun einmal ärgerliche Apotheker, und nahm +seinen Stock unter den Arm — sein stetes Zeichen daß er +fertig zum Gehen sei — »was Unbedeutendes; ja wohl, wenn +der Raptus erst einmal in <emph rend="letter-spacing: 0.20em">solche</emph> Köpfe und Geldbeutel fährt, +nachher werden wir sehn was wir hier anrichten. Ich will +mir aber mein Abendbrod nicht verderben — gute Nacht Ihr +Herren.«</p> + +<p>»Halt Schollfeld!« rief aber Kellmann, ihn am Arm +fassend und zurückhaltend — »brennt mir nicht durch, ich gehe +auch gleich mit und wollte nur erst hören, was Mathes den<pb n="039" /><anchor id="Pg039" /> +Gedanken in den Kopf gesetzt hat. Hol's der Henker, er macht +sich entweder einen Spaß mit uns, oder es ist nur so eine Idee +von ihm, die wir ihm wieder ausreden können.«</p> + +<p>»Wenn ich das wüßte blieb ich die ganze Nacht hier,« +sagte Schollfeld, seinen Stock wieder auf den Tisch legend und +zu dem verlassenen Stuhl zurückgehend. »Mensch, Mathes, +seid Ihr denn rein vom Teufel besessen, oder habt Ihr nur +heute, in irgend einer Kneipe, ein wenig des Guten zu viel +gethan, daß Ihr so tolles Zeug zusammenfaselt.«</p> + +<p>Mathes blieb aber bei allen diesen Ausbrüchen des Erstaunens, +die erste Erklärung nur einmal überstanden, vollkommen +ruhig, und zog nur, statt jeder weiteren Antwort, +einen Brief aus seiner Brusttasche, den er langsam auffaltete +und vor sich legte, als ob er ihn vorlesen wollte.</p> + +<p>»Nun was soll's mit dem Wisch?« rief aber der Apotheker +ärgerlich, »Ihr habt Euere Seele doch noch nicht dem Gott +sei bei uns verkauft?«</p> + +<p>»So schlimm noch nicht,« lachte der junge Bursch, »das +hier ist nur ein Brief von Caspar Lauber, den Sie ja Alle +kennen und der vor etwa sieben Jahren nach Wisconsin auswanderte.«</p> + +<p>»Der was that?« rief der Apotheker, die Augen zusammenkneifend +und das linke Ohr zu ihm hindrehend — »nuschelt +nicht so in den Bart, daß Euch ein Christenmensch noch verstehen +kann ehe Ihr unter die Heiden geht.«</p> + +<p>»Der nach Wisconsin auswanderte,« sagte der junge +Bauer lächelnd — »er hatte mir damals versprochen zu schrei<pb n="040" /><anchor id="Pg040" />ben +wie es ihm ginge, schlecht oder gut; — wenn schlecht, +wollte ich ihm helfen, wenn gut, vielleicht nachkommen. Aber +er schrieb nicht Jahr nach Jahr, und da er überhaupt Nichts +von sich hören ließ, glaubte ich schon er sei da drüben gestorben +oder untergegangen in dem weiten Reich, bis ich vor vier +Wochen etwa einen Brief von ihm erhielt und seit der Zeit +habe ich keine Ruhe gehabt bis zu dem heutigen Tag.«</p> + +<p>»Nun ja natürlich,« brummte der Apotheker.</p> + +<p>»Aber so laßt ihn doch nur reden,« rief jetzt auch ärgerlich +der Actuar dazwischen, »Ihr raisonnirt nur in einem fort und +glaubt nachher, wenn Ihr recht geschrieen habt, Ihr hättet +recht.«</p> + +<p>»So lest den Brief einmal!« sagte Kellmann, die Arme +auf den Tisch stützend, »nachher wissen wir ja gleich woran +wir sind.«</p> + +<p>»Aber erst muß ich noch Bier haben,« rief Schollfeld dazwischen, +»ich mag die Lügen wenigstens nicht trocken mit +anhören.«</p> + +<p>Lobsich winkte einem der nächsten Kellner, die indeß leer +gewordenen Gläser wieder zu füllen, denn der Brief interessirte +ihn selber zu sehr, den Tisch jetzt zu verlassen, und Mathes +sagte wie entschuldigend:</p> + +<p>»Der Brief ist sehr kurz, aber es steht Alles darin was +ich zu wissen verlangte, und er lautet:</p> + +<p>»Lieber Mathes — ich habe bis jetzt mein Versprechen +nicht gehalten, Dir zu schreiben, weil es mir sehr schlecht gegangen +ist.«</p> + +<p><pb n="041" /><anchor id="Pg041" />»Na ja,« fiel ihm hier der Apotheker in das Wort — »und +nun müßt Ihr Hals über Kopf machen daß Ihr auch +hinüber kommt.«</p> + +<p>Kellmann wollte dem ewigen Einredner etwas erwiedern, +aber Mathes fuhr, lächelnd die Hand gegen ihn aufhebend, +wieder laut fort:</p> + +<p>»Ich wollte aber nicht gern, daß mich Jemand Anders +unterstützen sollte, weil das hier im Lande eine Schande ist; +ich wollte mir selber helfen, und habe mir kümmerlich, aber +ehrlich und fleißig durchgeholfen. Jetzt habe ich eine kleine +Farm von achtzig Acker, und vier und zwanzig Stück Rindvieh, +und dreißig Schweine und zwei Pferde und es geht mir gut. +Ich habe hart arbeiten müssen, aber ich komme durch. Wenn +Du mit Geld hier herüber kommst und willst mich aufsuchen, +daß ich Dir mit Rath und That an die Hand gehen kann, +dann brauchst Du keine Angst zu haben, daß Du nicht durchkommst. +Wenn Du eine Frau hast, bringe sie mit; Kinder +sind ein Segen hier, kein Fluch wie für manchen armen Mann +in Deutschland. Wer arbeiten will kommt fort, wer faul ist +geht zu Grunde. Es grüßt Dich zehntausend Mal Dein +Caspar Lauber — Lauber's Farm bei Milwaukie, Wisconsin.«</p> + +<p>»Und auf den Brief wollt Ihr auswandern?« rief aber +auch Kellmann jetzt erstaunt — »Mathes, ist Euch denn das +Auswanderungsfieber so plötzlich in die Glieder geschlagen, +daß Ihr die Seekrankheit für das einzige Mittel haltet die es +curiren könnte?«</p> + +<p>Mathes schüttelte aber gar ernsthaft mit dem Kopf, fal<pb n="042" /><anchor id="Pg042" />tete +den Brief zusammen, den er zurück in seine Tasche schob, +und sagte mit fester und entschlossener Stimme:</p> + +<p>»Lange im Sinn hab' ich's schon gehabt, aber der Brief +hat es zuletzt zum Ausbruch gebracht.«</p> + +<p>»Aber Mathes, Ihr vor allen Anderen habt doch Euer +Auskommen hier im Land,« rief jetzt auch Lobsich, während +der Apotheker das ihm eben gebrachte Glas auf einen +Zug hinuntergoß, wie um seinen Ingrimm damit nieder zu +spülen — »wenn Ihr nach Amerika auswandern wollt, wer +soll denn noch da bleiben?«</p> + +<p>»Ich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">bliebe</emph> auch,« sagte Mathes rasch und mit vor +innerer Bewegung fast erstickter Stimme, »ich bliebe auch, +wenn mich mein Vater ließe, aber — der will nicht in die +Heirath willigen mit Roßner's Käthchen, des Häuslers Tochter +aus Rodnach; hier hält er mich dabei unter dem Daumen +mit seinem Gut und Geld, und das Mädchen stirbt mir indessen +in Arbeit und Gram; dort drüben aber ist ein Platz, wo +fleißige Menschen auch durchkommen können mit Gottes Hülfe +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">ohne</emph> Geld, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ohne</emph> Ansehn. Der Lauber hatte gar Nichts +wie er hinüberging; nicht das Hemd auf seinem Rücken war +sein, und ich weiß daß er nicht einen rothen Pfennig mit in +das fremde Land gebracht hat. Aus dem ist jetzt ein rechtschaffener +Farmer geworden, mit eigenem Land, Haus und +Vieh, und was der kann — schwere Noth noch einmal — das +kann ich auch. Ich gehe hinüber, nehme das Käthchen +mit — Geld zur Ueberfahrt krieg ich schon, und wenn ich +meine beiden Schimmel um den halben Werth verkaufen sollte, +<pb n="043" /><anchor id="Pg043" />und dort hilft der liebe Gott schon weiter. Verhungern werden +wir nicht, und ich brauche mir hier nicht mehr unter die +Nase reiben zu lassen, »das sollst Du thun und das nicht, und +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">die</emph> sollst Du heirathen, die Du nicht magst und willst, und +die Dich lieb hat und Dich glücklich machen kann, der sollst +Du das Herz brechen — weil ihr eben nur der volle Geldsack +fehlt.«</p> + +<p>»Unsinn!« sagte der Apotheker, jetzt wieder und zwar im +Ernste aufstehend — »wenn Jemand einmal rein verrückt geworden +ist, läßt sich auch nicht mehr mit ihm streiten. Gehn +Sie mit Kellmann?«</p> + +<p>»Ja, gleich,« erwiederte der Gefragte — »weiß denn +aber schon Euer Vater um den Plan, Mathes?«</p> + +<p>»Heute hab' ich's ihm gesagt,« erwiederte der Gefragte +leise — »aber er glaubt es noch nicht.«</p> + +<p>»Und ist es denn schon wirklich so fest bestimmt?« sagte +Kellmann theilnehmend.</p> + +<p>»Meine Passage in Bremen für mich und — meine <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Frau</emph> +ist schon bezahlt,« rief der junge Bursch da entschlossen — »den +funfzehnten geht das Schiff ab, und ich habe nur noch +eben Zeit das Nothwendigste in Ordnung zu bringen.«</p> + +<p>»Ja da kömmt freilich jeder gute Rath zu spät,« sagte +Kellmann, jetzt ebenfalls aufstehend und seinen Hut ergreifend, +»wenn der Sprung erst einmal geschehen ist, braucht man nicht +mehr über das Springen zu streiten und ich wünsche Euch +das Beste in Euerer neuen Heimath.«</p> + +<p>»Ich weiß es, ich weiß es,« sagte Mathes gerührt — »aber +<pb n="044" /><anchor id="Pg044" />vielleicht seh ich Sie selber noch einmal auf freiem Boden +drüben, mit Axt oder Pflug in der Hand, wie ein wackerer, +richtiger Farmer.«</p> + +<p>»Wen — mich?« rief aber Kellmann ordentlich erschreckt +aus — »ich nach dem vermaledeiten Lande, daß alle unsere +besten Bürger frißt? Nein Mathes, für dies Leben nicht — aber +wann geht Ihr fort? vielleicht läßt Euer Vater doch noch +mit sich reden, und lenkt ein wenn er sieht daß es Euch wirklich +Ernst ist.«</p> + +<p>Mathes schüttelte mit dem Kopf und der Actuar rief:</p> + +<p>»Ein Bauer und einlenken, Kellmann? — da kennt Ihr +unseren deutschen Bauer nicht; worauf der einmal seinen Dickkopf +gesetzt hat, da muß er durch, und wenn's nicht geht, so +zerhaut er sich eben den Schädel, aber er läßt nicht nach. Der +alte Vogel und nachgeben; Du lieber Gott, wenn er den +eigenen Sohn mit einem einzigen Wort vom Verderben retten +könnte — er spräch es nicht.«</p> + +<p>»Na, da kann ich wohl auch meine Bude hier bald zuschließen +und mitgehn,« sagte Lobsich, sich den Kopf kratzend — »Schwerebrett +das ist mir — hm — hm — ist mir doch +was Unbedeutendes, das — das Amerika.«</p> + +<p>»Und was sagt denn das Käthchen dazu?« frug Kellmann +<corr sic="etzt">jetzt</corr> den Mathes, während die Uebrigen schon aufgestanden +waren und sich zum fortgehn gerüstet hatten.</p> + +<p>»Die weint und will nicht mit,« sagte Mathes leise — »aber +sie wird schon gehen.«</p> + +<p>»Sie will nicht mit?«</p> + +<p><pb n="045" /><anchor id="Pg045" />»Sie meint, es bräche meinem Vater das Herz.«</p> + +<p>»Das Herz brechen? — dem alten Vogel?« lachte aber +dieser verächtlich — »na Gott sei Dank, die hat einen guten +Begriff von ihm — als ob dem etwas das Herz brechen +könnte.«</p> + +<p>»Nun, es frägt sich nur jetzt wem sie es lieber bricht,« +meinte der Actuar, »dem Alten, wenn sie geht, oder dem +Jungen, wenn sie bleibt — die Wahl wird ihr nicht schwer +werden. Aber Schollfeld, Ihr seid ja auf einmal so still geworden?«</p> + +<p>»Ach laßt mich zufrieden,« brummte dieser ärgerlich — »weiß +es Gott, man möchte am Ende selber mit hinüberlaufen, +nur Nichts mehr von dem verwünschten Auswandern +reden zu hören.«</p> + +<p>»Hahahaha!« rief da Kellmann, »Schollfeld bekömmt +auch überseeische Ideen.«</p> + +<p>»Ueberseeische — hätte bald was gesagt,« knurrte dieser +aber, auf der Straße hingehend, ohne weder Mathes noch +Lobsich gute Nacht zu sagen.</p> + +<p>Die Uebrigen wechselten noch kurzen Gruß mit ihren +Bekannten dort, zündeten sich frische Cigarren an, und schlenderten +langsam, den freundlichen Abend so viel als möglich zu +genießen, die Straße hinab, der eigenen Heimath zu.</p> +</div> +<div rend="page-break-before: always"><pb n="046" /><anchor id="Pg046" /> +<index index="toc" level1="Der Diebstahl" /> +<index index="pdf" level1="Der Diebstahl" /> +<index index="pdb" level1="Der Diebstahl" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 3.</head> +<head rend="text-align: center">Der Diebstahl.</head> +<p>Zehn Minuten mochten sie so etwa schweigend nebeneinander +hergegangen sein, als hinter ihnen auf der Straße +eine Equipage und klappernde Hufschläge gehört wurden, die +sie rasch einholten und an ihnen vorbeirauschten, eine dicke +Staubwolke dabei über den Weg wälzend. Es war die Familie +Dollinger mit dem, neben dem Wagen hin galoppirenden +Fremden, dem Bräutigam der Tochter.</p> + +<p>»Die kommen schneller von der Stelle als die armen +Auswanderer vorhin,« sagte Kellmann, als sie vorbei waren — »Wetter +noch einmal, es ist doch ein anderes Ding so ein paar +flüchtige Rappen vor sich zu haben, und wie im Flug durch +die Welt zu jagen, als mit einem schweren Packen auf dem +Rücken und wunden Füßen vielleicht, mühselig die staubige +Straße entlang zu keuchen.«</p> + +<p>»Ja, die Gaben sind ungleich vertheilt in der Welt,« +<pb n="047" /><anchor id="Pg047" />seufzte der Actuar, »was der Eine haben möchte, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">hat</emph> der +Andere schon, und das ist auch wohl das ganze Geheimniß +der socialen Frage, läßt sich aber nun einmal nicht ändern, +und wir dürfen vielleicht den Kopf darüber schütteln, und wünschen +daß es anders wäre, aber weiter eben Nichts.«</p> + +<p>»Der auf dem Pferd, war der Dings da von Amerika,« +sagte der Apotheker jetzt, »der das schmählige Geld hat und +des reichen Dollingers Tochter noch dazu heirathet. Soll mir +noch einmal einer sagen daß Eisen der stärkste Magnet sei; +Gold ist's, und wo das liegt zieht es anderes hin.</p> + +<p>»Und wie steht's mit Actien?« lachte Kellmann.</p> + +<p>»Bah — bleibt immer dasselbe,« brummte der Apotheker, +»das Gold steckt darin, und kann durch einen sehr einfachen +chemischen Proceß leicht herausgezogen werden — wenn man +sie hat.«</p> + +<p>»Es wundert mich übrigens daß der alte Dollinger sein +Kind über das große Wasser hinüberziehen läßt,« meinte der +Actuar — »dem hätte es doch auch hier im Lande nicht an +einer eben so guten Parthie gefehlt.«</p> + +<p>»Liebe,« meinte Kellmann achselzuckend — »Liebe ist +blind sagt ein altes Sprichwort; dagegen lassen sich eben keine +Gründe anbringen. Wär's übrigens auch nicht wegen dem +großen Wasser, der Bursche gefällt mir außerdem nicht, und +ich möchte ihm meine Tochter nicht geben und wenn er bis +über die Ohren in Golde stäcke. Er hat ein verschlossenes, +hochfährtiges Wesen, behandelt den gemeinen Mann wie einen +Hund, und spricht von Allem was wir hier haben, unseren<pb n="048" /><anchor id="Pg048" /> +Einrichtungen, unseren Gesetzen, unseren Vergnügungen selber, +ja unserem Klima und Land, das doch zum Henker auch <emph rend="letter-spacing: 0.20em">sein</emph> +Vaterland ist, mit der größten Verachtung. Amerika, und +immer wieder Amerika, hinten und vorn; ei Blitz und Hagel, +ich will gar nicht leugnen daß es manche gute Seiten haben +mag, das Amerika, wenn ich sie auch gerade nicht einsehen +kann, aber so viel besser wie unser Deutschland ist es doch auch +nicht drüben, und wenn's so einem Burschen da einmal zufällig +geglückt ist, sollt' er nicht als Lockvogel sich hier mitten zwischen +uns hineinsetzen, anderen vernünftigen Leuten unglückselige +Ideeen in den Kopf zu pflanzen.</p> + +<p>»Wenn sich andere vernünftige Leute solche Ideeen einpflanzen +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">lassen</emph>, geschieht's ihnen ganz recht,« sagte der Apotheker — »man +braucht nicht zu glauben was jeder dahergelaufene +Lump eben sagt.«</p> + +<p>»Nun <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ganz</emph> ohne kann's aber auch nicht sein,« meinte +Kellmann kopfschüttelnd<corr sic="">,</corr> <corr sic="">»</corr>und ich — ich halt' es immer für gefährlich. +S'ist merkwürdig, wie rasch sich das mit der Hochzeit +gemacht hat.«</p> + +<p>»Nun, wer sich die Braut gleich fix und fertig aus dem +Wasser zieht hat leicht freien,« sagte der Actuar — »Glück +muß der Mensch haben, dann geht Alles wie am Schnürchen; +wer aber <emph rend="letter-spacing: 0.20em">das</emph> nicht hat, der mag sein Lebtag fischen und fängt +doch Nichts — am wenigsten aber solch einen Goldfisch.</p> + +<p>»Wo stammt er denn eigentlich her?« frug der Apotheker +jetzt, wie sie wieder eine Weile schweigend neben einander hingegangen +waren, »man hört doch sonst eigentlich gar Nichts +<pb n="049" /><anchor id="Pg049" />von ihm, und er kommt auch mit keinem Menschen weiter zusammen — stolzer +aufgeblasener Bursche der.«</p> + +<p>»Gott weiß es,« sagte der Actuar; »er ist, glaub' ich, mit +einem holländischen Schiff herübergekommen, und hatte einen +Paß von Amsterdam.«</p> + +<p>»Und der Paß lautete nach Heilingen?«</p> + +<p>»Nun nicht gerade nach Heilingen, aber doch nach der +Residenz, und wie sich die Sache dann hier mit der Dollingerschen +Familie gestaltete, nun lieber Gott, da drückte der Stadtrath +das eine, und die Stadtverordneten drückten das andere +Auge zu, und man sah nicht so genau nach den Papieren. +Ueberdieß verzehrte er ja hier viel Geld; wär' es ein armer +Teufel gewesen, hätten wir ihn wahrscheinlich schon bald wieder +über die Grenze gehabt.</p> + +<p>»Hm, ja, glaub's,« sagte Kellmann mit dem Kopfe nickend, +»s'ist in Heilingen eben nicht anders wie — wie anderswo — warum +auch?«</p> + +<p>Das Gespräch drehte sich von da ab, auf die städtischen +Einrichtungen, deren wärmster Vertheidiger der Apotheker war, +und über die sich der Actuar natürlich nur sehr vorsichtig ausließ, +während sie Kellmann um so unnachsichtiger angriff; +kam dann auf die Saat und die Preise, und wieder mit einem +Seitensprung auf die jetzige Politik unseres lieben deutschen +Reiches, bis sie das Thor und zwar gerade mit Sonnenuntergang +erreichten, wo Jeder seinen Weg ging, die eigene Heimath +aufzusuchen.</p> + +<p>Der Actuar Ledermann besonders, der an dem entgegen<pb n="050" /><anchor id="Pg050" />gesetzten +Ende der Stadt wohnte, beeilte seine Schritte, noch +vor einbrechender Dunkelheit seine Wohnung zu erreichen; das +Gerücht ging nämlich in der Stadt, daß ihn seine Ehehälfte +bei solchen Gelegenheiten oft allerdings sehr unfreundlich +empfange, und ihm einmal sogar schon einige sonst sehr nützliche, +bei <emph rend="letter-spacing: 0.20em">der</emph> Gelegenheit aber nichts weniger als passende +häusliche Geräthe entgegen und vor die Füße geworfen habe. +Thatsache war, daß »Madame« oder Frau Actuar Ledermann, +was auch ihres Gemahls Thätigkeit und Ansehn außerhalb +seiner eigenen vier Pfählen sein mochte, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">innerhalb</emph> derselben +jedenfalls das Commando, und nicht immer mit Mäßigung +führte, und der Actuar suchte den Hausfrieden wenigstens soviel +als möglich zu erhalten und jeden Anlaß, zu irgend einer +Störung desselben, zu vermeiden.</p> + +<p>Mit solchen Gedanken vielleicht im Kopf, wollte Ledermann +eben vom Marktplatz aus in die Straße einbiegen, an +deren äußersten Ende seine eigene, sehr bescheidene Wohnung +stand, als er seinen Titel genannt und sich selber gerufen +hörte.</p> + +<p>»Herr Actuar — Herr Actuar Ledermann.«</p> + +<p>Er drehte sich rasch um und sah einen Gerichtsdiener +eilig auf sich zukommen, der, die Mütze abnehmend, vor ihm +stehen blieb und ihm meldete, daß er eben abgeschickt worden +ihn zu holen oder aufzusuchen, da ein Einbruch geschehen sei, +über den an Ort und Stelle Protokoll aufgenommen werden +solle.</p> + +<p>»Protokoll aufnehmen?« sagte Actuar Ledermann, keines<pb n="051" /><anchor id="Pg051" />wegs +angenehm überrascht; »ja was hab ich denn heute damit +zu thun, wo ist mein <emph rend="letter-spacing: 0.20em">College</emph>?«</p> + +<p>»Herr Actuar Beller sind unwohl geworden, heute Nachmittag,« +berichtete der Polizeidiener, »und mußten zu Hause +gehn; ich bin eben abgeschickt zu sehn, welchen von den andern +Herren ich zuerst treffen könnte.«</p> + +<p>»Hm — ist sehr amüsant,« brummte Ledermann vor sich +hin — »kommt mir gerade apropos. Bei wem ist es denn?«</p> + +<p>»Bei Herrn Dollinger.«</p> + +<p>»Was? — bei Kaufmann Dollinger?« rief der Actuar +rasch und erstaunt — »am hellen Tag, während er ausgefahren +war?«</p> + +<p>»Er ist, wenn ich nicht irre, eben zu Hause gekommen,« +berichtete der Mann, und hat glaub' ich sein Pult geöffnet, +und eine bedeutende Summe Geldes entwendet gefunden.«</p> + +<p>»Hm, hm, hm,« sagte der Actuar kopfschüttelnd und seinen +Rock dabei, den er der Bequemlichkeit wegen aufgelassen +hatte, zuknöpfend, »es wird immer besser hier bei uns. Am +hellen lichten Tage. Aber die ganze Stadt steckt auch voll +fremden Volkes, das sich natürlich keine Gelegenheit entschlüpfen +läßt Reisegeld zu bekommen.«</p> + +<p>»Es muß doch wohl Jemand gewesen sein der mit dem +Hause genau bekannt war,« sagte der Polizeidiener — »nach +dem wenigstens, was ich bis jetzt von den Dienstleuten darüber +gehört habe, kann's nicht gut anders sein.«</p> + +<p>»Nun wir werden ja sehn; da muß ich aber erst — «</p> + +<p>»Wenn sich der Herr Actuar nur eben an Ort und Stelle +<pb n="052" /><anchor id="Pg052" />bemühen wollen,« sagte jedoch der Diener des Gerichts, »alles +Nöthige ist schon dorthin geschafft und ich war eben nur fortgelaufen, +einen der Herren zu suchen.«</p> + +<p>Der Actuar, dem Dienste natürlich Folge leistend, seufzte +tief auf und schritt, im Geist wahrscheinlich des Empfangs +gedenkend, der seiner harrte, wenn seine Frau auf ihn mit dem +Abendessen warten mußte, rasch die »Poststraße« hinaufbiegend, +dem gar nicht weit entfernten Dollinger'schen Hause zu, dort +den Thatbestand in Augenschein und zu Protokoll zu nehmen, +etwaige Spuren des Uebelthäters zu entdecken und zu verfolgen, +und die Leute im Hause nach möglichem Verdachte zu inquiriren.</p> + +<milestone unit="tb" rend="stars: 5" /> + +<p>Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger, in dem +Alles sonst so still und ruhig und wie am Schnürchen zuging, +wo Jeder seine angemessene und fest bestimmte Beschäftigung +hatte, genau wußte was ihm oblag, und das that, ohne +eben viel Lärm darum zu machen, lief und rannte und sprach +heute alles durcheinander, und sämmtliche Bande der Ordnung +schienen gelöst.</p> + +<p>Frau Dollinger vor allen Dingen lag in Krämpfen in +ihrem Boudoir, und beanspruchte die Hülfe ihrer beiden Töchter +und der weiblichen Dienstboten im Haus, ihren Zustand zu bewachen; +Herr Dollinger selber war in seinem Zimmer des +obern Stocks, und ging dort mit raschen Schritten und auf +den Rücken gekreuzten Armen auf und ab, während dem jungen<pb n="053" /><anchor id="Pg053" /> +Henkel indessen die Bewachung des Platzes selber übertragen +war, und die andern Dienstboten, mit einem nicht unbedeutenden +Theil der Nachbarschaft und deren Verwandten, in den verschiedenen +Winkeln und Ecken des Hauses herumstanden und +kopfschüttelnd, die Hände ein über das andere Mal in Verwunderung +zusammenschlugen. Die verschiedenartigsten Vermuthungen +und Beweise wurden da laut, und die Orte und +Stellungen oder Beschäftigungen jedes Einzelnen auf das Genaueste +und Peinlichste angegeben, wo und wie sich Jeder gerade +in der Zeit etwa befunden haben mochte, als die entsetzliche, +verruchte That geschehen und vollbracht sein mußte.</p> + +<p>Dem Actuar, mit dem ihm folgenden Gerichtsdiener +wurde übrigens willig und dienstfertig Platz gemacht; Alle +wollten aber hinter drein, und die Frauen besonders gaben +dabei durch die entschiedensten Ausrufe — »Ne Du meine +Güte« und »Ne so was« ihre vollkommenste Misbilligung +des Geschehenen zu erkennen. Nichts desto weniger wurde auch +selbst ihnen die Thüre vor der Nase zugemacht, und Einer der +Bedienten bekam strenge Ordre die Hausflur zu räumen, und +Niemand mehr, so lange die Untersuchung dauere, die Treppe +hinaufzulassen, ausgenommen, es wisse Jemand noch um den +Diebstahl, und könne irgend einen Fingerzeig geben den Dieben +auf die Spur zu kommen; solche Zeugen sollten nachher vernommen +werden.</p> + +<p>Oben an der Treppe empfing sie Herr Henkel, um sie +gleich zu dem Ort, wo der Diebstahl verübt worden, hinzuführen; +einer der Leute war indessen abgeschickt Hrn. Dollinger +<pb n="054" /><anchor id="Pg054" />selber zu rufen, und dieser erschien jetzt, den Actuar freundlich +grüßend.</p> + +<p>Es war indessen schon ziemlich dunkel, und im Zimmer +Licht angezündet worden.</p> + +<p>»Ich bedaure sehr, Herr Dollinger,« sagte der Actuar, +»daß, wie ich gehört habe, eine so fatale Sache mich hier in +Ihr Haus geführt haben muß.«</p> + +<p>»Ja allerdings,« erwiederte der alte Herr, »ist es sehr +unangenehm; weniger des Verlustes wegen, der sich allenfalls +ertragen ließ, als wegen dem Bewußtsein getäuschten Vertrauens, +mit selbst keinem gewissen Anhaltspunkt auf Verdacht. +Ich wollte gern das Doppelte verloren haben, wenn es hätte +können auf andere Weise geschehn.«</p> + +<p>»Das Ganze ist übrigens mit einer raffinirten Geschicklichkeit +ausgeführt,« fiel Henkel hier ein, »und der Thäter, +wer auch immer, jedenfalls ein höchst gefährliches Subject, von +dem ich nur hoffen will daß wir ihm auf die Spur kommen.«</p> + +<p>»Dürfte ich Sie bitten mir den Platz zu zeigen?«</p> + +<p>»Treten Sie hier in das Zimmer meiner Töchter; dort +der Secretair ist erbrochen.«</p> + +<p>»Hm — mit einem breiten meißelartigen Instrument,« +sagte der Actuar nach kurzer Besichtigung der offenen, arg beschädigten +Mahagoniplatte — »und die Thür ebenfalls eingebrochen?«</p> + +<p>»Nein — die Thür ist unbeschädigt und muß jedenfalls +mit einem Nachschlüssel geöffnet sein.«</p> + +<p>»Und was vermissen Sie in dem Secretair?«</p> + +<p><pb n="055" /><anchor id="Pg055" />»Eine Summe Geldes, die ich erst vor wenigen Stunden, +und im Beisein meiner Familie und eines zuverlässigen Comptoirdieners, +im Paket wie ich sie von der Post erhalten, hier +eingeschlossen hatte, und von der der Dieb auf eine mir unbegreifliche +Weise muß Kenntniß bekommen haben.«</p> + +<p>»Wer ist dieser Comptoirdiener?«</p> + +<p>»Oh, Loßenwerder; Sie kennen ihn ja wohl?«</p> + +<p>»Loßenwerder,« sagte der Actuar nachdenkend — »ist +wohl schon eine ganze Weile in Ihrem Geschäft?«</p> + +<p>»Schon zwölf Jahr; mit keinem Schatten irgend eines +Verdachts; ich nahm ihn als einen ganz jungen Burschen in +mein Haus; er muß aber gegen irgend Jemand davon gesprochen +haben.«</p> + +<p>»Hm, hm, wollen ihn uns doch einmal nachher besehn; +also hier hinein hatten Sie das Geld gelegt?«</p> + +<p>»Es ist ein Secretair, den meine Töchter gemeinschaftlich +benutzen, und zu dem jede von ihnen ihren Schlüssel hat. Bitte +lieber Henkel, lassen Sie doch einmal Sophie oder Clara einen +Augenblick zu uns herüber rufen.«</p> + +<p>»Ich habe schon das Mädchen geschickt, eine der jungen +Damen ersuchen zu lassen,« entgegnete der junge Henkel, der +indessen im Zimmer umhergegangen war, und sich überall umgesehen +hatte, ob nicht vielleicht doch der Dieb irgend eine +Spur, irgend ein Zeichen hinterlassen habe, an das man sich +später einmal halten könne. — </p> + +<p>»Und vermissen Sie weiter Nichts als das Geld?« frug +der Actuar.</p> + +<p><pb n="056" /><anchor id="Pg056" />»Auch ein Schmuck meiner ältesten Tochter scheint mit +geraubt zu sein,« sagte Herr Dollinger — »aber da kommt +Clara, die Ihnen das Nähere davon selber angeben wird.«</p> + +<p>Clara betrat in diesem Augenblick das Gemach; sie sah +todtenbleich und angegriffen aus, und Henkel eilte ihr entgegen +sie zu unterstützen.</p> + +<p>»Clara, mein liebes armes Kind,« sagte Herr Dollinger, +auf sie zugehend und die Hand nach ihr ausstreckend, »fehlt +Dir etwas? — Der Schreck hat Dich wohl so angegriffen. +Mach Dir doch nur keine Sorge, mein Herz; vielleicht bekommen +wir Alles wieder und wenn nicht — nun ein <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Unglück</emph> +ist es dann auch nicht; wenn Ihr mir nur Alle gesund bleibt, +können wir die paar tausend Thaler schon verschmerzen.«</p> + +<p>»Es ist nicht der Verlust, lieber Vater,« sagte aber das +junge Mädchen, sich gewaltsam zusammennehmend, und des +Vaters Hand ergreifend — »nur die Ueberraschung, der Schreck +wahrscheinlich, und das — das Unheimliche dabei, als ich +mein Zimmer vorhin betrat, und die Spuren des verübten +Verbrechens entdeckte. Ich fürchtete die entsetzlichen Menschen +noch irgend wo zu sehn, die vielleicht hinter einer Gardine +stehen, unter einem der Divans liegen, hinter einem Ofen +lauern konnten und, wenn entdeckt, zu verzweifelter Gegenwehr +getrieben mich anfallen würden, und all solch kindische +Gedanken mehr. Dort der auf den Tisch geworfene Regenschirm +dabei, die hinuntergeworfene Stickerei von dem Secretair +selber, am meisten aber der Tabaksgeruch im Zimmer und +<pb n="057" /><anchor id="Pg057" />die verlöschte, angerauchte Cigarre dort auf dem Fensterbret, +erfüllten mir das Herz mit einem unbeschreiblichen Grausen.«</p> + +<p>»Eine Cigarre?« sagte Ledermann, sich vergebens nach +dem bezeichneten Gegenstand umschauend — »wo lag sie?«</p> + +<p>»Dort im Fenster, als ich zurückkam.«</p> + +<p>»Die alte angerauchte Cigarre?« sagte Henkel rasch — »die +hab' ich zum Fenster hinausgeworfen; ich glaubte Einer +der Dienerschaft hätte sie in der Aufregung mit hereingebracht +und dort abgelegt — sie muß unten auf der Straße liegen.«</p> + +<p>»Bitte schicken Sie doch einmal einen Burschen danach, +daß er sie heraufholt,« sagte der Actuar; »man darf auch das +Unbedeutendste nicht unbeachtet lassen, und wir wollen indessen +die vermißten Gegenstände aufnehmen. Das Geld? — «</p> + +<p>»Davon giebt Ihnen dieser Brief das genaue Verzeichniß,« +sagte Herr Dollinger, »aber ich fürchte fast daß wir +durch das Geld selber nicht auf die Spur kommen werden, indem +das Paket fast nur Gold und kleinere Banknoten enthielt, +die leicht umzusetzen und schwer zu controliren sind. Eher +hoffe ich durch den Schmuck den Dieb verrathen zu sehn, da +einige sehr auffällige Stücke, wie ich höre, dabei gewesen +sind.«</p> + +<p>»Dürfte ich Sie um eine genaue Angabe derselben, heute +Abend noch, wenn irgend möglich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">schriftlich</emph> bitten?« erwiderte, +nach einigem Besinnen, der Actuar, »diese Einzelheiten +würden mich jetzt zu lange aufhalten.«</p> + +<p>»Kannst Du das geben, Clara?</p> + +<p>»Bis auf die kleinste Nadel hinunter,« sagte das junge<pb n="058" /><anchor id="Pg058" /> +Mädchen rasch, »besonders auffällig war eine kleine, rundum +mit Brillanten besetzte Broche, ein Erbstück unserer Großmutter, +und ausgezeichnet vor jedem andern Schmuck, den ich +noch in meinem ganzen Leben gesehen, durch einen, in der +Mitte gefaßten, genau dreieckigen, hellblauen und wundervollen +Turquis. Mein Schmuck lag gleich dicht dahinter, den +aber muß der Dieb in der Eile übersehen haben; er ist unangerührt +geblieben.«</p> + +<p>»Das ist allerdings glücklich,« sagte der Actuar, »wäre +wohl auch des Mitnehmens werth gewesen. Lag gleich dabei?«</p> + +<p>»Hier in dem rothen Kästchen.«</p> + +<p>»Aber das ist auch geöffnet worden.«</p> + +<p>»Das? — nein, das hab ich wohl selbst geöffnet, nachzusehen, +ob auch Alles darin sei, und nicht wieder ordentlich +geschlossen. Die Haken waren allerdings auf, wenn ich mich +nicht ganz irre, aber der Dieb hat keinenfalls eine Ahnung gehabt, +welchen Werth das kleine unscheinbare Kästchen enthalte, +oder es stände jetzt nicht mehr da.«</p> + +<p>»Sehr wahrscheinlich, hm — aber Sie vergeben wohl +nicht, mein Fräulein, alle diese Einzelheiten besonders zu notiren; +wer weiß ob sie nicht noch einmal wichtig werden. Ah, +da kommt auch Herr Henkel wieder; haben Sie die Cigarre +gefunden?«</p> + +<p>»Gott weiß wo sie ist;« lachte dieser, »irgend Jemand +muß es doch noch der Mühe werth gehalten haben sie aufzuheben, +und in einer Pfeife vielleicht zu verrauchen — ich bin selber +<pb n="059" /><anchor id="Pg059" />hinunter gegangen, kann sie aber nirgends mehr entdecken. +Uebrigens ist es auch fast dunkel geworden, und ich werde +morgen ganz früh nachsuchen lassen. Der Stummel wird Ihnen +freilich nicht viel helfen.«</p> + +<p>»Man weiß nicht,« sagte der Actuar kopfschüttelnd, »je +nach der Güte des Tabaks ließ sich vielleicht auf die Schicht +der menschlichen Gesellschaft schließen, in der sich unser heimlicher +Besuch herumtriebe. Aber das ist allerdings Nebensache; +wo also ist der Dieb hereingekommen? — hier durch +diese Thür?«</p> + +<p>»Doch wohl vom Garten her durch das Fenster Euers +Schlafzimmers,« sagte Herr Dollinger, »denn durch das Haus +würde er es sich am hellen Tage im Leben nicht getraut +haben.«</p> + +<p>»Aber ich möchte meine Seligkeit zum Pfande setzen daß +ich den Schlüssel, der nach unserer Schlafkammer führt, ehe +wir fortgingen, herumgedreht und stecken gelassen hätte, so daß +von innen ein Oeffnen unmöglich war.«</p> + +<p>»Und war die Thür noch verschlossen wie wir zurückkamen?«</p> + +<p>»Nein, nur in's Schloß gedrückt, aber der Schlüssel stak +darin.«</p> + +<p>»Hm, hm, hm — dann ist der Bursche dort wahrscheinlich +hinaus« — sagte der Actuar — »zur Thür hier hereingekommen +und dort zur Nothröhre hinaus — hm, muß aber +genau mit der Gelegenheit bekannt sein. Mein lieber Herr +Dollinger, wir werden Ihre Leute doch ein wenig scharf in's<pb n="060" /><anchor id="Pg060" /> +Gebet nehmen müssen, denn ein ganz Fremder, kann sich die +Zeit nicht so abgepaßt haben.«</p> + +<p>»Wo kommt der Blumenstock her?« sagte da plötzlich +Clara rasch und erstaunt, auf einen sehr schönen Rosenstock +deutend, der in ihrem Fenster, zunächst der Thüre stand — »wer +hat den jetzt hier heraufgestellt?«</p> + +<p>»So lange wir hier sind Niemand« — rief Henkel — »war +er vorher nicht da?«</p> + +<p>»Nicht heute Mittag, das weiß ich gewiß; aber vielleicht +hat ihn eins der Dienstleute mir heimlich hier hereingesetzt.«</p> + +<p>»Heimlich? — so?« sagte der Actuar, »den freundlichen +Geber wollen wir also vor allen Dingen einmal herauszubekommen +suchen.«</p> + +<p>»Es ist heute mein Geburtstag,« sagte Clara leise und +erröthend.«</p> + +<p>»Oh?« meinte Herr Ledermann mit einem freundlichen +Lächeln, »da thut es mir freilich leid, meine ganz ergebensten +Gratulationen zu keiner angenehmeren Zeit vorbringen zu können — will +eben nicht passen bei einer solchen Untersuchung, +kann es aber doch auch nicht geradezu hinunterschlucken — ich +gratulire eben nicht zur Untersuchung.«</p> + +<p>»Es muß gewiß ein gesegnetes Land sein,« sagte Henkel +mit einem leisen, halb boshaften Lächeln, »wo die Polizei sogar +witzig sein kann.«</p> + +<p>»Hm,« meinte der lange Aktuar, sich nach dem Sprecher +umdrehend, »die Polizei macht eben keinen Anspruch darauf, +und ist das meistens Privateigenthum. Aber wir wollen die<pb n="061" /><anchor id="Pg061" /> +Zeit nicht mit Allotrien vergeuden; ist nicht herauszubekommen +wer den Blumenstock hier, während Ihrer Abwesenheit in das +Zimmer gesetzt hat?«</p> + +<p>»Jedenfalls müssen die Dienstboten darum wissen,« sagte +der junge Henkel, »und es wird das Beste sein sie einzeln +darum zu befragen.«</p> + +<p>»Allerdings; — Einzelverhör hat überhaupt viele Vortheile, +bitte schicken Sie einmal die Leute herauf, daß man vor +allen Dingen ihre Gesichter zu sehen bekommt.«</p> + +<p>»Aber nicht hier, Väterchen, nicht wahr nicht hier in +meiner Stube?« bat Clara — »ich würde den fatalen Gedanken +im Leben nicht wieder los.«</p> + +<p>»Wir wollen hinuntergehn in das untere Zimmer,« sagte +Herr Dollinger, freundlich dem Wunsch der Tochter nachgebend, +»es läßt sich das dort eben so gut abmachen als hier.«</p> + +<p>»Manchmal ist der Platz des Verbrechens selber der geeignetste,« +warf der Actuar ein, »aber wie Sie wünschen — nur +um eines möchte ich Sie noch vorher bitten, daß ich mir +einmal die Stelle oder das Fenster ansehn darf, durch das sich +Ihrer Vermuthung nach, der oder die Diebe entfernt haben +könnten.«</p> + +<p>»In unserem Schlafzimmer?«</p> + +<p>»Doch durch diese Thür?«</p> + +<p>»Lieber Henkel, Sie sind wohl indessen so freundlich, +meine Leute unten zusammenzurufen; wir kommen gleich hinunter. +Sie werden heut viel belästigt.«</p> + +<p>»Aber ich bitte Sie, bester Herr Dollinger,« sagte der +<pb n="062" /><anchor id="Pg062" />junge Mann, rasch seinen Hut aufgreifend, »wenn ich Ihnen +nur darin von irgend einem wirklichen Nutzen sein könnte. +Lieber erlauben Sie mir vielleicht mit Ihnen einer möglichen +Spur zu folgen, denn meine Augen sind darin vielleicht schärfer +als manche andere.«</p> + +<p>»Es wird in der Dunkelheit nicht eben mehr viel zu +spüren geben,« meinte indeß der Actuar; »das werden wir +uns müssen auf morgen früh aufsparen — also jetzt noch das +Fenster, wenn ich bitten darf — ich möchte mir nur die Gelegenheit +einmal von oben besehn.«</p> + +<p>Clara selber öffnete die Thür und führte dem Actuar mit +ihrem Vater in das kleine freundliche Gemach, dessen beide, +schon von Blätter schießenden Weinranken überzogene Fenster, +auf den Garten hinaussahen. Das eine Fenster war allerdings +geöffnet gewesen, aber der Rankenwuchs so dicht zusammengezogen, +daß sich ein <corr sic="Korper">Körper</corr> kaum hätte hindurchzwingen +können. Die Höhe nach dem Garten hinunter, und +gerade unter dem Fenster sollte ein kleiner Rasenplatz sein, +war eben nicht beträchtlich, vielleicht zehn oder zwölf Fuß, und +unten umgab niederer aber ziemlich dichter Hollunder den +Rasen. Im Zimmer selber ließ sich aber nicht das mindeste erkennen, +das einen solchen Verdacht unterstützt hätte; das +Einzige was dafür sprach, war die aufgeschlossene Thür.</p> + +<p>Zu der Unterstube des Hauses waren indessen die Dienstleute +versammelt worden, streng examinirt zu werden. Der +Hausmagd vor allen andern lag die Pflicht ob, die Etage, wenn +sie nach unten in die Küche ging, in Abwesenheit der Herr<pb n="063" /><anchor id="Pg063" />schaft +verschlossen zu halten. Diese aber behauptete steif und +fest, und weinte dabei und rief Gott und alle Heiligen zu +Zeugen an, daß sie die Vorsaalthür auch ordentlich, »zweimal +herum« abgeschlossen und den Schlüssel zu sich gesteckt hätte, +und Niemanden in der weiten Gotteswelt gesehen habe, der +das Haus in der Zeit betreten haben könne. Trotzdem aber +sei die Vorsaalthür, als sie wieder nach oben gekommen offen, +wenigstens aufgeschlossen, wenn auch zugeklinkt gewesen, und +sie hätte selber im Anfang nicht begreifen können wie das möglich +wäre, aber auch nicht weiter darüber nachgedacht, und es +ihrer eigenen Unaufmerksamkeit zugeschoben. Nach der Abfahrt +der Herrschaft sei sie aber nur eine ganz ganz kurze Zeit +unten geblieben um — sie wollte erst nicht mit der Sprache +heraus, aber der Herr Actuar drängte gar so sehr — um den +jungen Herrn Henkel fortreiten zu sehn. Nachher mochte sie +vielleicht noch zehn Minuten der Köchin geholfen haben, und +war dann nicht wieder von dem Vorsaal oben fortgekommen, +auf dessen Balkon sie gesessen und genäht hatte. In der Zeit +habe Niemand mehr den Vorsaal oder des Fräuleins Zimmer +betreten, darauf wolle sie das heilige Abendmahl nehmen, und +der Diebstahl müsse jedenfalls in den paar Minuten, die +zwischen dem Fortreiten des jungen Herrn und ihrem eigenen +Wiederhinaufgehn nach oben gelegen hätten, verübt sein — anders +war es nicht möglich.</p> + +<p>»Wer aber hatte den Blumenstock in des Fräuleins Zimmer +gestellt?«</p> + +<p>»Einen Blumenstock? — während die Herrschaft fort war?«</p> + +<p><pb n="064" /><anchor id="Pg064" />»Allerdings, eine Monatsrose — in das Fenster nächst +der Thür.«</p> + +<p>»Der das gethan hat, müsse damit zum Fenster, oder in +derselben Zeit mit einem Nachschlüssel zur Thür hereingekommen +sein, als der Diebstahl verübt worden, denn sie hätte keine +Seele im Haus gesehn.</p> + +<p>Die Dienstboten hatten indessen mit einander geflüstert, +als der Actuar das Wort nahm und mit langsam bedächtiger, +aber ziemlich ernster Stimme sagte:</p> + +<p>»Hört einmal Leute, ich will Euch etwas sagen; Ihr habt +Euch da gut unschuldig stellen, als ob Ihr eben erst auf die +Welt gekommen wärt, damit dringt Ihr aber nicht durch. Das +Geld ist fort — Ihr seid die Einzigen die unter der Zeit im +Haus waren, und Euere Pflicht wäre es gewesen — </p> + +<p>»Aber Herr Actuarius« — </p> + +<p>»Ruhe da, wenn ich Euch etwas mitzutheilen habe — und +Euere Pflicht wäre es gewesen, sag' ich, aufzupassen, daß +niemand Fremdes den Platz betrat, der Euch anvertraut war, +und für den Ihr also auch in der Zeit zu stehn hattet. Jemand +ist aber in der Zeit da gewesen, und hat etwas gebracht +und etwas geholt, und man wird sich jetzt an <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Euch</emph> halten +müssen, bis der Jemand ausfindig gemacht ist. Was giebt's +da hinten — was ist gekommen?«</p> + +<p>»Dullmanns Rieke von über dem Weg drüben,« sagte +die Köchin jetzt, gegen den Actuar vortretend, »will den Loßenwerder +haben heimlich aus dem Haus schleichen sehn. Da +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">haben</emph> Sie einen; <emph rend="letter-spacing: 0.20em">uns</emph> brauchen Sie so etwas nicht unter die<pb n="065" /><anchor id="Pg065" /> +Nase zu reiben, Herr Actuar — wir sind ehrliche Dienstboten +die sich ihr bischen Brot sauer genug im Schweiße ihres Angesichts — «</p> + +<p>»Ach halt' sie das Maul,« fiel ihr aber der Actuar etwas +unsanft in die Rede — »<emph rend="letter-spacing: 0.20em">wer</emph> ist im Haus gewesen, Loßenwerder? — und +heimlich hinausgeschlichen? — wer hat ihn +gesehn?«</p> + +<p>»Hier die Rieke von Dullmann's — «</p> + +<p>»Wann war das?« fragte der Actuar das jetzt vorgeschobene +<corr sic="Mächen">Mädchen</corr>, das feuerroth wurde und ihren einen Schürzenzipfel +anfing wie einen Plumpsack zusammenzudrehen. Erst +ganz kurze Zeit vorher hatte sie einer ihrer Freundinnen im +Dollinger'schen Haus, und gewiß nicht in der Absicht die Mittheilung +gemacht, gleich damit, ohne weitere Warnung, vor +die Polizei gezogen zu werden.</p> + +<p>»Nun Mamsell — wie hieß sie? — Rieke? — Wann +haben Sie Loßenwerder aus dem Haus kommen sehn, und ist +er ruhig hinausgegangen oder <emph rend="letter-spacing: 0.20em">geschlichen</emph>?«</p> + +<p>»Wenn Loßenwerder im Haus war,« sagte Herr Dollinger +ruhig, »so wird er auch ordentlich hinaus<emph rend="letter-spacing: 0.20em">gegangen</emph> und +nicht geschlichen sein; der wäre der Letzte dem ich so etwas zutrauen +möchte.«</p> + +<p>»Die Rieke behauptet,« fiel aber hier die Köchin in dem +Bewußtsein unrechtlich gekränkten Ehrgefühls rasch ein, »daß +sie gar nicht auf ihn geachtet haben würde, wenn er sich nicht +so schnell und heimlich, und dicht unter den Fenstern, am Hause +<pb n="066" /><anchor id="Pg066" />hingedrückt hätte. Wer kein böses Gewissen hat, kann gerade +und offen gehen.«</p> + +<p>»Sie sind aber gar nicht gefragt, zum Henker noch einmal,« +rief der Actuar jetzt ungeduldig werdend — »wenn Sie +jetzt nicht ruhig sind, lasse ich Sie so lange hinausführen, bis +wir Sie wieder brauchen. Hier Mamsell Rieke; wenn Sie +sich die Schürze abgedreht haben, dann sein Sie so gut und +sagen Sie uns einmal wo und wie Sie den Herrn Loßenwerder +gesehen haben.«</p> + +<p>»Ich — ich weiß nicht gewiß« — stammelte das Mädchen +verlegen — »aber — aber Loßenwerder kam — bald nachher +wie die Herrschaft fortgefahren war — «</p> + +<p>»Wie lange nachher?« frug der Actuar.</p> + +<p>»Etwa eine halbe Stunde denk' ich — vielleicht nicht so +lange — kam er viel rascher als es sonst seine Art ist, denn +er geht gewöhnlich immer sehr langsam — kam er — kam er +aus der Thür heraus, die er geschwind hinter sich zuzog — und +dann — «</p> + +<p>»Und dann?« — </p> + +<p>Und dann hielt er den Kopf nieder, als ob er nicht wollte +daß ihn Jemand, der vielleicht von oben heruntersähe, erkennen +möchte — hielt er den Kopf nieder und drückte sich — drückte +sich dicht am Haus hin, so schnell er konnte die Straße hinunter, +und um die Ecke.«</p> + +<p>»Und nachher?« frug der Actuar.</p> + +<p>»Nu, um die Ecke kann sie doch nicht sehn,« sagte die +Köchin.</p> + +<p><pb n="067" /><anchor id="Pg067" />»Ob Sie still sein wird,« sagte Herr Ledermann jetzt +aber wirklich böse gemacht — »Wenzel, wenn mir die Person +da jetzt noch einmal das — noch einmal den Mund aufthut, +dann wissen Sie was Sie zu thun haben.«</p> + +<p>»Sehr wohl, Herr Actuar,« sagte der Gerichtsdiener — </p> + +<p>»Und sind Sie dann nachher nicht herübergekommen und +haben das den Leuten im Hause gesagt, was Sie gesehn?« +frug der Actuar.</p> + +<p>»Ich habe ja aber Nichts gesehen,« sagte die Rieke.</p> + +<p>»Sie haben doch den Loßenwerder gesehn« — </p> + +<p>»Ja aber der geht doch so oft in das Haus hier herein, und +kommt nachher immer wieder heraus.«</p> + +<p>Der Actuar warf sich ungeduldig herüber und hinüber +und sagte endlich mürrisch:</p> + +<p>»Unsinn — baarer Unsinn — aber hatte er denn irgend +etwas in der Hand? — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">trug</emph> er etwas?«</p> + +<p>»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Trug</emph>? — ja — ja sehn Sie Herr Actuar — das kann +ich Sie nicht sagen — das weiß ich nicht — «</p> + +<p>»Nun Sie werden doch gesehen haben, ob er irgend ein +schweres Paket in der Hand hatte oder nicht.«</p> + +<p>»Ja sehn Sie, das weiß ich Sie wahrhaftig nicht, aber +ich glaube es fast,« sagte das Mädchen, »denn ich habe den +Herrn Loßenwerder eigentlich noch gar nicht anders gesehn, +als daß er irgend 'was getragen hätte; und wenn's nur ein +paar Briefe gewesen wären, oder ein Regenschirm.«</p> + +<p>»Lieber Herr Actuar, ich glaube Sie sind da auf einer +falschen Fährte,« sagte Herr Dollinger jetzt — »man kann +<pb n="068" /><anchor id="Pg068" />einem Menschen allerdings nicht in's Herz sehen, aber für den +Loßenwerder möchte ich fast selber einstehen.«</p> + +<p>»Mein bester Herr Dollinger,« sagte aber der Actuar +kopfschüttelnd, »es ist das mit den Untersuchungen eine wunderliche +Sache, und Leute auf die man am allerwenigsten gedacht, +von denen man nie das geringste Unrechte vermuthet +hatte, kommen da oft in den sonderbarsten Verwickelungen +vor und — sind schuldig. Ich selber kenne Loßenwerder +als einen ordentlichen braven Menschen, und will zu +Gott hoffen, daß unser ganzer Verdacht unbegründet ist; das +heimliche Schleichen aus dem Haus aber, und daß ihn Niemand +sonst im Haus gesehen hat macht ihn verdächtig. Meine +Pflicht ist es wenigstens ihn selbst deshalb zu vernehmen und +ich werde jedenfalls noch heute Abend nach ihm schicken müssen — unsere +Eisenbahnverbindungen sind jetzt zu schnell, und +man darf keiner Menschenseele mehr zwölf Stunden Vorsprung +lassen, wenn man nicht oft das leere Nachsehn haben will.«</p> + +<p>»Passen Sie auf,« sagte Herr Dollinger, »der Loßenwerder +wird den Blumenstock zum Geburtstag Clara's oben +hinaufgetragen haben, und zum Dank dafür kommt der arme +Teufel jetzt noch in den Verdacht des fatalen Diebstahls.«</p> + +<p>»Wie aber ist er ohne Nachschlüssel in die verschlossene +Thür gekommen,« warf der Actuar ein — </p> + +<p>»Hm — « sagte Herr Dollinger, »das weiß ich freilich +nicht — nun fragen Sie ihn selber, das wird jedenfalls der +kürzeste Weg sein.«</p> + +<p><pb n="069" /><anchor id="Pg069" />»Um das Verzeichniß der gestohlenen Gegenstände dürfte +ich Sie dann vielleicht nachher noch bitten.«</p> + +<p>»Meine Tochter wird es gerade jetzt eben schreiben,« sagte +Herr Dollinger, »wenn Sie nur noch kurze Zeit warten wollen.«</p> + +<p>»Dann dürfte ich Sie wohl bitten, es mir gleich in meine +Wohnung zu schicken,« meinte der Actuar nach kurzer Ueberlegung, +»ich muß vor allen Dingen erst in meine Wohnung +und werde dann von da gleich noch einmal in's Bureau +gehen. Wo ist denn der Loßenwerder wohl am leichtesten zu +finden?«</p> + +<p>»Ich habe eben nach seinem Hause geschickt,« sagte Herr +Dollinger, »aber dort ist er nicht. Paul, der Bursche, behauptet, +er ginge manchmal, aber selten, in eine Bierstube an der +Ecke der Rößnitzer und Hertzergasse, aber dort war er auch +nicht; es ist übrigens an beiden Orten bestellt, ihn gleich, so +wie Jemand seiner ansichtig wird, hierherzuschicken.«</p> + +<p>»Sehr wohl,« sagte der Actuar, seine Papiere zusammenpackend, +und sie dem Gerichtsdiener übergebend; nach kurzer +Begrüßung wollte er sich dann eben entfernen, als er noch einmal +in der Thür stehen blieb und, sich scharf auf dem Absatz +herumdrehend, fragte:</p> + +<p>»A prospos — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">raucht</emph> Loßenwerder?«</p> + +<p>»Soviel ich weiß <emph rend="letter-spacing: 0.20em">nicht</emph>,« sagte Herr Dollinger.</p> + +<p>»Doch ja, manchmal,« sagte Einer der Leute — Sonntags +nach Tisch z. B. regelmäßig eine Cigarre.«</p> + +<p>»Hm, so?« sagte der Actuar und verließ dann rasch das +Zimmer und Haus.</p> + +<p><pb n="070" /><anchor id="Pg070" />Er hatte übrigens auch alle Ursache sich zu beeilen, denn +daheim wartete ein mit jeder Minute drohender aufsteigendes +Unwetter auf ihn, das er mit einer Art von verzweifelten Hoffnung +immer noch mit den, dem Gerichtsdiener wieder zu dem +Zweck abgenommenen, und geschäftsmäßig unter den Arm geklemmten +Streifen Akten abzuleiten gedachte. Jedenfalls +mußte ihm der Vorfall im Dollinger'schen Haus, der so viel +von seiner Zeit in Anspruch genommen, entschuldigen. Frau +Actuar Ledermann aber hatte sich schon den ganzen Nachmittag +über, mit immer wachsender Ungeduld, vorgenommen gehabt +mit ihrem Gatten gegen Abend einen der vor der Stadt +gelegenen Gärten, wo Concert sein sollte, zu besuchen +und die Parthie war ihr jetzt — was halfen alle Gründe +dagegen — zu Wasser geworden; es verstand sich von selbst +daß Actuar Ledermann die Schuld, und deshalb auch die Folgen +trug.</p> + +<p>Frau Actuar Ledermann hatte sich übrigens vor einigen +Tagen, wo sie trotz dem nassen Wetter und allen Vorstellungen +ihres Mannes spatzieren gegangen war, furchtbar erkältet, und +brachte keinen lauten Ton über die Lippen. Das aber, und +daß sie ihren gerechtfertigten Ingrimm nicht mit der vollen +Kraft ihrer Stimme hinaus<emph rend="letter-spacing: 0.20em">gießen</emph> konnte über den Gatten, +wie sie es — und er auch — gewohnt war, sondern alles das was +sie ihm zu sagen hatte — und sie hatte ihm viel zu sagen — heraus<emph rend="letter-spacing: 0.20em">flüstern</emph> +mußte, reizte ihren Zorn nur noch immer +mehr.</p> + +<p>»Aber liebes Kind, ich versichere Dich,« sagte der Actuar +<pb n="071" /><anchor id="Pg071" />in einem vergeblichen Versuch den aufsteigenden Sturm zu +beschwichtigen, »daß ich mich über anderthalb Stunden bei +dem verwünschten Diebstahl im Dollinger'schen Hause aufgehalten +habe und — «</p> + +<p>»Und ich versichere Dich,« zischte sie, mit einem Gesicht, +dem die Anstrengung die es sie kostete die Worte hörbar zu +machen, einen noch viel unfreundlicheren, ja sogar boshaften +Ausdruck gab — »daß ich Dich vor anderthalb Stunden +schon gerade so erwartet habe wie jetzt, und seit drei Stunden +vollkommen angezogen dasitze und auf Dich passe.«</p> + +<p>»Aber Du <emph rend="letter-spacing: 0.20em">bist</emph> ja gar nicht angezogen, beste Therese.«</p> + +<p>»Weil ich mich wieder ausgezogen habe,« rief die Frau — »glaubst +Du ich soll mir ein Beispiel an einem liederlichen +Menschen nehmen, und bei Nacht und Nebel noch draußen +herumstreichen, wie Leute die das Licht zu scheuen haben? — Und +dann mit meinem Katharr — daß ich mir den Tag über +im warmen Sonnenschein ein wenig Bewegung machte, das +fällt Dir nicht ein; aber Nachts, wenn der schädliche Thau +niederfällt, der für mich gerade Gift wäre, da möchtest Du +mich jetzt wohl noch hinausschleppen nicht wahr? damit ich +nur recht schnell unter die Erde käme — o ich armes unglückseliges +Weib — «</p> + +<p>»Aber Therese Du bist unbillig, ich habe Dir doch angeboten +heute Nachmittag mit mir nach dem rothen Drachen +hinauszugehn — «</p> + +<p>»Weil Du wußtest daß das nichtsnutzige Geschöpf von +<pb n="072" /><anchor id="Pg072" />einer Wäscherin mir mein Kleid nicht vor vier Uhr bringen +würde,« zischte die Frau.</p> + +<p>»Aber Du hast ja noch andere — «</p> + +<p>»Am Sonntag zum Skandal der andern Menschen mit +einer solchen <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Fahne</emph> zu einem anständigen Vergnügungsort +hinausziehn, nicht wahr? — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Dir</emph> läge natürlich Nichts daran +was die Leute über Deine Frau sagten; aber Du bist auch an +anderen Orten lieber wie zu Hause, und statt Deiner Frau +einmal ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten, und nachher +mit ihr zusammen auszugehen, mußt Du natürlich g'rad in's +Wirthshaus laufen, und ein Bischen vor Mitternacht dann +wieder zu Hause kommen.«</p> + +<p>»Liebes Kind, es ist halb neun Uhr jetzt« — sagte der +Actuar ruhig, »dann aber Therese,« fuhr er nach kleinem +Zögern, mit einer fast gewaltsamen Anstrengung etwas herauszubringen, +das er auf dem Herzen hatte, fort — »bist Du +theilweise mit selbst Schuld daran, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">daß</emph> ich mir eben außer +dem Hause mein Vergnügen suchen <emph rend="letter-spacing: 0.20em">muß</emph>.«</p> + +<p>»Ich?« wollte die Frau erstaunt rufen, der etwas zu hoch +eingesetzte Ton blieb aber total aus, und Ledermann sah nur, +mit der entsprechenden Gesticulation, das zum Höchsten erstaunte +Gesicht der Gattin. Dadurch aber vielleicht, und durch +die ungewöhnliche, freilich erzwungene Stille, etwas muthiger +gemacht, fuhr er entschlossen fort:</p> + +<p>»Ja liebes Kind, Du; denn anstatt Deinem Mann, wenn +er von seinen Berufsgeschäften ermüdet zu Hause kommt den +Aufenthalt daheim zu einem freundlichen zu machen, in dem +<pb n="073" /><anchor id="Pg073" />er gerne bleibt, läßt Dich Dein unglückseliges, heftiges Temperament +nicht ruhen noch rasten, sondern Du mußt irgend +eine Gelegenheit vom Zaune brechen mit mir zu zanken. Gebricht +es Dir aber vollkommen an Stoff, was jedoch nur in höchst +seltenen Fällen zu sein scheint, so bist Du mürrisch und verschlossen, +machst ihm ein finsteres, verdrießliches Gesicht, und +sprichst kein Wort.«</p> + +<p>Sprachlos nur vor Zorn und Staunen über die unerhörte, +bodenlose Frechheit, hatte die Frau indessen dem heute +so redseligen Gatten (der aber nicht dabei zu ihr aufzuschauen +wagte, sondern bald die rechte, bald die linke Ecke der Stube +mit den Augen suchte) angesehn. Es war eine allerdings +noch jugendliche schlanke, aber eher magere als volle Gestalt, +die Frau Actuar Ledermann, mit etwas vorstehenden, wenigstens +stark markirten Backenknochen und durchdringend scharfen, +wenn auch kleinen lichtgrauen Augen, die Lippen schmal und +um den Mund in vielen kleinen Fältchen, zusammengezogen, +das Kinn jedoch etwas zurückstehend, was ihr ein besonderes, +und nicht eben angenehmes Profil gab. Auch in ihrem +Anzug ließ sie sich zuviel gehn; der Zauber reinlicher Kleidung +fehlte ihr, der selbst der ärmlichsten Tracht etwas Nettes, +Freundliches giebt; die Krause die das oben am Hals dicht anschließende +Kleid einfaßte, war schon mehrere Tage getragen +und verdrückt, ebenso zeigten die Manschetten Spuren längeren +Dienstes, und die Haube saß ihr verschoben und zu viel zurückgedrängt +auf dem, nicht überreich mit Haaren bedeckten Scheitel. +Frau Actuar Ledermann war nicht hübsch, und der Affect +<pb n="074" /><anchor id="Pg074" />der ihre Züge in diesem Augenblick mehr entstellte als belebte, +nahm ihnen leider auch die letzte Spur sanfter Weiblichkeit, +die sonst doch wohl noch hie und da darin verborgen lag. Der +bis jetzt mehr durch Erstaunen als Mäßigung niedergekämpfte +Zorn gewann aber auch endlich die Oberhand, und während +die Anstrengung, sich bei ihrer Heiserkeit gehört zu machen, ihr +Antlitz fast dunkel färbte, keuchte sie, die Arme in die Seite gestemmt, +den Oberkörper gegen den überrascht einen Schritt +zurückweichenden Gatten vorgebeugt:</p> + +<p>»Spreche kein Wort, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">heh</emph>? sagt der Herr? — prahlt +da, »wenn er von Berufsgeschäften nach Hause kommt« — spreche +kein Wort? — sitzt in der Kneipe den ganzen gesegneten +Nachmittag — im rothen Drachen und das nennt er +Berufsgeschäfte; vertrinkt das Geld das wir hier zum nothwendigsten +Leben brauchten, und wirft mir jetzt meine Heiserkeit +vor, die mir der Himmel geschickt hat, oder mein +böses Glück, dem ich auch einen solchen Mann verdanke — daß +ich kein Wort spreche und verdrießlich bin. Ich soll +wohl <emph rend="letter-spacing: 0.20em">tanzen</emph>? eh? — wenn mir das Herz zum Zerspringen +voll ist vor Jammer und Elend daheim, und wenn ich den +ganzen Tag da sitze, und brüte und denke wie wir auskommen +wollen mit den paar Groschen, die zum Sterben und +Verhungern zu viel, zum Leben aber zu wenig sind. Dann +soll ich nachher, wenn der gestrenge Herr sein Gesicht +zeigt, lachen und vergnügt und lustig sein, nur damit +der Haustyrann sich nicht unbehaglich fühlt in <emph rend="letter-spacing: 0.20em">seinen</emph> vier +Wänden.«</p> + +<p><pb n="075" /><anchor id="Pg075" />Heftiger Husten unterbrach hier die Zornesrede der +Frau, der die übermäßig angestrengte Luftröhre den Dienst +versagte, und der Actuar Ledermann nahm still und schweigend, +den Moment benutzend, ein Licht von dem kleinen +Seitenschrank, zündete es an der Lampe an, und verließ +kopfschüttelnd und seufzend das Gemach, sich auf sein eigenes +kleines Stübchen zurückzuziehn.</p> +</div> +<div rend="page-break-before: always"><pb n="076" /><anchor id="Pg076" /> +<index index="toc" level1="Franz Loßenwerder" /> +<index index="pdf" level1="Franz Loßenwerder" /> +<index index="pdb" level1="Fr. Loßenwerder" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 4.</head> +<head rend="text-align: center">Franz Loßenwerder.</head> +<p>In Heilingen, in der Glockenstraße, stand ein vortreffliches +Weinhaus, in dem die wohlhabenderen Bürger Abends gewöhnlich +zusammenkamen und ihr Fläschchen, aus denen auch +oft zwei und drei wurden, tranken. Das Lokal war ziemlich +gemütlich, und dem Zweck entsprechend, in eine Menge kleiner +Zimmerchen abgetheilt, die theils durch wirkliche Thüren +und Verschläge, theils durch Vorhänge von einander getrennt +lagen, einzelnen Gesellschaften zu gestatten eben einzeln zu +bleiben, und ihr Glas, ungestört von dem Nachbar, zu trinken.</p> + +<p>Das Haus hieß »der Pechkranz« nach einer alten Sage, +die der Wirth sehr gern mit der Heilinger Chronik belegte, und +die noch in dem dreißigjährigen Kriege spielte; ein, über der +Eingangsthür in neuerer Zeit erst aus Stein gehauener Bachus, +hielt auch in der einen Hand einen Tyrsusstab, und in der anderen +einen Pechkranz, in höchst wunderlicher Weise Sage und<pb n="077" /><anchor id="Pg077" /> +Geschäft mit einander vereinigend. Die Allegorie war aber gar +nicht so übel angebracht, und hätte sich auch schon ohne Tilly +recht leidlich und genügend erklären lassen, denn Bachus hatte +hier schon in der That in manchen Kopf seinen Pechkranz +hineingeworfen, daß es lichterloh zum Dache hinausbrannte, +ohne weiter eben größeren Schaden anzurichten, als der alte +Pechkranz in damaliger Zeit angerichtet haben sollte.</p> + +<p>Der Wirth war übrigens nicht in Heilingen geboren und +erzogen, sondern ein Rheinländer, der sich hier erst vor einigen +Jahren niedergelassen, und durch gute Getränke auch bald gute +und schlechte Kunden genug bekommen hatte. Seine Preise +waren allerdings ein wenig theuer, »aber,« sagten die Heilinger, +»wer einmal Wein trinkt, dem darf es auch nicht auf +einen Groschen dabei ankommen, wenn er nur ächt und rein +ist,« und Wirth und Gäste befanden sich wohl dabei.</p> + +<p>Es war am Abend des nämlichen Tages, an welchem ich +meine Erzählung begann, als die Gäste, die den Tag über +meist auf Spaziergängen im Freien gewesen waren, anfingen +einzutreffen, und die Kellner geschäftig herüber und hinüber +sprangen, Wein und Speisen den Hungrigen und Durstigen +zu bringen. Die kleinen Räumlichkeiten füllten sich nach und +nach, und selbst in dem großen Mittelsaal, der ungefähr das +Centrum des Ganzen bildete, hatten sich schon hie und da einzelne +Gruppen gebildet, oder auch einzelne Gäste saßen in +irgend einer Ecke, ihre Flasche Wein vor sich, und auf eigene +Hand, in ungeselliger Gemüthlosigkeit, langsam Glas nach +Glas zu leeren. Es ist das aber nicht die rechte Art; zu einer +<pb n="078" /><anchor id="Pg078" />schönen Landschaft und einer guten Flasche Wein gehören +mindestens zwei Personen, um Beides recht und ordentlich zu +genießen, die eine sich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">darüber</emph>, die andere sich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">dabei</emph> auszusprechen; +wenn man allein ist, geht mehr als der halbe Genuß +von Beiden verloren. Es giebt allerdings Menschen, die +sich zufriedener fühlen wenn sie Alles allein genießen können, +aber denen geh' aus dem Weg; es sind Hypochonder oder +Schlimmere, und der einzige Dank, den Du ihnen schuldig bist +ist dafür, daß sie sich eben auch von Dir zurückziehn. Nur +wer Niemanden hat an den er sich anschließen darf, wer allein +und freundlos in der Welt dasteht und das Leid das ihn +drückt, allein tragen, die wenigen frohen Momente seines Lebens +allein genießen muß, den bedauere und hilf ihm, wenn +Du kannst, denn er ist der Unglücklichste von Allen.</p> + +<p>Es mochte neun Uhr Abends sein, als ein Bekannter +von uns, der Kürschnermeister Kellmann, die Weinstube betrat +und, sich überall umschauend, ob er nicht irgend einen Freund +träfe zu dem er sich setzen könnte, in einer der Ecken eine bekannte +Gestalt entdeckte. Aber er sah erst ein paar Secunden +wirklich aufmerksam dorthin, ehe er seinen Augen traute, und +sagte dann, auf Jenen losgehend und neben dem Tisch stehen +bleibend:</p> + +<p>»Hallo, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Loßenwerder</emph>? Ihr hier im Pechkranz? na da +möchte man doch, wie die Schwaben sagen, den Ofen einschlagen. +Alle Wetter Mann und vor einer Flasche Rüdesheimer; +nun das laß ich gelten und es freut mich wahrhaftig, +daß Ihr endlich einmal aufthaut und unter Menschen kommt.<pb n="079" /><anchor id="Pg079" /> +Aber was ist denn heute los bei Euch? denn einen ganz besonderen +Grund muß doch die Festlichkeit haben.«</p> + +<p>»Ha — ha — ha — hat sie auch He — he — he — he — herr +Ke — ke — ke — kellmann,« sagte der kleine Mann verlegen +lächelnd und sich etwas schüchtern dabei umschauend, denn es +schien ihm nicht angenehm, die Aufmerksamkeit der übrigen +Gäste so direkt auf sich gelenkt zu sehn.</p> + +<p>»Jetzt kann ich aber auch den Leuten widersprechen,« sagte +Kellmann, seinen Hut und Stock an einen der nächsten Haken +hängend und sich neben ihn setzend, »wenn sie behaupten Ihr +tränkt nur Wasser, und Sonntags höchstens einmal ein Glas +Dünnbier — ich kriege Leibschneiden, wenn ich nur an das +Zeug denke — und sonst lebtet, als ob Ihr die Woche mit +einem halben Thaler auskommen müßtet. Alle Wetter Mann, +das ist recht, daß Ihr Euch auch manchmal ein Glas Rheinwein +gönnt; das hält Leib und Seele zusammen, und stärkt die +Nerven und Muskeln mehr wie Rindfleisch. Würde mir +schwer ankommen, wenn ich unseren vaterländischen Wein entbehren +müßte,« setzte er mit einem halbunterdrückten Seufzer +hinzu.</p> + +<p>»Ha — ha — ha — haben Sie a — a — a — auch wohl +ni — ni — nicht nö — nö — nö — nö — nö — nöthig, be — be — be — bester +He — he — he — he — he — he.«</p> + +<p>»Ih nun wer weiß was Einem noch Alles bevorsteht,« +unterbrach ihn Kellmann — »hier Kellner — mir auch eine +Flasche von dem Rüdesheimer; der Duft hat mir Appetit +gemacht.«</p> + +<p><pb n="080" /><anchor id="Pg080" />»Hallo Loßenwerder bei einer Flasche Rüdesheimer,« rief +aber jetzt noch eine andere Stimme aus dem nächsten Stübchen, +wo ein paar junge Kaufleute bei ihrem Glase zusammensaßen — »da +müssen wir auch dabei sein; Loßenwerder hat vielleicht +heute seinen splendiden Tag und traktirt — haben Sie +was in der Lotterie gewonnen?«</p> + +<p>Die jungen Leute, die Kellmann und Loßenwerder begrüßten, +kamen mit ihrer Flasche heraus, und setzten sich an +denselben Tisch, mit dem immer verlegener werdenden kleinen +Mann anstoßend und trinkend. Denen gesellten sich aber noch +bald darauf Andre zu; Loßenwerder war in der ganzen Stadt +bekannt und oft auch, seiner körperlichen Mängel wegen, zum +Besten gehalten. Vertheidigen konnte er sich aber schon seines +Stotterns wegen nicht, was den Gegnern gleich nur noch +mehr Anlaß und Stoff gegeben hätte; so wurde denn diese +freilich gezwungene Zurückhaltung endlich für Gutmütigkeit +ausgelegt, mit der er sich Scherz und Stichelrede ruhig gefallen +ließ, und was die schärfste Erwiderung nicht vermocht, +erreichte er unfreiwillig dadurch, daß man es endlich müde +wurde, den sich nicht Verteidigenden zum Besten zu haben, +und ihn eben zufrieden ließ. Aber in des Verwachsenen Betragen +änderte das Nichts; abgestoßen und verhöhnt — in +nur sehr wenigen Ausnahmen — von Allen, mit denen er in +Berührung kam, zog er sich mehr und mehr in sich selbst zurück, +ging, außer den nöthigen Geschäftswegen und außer der Geschäftszeit, +fast nirgends hin, und lebte so einfach, ja fast dürftig, +wie nur ein Mensch leben kann, der eben <emph rend="letter-spacing: 0.20em">nur</emph> Geld ausgiebt, +<pb n="081" /><anchor id="Pg081" />um zu existiren. In einem Weinkeller hatte ihn aber noch +Niemand gesehn, und die Gäste dort, die überdies keinen weiteren +Zweck da hatten als sich zu amüsiren, glaubten das +einmal einen Abend mit dem kleinen »Stotterberg«, wie er +spottweis, seines Stotterns und Höckers wegen genannt wurde, +am Besten thun zu können.</p> + +<p>Im Anfang wollte sich Loßenwerder aber auf Nichts einlassen, +ja machte sogar zwei oder drei, wenn gleich vergebliche +Versuche, sich zu entfernen, denn von allen Seiten wurde er +gehalten, und Jeder wollte und mußte mit ihm trinken. Nach +und nach aber fing er an aufzuthauen; der ungewohnte kräftige +Wein mochte ihm das Blut leichter und rascher durch die +Adern jagen. Nun sollte er erzählen, aber das ging nicht, sein +Stottern wurde, mit der schwereren Zunge, kaum verständlich, +bis Einer, im Spott eben, auf den Gedanken kam, ihn +zum Singen aufzufordern. Loßenwerder weigerte sich erst +ganz verschämt; das aber kam den Anderen zu komisch vor, +und mit Lachen und Toben, während ein paar schon Champagner +bestellten, den Genuß würdig zu feiern, räusperte sich +Loßenwerder plötzlich und stieg, von dem Wein erregt, und +jetzt unter dem lauten Jubel der ihn umdrängenden Gäste, auf +einen Stuhl.</p> + +<p rend="page-float: 'htb'; text-align: center"> +<figure url="images/illu003.jpg" rend="w50"> +<figDesc>Capitel 4</figDesc> +</figure> +</p> + +<p>Was aber, wie sich die Uebrigen gedacht, Spott und Scherz +hatte werden sollen, das erstarb in athemlosem Schweigen, +nur von leisen Ausrufungen des Staunens und der Bewunderung +unterbrochen, als der kleine verkrüppelte Mensch, mit +einer hellen, glockenreinen Stimme, und Tönen, die zum in<pb n="082" /><anchor id="Pg082" />nersten +Herzen drangen, erst noch scheu, dann aber immer +zuversichtlicher werdend, und wie von dem Inhalt des Liedes mit +fortgerissen, dieses also begann:</p> + +<lg rend="margin-left: 2"> +<l>»Ich habe schon zu oft geschaut</l> +<l>In Deiner Augen Glanz, Du Holde,</l> +<l>Auf meine Kraft zu fest vertraut,</l> +<l>Viel mehr, als ich vertrauen sollte.</l> +</lg> +<lg rend="margin-left: 2"> +<l>Doch nein, für Dich Geliebte sind</l> +<l>Des Lebens schönste, reinste Blüthen,</l> +<l>Von keinem Schmerz getrübt, bestimmt,</l> +<l>Und was könnt' ich dafür Dir bieten?</l> +</lg> +<lg rend="margin-left: 2"> +<l>Nichts — gar Nichts, als ein treues Herz;</l> +<l>Doch nimmer sollst Du es erfahren — </l> +<l>Ich kann, wie früher, meinen Schmerz</l> +<l>In tiefer, innerer Brust bewahren.</l> +</lg> +<lg rend="margin-left: 2"> +<l>Sei glücklich! — wenn auch ohne mich,</l> +<l>Ich will Dich lieben, aber schweigen</l> +<l>Und mein Gebet nur soll für Dich</l> +<l>Empor, zum Thron des Höchsten steigen.</l> +</lg> +<lg rend="margin-left: 2"> +<l>Wenn dann mein Herz im Grabe liegt,</l> +<l>Und austräumt seine stillen Leiden,</l> +<l>Dann soll der Geist zum Himmel nicht</l> +<l>Entfliehn, und zu der Seel'gen Freuden. — </l> +</lg> +<pb n="083" /><anchor id="Pg083" /> +<lg rend="margin-left: 2"> +<l>Ein schön'res Loos werd' ihm zu Theil,</l> +<l>Umschwebend Dich in trüben Tagen,</l> +<l>Soll er, zu Deinem Schutz und Heil,</l> +<l>Selbst seiner Seligkeit entsagen.«</l> +</lg> + +<p>Loßenwerder war ganz gerührt geworden beim Schluß +des Liedes, und die Thränen standen ihm in den Augen; während +sein wirklich häßliches Gesicht durch den Schmerz aber +eher einen komischen als ernsten Ausdruck bekam, jubelte die +Schaar jetzt um ihn her, die wirklich erst wieder Athem und +Laut gewann, als der wundersame Zauber dieser Stimme +von ihnen genommen war.</p> + +<p>»Bravo — bravo Loßenwerder — bravo dacapo! Donnerwetter +Mann, Ihr habt ja eine Stimme wie eine Nachtigall, +und stottert nicht die Probe dabei — wie am Schnürchen +geht das!«</p> + +<p>»Es ist erstaunlich!« rief Kellmann, vor lauter Verwunderung +über das eben Gehörte wirklich fast sprachlos.</p> + +<p>»Nun aber auch trinken — hier Loßenwerder — hier,« +riefen sie, ihm das Glas bis zum Rand mit dem schäumenden +Trank füllend, »und dann noch ein Lied; bei Gott, das +zuckt und prickelt Einem ordentlich durch die Adern, und klingt +wie Glockenton so rein und voll; Loßenwerder wo habt Ihr +das Singen gelernt?«</p> + +<p>»Vo — vo — vo — vo — vo — von mi — mi — mir se — se — se — se — selb — bber,« +stotterte der kleine Mann, kaum im Stande +jetzt mit immer schwerer werdender Zunge nur die paar Worte +<pb n="084" /><anchor id="Pg084" />vorzubringen, während ihm im Gesang die Strophen wie der +Lerche das schmetternde Lied; aus der Kehle wirbelten.</p> + +<p>»Und da hat bis jetzt noch gar kein Mensch etwas davon +erfahren,« rief Kellmann wieder — »behält die liebe Gottesgabe +da ebenfalls für sich allein, kommt nirgends hin, spricht +mit Niemand, trinkt und singt mit Niemand, und hat eine +Stimme in der Luftröhre sitzen, die Einer, wer es darauf anzulegen +verstände, in reines Gold verwandeln könnte.«</p> + +<p>Von allen Seiten tranken sie jetzt dem kleinen Mann +zu, und überschütteten ihn mit Lob und Jubel, und dieser +schwamm wirklich in einem wahren Meer von Wonne. So +wohl war ihm auch noch nie geworden — Niemand hatte sich +bis jetzt um ihn bekümmert, Jeder ihn verspottet und verhöhnt, +und zum ersten Mal, vielleicht seit langen, langen Jahren, +fühlte er sich unter Menschen einem Menschen gleich, wußte +sich nicht mehr verachtet und unter die Füße getreten, und sah +freundliche Augen um sich her, die ihn wie ihres Gleichen +anschauten.</p> + +<p>Dem löste sich auch endlich seine Zunge, oder wenigstens +sein guter Wille zu reden, so weit, daß er beginnen wollte Geschichten +zu erzählen. Das ging aber unter keiner Bedingung; +beim Singen ja, aber beim Sprechen brachte er kein Wort mehr +über die Lippen, und selbst das Singen versagte ihm zuletzt +den Dienst; die Augenlider wurden ihm schwer, er fing an zu +lallen, und war eben zurück auf seinen Stuhl und dem Schlaf +in die Arme gesunken, als die Thür aufging und zwei +Gerichtsdiener in's Zimmer traten. Es war etwa elf Uhr<pb n="085" /><anchor id="Pg085" /> +Abends und die meisten Gäste, mit Ausnahme des einen +Tisches, hatten das Haus schon verlassen.</p> + +<p>»Hallo was ist das?« sagte Herr Kellmann, der die beiden +Leute zuerst bemerkte, »das ist wunderlicher Besuch — es +wird doch nicht etwa eine Polizeistunde eingeführt in Heilingen?«</p> + +<p>Aber auch der Wirth war die »Diener der Gerechtigkeit«, +wie sie meist etwas poetisch genannt werden, gewahr geworden +und ging auf sie zu, sich zu erkundigen was sie hierher geführt.</p> + +<p>»Ein kleiner buckliger Mann soll hier heute Abend bei +Ihnen sein,« sagte der Erste — »er ist aus dem Dollingerschen +Geschäft.«</p> + +<p>»Dort sitzt er in der Ecke,« sagte der Wirth vom Pechkranz +nach Loßenwerder hinüberzeigend, »hat er etwas verbrochen?«</p> + +<p>»Ich weiß nicht,« erwiederte der Zweite ziemlich kurz — »wir +sollen ihn abholen.« — </p> + +<p>»Wird schwer sein,« meinte der Wirth — »sie haben +ihm heute Abend hier ordentlich zugetrunken, und der Wein hat +jetzt das Uebergewicht — wenn er aufsteht kippt er wieder um.«</p> + +<p>»Hm — da wird wohl auch nicht viel mit Fragen aus +ihm herauszubringen sein, Meier; was meinst Du, nehmen +wir ihn mit?«</p> + +<p>»Ich denke das Beste wird sein wir führen ihn zu Haus, +und Einer bleibt bei ihm bis er morgen früh wieder zu Verstande +kommt; jetzt ist doch Nichts mit ihm anzufangen.«</p> + +<p>»Aber um Gottes Willen was ist denn vorgefallen?« +<pb n="086" /><anchor id="Pg086" />frug Kellmann bestürzt; »der arme Teufel hat doch nicht etwa +irgend 'was verbrochen?«</p> + +<p>»Noch ist nichts Gewisses bekannt,« erwiederte der erste +Polizeidiener, »nur bei Dollinger's ist heute Nachmittag eingebrochen, +und die Untersuchung muß jetzt erst ergeben, wer +schuldig sei.«</p> + +<p>»Bei Dollinger's eingebrochen?« riefen Mehrere, »heute +Abend?«</p> + +<p>»Nein heute am hellen Tag,« sagte der Mann.</p> + +<p>»Alle Wetter das muß dann gewesen sein während sie +nach dem rothen Drachen gefahren waren,« sagte Kellmann +rasch — »sie kamen an uns vorbei mit dem jungen Henkel.«</p> + +<p>»In der Zeit war's,« bestätigte der Polizeidiener, »denn +wie sie zu Hause kamen, wurde es entdeckt — hier da Loßenwerder — Sie +da — wachen Sie auf.«</p> + +<p>»Ja wenn Sie den stoßen wollen bis er munter wird,« +lachte Einer der jungen Leute, »da haben Sie Arbeit.«</p> + +<p>»Sie — Loßenwerder — hören Sie?«</p> + +<p>»Ja — ja« — stammelte der von dem ungewohnten +Weine, von dem er eigentlich gar nicht so sehr viel getrunken, +Betäubte — »me — me — me — mehr We — we — wein; ich za — za — za — zahle +A — a — a — a — a — alles!«</p> + +<p>»So?« sagte der Polizeidiener ruhig — »nun für heute +möcht' es doch wohl genug sein; komm, faß ihn da drüben +unter den Arm, er wohnt ja auch nicht so sehr weit von hier — wo +ist sein Hut?«</p> + +<p><pb n="087" /><anchor id="Pg087" />»Hier — armer Teufel, das wird ein böses Erwachen +werden.«</p> + +<p>»Wie man sich bettet so schläft man,« sagte der zweite Polizeidiener, +und den Betrunkenen in die Höhe richtend, der dabei +unverständliche Sachen stammelte und sogar einen total misglückenden +Versuch machte wieder zu singen, führten sie ihn +hinaus und seiner Wohnung zu, indeß die Gäste noch das »für +und wider« der Schuld des Mannes, von dem sie nie etwas +Uebles gehört bei einer anderen Flasche besprachen.</p> + +<p>Und es <emph rend="letter-spacing: 0.20em">war</emph> ein böses Erwachen für den Mann; von +dem Weindunst betäubt schlief er, wie ein Todter, bis zum +lichten Tag, und als er die Augen aufschlug und ihm der +Kopf schmerzte zum Zerspringen, fiel sein erster Blick auf den +ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gehenden Polizeidiener, +den er einen Moment bestürzt anstarrte, und dann die +Augen wieder schloß, wie vor einem unangenehmen Traumbild.</p> + +<p>»Nun Loßenwerder, ausgeschlafen?« sagte der Mann +aber, froh endlich einmal zu einem Resultat zu kommen — »das +hat lange gedauert — kommen Sie, stehn Sie auf und +ziehn Sie sich an.«</p> + +<p>Die Stimme war <emph rend="letter-spacing: 0.20em">kein</emph> Traum, und der kleine Mann +richtete sich erschreckt von seinem Bett, auf dem er noch mit +den Kleidern vom vorigen Abend lag, empor. Wo war er? — wie +war er hierher gekommen? er drückte sich mit beiden Händen +die Stirn und der klare Angstschweiß brach ihm aus über +den ganzen Körper; er <emph rend="letter-spacing: 0.20em">wußte</emph> nicht mehr was gestern Alles +geschehn, und die unheimliche finstere Gestalt vor ihm füllte +<pb n="088" /><anchor id="Pg088" />sein Herz mit einer wilden Ahnung von Unheil, die alles Blut +dorthin in jähem Strom zurücktrieb.</p> + +<p>Wie ein Schlag da hinein traf ihn die Nachricht von dem +entdecktem Diebstahl, das Gefühl, daß der Verdacht auf ihm +laste, und die nächste Stunde — während ein anderer Polizeibeamter +bei ihm visitirte und man nichts weiter, als in einem +Winkel seines kleinen Schreibtisches, unter dreifachem Schloß, +ein Päckchen mit 200 Thalern in fünf und zwanzig Thaler +Cassenanweisungen, wie noch einige Goldstücke fand, wie seine +Abführung dann nach dem Dollingerschen Hause, da Herr +Dollinger gebeten hatte den Mann, an dessen Schuld er nicht +glauben wollte, erst einmal an Ort und Stelle selber zu befragen — lag +wie ein Alp auf seiner Seele, unter dessen Last er +auch kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, ja nicht +einmal eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten vermochte.</p> + +<p>In dem Dollingerschen Hause angekommen, wurde er +gleich in Herrn Dollinger's Zimmer hinaufgeführt, und der +alte Herr ging, als Loßenwerder die Stube betrat, mit auf +dem Rücken gekreuzten Händen in seinem Zimmer auf und ab. +Der junge Henkel saß in der einen Ecke des Sophas, das +rechte Knie über das linke geschlagen, mit einem Buch in der +Hand, über das hin er aufmerksam den Gefangenen betrachtete.</p> + +<p>Loßenwerder war bleich wie ein Todter — jeder Blutstropfen +hatte sein Antlitz verlassen, und bei dem Versuch den +er zum Reden machte, kam kein Laut über seine Lippen.</p> + +<p>»Loßenwerder,« sagte Herr Dollinger endlich, nach einer +kleinen Weile vor ihm stehen bleibend und ihn ernst, ja traurig +<pb n="089" /><anchor id="Pg089" />betrachtend — »ein böser Mensch ist gestern, während unserer +Abwesenheit, in unser Haus geschlichen und hat, außer einigen +Juwelen, auch noch das Geld entwendet, das Du mir gestern +Mittag gebracht und das ich, wie Du weißt, in den Secretair +dort schloß. Warst Du während unserer Abwesenheit wieder +im Haus und in dem Zimmer meiner Töchter?«</p> + +<p>»He — he — he — he — he — he — he — rr Do — Do — Do — Do.«</p> + +<p>»Schon gut Loßenwerder, Du bist jetzt aufgeregt und das +Sprechen wird Dir schwer; beschränke Dich auf ein einfaches +ja und nein.«</p> + +<p>»Ja — a — !«</p> + +<p>»In dem Zimmer meiner Töchter?«</p> + +<p>»J — a — a — a aber — i — i — i — i — ich wo — wo — wollte« — </p> + +<p>»Sie haben einen Blumentopf dort hineingesetzt?« sagte +Herr Henkel jetzt ruhig.</p> + +<p>Das Blut stieg dem kleinen Mann rasch bis in die Schläfe +hinauf, aber der nächste Moment ließ sein Antlitz wieder so +weiß als vorher; er nickte nur, zur Betätigung des eben Gesagten, +mit dem Kopf.</p> + +<p>»Loßenwerder,« sagte der Herr Dollinger mit leiser, bewegter +Stimme und dicht zu dem kleinen Mann hinantretend, +wobei er die Hand auf dessen Schulter legte, »Loßenwerder, +noch gestern würde ich eben so leicht geglaubt haben, daß eines +von meinen eigenen Kindern eines schlechten, unrechtlichen +Streiches fähig wäre, bis mich leider die immer deutlicher +<pb n="090" /><anchor id="Pg090" />sprechenden Thatsachen in meinem Glauben an Dich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">wankend</emph> +gemacht haben.«</p> + +<p>»He — he — he — he — he — herr Do — Do — Do — Do — — Dollinger« — </p> + +<p>»Ich will Dir klar und einfach unseren ganzen Verdacht +vorlegen,« sagte da der alte Herr, dem Angeklagten jedes unnütze +Wort zu ersparen — »gestern, während unserer Abwesenheit, +ist der Secretair meiner Töchter erbrochen und das +Dir bekannte Geld entwendet worden — drüben über der +Straße hat Dich ein Mädchen gesehn, wie Du heimlich aus +dem Hause geschlichen bist. Ebenso bestätigt Wilhelm, der +Stalljunge, Dich gesehn zu haben, wie Du hättest das Haus +durch die nach dem Hofe zu führende Thür verlassen wollen, +bei seinem Anblick aber, was selbst dem Jungen aufgefallen +ist, zurückgefahren, und dann auch nicht über den Hof gekommen +wärst. Das Stubenmädchen, die keine Ahnung davon +haben konnte daß Geld in dem Secretair lag, ist bereit den +schwersten Eid abzulegen, daß sie, wenige Minuten später, +nachdem man Dich hatte aus dem Hause schleichen sehen, die +Vorsaalthür nicht mehr aus den Augen gelassen, und gewiß +wäre, daß Niemand die Schwelle mehr überschritten habe, bis +sie den zurückkehrenden Wagen in den Hof einfahren gehört. +Heimlich bist Du im Haus gerade in der Zeit, in welcher das +Geld entwendet wurde, gewesen, und die gestrige Ausschweifung, +die man an Dir nicht gewöhnt ist, wie die bei Dir gefundene +Summe, lassen allerdings das Schlimmste fürchten. +Loßenwerder — ich brauche Dir nicht zu sagen, wie weh — wie +<pb n="091" /><anchor id="Pg091" />weh mir das gerade von <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Dir</emph> thut, und ich wollte die +doppelte Summe, so bedeutend sie ist, gern verschmerzen, wenn +es <emph rend="letter-spacing: 0.20em">nicht</emph> geschehen wäre. Mache aber jetzt Deinen Fehler, +wenigstens so weit das noch in Deinen Kräften steht, wieder +gut; gestehe was Du mit dem übrigen Gelde gemacht, wo Du +es verborgen hast, und ich selber will dann auch Alles thun +was in meinen Kräften steht, Deine Strafe zu erleichtern. Ein +anderer Welttheil mag Dir nachher in späterer Zeit Gelegenheit +geben Deinen Fehltritt zu bereuen, und das wieder zu +werden, für was ich Dich, selbst bis diesen Morgen noch, +gehalten habe.«</p> + +<p>Loßenwerder hatte während dieser Auseinandersetzung +wie aus Stein gehauen vor seinem Prinzipale gestanden, +nur das Zittern seiner Glieder verrieth daß er lebe; jetzt aber +brach er in die Knie, und zum ersten Mal vielleicht mit +dem vollen Bewußtsein der gegen ihn erhobenen Anklage — oder +auch von Schuld und Angst zu Boden gedrückt, denn +wer konnte in den stieren, überdies nicht geraden Augen und +in den todtenbleichen, mit großen Schweißperlen bedeckten Zügen +das richtige lesen — umfaßte er die Knie des alten Herrn +und bat mit wild stotternder Stimme, aus der dieser nur mit +äußerster Anstrengung einen Sinn herausfinden mußte — ihn +nicht unglücklich zu machen — Nichts so Schreckliches von +ihm zu denken.</p> + +<p>»Ein aufrichtiges Geständniß, Loßenwerder,« entgegnete +darauf Herr Dollinger, »ist das Einzige, was Deine Schuld +jetzt noch in etwas erleichtern kann. Das Gericht wird einen +<pb n="092" /><anchor id="Pg092" />unbewachten Augenblick, dem die Reue auf dem Fuße folgt, +nicht so schwer strafen, wie den hartnäckigen Uebelthäter.</p> + +<p>»A — a — a — a — a — aber ich bi — bi — bin ni — ni — ni — nicht +schu — schu — schu — schuldig,« — stotterte der Unglückliche — »ich +we — we — we — we — weiß vo — vo — vo — von +Ni — ni — ni — nichts — «</p> + +<p>»Du weißt von Nichts, Loßenwerder?« sagte Herr Dollinger +leise mit dem Kopf schüttelnd — »und woher ist das +Geld das man bei Dir gefunden, woher die Fünfundzwanzig +Thaler-Note, die Du locker in der Tasche getragen, und die +Dir der Polizeidiener gestern Abend noch herausgenommen hat?«</p> + +<p>»Ge — spa — pa — pa — pa — partes Geld — e — e — e — e — e — ehrlich +ge — ge — gespartes G — g — g — geld!« stammelte der +arme Teufel.</p> + +<p>Herr Henkel stand jetzt auf und ging langsam auf Herr +Dollinger zu, dem er ein paar Worte in's Ohr flüsterte und +dann, während dieser leise und traurig mit dem Kopf nickte, +das Zimmer verließ. Loßenwerder aber, der ihm ängstlich mit +den Augen folgte und vielleicht in einer unbestimmten Ahnung +fühlte daß man ihn fortführen — in ein Gefängniß bringen +werde, ergriff wieder und jetzt aber wie in Todesangst des +alten Mannes Hand, und bat ihn um Gottes — um seiner +Seligkeit willen, soweit es ihm die, jetzt in der Aufregung nur +noch mehr fehlende Sprache immer gestattete, daß er ihm nur +das nicht anthun — daß er ihn in kein Gefängniß möge +führen lassen. Herr Dollinger erklärte aber natürlich darin +Nichts thun zu können, denn wenn er Nichts gestehen wolle +<pb n="093" /><anchor id="Pg093" />oder zu gestehen habe, so müsse allerdings das Gericht, bei so +stark vorliegendem Verdacht, die Untersuchung aufnehmen, wonach +sich bald seine Schuld oder Unschuld herausstellen würde.</p> + +<p>»Hab' ich aber einmal erst auf solchen Verdacht gesessen,« +stotterte der Unglückliche, »so bin ich gebrandmarkt mein Lebelang« — </p> + +<p>Herr Dollinger zuckte die Achseln, und die Thür öffnete +sich in diesem Augenblick, den einen Polizeidiener zeigend, der +Loßenwerder leise auf die Achsel klopfte und freundlich sagte:</p> + +<p>»Wenn's gefällig wäre.«</p> + +<p>Loßenwerder zuckte zusammen als ob er einen Schlag +bekommen, und wandte sich noch einmal, wie Hülfe suchend, +an Herrn Dollinger, aber ein Blick auf diesen überzeugte ihn, +daß er schon nicht mehr helfen könne, wo das Gericht die +Sache in die Hand genommen, und sein Gesicht in den Händen +bergend, folgte er dem Gerichtsdiener fast willenlos +hinaus.</p> + +<p>Gerade als er durch die Thür schritt begegnete ihm, noch +auf der Schwelle, Frau Dollinger, und rasch bei Seite +tretend, als ob sie selbst durch seine Berührung angesteckt zu +werden fürchte, warf sie ihm einen zornigen, verächtlichen +Blick zu und ging an ihm vorüber.</p> + +<p>Loßenwerder seufzte tief auf, sagte aber kein Wort, denn +wie er den Kopf hob, sah er am andern Ende des Vorsaals +Clara mit dem jungen Henkel in eifrigem Gespräch, und auch +dort mußte er vorbei. Das war zu viel und wie unschlüssig +<pb n="094" /><anchor id="Pg094" />blieb er stehn und sah sich um, als ob er einen Weg zur Flucht +suche.</p> + +<p>»Na kommen Sie, Loßenwerder, machen Sie keine Dummheiten,« +sagte aber, ihm ermunternd auf die Schulter klopfend, +der Polizeidiener — »es ist Alles ein Uebergang, wie der Fuchs +sagte, als sie ihm das Fell über die Ohren zogen.«</p> + +<p>Loßenwerder nahm sich zusammen und schritt festen +Trittes an dem jungen Mädchen vorüber, das ihn mitleidig +betrachtete.</p> + +<p>»Etwas über zweihundert Thaler hat man schon bei +ihm gefunden,« flüsterte der junge Henkel ihr leise zu — »ich +hoffe daß Vater Dollinger das andere auch noch wieder bekommen +soll.«</p> + +<p>»Ach Loßenwerder, warum habt Ihr das gethan?« sagte +Clara, leise und mitleidig den Gefangenen ansehend, als er an +ihr vorüberging.</p> + +<p>»U — u — u — und Si — si — si — si — sie g — g — g — glau — ben +d — d — das a — a — a — a — auch?« rief Loßenwerder und +die großen hellen Thränen standen ihm dabei in den Augen, +aber der Polizeidiener hatte sich schon länger mit ihm aufgehalten, +als er meinte verantworten zu dürfen, nahm ihn leise +an der Hand und führte ihn die Treppe hinunter. Loßenwerder +folgte ihm wie in einem Traum.</p> + +<p>Das Polizeigebäude war nur höchstens fünfhundert Schritt +von dort entfernt, und stand an der andern Seite einer kleinen +steinernen Brücke die über den, mitten durch die Stadt und +häufig überbrückten kleinen Fluß führte. Als sie hinunter auf +<pb n="095" /><anchor id="Pg095" />die Straße kamen, ließ der Polizeidiener seinen Gefangenen +los, kein Aufsehn zu erregen, und flüsterte ihm zu nur ruhig +neben ihm hinzugehn. Loßenwerder verstand ihn wohl gar +nicht, denn er sah verstört zu ihm auf, und dann um sich her, +und fand die Augen der Vorübergehenden alle neugierig auf +sich geheftet; sich aber doch, wenn auch nur dunkel, des Zwanges +bewußt der auf ihm lag, nahm er sein Taschentuch heraus, +trocknete sich die feuchte Stirn damit ab, und ging mit krampfhaft +zusammenengebissenen Zähnen neben seinem Wächter her. +So erreichten sie die Brücke, wo vier oder fünf Jungen standen, +die neugierig die Ankommenden betrachteten; Loßenwerder's +Blick schweifte über sie hin, aber er sah sie nicht, bis er dicht +bei ihnen war und einer derselben spottend rief:</p> + +<p>»Hoho, hoho — Stotterberg hat gestohlen, Stotterberg hat +gestohlen!«</p> + +<p>Die Anderen stimmten lachend mit in den Ruf ein, und +der Polizeidiener drehte sich ärgerlich und drohend gegen die +Buben um, die scheu auseinander stoben; Loßenwerder aber +fuhr sich mit beiden Händen krampfhaft gegen die Stirn — +»hat gestohlen!« schrie er dabei, ohne zu stottern, mit gellendem +wilden Schrei, und ehe sein Wächter es verhindern konnte, +ja nur eine Ahnung davon hatte, warf er sich mit einem verzweifelten +Sprung, über die niedere Ballustrade hin in den unten +vorbeilaufenden Strom. Noch über dem Geländer erfaßte +ihn der Polizeidiener an einem Rockzipfel, das Gewicht des +niederfallenden Körpers war aber zu groß, als daß er es mit +einer Hand hätte aufhalten können, ja er mußte sogar loslassen, +<pb n="096" /><anchor id="Pg096" />nicht selber das Gleichgewicht zu verlieren, und der Unglückliche +schlug gleich darauf auf das Wasser, unter dessen Oberfläche +er im nächsten Augenblick verschwand.</p> + +<p>Der Fluß war indeß hier weder breit noch tief, und auf +der ziemlich belebten Straße fanden sich gleich mehre Leute, die +unterhalb der Brücke in's Wasser sprangen, das ihnen etwa +bis unter die Arme reichte, den niedertreibenden Körper aufzufangen. +Sie hatten ihn auch bald erreicht und gefaßt, und +von kräftigen Armen wurde derselbe an die Oberfläche gehoben +und zum Ufer gezogen. Wenn ihm jedoch auch das Wasser +selber noch nichts geschadet hatte, war der Unglückliche doch +durch den Sturz, in dem er wahrscheinlich durch das Zurückhalten +seines Rockes gegen einen der Brückenpfeiler geworfen +worden, schwer am Kopf verletzt — die Wunde blutete stark, +und die Männer trugen den Bewußtlosen zuerst auf die Polizei, +und von dort, auf den Ausspruch eines rasch herbeigerufenen +Arztes, in die Charité.</p> +</div> +<div rend="page-break-before: always"><pb n="097" /><anchor id="Pg097" /> +<index index="toc" level1="Die Auswanderungs-Agentur" /> +<index index="pdf" level1="Die Auswanderungs-Agentur" /> +<index index="pdb" level1="Ausw.-Agentur" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 5.</head> +<head rend="text-align: center">Die Auswanderungs-Agentur.</head> +<p>Am Marktplatz zu Heilingen, und an der Ecke eines kleinen, +auf diesen auslaufenden Gäßchens, stand ein ziemlich +großes, grün gemaltes und gewiß sehr altes Erkerhaus, dessen +Giebel und Stützbalken geschnitzt, und mit wunderlichen Köpfen +und Gesichtern verziert, und braun angestrichen waren, und +sich so weit dabei nach vorn überneigten, daß es ordentlich +aussah, als ob der ganze Bau mit dem spitzen, wettergrauen +Dach nächstens einmal ohne weitere Meldung nach vorn über, +und gerade mitten zwischen die Töpfer und Fleischer hineinspringen +würde, die an Markttagen dort unten ihre Waare +feil hielten.</p> + +<p>Nichtsdestoweniger wurde es noch immer, bis fast unter +das Dach hinauf bewohnt, und der untere Theil desselben ganz +besonders zu kleinen Waarenständen und Läden benutzt. Die +Ecke desselben nun, hatte seit langen Jahren ein Kaufmann +<pb n="098" /><anchor id="Pg098" />oder Krämer in Besitz, der sich zu seinen Materialwaaren, +Kaffee, Zucker, Tabak, Lichten, Grütze &c. auch noch in der letzten +Zeit die Agentur mehrer Bremer und Hamburger Schiffsmakler +zu verschaffen gewußt, und damit bald in einer Zeit, +wo die Auswanderungslust so überhand nahm, solch brillante +Geschäfte machte, daß er die Materialwaarenhandlung seiner +Frau, wie seinem ältesten Sohn übertrug, und für sich selber +nur ein kleines Stübchen, ebenfalls nach dem Markt hinaus, +behielt, über dessen Thüre ein riesiges, sehr buntgemaltes +Schild jetzt prangte. Dies Schild verdient übrigens mit +einigen Worten beschrieben zu werden, da die Heilinger +in den ersten Tagen — als es eben erst aufgehangen worden — in +wirklichen Schaaren davor stehen blieben und es +anstaunten.</p> + +<p>Es war ein breites, länglich viereckiges Gemälde, ein +großes, dreimastiges Schiff vorstellend, wie es sich unter vollen +Segeln der fremden, ersehnten Küste näherte. Die See selber +war hellgrün gemalt, mit einer Unmasse von sichtbar darin +herumschwimmenden Fischen, die den Beschauer wirklich etwas +besorgt um die Sicherheit des Fahrzeugs selber machen konnten. +Dessen wackerer Kiel schäumte aber mitten hindurch, und der, +dem Anschein nach vollkommen runde, nur nach hinten zu etwas +länglich auslaufende Rumpf, preßte eine große grün und +weiß gestreifte Welle vorne auf, die sich wie eine breite Falte +quer vor seinen Bug legte. Die Segel standen dazu fast ein +wenig zu sackartig, und nur an den vier Zipfeln festgehalten, +stramm und steif von den Raaen ab, und die langen blut<pb n="099" /><anchor id="Pg099" />rothen +Wimpel mit roth und weißer Bremer Flagge hinten an +der Gaffel, strömten und flatterten lustig nach hinten aus, +wahrscheinlich den raschen Durchgang des Schiffes durch das +Wasser anzuzeigen, das derart, durch den Wind getrieben, selbst +diesen überflügelte. Ueber Deck war aber auch die Mannschaft, +und Kopf an Kopf eine volle Reihe bunter Passagiere sichtbar, +mit sehr dicken rothen Gesichtern, die Gesundheit an Bord +des Schiffes bestätigend, und mit sehr hellgelben und sehr +breiträndigen, rothbebänderten Strohhüten auf, während hinten +auf Deck der Capitain des Schiffes mit einem dreieckigen Hut, +wie einem Fernglas in der einen und einem Dreizack in der +andern Hand stand. Was der Maler mit dem Dreizack andeuten +wollte weiß nur er und Gott; er müßte denn gemeint +haben daß der Capitain, wie früher Neptun, das Meer beherrsche. +Uebrigens war es auch möglich daß er fischen wolle, +und sich mit dem Fernrohr nur eben den stärksten und fettesten +der ihn reichlich umschwimmenden Fische ausgesucht habe.</p> + +<p>Den Hintergrund dieses prachtvollen Seestücks bildete +ein schmaler Streifen mit einzelnen Palmen bedeckter Küste, an +der eine Anzahl pechschwarzer, nackter Männer standen, die +nur einen gelb und blauen Schurz um die Hüfte und einen +grünen Busch in der Hand trugen. — Diese sahen übrigens +gerade so aus, als ob sie die Ankunft des Schiffes schon sehnsüchtig +und vielleicht sehr lange Zeit erhofft hätten, und nun +die Zeit nicht erwarten könnten daß die Fremden an Land +stiegen, damit sie geschwind für sie arbeiten, und ihnen den +Boden urbar machen dürften.</p> + +<p><pb n="100" /><anchor id="Pg100" />Neben dem Bild, und zu beiden Seiten der Thür, wie +sogar noch an dem innern Theile des Fensterschalters, hingen +lange Listen der verschiedenen anzupreisenden Plätze für Auswanderung. +Obenan New-York, Philadelphia und Boston, +dann Quebeck und New-Orleans, Galveston; in Brasilien, Rio +de Janeiro und Rio Grande; in Australien Adelaide, dann +Chile, Valdivia und Valparaiso, und Buenos Ayres mit einer +Menge neu entdeckter verschiedener Kolonien und Ansiedlungen, +wohin überall die besten kupferfesten Schiffe A¹, in unglaublich +kurzer Zeit und mit Allem versehen ausliefen, was dem +glücklichen Passagier das Leben an Bord eines solchen Schiffes +nur in der That zu einer Vergnügungsfahrt machen müsse +und würde.</p> + +<p>Weigel, wie der Eigentümer dieser »ausländischen Versorgungsanstalt« +(ein Spottname den die Heilinger der Weigelschen +Agentur gaben) hieß, war ein dicker, vollgenährt und +blühend aussehender Mann, ungefähr sechs bis achtunddreißig +Jahr alt, mit ein wenig fest umgeschnürter Cravatte, was seinen +Augen etwas Stieres gab, und sonst einem leisen Anflug +von Grau in den sonst braunen, widerspenstigen Haaren. Die +Augen waren groß, blau und ziemlich ausdruckslos; ein +fast mitleidiges Lächeln aber, das oft, und besonders dann +wenn er irgend Jemandes Meinung bestritt, um seine Mundwinkel +spielte, gab dem Ausdruck seiner Züge jene scheinbare +Ueberlegenheit, die sich zuversichtliche Menschen oft über Andere, +wenn mann es ihnen gestattet, anzumaßen wissen. Ganz vorzüglich +wußte er diese Miene anzunehmen, wenn er über<pb n="101" /><anchor id="Pg101" /> +Amerika, oder irgend einen überseeischen Fleck Landes sprach, +über dem für ihn ein gewisser heiliger und unantastbarer Zauber +schwamm, und Jemand dann irgend einen Zweifel gegen +das Gesagte zu hegen wagte. Er schwärmte besonders für +Amerika, und es gab deshalb auch, seiner Aussage nach, keinen +größeren Lügner in der Stadt, als den Redacteur des Tageblatts, +den Advokaten und Doctor Hayde in Heilingen. Dieser +und er waren denn auch, wie das sich leicht denken läßt, grimme +und erbitterte Feinde und Gegner, woselbst sich nur irgend eine +Gelegenheit dazu fand.</p> + +<p>Weigel bekam, wie das gewöhnlich bei den Agenturen der +Schiffsbeförderung üblich und der Fall ist, für jede Person +die er einem Bremer oder Hamburger Rheder sicher an Bord +lieferte, einen Thaler, kurzweg genannt »für den Kopf« und +er theilte deshalb die Leute — seine Mitbürger sowohl wie +sämmtliche übrige Bewohner Deutschland's, in solche ein »die +Energie hatten,« d. h. zu ihm kamen und sich bei ihm einen +»Platz nach Amerika« besorgen ließen, wo sie nachher drüben +selber sehn konnten wie sie fertig wurden, und in solche, die +»im alten Schlendrian hinkrochen, und hier lieber verfaulten, +ehe sie einen männlichen entscheidenden Schritt thaten, ihrer +Existenz auf die Beine zu helfen.« Jeder der hier blieb betrog +ihn aber wissentlich und mit kaltem Blut um seinen, ihm +in ehrlichem Verdienst zustehenden Thaler, und es verstand sich +von selbst, daß er vor einem solchen Menschen keine Achtung +haben konnte.</p> + +<p>Er selber kannte die Verhältnisse Amerika's nur aus<pb n="102" /><anchor id="Pg102" /> +Büchern die das Land lobten, denn andere las er gar nicht, +und bekam er sie einmal zufällig in die Hand, so warf er sie +auch gewiß mit einem Kernfluch über den »nichtswürdigen +Literaten, der wieder einmal einen ganzen Band voll Lügen +zusammengeschmiert« in die Ecke. Sein größter Aerger war +aber jedenfalls — und so regelmäßig wie die Uhr Morgens +acht schlug — das Tageblatt, das er der häufigen Annoncen +wegen halten <emph rend="letter-spacing: 0.20em">mußte</emph>, und das ebenso regelmäßig kleine gehässige +und schmutzige Artikel gegen Amerika wie überhaupt +gegen Alles brachte, was sich frei und selbstständig bewegte.</p> + +<p>Zehnmal hatte er sich schon vorgenommen den »kleinen erbärmlichen +Doctor« zu prügeln, und sehr vielen Leuten würde +er dadurch ein großes Vergnügen bereitet haben; aber er unterließ +es doch jedesmal auch wieder, wenn sich ihm gleich oft genug die +Gelegenheit dazu bot; Beide mußten jedenfalls schon einmal +früher etwas mit einander gehabt haben, vielleicht mehr von +einander wissen als Beiden zuträglich war, und ein solcher +Bruch wäre da nicht räthlich gewesen.</p> + +<p>Sonst lebte Weigel still, und anscheinend als ein vollkommen +guter und achtbarer Bürger, vor sich hin, aber im +Stillen wirkte und wühlte er seinem Ziel entgegen, und richtete +in der That viel Unheil an. Seine Beschreibungen +Amerika's, die er sich selber in kleinen Brochüren aus anderen +Büchern zusammentrug, und um ein Billiges verkaufte, waren +ein langsames Gift, das er in manche friedliche und glückliche +Familie warf, ein Saatkorn das dort wucherte und Wurzel +schlug, und während es die Leser anreizte nur gleich ohne wei<pb n="103" /><anchor id="Pg103" />teres +ihr Bündel zu schnüren und jenen herrlichen Länderstrichen +zuzueilen, wo von da an ihr Leben nur einem murmelnden +Bache gleichen würde, der zwischen Blumen dahin +fließt, füllte er ihre Köpfe mit falschen Ideen und Begriffen +von dem Land, das ihre neue Heimath werden sollte, und +machte viele, viele Menschen unglücklich. In der neuen Heimath +dann angekommen, die ihnen, mit mäßigen Ansprüchen, +wirklich Manches geboten haben würde was ihre Lage, im +Vergleich mit dem alten Vaterland gebessert haben könnte, +fanden sie sich jetzt plötzlich in all den wilden extravaganten +Ideen, die sie durch solche Lectüre eingesogen, enttäuscht, +fanden die Hoffnungen nicht realisirt, die man ihnen gemacht, +hielten sich für schlecht behandelt und unglücklich, und verfielen +nun oft in das Extrem trostloser und eben so unbegründeter +Verzweiflung, wobei sie den Mann verwünschten, der sie hierverlockt, +und sie verleitet hatte, Heimath und eigenen Heerd zu +verlassen, einem Phantom zu folgen. Weigel aber hatte seinen +Thaler für den richtig abgelieferten »Kopf« bekommen, +und dachte schon gar nicht mehr an die früher Beförderten, die +seiner Meinung nach jetzt in einem Meer von Behagen schwammen +und »unter Palmen wandelten.«</p> + +<p>Herr Weigel war allein in seinem kleinen Bureau, einem +niederen, etwas dumpfen und nicht überhellen Stübchen, dessen +eines breites Fenster mit durch Zeit und Rauch arg mitgenommenen +Gardinen verziert war, während die Wände durch +Karten und statistische Tabellen-Anzeigen von Schiffen und +Gasthäusern, Plänen von neuangelegten Städten oder zu ver<pb n="104" /><anchor id="Pg104" />kaufenden +Farmen fast völlig bedeckt hingen. Er saß an einem +hohen, ziemlich breiten Pult, das einen mächtigen Kamm von +Gefachen und Schiebladen trug und las, mit einer Tasse Kaffee +neben sich, eben seinen täglichen Aerger, das Tageblatt, als +es an die Thür klopfte, und auf sein lautes »Herein« ein +junger, sehr anständig, aber trotzdem etwas ärmlich gekleideter +Mann das Zimmer betrat.</p> + +<p>»Herr Weigel?« sagte der Fremde mit einer leichten Verbeugung.</p> + +<p>»Bitte — ja wohl,« sagte Herr Weigel, seine Brille rasch +in die Höhe schiebend und auf seinem Drehstuhl herumfahrend, +seinen Besuch besser in's Auge zu fassen — »womit kann ich +Ihnen dienen?«</p> + +<p>»Sie befördern Passagiere nach Amerika?«</p> + +<p>»Nach Amerika? — denke so, hehehe,« lachte Herr Weigel, +sich vergnügt die Händ reibend, »habe schon ganze Colonien +hinüber geschafft, Männer und Frauen, Weiber und +Kinder; sitzen jetzt drüben in der Wolle und schreiben einen +Brief über den andern an mich, wie gut es ihnen geht — da +nur den einen hier, den ich vor ein paar Tagen bekommen +habe — der Mann ist blos mit zwei tausend Dollarn hinübergegangen +und hat schon eine eigene Farm, achtzig Acker Land, +vierundzwanzig Stück Rindvieh, einige sechzig Schweine, fünf +Pferde und will jetzt eine Schäferei anlegen — schreibt an +mich ich soll ihm einen Schäfer hinüber schicken, aber einen +der die Sache aus dem Grund versteht, kommt ihm auf ein +<pb n="105" /><anchor id="Pg105" />paar Dollar Lohn nicht dabei an — bitte lesen Sie einmal +den Brief.«</p> + +<p>»Sie sind sehr freundlich Herr Weigel,« sagte der junge +Fremde mit einem verlegenen wie schmerzhaften Zug um den +Mund — »aber der Brief würde gerade nicht maßgebend für +mich sein, da ich mich gegenwärtig nicht in den Verhältnissen +befinde, gleich einen Platz zu <emph rend="letter-spacing: 0.20em">kaufen</emph>. Sind die Passagierpreise +jetzt theuer?«</p> + +<p>»Theuer? spottbillig,« lachte Herr Weigel, den Brief +offen wieder zurück auf sein Pult, und seine Brille darauf +legend, ihn zu weiterem Gebrauch bereit zu haben; »spottbillig +sag' ich Ihnen, man könnte wahrhaftig auf dem festen Land +nicht einmal dafür leben — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">so</emph> nicht; und unter uns — ich +weiß wahrhaftig nicht wie die Leute dabei auskommen, aber +es muß eben die rasende <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Menge</emph> von Passagieren machen, +die sie jetzt wöchentlich, ja fast täglich hinüber spediren. Es +ist fabelhaft was jetzt für Menschen auswandern; auf einmal +werden sie Alle gescheidt, und merken endlich was sie hier haben, +und was sie dort erwartet — ist doch ein famoses Land, das +Amerika.«</p> + +<p>Und wie viel beträgt die Passage nach dem <emph rend="letter-spacing: 0.20em">nächsten</emph> +Hafen der Vereinigten Staaten, wenn ich fragen darf, für — für +eine erwachsene Person und ein Kind?«</p> + +<p>»<foreign rend="font-style: italic">Nächsten</foreign> Hafen? — hehehe, fürchten sich wohl vor der +Seekrankheit? lieber Gott, daran gewöhnt man sich bald; ist +auch gar nicht so arg wie's eigentlich gemacht wird. Der Mensch, +der Doctor Hayde hier im Tageblatt, hat neulich einen Ar<pb n="106" /><anchor id="Pg106" />tikel +über die Seekrankheit gebracht den er wahrscheinlich +auch selber geschrieben, und wonach Einem gleich ach und weh +zu Muthe werden müßte; der ist aber nur dazu bezweckt den +Leuten das Auswandern zu verleiden. Sie möchten sie gern hier +behalten, damit sie sie nur recht ordentlich plagen und schinden +können, weiter Nichts; davor braucht sich kein Mensch zu +fürchten.«</p> + +<p>»Sie wollten mir aber den <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Preis</emph> der Passage nennen.«</p> + +<p>»Den Preis? — ja so — warten Sie einmal« — sein +Blick fiel auf die Glacéhandschuhe und die schneeweiße Wäsche +des Fremden, dessen etwas abgetragene Kleider er in dem halbdunklen +Raum nicht so leicht erkennen konnte, oder auch übersah — »der +Preis — Dampfschiff oder Segelschiff?«</p> + +<p>»Segelschiff.«</p> + +<p>»Segelschiff — wird — sein — Preis in erster Cajüte +vier und achtzig Thaler Gold.«</p> + +<p>»Und die — die billigeren Plätze?«</p> + +<p>»Billigeren Plätze — zweite Cajüte oder Steerage fünfundsechzig +Thaler Gold — «</p> + +<p>»Und Zwischendeck?« sagte der Fremde leise und verlegen.</p> + +<p>»Zwischendeck würde ich Ihnen nicht rathen,« meinte +Herr Weigel, seine Brille jetzt abwischend und wieder aufsetzend; +»besonders wenn man eine Frau und ein Kind bei sich +hat und es nur irgend ermachen kann, sollte man nie Zwischendeck +gehn, man ruinirt sich's und den Seinigen an der Gesundheit +herunter, was die paar Thaler mehr kosten.«</p> + +<p><pb n="107" /><anchor id="Pg107" />»Aber Sie können mir wohl den Preis des Zwischendecks +sagen?«</p> + +<p>»Ja wohl, mit dem größten Vergnügen — Zwischendeck +nach New-York kostet — warten Sie einmal, ich habe ja +hier die letzten Briefe von meinen Häusern. Zwischendeck nach +New-York kostet vierundvierzig Thaler Gold.«</p> + +<p>»Vierundvierzig Thaler?«</p> + +<p>»Ja es ist seit ein paar Tagen erst wieder um vier Thaler +aufgeschlagen, weil die Leute eben nicht Schiffe genug anschaffen +können für die Auswanderer. Ist fabelhaft was besonders +dieses Jahr für Leute übersiedeln. Soll ich Sie +vielleicht einschreiben? es trifft sich jetzt gerade glücklich, denn +am 15ten geht ein ganz vortreffliches Schiff ab, die <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Diana</emph>, +Dreimaster, gut gekupfert, mit allen nur möglichen Bequemlichkeiten +versehn und einem Capitain, ich sage Ihnen ein +wahrer Schentelmann, wie er sich gerade nicht immer auf den +Schiffen findet.«</p> + +<p>»Ich danke Ihnen für jetzt noch bestens, lieber Herr +Weigel,« sagte der junge Mann — »ich muß doch nun erst +mit meiner Frau Rücksprache über dieß nehmen, denn erst seit +gestern ist mir die Idee überhaupt gekommen auszuwandern; +aber — noch eine Bitte hätte ich an Sie,« und er drehte dabei +den Hut den er in der Hand hielt, fast wie verlegen zwischen +den Fingern — «</p> + +<p>»Ja? womit könnte ich Ihnen dienen?« frug Herr Weigel.</p> + +<p>»Könnten Sie mir wohl sagen, ob die Capitaine der +Segelschiffe — ich habe einmal irgendwo gelesen daß das +<pb n="108" /><anchor id="Pg108" />manchmal geschähe — auch Leute — Passagiere mitnähmen, +die unterwegs ihre Passage — abarbeiten dürften und also — auch +keine Ueberfahrt zu bezahlen brauchten?«</p> + +<p>»Keine Passage zahlen?« sagte Herr Weigel, die Lippen +vordrückend und die Augenbrauen in die Höhe ziehend, während +er langsam und halb lächelnd mit dem Kopfe schüttelte — »keine +Passage bezahlen? — ne lieber Herr — ja so wie heißen +Sie denn gleich — «</p> + +<p>»Eltrich,« sagte der junge Mann etwas zögernd — </p> + +<p>»So? — ne mein lieber Herr Eltrich, davon steht Nichts +in unseren Verzeichnissen und Contracten; im Gegentheil, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">da</emph> +kommen wir zusammen; das ist der Hauptpunkt, der Nervum Rehrum, +der die ganze Geschichte eigentlich zusammenhält, Amerika +und Europa und die umliegenden Dorfschaften, heh, heh, heh.«</p> + +<p>»Aber wenn nun irgend ein armer Teufel,« fuhr der +Fremde etwas lauter, fast wie ängstlich fort — »irgend ein +armer Teufel sein ganzes Hoffen eben auf eine Reise nach +Amerika gesetzt hätte, und bestimmt wüßte daß er dort, wenn +auch nicht gerade sein Glück machen, doch sein Auskommen +finden würde? — «</p> + +<p>»Nun dann soll er gehn — um Gottes Willen gehn, +und am 15ten dieses wird wieder das neue, kupferfeste — ja +so, aber er muß bezahlen,« unterbrach er sich rasch als ihm +einfiel von was sie vor erst wenigen Secunden gesprochen, +»er muß bezahlen, sonst nimmt ihn kein Capitain der Welt +mit über See.«</p> + +<p>»Und Sie glauben nicht daß da jemals eine Ausnahme +<pb n="109" /><anchor id="Pg109" />stattfinden dürfte?« sagte Herr Eltrich — »es werden doch +Leute auf See gebraucht zu den nothwendigsten sowohl, wie +den geringeren Arbeiten, und die Capitaine müssen gewiß dafür +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">bezahlen</emph>. Wenn sich also nun Jemand erböte alle diese Verrichtungen +ganz <emph rend="letter-spacing: 0.20em">umsonst</emph>, nur um Passage und die einfachste +Matrosenkost zu machen, sollte das nicht möglich sein zu erlangen?«</p> + +<p>»Lieber Herr,« sagte der Herr Weigel, dem es jetzt so vorkommen +mochte als ob er mit dem Fremden da kein besonders +großes Geschäft machen würde, und der anfing ungeduldig zu +werden, »zu den Arbeiten an Bord eines Schiffes werden +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Matrosen</emph> gebraucht, und wer kein Matrose ist, kann die auch +nicht verrichten. Das ist keine kleine Kunst, lieber Herr Schelbig, +in den Tauen den ganzen Tag herumzuklettern und zwischen +den Segeln, wenn das Schiff bald so herüberschlenkert +und bald so« — und er begleitete dabei seine Erklärung mit +einer entsprechenden Bewegung der vor sich gerade aufgehaltenen +Hand — »da müssen die Leute fest stehen können wie die +Mauern, sonst kann man sie nicht gebrauchen.«</p> + +<p>»Aber glauben Sie nicht, wenn man einmal an einen Capitain +schriebe, ob er sich doch nicht am Ende bewegen ließ; +oder« — setzte er rasch hinzu, wie von einem plötzlichen Gedanken +ergriffen, »wenn man sich nun verbindlich machte die +Passage nach einer bestimmten Zeit in Amerika nachzuzahlen — sie +dort abzuverdienen?«</p> + +<p>»Ja da könnte Jeder kommen,« sagte Herr Weigel kopfschüttelnd, +»wenn die Leute erst einmal drüben sind, thun sie +<pb n="110" /><anchor id="Pg110" />was sie wollen. Das ist ein freies Land da drüben, Herr +Wellrich, und da könnte man nachher jedem Einzelnen nachlaufen, +und sehen daß man sein Geld wieder kriegte. Ne, damit +ist's faul, und ich nun einmal vor allen Dingen, möchte +mich nicht auf solch eine Quängelei einlassen; daran hat +man keine Freude, und das ist auch kein rundes Geschäft.«</p> + +<p>»Es ist nur ein armer Verwandter, der sich auf solche +Weise gern forthelfen würde,« sagte Herr Eltrich erröthend — »er +ist sehr fleißig und würde arbeiten wie ein Sclave, die +Zeit über.«</p> + +<p>»Ja das glaub' ich,« meinte Herr Weigel gleichgültig — »versprechen +thun die Art Herren gewöhnlich Alles was man +von ihnen haben will.«</p> + +<p>»Könnten Sie mir denn vielleicht die Adresse irgend eines +Schiffes oder Rheders geben, der bald ein Schiff hinüberschickt,« +sagte der junge Fremde, sich schon wieder zum Gehen rüstend — »wenn +ich vielleicht selber einmal dorthin schriebe, um Sie +nicht weiter mit der Sache zu belästigen.«</p> + +<p>»Ja, schreiben können Sie,« sagte Herr Weigel, »hehehe; +aber Sie werden keine Antwort bekommen; darauf können Sie +sich verlassen. Die Leute da haben mehr zu thun, als sich eines +Passagiers wegen, für den sie noch umsonst die Kost hergeben +müßten, in eine Correspondenz einzulassen; kann ich ihnen auch +gar nicht so sehr verdenken.«</p> + +<p>»Und die Adresse?«</p> + +<p>»Die Adresse? — da, hier liegt die neueste Auswanderer-Zeitung; +wenn Sie wollen, können Sie sich da ein oder zwei<pb n="111" /><anchor id="Pg111" /> +Adressen herausschreiben. Da hinten, auf der letzten Seite +stehen sie.«</p> + +<p>Herr Weigel sah nach der Uhr, drehte sich wieder auf seinem +Drehstuhl, der beim Aufschrauben etwas quietschte, herum, +schob das Tageblatt zur Seite und rückte sich einen Bogen +Papier zurecht, als ob er irgend einen nothwendigen Brief zu +schreiben hätte.</p> + +<p>Wieder klopfte es da an die Thür, und dießmal, ohne +ein ermunterndes »Herein« zu erwarten, öffnete sie sich, und +drei Bauern, denen die großen silbernen Knöpfe auf Weste +und Rock und das feine Tuch der letzteren, die jedoch ganz +nach ihrem alten bäurischen Schnitt gemacht waren, etwas ungemein +solides gaben, traten, die Hüte erst unter der Thür +und schon im Zimmer abziehend, herein, und grüßten die beiden +Leute die sie hier beisammen fanden, mit einem herzlichen +»Guten Morgen miteinander.«</p> + +<p>Das waren die Leute die Herr Weigel gern kommen sah, +die wußten weßhalb sie die eine Hand immer in der Tasche +trugen, denn sie hatten dort etwas zu verlieren, und waren +nicht selten dabei die Vorboten eines größern Trupps, oft einer +ganzen »Schiffsladung voll« die aus ein und derselben Gegend +auswandern wollte, und ein paar der Angesehensten indeß +vorausgeschickt hatte, Platz für sie zu bestellen. Wie der +Blitz war er denn auch von seinem Stuhle herunter, schüttelte +ihnen nacheinander die Hand, und frug sie wie es ihnen ginge +und was sie hier zu ihm geführt.</p> + +<p>»Seid Ihr der Mensch der die Leute nach Amerika schickt?« +<pb n="112" /><anchor id="Pg112" />sagte da der Eine von ihnen, eine breitkräftige, sonngebräunte +Gestalt mit vollkommen lichtblonden Haaren und Augenbrauen, +aber dabei gutmüthigen vollen und frischen Zügen, dem das +Ganze übrigens etwas fremd und unheimlich vorkommen +mochte, denn er warf den Blick während er sprach wie scheu +von einer der Schiffszeichnungen zur anderen, und schien sich +ordentlich dazu zwingen zu müssen das zu sagen, was er eben +hier zu sagen hatte.</p> + +<p>»Nun nach Amerika <emph rend="letter-spacing: 0.20em">schicken</emph> thu' ich sie gerade nicht,« +lächelte Herr Weigel, die Anderen dabei ansehend, und etwas +verlegen über die vielleicht ein wenig plumpe Anrede.</p> + +<p>»Nicht?« sagte der Bauer rasch und erstaunt — »aber +hier hängen doch all die vielen Schiffe.«</p> + +<p>»Nun ja, ich besorge den Leuten Schiffsgelegenheit die +hinüber <emph rend="letter-spacing: 0.20em">wollen</emph>,« sagte Herr Weigel, jetzt geradezu herauslachend, +weil er glaubte daß sich der Mann mit ihm einen +Scherz gemacht, auf den er natürlich einzugehen wünschte.«</p> + +<p>»Ja aber wir <emph rend="letter-spacing: 0.20em">wollen</emph> eigentlich noch nicht hinüber,« +sagte der zweite von den Bauern, seinen Hut auf seinen langen +Stock stellend, und sich dabei verlegen hinter den Ohren kratzend — »wir +wollten uns nur erst einmal hier erkundigen ob denn +das auch wirklich da drüben so ist, wie es jetzt immer in den +Auswanderungszeitungen steht, und ob man blos hinüberzugehn +und zuzulangen braucht, wenn man eine gut eingerichtete +Farm mit ein paar hundert Morgen Land haben will.«</p> + +<p>»Ja wenn man Geld hat,« lachte Herr Weigel.</p> + +<p><pb n="113" /><anchor id="Pg113" />»I nu — Geld hätten wir,« sagte der Bauer, und sah +seine Nachbarn an.</p> + +<p>»Ich bin Ihnen sehr dankbar,« unterbrach den Sprecher +hier der junge Mann, der indessen die Zeitung nachgesehn, und +sich Einzelnes daraus notirt hatte. »Bitte,« sagte Herr Weigel, +und nahm ihm das Blatt, ohne sich weiter um ihn zu bekümmern, +aus der Hand, und wandte sich wieder zu den Bauern, +als der junge Fremde sich mit einem artigen:</p> + +<p>»Guten Morgen meine Herren« empfahl.</p> + +<p>»Adje Herr — Herr Schnellig,« rief der Agent ziemlich +laut hinter ihm her, ohne sich weiter nach ihm umzudrehen, +während die Bauern freundlich den Gruß in ihrer Art erwiederten.</p> + +<p>»Wer war der junge Herr?« frug der erste Sprecher aber, +als er die Thür rasch hinter sich in's Schloß gedrückt.</p> + +<p>»Ach, ein armer Teufel, der gern mit umsonst nach Amerika +hinüber möchte,« sagte Herr Weigel — »er thut zwar als +wär' es nur für einen armen Verwandten, aber, hehehe, derlei +Ausreden kennen wir schon — kommen alle Wochen vor.«</p> + +<p>»Umsonst mit nach Amerika?« sagte der erste Sprecher +verwundert, »<emph rend="letter-spacing: 0.20em">der</emph> sieht doch nicht aus als ob er etwas umsonst +haben wollte, der ging ja <emph rend="letter-spacing: 0.20em">so</emph> fein gekleidet; Donnerwetter — mit +Handschuhen und allem — «</p> + +<p>»Ja auswendig sind die Leute in der Stadt meist alle +schwarz und sauber angestrichen,« lachte Herr Weigel, »aber +inwendig, in den Taschen, da hapert's nachher. Wer aber +<pb n="114" /><anchor id="Pg114" />ein Bischen Uebung darin hat, kann auch schon oben auf erkennen, +ob der Lack ächt, oder blos nachgemacht ist, hehehe.«</p> + +<p>»Bei dem war er wohl nachgemacht?« sagte der zweite +Bauer, dem Anschein nach gerade nicht unzufrieden damit, daß +der »glatte Stadtmensch« nicht so viel galt wie sie, und daß +der Auswanderungsmann das sogleich durchschaut hatte. Herr +Weigel nickte, seine Zeit war ihm aber kostbarer, als sie noch +länger an Jemanden zu verschwenden, bei dem er doch voraussah, +daß er von ihm keinen Nutzen haben würde, und er suchte +das Gespräch wieder dem mehr praktischen Anliegen der drei +Bauern zuzulenken.</p> + +<p>»Also Sie wollten mitsammen nach Amerika gehn und +sich eine ordentliche Farm, gleich mit Land, Vieh, Häusern +und was dazu gehört, ankaufen heh? — 'wär keine so schlechte +Idee.«</p> + +<p>»Ja erst möchten wir aber einmal wissen wie die Sache +steht;« sagte der Erste wieder, der Menzel hieß, »wenn man +über einen Zaun springen will, ist es viel vernünftiger daß +man erst einmal hinüber guckt was drüben ist, und wenn man +das nicht kann, daß man Jemanden fragt der es genau weiß. +Sind denn die Farmen da drüben wirklich so billig? — ist das +wahr, daß man dort noch gutes frisches Land für ein und einen +Viertel Thaler kaufen kann?«</p> + +<p>»Thaler? — nein,« sagte Herr Weigel, »<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Dollar</emph>.« +»Ja nun, das ist aber auch nicht viel mehr,« meinte der +Zweite, Müller.</p> + +<p>»Nun ein Dollar ist ungefähr ein Speciesthaler,« sagte<pb n="115" /><anchor id="Pg115" /> +Herr Weigel — »lassen Sie mich einmal sehn — die stehn +jetzt — stehn jetzt 1 Thlr. 12½ Silber- oder Neugroschen.«</p> + +<p>»Nu ja,« sagte Menzel wieder, »das ist aber immer kein +Geld — und für tausend Dollar kauft man da eine fix und +fertig eingerichtete Farm, wie sie's glaub' ich nennen? mit +Allem was dazu gehört?«</p> + +<p>»Ich habe hier gerade,« sagte Herr Weigel in seinen +Papieren suchend, »ein paar Anerbietungen von höchst achtbaren +Leuten — wirklichen Amerikanern — die mir Farmen +zu höchst mäßigen Bedingungen offeriren. — Die Leute wissen +da drüben daß hier Viele zu mir kommen und sich nach solchen +Plätzen erkundigen, und wenn sie dann 'was Gutes haben, +schicken sie's mir. — Wo hab' ich denn die verwünschten Pläne +jetzt hingelegt — ah, hier ist der eine — sehn Sie, Gebäude +und Alles sind darauf angegeben — und der andere kann nun +auch nicht weit sein; ich habe sie erst vorgestern meinem Bruder +gezeigt, der gar nicht übel Lust hatte eine davon für sich +zu kaufen — da ist er.«</p> + +<p>Die drei Bauern drängten sich um den kleinen Tisch herum +auf dem Herr Weigel die Pläne jetzt ausbreitete, und suchten +sich in den kreuz und quer laufenden Strichen zu orientiren, +wie der Platz eigentlich liege, und was darauf stände.</p> + +<p>»Ja aber wo ist denn das nun eigentlich, und wie sieht's +dort aus?« sagte Menzel endlich, nach einigen vergeblichen +Versuchen deshalb — »aus der Geschichte hier wird man nicht +klug.«</p> + +<p>»Ja sehn Sie,« sagte Weigel, mit seinem Finger den<pb n="116" /><anchor id="Pg116" /> +Plan erklärend, und den angegebenen Zahlen folgend, »das +hier, Nr. 1 ist das Wohnhaus, ein Doppelgebäude, der Zeichnung +nach mit einer offenen Veranda dazwischen, des warmen +Klima's wegen, denn drum herum stehen »Baumwollenbäume« +angegeben; Nr. 2 da ist ein anderes Gebäude, bis +jetzt zu Negerwohnungen benutzt, denn der bisherige Besitzer +scheint Sclaven gehalten zu haben; Nr. 3 ist eine Scheune; +Nr. 4 ist ein Rauchhaus, die Leute verschicken von dort aus +viel getrocknetes Fleisch; Nr. 5 ist, wie es scheint, ein Waschhaus, +und Nr. 6 ein anderes Wohnhaus, was dem ersten +gegenübersteht, und wahrscheinlich den ganzen Hofraum, da +die Front nach dem Flusse zu liegt, abschließt.</p> + +<p>»Und welcher Fluß ist das?«</p> + +<p>»Der Missouri, einer der größten Ströme Amerika's, über +eine englische Meile breit, und viel hundert Meilen hinauf +schiffbar; alle Wetter meine Herren, von den dortigen Strömen +können wir uns hier gar keinen Begriff machen.«</p> + +<p>»Hm — und wieviel Land gehört dazu?«</p> + +<p>»Dazu gehört ein »Died« von 40 Acker, was früher als +Congreßland gekauft und schon bezahlt ist, und natürlich mit +übernommen wird, und um den Platz herum kann noch so viel +Congreßland dazu genommen werden, wie man haben will — nur +die vierzig Acker, von denen aber ein Theil schon urbar +gemacht ist, müssen natürlich höher bezahlt werden.«</p> + +<p>»Und was soll die ganze Geschichte kosten?« frug Müller. — Der +dritte, dessen Name Brauhede war, hatte noch kein einziges +Wort zu der ganzen Verhandlung gesagt.</p> + +<p><pb n="117" /><anchor id="Pg117" />»Die ganze Geschichte,« erwiederte Weigel, sich das Kinn +streichend, »wie ich sie Ihnen hier gleich an Ort und Stelle +überlassen kann, mit Häusern und Grundstück und dazu noch +einem kleinen Viehstand von vielleicht einigen achtzig Stück +Rindvieh, und fünfundfunfzig oder sechzig Schweinen, würde — etwa — ein +tausend und einige sechzig spanische Dollar +betragen — «</p> + +<p>»Und das wäre nach unserem Geld?« sagte Menzel, +Müller dabei heimlich unter dem Tisch anstoßend — «</p> + +<p>»Nach unserem Geld?« wiederholte Herr Weigel, mit +einem Stück dort liegender Kreide die Summen rasch auf dem +Tisch selber aufaddirend — »würde es in einer runden Zahl +etwa 1000 — 400 — eine Kleinigkeit über 1400 Thlr. Preuß. +Courant betragen.«</p> + +<p>»Wieviel Stück Rindvieh?« sagte Müller.</p> + +<p>»Einige achtzig Stück sind angegeben,« sagte Weigel, »und +müssen auch überliefert werden; aber gewöhnlich sind es noch +mehr, denn das Vieh läuft draußen im Freien herum und bekommt +Kälber und man weiß es oft nicht einmal — die Kälber +werden überhaupt nie mitgezählt.«</p> + +<p>»Und die Passage hinüber kostet?« frug Menzel — </p> + +<p>»Zwischendeck oder Cajüte?«</p> + +<p>»Zwischendeck — immer wo's am Billigten ist,« lachte +Menzel, und strich sich wohlgefällig über die silbernen +Knöpfe.</p> + +<p>»Ja, kann mir's denken,« rief Herr Weigel, auf den +Scherz eingehend, und ihn leise gegen den Arm von sich +<pb n="118" /><anchor id="Pg118" />stoßend — »Sie sehn mir auch gerade aus, als ob's Ihnen +auf ein paar Thaler ankäme.«</p> + +<p>»Ja, wo man's kann muß man's zusammennehmen,« +betheuerte aber auch Müller — »also wieviel kostet's im Zwischendeck +à Person?«</p> + +<p>»Vierundvierzig Thaler für die Person — Kinder zahlen +die Hälfte.«</p> + +<p>»Aber ganz kleine Kinder?« sagte Müller.</p> + +<p>»Nun Säuglinge gehen ein,« lachte Herr Weigel, <corr sic="">»</corr>das +ist die Beilage, die doch auch nur vom Schiff aus indirecte +Nahrung bekommen.«</p> + +<p>»Leichten Zwieback?« frug Menzel.</p> + +<p>»Ja wohl,« sagte Herr Weigel, etwas verlegen lächelnd, +da er nicht wußte ob der Bauer das im Spaß oder Ernst <corr sic="gegemeint">gemeint</corr> — »wie +viel Personen sind Sie denn aber wohl +etwa?«</p> + +<p>»Nu, so eine sechzig möchten wir immer zusammen herausbekommen,« +meinte Müller — </p> + +<p>»Aber Alle auf ein Schiff müßtet Ihr uns bringen,« +sagte Menzel.</p> + +<p>»Nun das versteht sich von selbst,« rief Herr Weigel, und +ein famoses Schiff geht gerade den funfzehnten ab — ich +glaube das beste, das von Bremen und Hamburg überhaupt +läuft — die Diana.«</p> + +<p>»Ne das wär' uns noch zu früh — «</p> + +<p>»Am ersten nächsten Monats geht ein noch besseres,« sagte<pb n="119" /><anchor id="Pg119" /> +Herr Weigel — »wenigstens geräumiger und ein besserer +Segler.«</p> + +<p>»Ne das wär' uns auch noch zu früh,« sagte Menzel.</p> + +<p>»Gut, dann träfen Sie es gerade ausgezeichnet mit dem +Meteor,« versicherte Herr Weigel, keineswegs außer Fassung +gebracht; »ich wollte Ihnen den im Anfang nicht anbieten, weil +ich fürchtete daß Sie früher zu reisen wünschten, wenn Sie +aber <emph rend="letter-spacing: 0.20em">so</emph> lange Zeit haben, dann kann ich Ihnen allerdings die +vorzüglichste Reisegelegenheit bieten, die sich nur überhaupt +denken läßt.«</p> + +<p>»So — na das paßte schon besser — « sagte Müller — »wie +hieß das Schiff gleich?«</p> + +<p>»Meteor.«</p> + +<p>»Hm — werd' es mir merken — aber nicht wahr, beim +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Dutzend</emph> kriegen wir die Passage doch auch was billiger.«</p> + +<p>»Ne, das geht nicht,« lachte aber Herr Weigel da gerade +heraus; »es ist ja nicht so, daß ein Schiff nur eben so viel +Menschen an Bord nehmen kann wie darauf Platz haben, +sondern es muß auch genug Raum, und über und über genug +Essen und Trinken für sie dabei sein, wenn einmal die Reise, +in einem unglücklichen Fall länger dauerte als gewöhnlich. +So ein Schiff hat deshalb auch nur eine bestimmte Zahl von +Auswanderern, die es an Bord nehmen kann, und nach Amerikanischen +Gesetzen nehmen <emph rend="letter-spacing: 0.20em">darf</emph>, und auf die ist Alles mit +Kosten und Preis ausgerechnet, auf's tz. Die kleinen Kinder +werden eingegeben, aber die großen müßen bezahlen. Und wie +war's mit der Farm?«</p> + +<p><pb n="120" /><anchor id="Pg120" />»Wo ist denn der andere Platz — zu dem da der lange +Zettel gehört?« sagte Menzel, der sich diesen indessen genau +betrachtet, und nach allen Ecken herum und herumgedreht +hatte, ohne, wie er meinte, einen Handgriff dran bekommen +zu können.</p> + +<p>»Der hier? der ist in Wisconsin; auch ein guter Platz, +aber kein so großer Strom dabei,« sagte Herr Weigel — »ist +aber auch billiger. Dort kann ich Ihnen eine Farm, allerdings +nur mit einigen vierzig Kühen, für etwa siebenhundertundfunfzehn +Dollar überlassen, und dann habe ich noch fünf +andere von sechs, acht, elf, neun und ich glaube zwölfhundert +Dollar — die letztere ist aber eine wirkliche Musterwirthschaft +mit importirtem Schweizervieh, und Backsteingebäuden, und einer +prachtvollen Lage Milch und Butter in die nicht zu entfernte +Stadt zu bringen; wird Ihnen aber auch freilich wohl zu +theuer sein?«</p> + +<p>»Zu theuer? — warum?« sagte Menzel — »wenn man +sich einmal etwas kauft, soll man sich auch gleich 'was ordentliches +anschaffen. Ich habe mir übrigens die Sache immer +viel schwieriger vorgestellt mit dem Ankaufen, und gedacht, daß +man da erst lange in der Welt umher fahren und sein Geld +verreisen müßte. Wenn man das gleich hier an Ort und Stelle +abmachen kann, ist das ja weit bequemer.«</p> + +<p>»Auf eins möchte ich Sie übrigens noch aufmerksam +machen, meine Herren, was Sie ja nicht versäumen dürfen,« +sagte Herr Weigel — »nämlich sich hier gleich Ihre Billets +<pb n="121" /><anchor id="Pg121" />zur Weiterfahrt in's Innere, wohin Sie auch immer wollen, +zu lösen.</p> + +<p>»Von Neu-York aus?« sagte Menzel verwundert.</p> + +<p>»Ja wohl von Neu-York oder Philadelphia oder wohin +Ihr Reiseziel liegt.«</p> + +<p>»Ja aber kann man denn die <emph rend="letter-spacing: 0.20em">hier</emph> bekommen?« frug +Müller.</p> + +<p>»Gewiß kann man das,« lächelte Herr Weigel, »und +das ist gerade der ungeheure Vortheil unserer jetzigen Verbindung, +die den Auswanderer von der Thür seiner alten Heimath +fort, vor die seiner neuen setzt, ohne daß er ein einziges +Mal in die Tasche zu greifen und mehr zu bezahlen braucht, als +was er gleich von allem Anfang entrichtet hat. Das eben +macht auch das Reisen jetzt so billig, daß man mit <emph rend="letter-spacing: 0.20em">einem</emph> +Blick im Stande ist sämmtliche Kosten zu übersehn; die Extra-Ausgaben +fallen ganz weg.«</p> + +<p>»Das wäre freilich ein Glück,« sagte Müller, von dem +erst vor einigen Monaten ein Bruder »hinüber« gegangen war — »die +Extra-Ausgaben fressen sonst das meiste Geld.«</p> + +<p>»Ob sie's fressen, bester Herr, ob sie's fressen,« sagte Herr +Weigel, sich wieder vergnügt die Hände reibend.</p> + +<p>»Und wo kann man die Billete also bekommen?« frug +Menzel.</p> + +<p>»Bei mir hier, versteht sich,« sagte Herr Weigel — »alle +bei mir.«</p> + +<p>»Und die gelten dann drüben?«</p> + +<p>»Nun versteht sich doch von selbst,« lachte der freundliche<pb n="122" /><anchor id="Pg122" /> +Agent, »ich würde sie ja Ihnen doch sonst nicht verkaufen. +Sehn Sie, wenn die Deutschen hinüber kommen, dann sprechen +sie gewöhnlich noch kein Englisch — oder haben Sie das etwa +schon gelernt?«</p> + +<p>»Ne — «</p> + +<p>»Nun sehn Sie, und dann werden sie dort von ihren +Landsleuten — denn der Amerikaner ist nicht halb so schlimm — die +sich das richtig zu Nutze zu machen wissen, tüchtig über's +Ohr gehauen, und müssen gewöhnlich gerade noch einmal so +viel bezahlen, als die Sachen eigentlich kosten.</p> + +<p>»Aber es soll doch eine »Deutsche Gesellschaft« drüben in +Neu-York sein,« sagte jetzt Brauhede, der zum ersten Mal bei +der ganzen Verhandlung den Mund aufthat — »die sich eben +der Deutschen annimmt und Nichts dafür verlangt.«</p> + +<p>»Leben wollen wir <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Alle</emph>,« sagte Herr Weigel +achselzuckend — »umsonst ist der Tod, und daß die Leute, wenn sie +ihre Zeit darauf verwenden für die Deutschen zu sorgen, auch +etwas dafür nehmen werden, läßt sich wohl an den fünf +Fingern abzählen. Neu-York ist aber ein theures Pflaster, die +Leute <emph rend="letter-spacing: 0.20em">brauchen</emph> dort mehr wie wir hier, und wer es daher +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">billiger</emph> thun kann ist auch wieder leicht einzusehn. Ich will +mich auch keineswegs empfehlen; lieber Gott es giebt noch +eine Menge Leute in Deutschland, die sich demselben schwierigen +und undankbaren Geschäft unterzogen haben wie ich, und +die es sich vielleicht eben so sauer werden lassen gerade und +ehrlich durch die Welt zu kommen; aber Einen der es besser +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">meint</emph> dabei, werden Sie wohl schwerlich finden, und ich +<pb n="123" /><anchor id="Pg123" />überrede gewiß Niemanden nach Amerika auszuwandern. Jeder +Mensch muß seinen freien Willen haben, und auch am +Besten selber wissen was ihm gut ist.«</p> + +<p>»Ne gewiß,« sagte Menzel — »da habt Ihr ganz recht, +das ist auch mein Grundsatz; aber das mit dem Amerika leuchtet +mir auch ein, und umsonst thut da gewiß Niemand etwas — das +sind verflixte Kerle da, hab' ich mir sagen lassen, besonders +die Deutschen, und wo die nicht wollen gucken sie +nicht 'raus.«</p> + +<p>»Also die Billete kann man hier bei Euch kriegen?« +sagte Müller.</p> + +<p>»Wohin Sie wollen, und ich stehe Ihnen dafür daß sie +nicht allein ächt sind, sondern daß die hier in Deutschland gelösten +Plätze auch noch den Vorrang haben vor allen in Amerika +genommenen, wenn einmal Eisenbahn oder Dampfboote zu +sehr besetzt sein sollten. Es ist ja hier gerade so mit der Post, +wo Die, die sich zuerst, und auf der längsten Station haben +einschreiben lassen, den Vorrang behalten müssen vor denen +die nachher kommen.</p> + +<p>»Ahem, das ist klar,« sagte Menzel; »na also da dächt' ich +ließen wir uns gleich einmal Plätze belegen und gäben das +D'raufgeld, damit wir die Sache richtig hätten, und nachher +können wir ja einmal über die Farmen sprechen; ich habe verwünschte +Lust.«</p> + +<p>»Du, das hat noch Zeit,« sagte aber jetzt Brauhede wieder, +Menzel am Rocke zupfend; »erst müssen wir es uns doch +einmal mit den Anderen zu Hause überlegen.«</p> + +<p><pb n="124" /><anchor id="Pg124" />»Wenn aber nachher die Plätze auf dem ganz guten Schiffe +fort sind,« sagte Müller mit einem sehr bedenklichen Gesicht.</p> + +<p>»Ja, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">stehen</emph> kann ich Ihnen <emph rend="letter-spacing: 0.20em">nicht</emph> dafür,« versicherte +Herr Weigel die Achseln zuckend, daß sie beinah seine Ohrläppchen +berührten.</p> + +<p>»Na mein'twegen,« sagte Brauhede, der allerdings auch +in der Absicht hierher gekommen war, ihre Passage fest zu accordiren, +jetzt aber, da es dazu kam Geld zu zahlen, nur ungern +damit herausrückte — »aber von wegen der Farm müssen +wir noch erst mit den Anderen sprechen, und eine Farm kriegen +wir auch noch immer.«</p> + +<p>»Ja aber was für eine,« sagte Herr Weigel.</p> + +<p>Brauhede blieb übrigens bei seiner Meinung, und Menzel +bestand jetzt nur wenigstens darauf die beiden Pläne einmal +mitzunehmen, damit sie sich zu Hause ordentlich hinein +denken könnten. Wenn auch Herr Weigel sie im Anfang nicht +außer Händen geben mochte, ja sogar versicherte er habe nicht +übel Lust die eine Farm für sich selber auf Spekulation zu +kaufen, ließ er sich doch zuletzt überreden ihnen, aber allerdings +nur auf zwei Tage, die Pläne zu überlassen, und dann das +Weitere über den Ankauf mit einer zweiten Deputation der +Gesellschaft zu besprechen.</p> + +<p>Menzel bezahlte dann das Aufgeld auf ihre Passage im +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Meteor</emph> für siebenundfunfzig Personen und dreizehn Kinder, +die sämmtlich aus <emph rend="letter-spacing: 0.20em">einer</emph> Ortschaft auswandern wollten, und +nahm dann auch noch, nach einer kurzen Berathung mit den +beiden anderen, die nöthigen Billete auf der Eisenbahn von<pb n="125" /><anchor id="Pg125" /> +Neu-York aus, oder machte wenigstens eine Anzahlung darauf, +daß sie ihnen der Agent aufbewahrte, da dieser sie versicherte +er sei nur noch im Besitz einer sehr kleinen Anzahl, und wisse +nicht, wann er gleich wieder andere bekommen würde, während +die Anfrage darnach sehr stark wäre.</p> + +<p>Außerdem kauften sie sich auch noch ein halbes Dutzend +kleine Brochüren, die Herr Weigel, wie er sagte, gerade frisch +aus der Druckerei als etwas <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ganz Neues</emph> bekommen hatte — ein +Datum stand nicht darauf — und die drei Männer verließen +dann wieder, von dem schmunzelnden Agenten bis an +die auf den Markt führende Thür begleitet, das Haus.</p> + +<p>»Höre Du,« sagte aber Brauhede als sie wieder vor dem +Haus und auf der Straße waren, und langsam über den +Markt weggingen, »mit dem Landkaufen wollen wir uns doch +lieber hier noch nicht einlassen, das ist eine wunderliche Geschichte +und will mir nicht recht in den Kopf.«</p> + +<p>»Nicht in den Kopf?« rief aber Menzel — »und warum +nicht? — der Mann bekommt alle Tage Briefe aus Amerika, +warum soll der nicht wissen was dort zu verkaufen ist?«</p> + +<p>»Wenn's aber so gut und billig wäre, brauchten sie's doch +nicht hier herüberzuschicken,« meinte Brauhede kopfschüttelnd.</p> + +<p>»Das ist Alles was Du davon verstehst,« sagte Müller, +»Amerikaner könnten sie gewiß genug zu Käufern kriegen, aber +deutsche Bauern wollen sie, die ihnen zeigen wie man das +Land behandeln muß, und darum schicken sie herüber — die +sind froh drüben, wenn unsereins hinüber kommt.</p> + +<p><pb n="126" /><anchor id="Pg126" />»Nun, mag sein,« brummte Brauhede — »aber sicher ist +doch sicher, und wenn ich mein Geld hier weggegeben habe, +und kann das Land was mein sein soll nachher nicht finden, +wie's dem Niklas seinem Bruder gegangen ist, nachher wäre +die Geschichte aber faul.«</p> + +<p>»Dem Niklas sein Bruder war aber auch ein Esel,« sagte +der Andere, »der sich hier Land von einem herumziehenden +Vagabunden gekauft; da sollt' er nachher wohl suchen. Aber +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">der</emph> Mann hier ist in der Stadt ansässig und hat ein Geschäft; +was der verkauft das muß gut sein, sonst wär' er ja +gar nicht sicher daß man ihn einmal deshalb beim Kragen +kriegte.«</p> + +<p>»Ja krieg' ihn einmal wenn Du drüben in Amerika bist,« +sagte Brauhede ruhig — »das ist ein verwünscht weiter und +umständlicher Weg und — wenn man sich einmal hat anführen +lassen, will man auch nicht gern noch dazu ausgelacht +werden.«</p> + +<p>»Papperlapapp!« sagte Menzel — »dafür hat Jeder +seine Augen daß er sie offen hält, und ehe ich ihm mein gutes +Geld gebe, werd' ich mich schon sicher stellen daß er mir Nichts +aufbindet.«</p> + +<p>Und die Männer schritten, Jeder von jetzt an mit seinen +eigenen Gedanken über die nahe Auswanderung beschäftigt, +langsam die Straße hinunter, während in seinem kleinen +Bureau, vergnügt die Hände zusammenreibend, Herr Weigel +auf und ab spazieren ging, und sich im Geist die nächst zu +ziehenden Summen zusammenaddirte, die er in kurzer Zeit, +<pb n="127" /><anchor id="Pg127" />nach eifriger Aussaat, einzuerndten hoffte. Die Geschäfte +gingen vortrefflich; Lust zur Auswanderung hatte in der That +ein Drittel der sämmtlichen Bevölkerung, und es bedurfte nur +manchmal wirklich einer leisen Anregung, die Leute zu etwas +zu bewegen, zu dem sie schon halb und halb selber entschlossen +gewesen waren.</p> + +<p>Herr Weigel war sehr guter Laune; er legte jetzt die +Hände auf den Rücken und summte ein leises Lied vor sich hin, +seinen Marsch dabei fortsetzend. Aber er sang falsch; er hatte +keine Idee von irgend einer Melodie; doch das schadete nichts, +er <emph rend="letter-spacing: 0.20em">meinte</emph> wenigstens eine, und da er selber nicht hörte was +er sang, genügte es ihm vollkommen.</p> + +<p>Die Thür ging jetzt auf und der Tischler oder Schreiner +kam herein, irgend etwas an dem Pult auszubessern — er +hatte zweimal angeklopft ohne daß der vergnügte Agent darauf +geantwortet hätte.</p> + +<p>»Guten Morgen Herr Weigel.«</p> + +<p>»Ah guten Morgen Meister — nun kommen Sie endlich? +ich hatte schon ein paar Mal nach Ihnen hinübergeschickt — «</p> + +<p>»Ja lieber Gott Herr Weigel, ich war gerade drüben +beim Herrn Geheimen Rath Bärlich beschäftigt — die Leute +sind so eigen wenn man von der Arbeit fort geht — «</p> + +<p>»Sehn Sie, hier das Bein möcht' ich gemacht haben; der +Tisch wackelt da immer, und wenn man etwas darunter legt, +verschiebt sich das doch jedesmal wieder. Können Sie es mir +wohl bis heute Nachmittag in Ordnung bringen?«</p> + +<p><pb n="128" /><anchor id="Pg128" />»Ja gewiß,« sagte der Mann, »das ist ja nur eine Kleinigkeit.«</p> + +<p>»Und wie ist es mit den Auswandererkisten die ich bestellt +habe? — werden die bis heute Abend fertig?</p> + +<p>»Ja wohl Herr Weigel; sechs habe ich schon in das Gasthaus +»Stadt Breslau,« wie Sie mir sagten, abgeliefert.«</p> + +<p>»Nun das ist gut, denn der ganze Zug wird noch heute +Vormittag ankommen, und will morgen früh wieder fort — es +sind doch noch keine Auswanderer heute Morgen hier eingetroffen? — «</p> + +<p>»Nicht daß ich gesehen hätte — aber gestern Abend zogen +Viele durch.«</p> + +<p>»Ja ich weiß — von Hessen herüber — die armen Teufel; +denen wird's einmal wohl drüben werden. Nun wie gehn +denn bei Ihnen die Geschäfte jetzt?«</p> + +<p>»Ih nu gut, Herr Weigel, ich kann gerade nicht klagen; +das Brod wird freilich immer theuerer, aber man schlägt sich +so durch — Kinder haben wir nicht, und was verdient wird +reicht eben ordentlich aus.«</p> + +<p>»Ich begreife nicht,« sagte Herr Weigel da kopfschüttelnd +vor dem Mann, der seine Mütze eben wieder aufgegriffen +hatte und sich zum Fortgehen anschickte, stehen bleibend — »wie +Ihr Leute Euch hier vom Morgen bis Abend plagt und +schindet, eben nur das liebe Brod zu verdienen, wo Ihr in +ein paar Wochen drüben sein könntet und so viel Dollare für +Euere Arbeit bekämt, wie hier Groschen.</p> + +<p>»Drüben, wo?«</p> + +<p><pb n="129" /><anchor id="Pg129" />»Nun in Amerika — «</p> + +<p>»Hm, ja,« sagte der Mann, sich nachdenkend das Kinn +streichend, und einen leichten Seufzer unterdrückend — »gedacht +hab' ich auch schon ein paar Mal daran, aber — das geht +nicht gut und — es ist auch so eine unsichere Sache mit da +drüben. Hier weiß ich einmal was ich habe und daß ich auskomme, +und wie mir's da drüben geht weiß ich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">nicht</emph>.«</p> + +<p>»Aber Freund,« rief Herr Weigel verwundert — »ein +Mann der fleißig arbeitet bringt es dort immer zu was. Wetter +noch einmal, Meister, Amerika ist gerade der Platz für Euch, +wo Ihr Euch rühren und ausbreiten könntet — wenn Ihr +dort wäret, ein geschickter Arbeiter wie Ihr! in fünf Jahren +hättet Ihr zwanzig Gesellen.«</p> + +<p>»Meister Leupold nickte langsam mit dem Kopf, und sah +ein paar Secunden still vor sich nieder, als ob das Bild mit +der großen Werkstätte und dem regen Treiben sich vor seinem +inneren Geist eben auszubreiten beginne, dann aber sagte er, +jetzt herzhaft aufseufzend — «</p> + +<p>»Und es geht doch nicht, Herr Weigel — ich habe die +alte Mutter zu Hause, die ich unmöglich hier allein zurück +lassen könnte — «</p> + +<p>»Hierlassen? das fehlte auch noch,« rief der Agent — »die +nehmt Ihr mit, Mann — könnt Ihr der denn eine größere +Freude machen, als wenn sie noch vor ihrem Ende sähe wie +wohl es Euch geht auf der Welt, und wie sich Euer Zustand +mit jeder Woche, mit jedem Tage fast bessert? — Muß sie hier +<pb n="130" /><anchor id="Pg130" />nicht in Sorge und Kummer leben daß Ihr einmal krank +werdet und Nichts verdienen könnt, und wie sieht's dann aus?«</p> + +<p>»Wenn ich aber nun dort drüben krank werde?« sagte +der Meister leise.</p> + +<p>»Wenn das nur nicht gleich die ersten Monate geschieht +und für ein Unglück kann Niemand« — warf dagegen Herr +Weigel ein, »so könnt Ihr Euch auch schon so viel gespart +haben, das eine Weile mit ruhig anzusehn; und wenn Ihr +nicht krank werdet, seid Ihr in ein paar Jahren ein wohlhabender +Mann.«</p> + +<p>»Es ist eine verwünschte Geschichte mit dem Amerika,« +seufzte der Mann wieder, sich hinter dem Ohr kratzend — »man +hört so viel davon, und sieht eine solche Masse Menschen +hinüberziehen, die alle voller Hoffnung sind daß es ihnen +gut geht — und möchte am Ende ebenfalls gern mit — wenn +man nur erst so einmal hinübergucken könnte wie es +eigentlich aussieht.«</p> + +<p>»Dazu ist es ein Bischen zu weit,« meinte Herr Weigel.</p> + +<p>»Ja nun eben,« sagte der Tischler — »und so auf's gerathewohl — «</p> + +<p>»Das könnt Ihr aber nicht auf's gerathewohl nennen, +wo wir alle Tage Briefe von drüben herüber bekommen, von +denen einer immer besser lautet als der andere. Da — hier +liegt gleich einer, der letzte den ich bekommen habe, wo ein +Deutscher, den ich selber hinüberbefördert, und dem es jetzt ausgezeichnet +gut geht, an mich schreibt, und ein oder zwei gute +gelernte Schaafknechte haben will; lesen Sie einmal den Brief.«</p> + +<p><pb n="131" /><anchor id="Pg131" />Leupold legte seine Mütze wieder hin, nahm den Brief +und las ihn aufmerksam durch; er nickte dabei mehrmals mit +dem Kopf, und sah dann wieder zu dem Agenten auf, der ihn +indessen mit einem triumphirenden Lächeln betrachtet hatte.</p> + +<p>»Nun?« frug der Letztere, als Jener das Schreiben beendet +und wieder zusammenfaltete — »wie klingt das?«</p> + +<p>»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Sehr</emph> gut« sagte Leupold leise, »aber — es hilft mir +doch Nichts. Wenn ich jetzt mein kleines Häuschen, das ich +mir mit Mühe und Noth zusammengespart und aufgebaut, +auch verkaufen wollte; fände ich erstlich keinen Käufer, und +dann bekäm ich auch das nicht dafür wieder, was es mich +selber gekostet; wie gesagt, der Sperling in der Hand ist doch +wohl besser wie die Taube auf dem Dache.«</p> + +<p>»Bah, Taube,« sagte Herr Weigel mürrisch — »wenn +die Taube auf dem Dach eben so fest und sicher sitzen bleibt +bis man sie holen kann, wie Amerika ruhig liegt, und auf die +wartet die hinüber kommen, so ist sie mir lieber wie ein erbärmlicher +Sperling, zum Sterben zu viel, und zum Leben zu +wenig; aber — überlegt's Euch — ah da kommt der Briefträger — 'was +für mich?«</p> + +<p>»Nun guten Morgen Herr Weigel,« sagte der Tischler +und wollte sich eben entfernen, während der Briefträger dem +Agenten mehrere für ihn gekommene Briefe überreichte.</p> + +<p>»Siebzehn Silbergroschen drei Pfennige« sagte er dabei.</p> + +<p>»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Siebzehn</emph> Silbergroschen?« rief Herr Weigel verwundert — »aha +da ist ein Amerikaner dabei — halt, wartet noch +einmal einen Augenblick Leupold« — da ist vielleicht gleich +<pb n="132" /><anchor id="Pg132" />noch was für uns, und was ganz Neues — wollen gleich einmal +sehn was die Leute schreiben. Wahrscheinlich wieder von +Jemand den ich hinüber befördert habe, und der sich jetzt bedankt — das +kostet aber viel Geld — «</p> + +<p>»Apropos Neues,« sagte Leupold, während der Agent den +Briefträger bezahlt hatte und seine Papierscheere vom Tisch +nahm, den Amerikanischen Brief aufzuschneiden — »haben +Sie schon gehört daß gestern Nachmittag bei Herrn Dollinger +eingebrochen und für sieben tausend Thaler Gold und Juwelen +gestohlen sind?«</p> + +<p>»Alle Wetter,« rief Herr Weigel, mit der zum Schnitt +ausgehaltenen Scheere in der Hand — »gestern Nachmittag?«</p> + +<p>»Am hellen Tage,« bestätigte Leupold.</p> + +<p>»Und weiß man nicht wer der Thäter ist?«</p> + +<p>»Sie haben den einen Comptoirdiener in Verdacht und +auch schon eingezogen,« sagte der Tischler.</p> + +<p>»Gewiß den Loßenwerder,« rief Weigel.</p> + +<p>»Ich glaube so heißt er — er ist ein wenig verwachsen — «</p> + +<p>»Und schielt — derselbe, ich habe den Burschen von jeher +nicht leiden können; hat mir auch schon ein paar Mal Kunden +abspenstig gemacht, aus reinem Brodneid; ich wüßte wenigstens +sonst nicht weshalb, und habe ihn dabei stark in Verdacht, +daß er selber damit umgeht eine Agentur für Auswanderer +zu errichten. Da könnte Jeder hergelaufen kommen, +ohne Briefe, ohne Connexionen und ohne Kenntniß vom Land + — schickte nachher die Leute in's Blaue hinein, daß sie dort +säßen und nicht wüßten wo aus noch ein. Na nun, wird ihm +<pb n="133" /><anchor id="Pg133" />das Handwerk wohl gelegt werden; ich gönne nicht gern einem +Menschen etwas Uebles, aber bei dem freut mich's daß sie's +wenigstens herausbekommen haben, und er seine Schurkerei +nicht mehr heimlich forttreiben darf. Ist denn das Geld schon +wieder gefunden?«</p> + +<p>»So viel ich weiß nicht, einige hundert Thaler ausgenommen, +von denen aber der Mann betheuert daß er sie sich +gespart hätte; es ist übrigens Manches dabei zusammengekommen +was ihn verdächtig macht; das Nähere weiß ich freilich +nicht.«</p> + +<p>»Hm, hm, hm,« sagte Herr Weigel, kopfschüttelnd den +Brief, den er noch immer in der Hand hielt, anschneidend — »böse +Geschichten — böse Geschichten, was man nicht Alles +hört auf der Welt. — Nun wollen wir also einmal sehen +was der Herr da aus Amerika schreibt — hm — Washington +County, Tennessee den siebenten Januar 18 — alle Wetter der +Brief ist lange unterwegs gewesen — Herrn F. G. Weigel in +Heilingen, Hauptagent der Central-Auswanderungs- und Colonisations-Gesellschaft +in Deutschland — ahem — Sie +nichtsw — hm — Sie haben — hm — vor allen Dingen — hm + — hm — hm — hm« — Herrn Weigels Gesicht verlängerte +sich immer mehr, je weiter er in seiner, wie es schien +nicht eben angenehmen Lectüre vorrückte, aber er brach mit dem +Lautlesen des Inhalts, dessen Einleitung unerwarteter Weise +höchst derber Art war, schon gleich nach den ersten Sylben +ab, und murmelte, das Ganze nur flüchtig überfliegend, blos +<pb n="134" /><anchor id="Pg134" />einzelne unzusammenhängende Worte, aus denen Leupold +Nichts herausfinden konnte, vor sich hin.</p> + +<p>»Nun, was schreiben sie?« sagte dieser endlich lächelnd; +er wäre schon lange gegangen, wenn ihn Weigel nicht eben zurückgehalten +hätte — »gute Neuigkeiten?«</p> + +<p>»Bah!« sagte Herr Weigel, den Brief zurück auf seinen +Schreibtisch werfend — »Jemand der seine Geschwister will +hinübergeschickt haben und mich ersucht das Geld für ihn auszulegen. +Da müßt' ich schöne Capitale herumstehn haben, +wenn ich allen Leuten umsonst wollte die Familie nachschicken. +Nachher sitzt der mitten im Land drin, und ich kann ihn dann +suchen.«</p> + +<p>»Ne, das ist ein Bischen viel verlangt,« sagte der Meister, +wieder nach der Klinke greifend — und dießmal hielt ihn +Herr Weigel nicht zurück — »aber nun leben Sie auch recht +wohl, und verlaßen Sie sich darauf ich besorge Ihnen das +heute noch.«</p> + +<p>»Sein Sie so gut,« sagte der Agent — er war auf einmal +ganz einsylbig geworden, und Meister Leupold verließ mit nochmaligem +Gruß das Zimmer, in dem jetzt Herr Weigel mit in die +Tasche geschobenen Händen, aber keineswegs mehr so guter +Laune als vorher, raschen, heftigen Schrittes auf und ab ging.</p> + +<p>»Und vierzehn Groschen bezahlt für den Wisch — es ist +eine Frechheit wahrhaftig, die in's Bodenlose geht. Lumpengesindel! +glaubt die gebratenen Tauben sollen ihm da in's +Maul fliegen, so bald sie's nur aufsperren.« Und wieder riß +er den Brief vom Pult, rückte sich die Brille zurecht, und las +<pb n="135" /><anchor id="Pg135" />mit halblauter, aber heftiger Stimme den Inhalt noch einmal, +und zwar aufmerksamer durch als vorher.</p> + +<p>»Sie nichtswürdiger Hallunke« — wenn ich Dich nur +hier hätte mein Bursche, dafür solltest Du mir brummen — »schändlich +betrogen und angeführt« — wozu hat Dir denn +der liebe Gott die großen Glotzaugen gegeben, wenn Du sie +nicht aufsperren willst — »Land eine Wüste« — na versteht +sich, ein Gewächshaus hab' ich ihm nicht verkauft — »Hälfte +gar nicht zu bekommen« — Holzkopf — »kein Mensch wollte +die Billete nehmen« — bah, geschieht Dir recht — »Wohngebäude +zu schlecht für einen Hund« — für Dich noch immer +viel zu gut, mein Schatz — »wenn Sie nur einmal herüber +kämen, Sie miserabeler« — bah« — unterbrach sich Herr Weigel +in dieser nichts weniger als schmeichelhaften Lectüre, indem er +den Brief in zwei Hälften riß, und sich dann ein Streichhölzchen +mit einem Gewaltstrich an der Thür entzündete »so viel +für den Wisch!« und das Papier anbrennend, warf er das auflodernde +in den Ofen, und schloß die Klappe so heftig er konnte.</p> + +<p>Allerdings wollte er sich nun über den Brief hinwegsetzen, +aber geärgert hatte er sich doch, und Rock und Stiefeln anziehend +drückte er sich seinen Hut in die Stirn, griff seinen +Stock aus der Ecke, und verließ sein Bureau, das er sorgfältig +hinter sich abschloß, und eine kleine Pappe mitten an die Thür +hing, auf der die Worte standen.</p> + +<p>»Kommt um elf Uhr wieder.«</p> +</div> +<div rend="page-break-before: always"><pb n="136" /><anchor id="Pg136" /> +<index index="toc" level1="Die Weberfamilie" /> +<index index="pdf" level1="Die Weberfamilie" /> +<index index="pdb" level1="D. Weberfamilie" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 6.</head> +<head rend="text-align: center">Die Weberfamilie.</head> +<p>Nicht weit von Heilingen, und in Hörweite der Domglocke +selbst, in ziemlich bergigem, aber unendlich malerischem +Land, lag ein kleines armes Dorf, dessen Bewohner, da ihre +Felder gerade nicht zu den besten gehörten, sich kümmerlich, +aber meist ehrlich, mit verschiedenen Handwerken und Gewerben, +mit Holzschnitzen wie auch hie und da mit dem Webstuhl, +ernährten. Das Dorf hieß eigentlich »Zur Stelle«, welchen +Namen aber die Bewohner im Laufe der Zeit, und mit Hülfe +ihres Dialekts, zu dem von <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Zurschtel</emph> umgearbeitet hatten, +und mochte etwa dreißig Häuser und Hütten, mit der doppelten +Anzahl von Familien, wie der sechsfachen von Kindern zählen. +Es ist eine wunderliche Thatsache, daß man in den ärmlichsten +Distrikten stets die meisten Kinder findet.</p> + +<p>Mitten im Dorf lag eins der besseren Häuser; es war +weiß getüncht, und hinter den sauber gehaltenen Fenstern +<pb n="137" /><anchor id="Pg137" />hingen weiße, reinliche Gardinen. Vor dem Hause, über +dessen Thüre ein frommer Spruch mit rothen und grünen +Buchstaben angeschrieben war, stand ein Brunnen- und Röhrtrog, +und ein kleiner Koven an der Seite desselben, zeigte in +der nach außen befestigten Klappe des Futterkastens dann und +wann den schmuzigen Rüssel eines seine Kartoffelschalen kauenden +Schweines. Auch ein ordentlich gehaltenes Staket umgab +das Haus wie den kleinen Hofraum, und die Wohnung stach +sehr zu ihrem Vortheil gegen manche der Nachbarhäuser ab.</p> + +<p>Im Inneren selber sah es ebenfalls sehr reinlich, aber +nichtsdestoweniger sehr ärmlich aus. In der einen Ecke stand +ein großer, viereckiger, sauber gescheuerter Tisch aus Tannenholz, +an zweien der Wände waren Bänke aus dem nämlichen +Material befestigt, und um den großen viereckigen Kachelofen, +der fast den achten Theil der Stube einnahm, hingen +verschiedene Kochgeräthschaften, während auf darüber angebrachten +Regalen die braunen Kaffeekannen und geblümten +Tassen gewissermaßen mit als Zierrath zur Schau ausstanden. +Die dritte Ecke füllte der Webstuhl des Mannes aus, und dem +gegenüber stand eine riesengroße, braunangestrichene Kommode, +mit Messinghenkeln und Griffen und fünf Schiebladen, die, +mit wirklich rührender Eitelkeit als eine Art von Nipptisch benutzt, +zwei mit bunten Blumen bemalte Henkelgläser, eine +vergoldete Tasse mit der Aufschrift »der guten Mutter« — ein +Geschenk aus früherer Zeit — und ein gelb irdenes aber allerdings +sehr wenig benutztes Dintenfaß trug, während dahinter, +in zwei ordinairen Stangengläsern, in dem einen Schilfblü<pb n="138" /><anchor id="Pg138" />thenbüschel, +und in dem anderen große stattliche Aehren von +Roggen, Waizen, Gerste und Hafer standen, zur Erinnerung +an eine frühere segensreiche Erndte.</p> + +<p>Die Bewohner der kleinen Stube paßten genau in ihre +Umgebung; es war eine, nicht mehr ganz junge aber doch +rüstige Frau, in die nicht unschöne Bauertracht der dortigen +Gegend gekleidet, die an ihrem Spinnrad saß und eifrig das +Rädchen schnurren ließ, während die rechte Hand manchmal +eine neben ihr stehende Wiege berührte, den darin ruhenden +kleinen Säugling, der immer wieder die großen dunklen Augen +zu ihr aufschlug, endlich in Schlaf zu bringen. Sie war reinlich, +aber in die gröbsten Stoffe gekleidet, ebenso der Bube +von etwa vier Jahren, der ihr zu Füßen mit einer kleinen +Mulde auf dem über die Diele gestreuten Sand »Schiff« +spielte.</p> + +<p>Außerdem war noch eine vierte Person im Zimmer, die +alte Mutter der Frau, eine Greisin von nahe an siebzig Jahren, +die auch noch ihr Spinnrad drehte, sich aber mit dem +hinter den noch warmen Ofen gesetzt hatte, weil ihr das heutige +naßkalte, unfreundliche Wetter fröstelnd durch die alten +Glieder zog. Es war eine gutmüthige, aber mürrische alte +Frau, selten zufrieden mit dem was sich ihr gerade bot, und +unermüdlich darin, sich und ihren Kindern die Last vorzuwerfen +die sie ihnen mache, und den lieben Gott täglich zu bitten +daß er sie doch bald zu sich nähme. Nur eine kleine, ganz +kurze Frist erbat sie sich immer noch — dann wollte sie gerne +sterben. Erst; wie das Aelteste geboren war, wollte sie das +<pb n="139" /><anchor id="Pg139" />noch gerne laufen sehn; dann hätte sie gern erlebt wie es zum +ersten Mal in die Schule ging; dann war es Frühjahr geworden +und sie hoffte nur noch einmal neue Kartoffeln zu +essen, zu Jacobi aber wollte sie noch einmal von dem Pflaumenbaum +die Früchte kosten, den ihr »Seliger« noch gepflanzt. +Wie der Herbst kam wünschte sie im Frühjahr begraben zu +werden, und die knospenden Maiblumen weckten den Wunsch +nach den Astern, ihrer Lieblingsblume, von denen sie sich +eigenhändig ein schmales Beet in den kleinen Garten dicht am +Hause gepflanzt. So lebt und webt die Hoffnung in unseren +Herzen mit immer neuer, nie sterbender Kraft, und je älter +wir werden, desto mehr lernen wir die schöne Erde lieb gewinnen, +desto mehr klammern wir uns an sie, und wollen +uns gar nicht mehr von ihr trennen.</p> + +<p>Der Tag neigte sich dem Abend zu; der Mann war in +die Stadt gegangen seine Steuern zu zahlen, und Manches +einzukaufen was sie nothwendig im Hause brauchten — zum +Ersatz dafür hatte er das zweite Schwein, das sie bis dahin +gehalten, hineingetrieben, und der Erlös sollte seine Ausgaben +bestreiten.</p> + +<p>Der Regen wurde jetzt wieder heftiger, die großen schweren +Tropfen schlugen gegen das Fenster, und das Kind wurde +vollständig munter und fing an zu schreien. Die Mutter schob +ihr Spinnrad zurück, nahm das Kleine aus der Wiege, und +ging damit trällernd im Zimmer auf und ab. Die Alte spann +indeß ruhig weiter, und suchte mit zitternder leiser Stimme ein +<pb n="140" /><anchor id="Pg140" />geistliches Lied zu singen, und mit dem Rad trat sie den Takt +dazu. Sonst sprach keine ein Wort.</p> + +<p>Endlich wurde die Hausthür geöffnet, Jemand kam von +draußen herein, und strich sich die Füße auf den Steinen und +der Strohdecke ab, und sie hörten gleich darauf wie der zurückkehrende +Vater und Gatte seinen großen rothblauwollenen +Schirm auf die Steine stieß, das Wasser so viel wie möglich +davon abzuschütteln, und den Mantel auszog und über den +großen Schleifstein hing der draußen im Flur stand, wie er +das gewöhnlich that. Die Frau öffnete rasch die Thür den +Mann zu begrüßen, der den Hut abnahm, sich die nassen +Haare aus der Stirn strich, und das Kind küßte, das sie ihm +entgegenhielt.</p> + +<p>»Jesus ist das ein Wetter, Gottlieb,« sagte sie dabei, als +sie ihm den Hut aus der Hand nahm und neben den Ofen an +den Nagel hing, »komm nur herein, daß Du 'was Trockenes +auf den Leib bekommst; wo hast Du denn den Jungen? — ist +er nicht bei Dir?« setzte sie, fast ängstlich, hinzu.</p> + +<p>»Er ist draußen bei Lehmann's hineingegangen, denen +wir ein paar Sachen aus der Stadt mitgebracht,« sagte der +Mann — »wird wohl gleich kommen — wie geht's Frau? — wie +geht's Mutter? — ha, das regnet einmal heute was vom +Himmel herunter will; was nur d'raus werden soll wenn das +Wetter so fort bleibt. Ein paar gute trockene Tage haben wir +gehabt, und jetzt wieder Guß auf Guß — Guß auf Guß, als +ob sie uns unsere paar Stücken Feld noch hinunter in die +Wiesen waschen wollten. Von dem einen Acker ist die Saat +<pb n="141" /><anchor id="Pg141" />schon halb fortgespült — wenn dasmal das Korn misräth, +weiß ich nicht wo der arme Mann das Brod hernehmen soll.«</p> + +<p>»Klag nicht, Gottlieb,« sagte aber die Frau freundlich — »es +geht noch Vielen schlechter wie uns, und was sollen +da die <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ganz</emph> armen Leute sagen. Lieber Gott, es ist viel Noth +in der Welt, und wer heut zu Tage eben sein Auskommen und +ein Dach über dem Kopf hat und gesund ist, sollte sich nicht +versündigen.«</p> + +<p>Sie hatte dabei das Kind auf die Erde gesetzt, holte den +Topf aus der Röhre, in der, trotz der vorgerückten Jahreszeit, +noch ein Feuer brannte, der alten, fröstelnden Mutter wegen, +und goß den darin heiß gehaltenen Kaffee — sie nannten das +braune Getränk von gebrannten gelben Rüben und Gerste wenigstens +so — in die eine braune Kanne, damit sich der Mann, +der den ganzen Tag draußen im Regen herumgezogen war, +daran erquicken könne. Zugleich auch deckte sie ein weißes Tuch +über den Tisch, auf den sie noch Butter und Brod stellte, die +versäumte Mittagsmahlzeit wenigstens in etwas nachzuholen. +Der Mann setzte sich an den Tisch, schenkte sich eine Tasse +Kaffee ein, in den ihm die Frau die Milch goß, und schnitt +sich ein großes Stück Brod ab, das er mit Butter bestrich und +verzehrte. Er sprach kein Wort dabei, und beendete still seine +Mahlzeit, schob dann die Tasse und den Butterteller zurück, +nahm das Kleinste, das die Mutter zu ihm auf die Erde gesetzt +hatte, herauf auf sein linkes Knie, blieb, den rechten Ellbogen +auf den Tisch gestützt, den Kopf gegen die Wand gelehnt, +regungslos sitzen, und schaute still und schweigend nach +<pb n="142" /><anchor id="Pg142" />dem Fenster hinüber, an das die Regentropfen immer noch, +vom Wind draußen gepeitscht, hohl und heftig anschlugen.</p> + +<p>Die Frau hatte ihn eine ganze Zeit lang mit scheuem +Blick betrachtet; es war irgend etwas vorgefallen, aber sie +wagte nicht zu fragen, denn Gottlieb, so seelensgut er auch +sonst sein mochte, hatte doch auch seine »verdrießlichen Stunden« +und war dann, wenn gestört, oft rauh und unfreundlich; +aber eine eigene Angst überkam sie plötzlich. Ihr ältester Sohn — der +Hans — war nicht mit zu Hause gekommen — konnte +dem — heiliger Gott, wie ein Stich traf es sie in's Herz und +sie sprang erschreckt von ihrem Stuhl auf und auf den +Mann zu.</p> + +<p>»Gottlieb — um aller Heiligen Willen wo ist der Hans? — es +ist — es ist ihm doch nicht etwa ein Unglück geschehn?«</p> + +<p>»Der Hans?« sagte der Mann aber ruhig und sah erstaunt +zu ihr auf, »was fällt Dir denn ein? was soll denn +dem Hans zugestoßen sein? ich habe Dir ja gesagt daß er bei +Lehmann's etwas abgegeben hat, und dort wahrscheinlich das +Wetter abwarten wird.«</p> + +<p>»Ich weiß nicht,« sagte die Frau, der dadurch allerdings +eine Centnerlast von der Seele gewälzt wurde — »aber Du +bist so sonderbar heut Abend, so still und ernst, und da schlugs +mir wie ein Schreck in die Glieder, über den Hans. Ist etwas +vorgefallen Gottlieb? — «</p> + +<p>Gottlieb schüttelte den Kopf langsam und sagte. — »Nicht +daß ich wüßte — nichts Besonderes wenigstens, +<pb n="143" /><anchor id="Pg143" />oder nichts Anderes, als was jetzt alle Tage vorfällt — Geld +zahlen.«</p> + +<p>»War es denn so viel?« sagte die Frau leise und +schüchtern.</p> + +<p>Der Mann schwieg einen Augenblick und sah still vor +sich nieder; endlich erwiederte er seufzend:</p> + +<p>»Das Schwein ist d'rauf gegangen, und vier Thaler +Siebzehn Groschen sind immer noch mit Gerichtskosten und der +alten Proceßgeschichte mit der Brückenplanke, mit der ich +eigentlich gar Nichts mehr zu thun hatte, stehen geblieben, und +ich muß sie bis zum ersten Juli nachzahlen, unter Androhung +von Pfändung.«</p> + +<p>»Nun lieber Gott,« sagte die Frau tröstend — »wenn +das das Schlimmste ist, läßt sich's noch ertragen; da verkaufen +wir eben das andere Schwein und behelfen uns so. Wie +wenig Leute im Dorf haben überhaupt eins zu schlachten, und +leben doch; warum sollen wir nicht eben so gut ohne eins +leben können als die.«</p> + +<p>»Ja,« sagte der Mann leise und still vor sich hin brütend — »verkaufen +und immer nur verkaufen, ein Stück nach +dem anderen, und während wo anders die Leute mit jedem +Jahr ihr kleines Besitzthum vergrößern, und für ihre Kinder +etwas zurücklegen können, sieht man es hier mehr und mehr +zusammenschmelzen, unter Müh und Plack das ganze Jahr +lang.«</p> + +<p>»Aber kannst Du's ändern?« sagte die Frau leise und +fuhr, wie der Mann schwieg und mit der Faust die Stirn +<pb n="144" /><anchor id="Pg144" />stützend vor sich nieder starrte, schüchtern fort — »arbeitest Du +nicht von früh bis spät fleißig und unverdrossen? gönnst +Du Dir eine Zeit der Ruhe, wo Dich irgend eine nöthige +Beschäftigung ruft, und haben wir uns etwa das Geringste +vorzuwerfen?«</p> + +<p>»Nein,« sagte der Mann, während er die Hand auf den +Tisch sinken ließ und die Frau voll und fest ansah — »nein, +aber das ist es ja eben, was mir am Leben frißt. Wir können +nicht mehr arbeiten, nicht mehr verdienen wie wir jetzt +thun, und jetzt sind wir noch jung und kräftig, unsere Kinder +noch klein und gesund, und dennoch geht es mit jedem Jahr +zurück, wird es mit jedem Jahr schlechter und schlimmer. Wie +nun soll das werden, wenn uns erst einmal Krankheit heimsuchte, +wenn die Kinder heranwachsen und mehr brauchen, +wenn wir selber älter werden und nicht mehr so zugreifen +können wie jetzt? — Schon jetzt können wir uns nicht mehr +in der theueren Zeit oben halten — das eine Schwein ist verkauft, +das andere wird noch fort müssen; unser Acker ist kleiner +geworden in den letzten zehn Jahren, unsere Bedürfnisse +aber sind gewachsen — wie soll das enden?«</p> + +<p>»Aber Gottlieb,« sagte die Frau freundlich — »wie +kommen Dir jetzt doch nur solche Grillen? haben Dir die paar +Thaler Steuern den Kopf verdreht? Mann, Mann, Du bist +doch sonst so ruhig, und hast immer vertrauungsvoll in die +Zukunft gesehn, wie sind Dir auf einmal solche schwarze Gedanken +durch den Sinn gefahren?«</p> + +<p>Die alte Mutter hatte, schon so lange wie die Beiden +<pb n="145" /><anchor id="Pg145" />mit einander gesprochen, ihr Spinnrad ruhen lassen, und dem +Gespräch aufmerksam zugehört; dabei schüttelte sie fortwährend +mit dem Kopf, und sagte endlich mit ihrer schrillen, scharf +klingenden Stimme:</p> + +<p>»Ja wohl, ja wohl — das Geld wird rar und das Brod +theuer, und mehr Mäuler kommen — mehr Mäuler sind da +zum Verzehren, wie zum Verdienen. Schlagt mich todt; +schlagt mich todt daß ich weg komme aus dem Weg und Euch +Platz mache — schlagt mich todt.«</p> + +<p>»Mutter,« bat die Frau, in Todesangst daß sie dem +Manne mit solcher Rede wehe thun würde, denn <emph rend="letter-spacing: 0.20em">er</emph> gerade +hatte sie immer auf das Freundlichste behandelt, und Alles +gethan was in seinen Kräften stand, ihr jede Erleichterung, +die ihr Alter bedurfte, zu verschaffen — »wie dürft Ihr nur +so etwas reden; versündigt Ihr Euch denn nicht?«</p> + +<p>»Wir haben noch genug für uns Alle Mutter,« sagte +aber der Mann freundlich, der ihre Launen kannte und der +alten Frau nicht wehe thun mochte — »nur für spätere Zeit +ist mir bange; Sie aber wären die Letzte die darunter leiden +sollte. Wir werden Alle alt, und wenn wir unsere Schuldigkeit +in unserer Jugend gethan, wie Sie, dann ist es nicht +mehr wie Pflicht und Schuldigkeit der Jüngeren für ihre +Eltern zu sorgen — wenn sie nicht auch einmal wieder von +ihren Kindern wollen verlassen werden.«</p> + +<p>Die Alte war wieder still geworden, sah noch eine Zeit +lang vor sich nieder, und begann dann auf's Neue ihre Arbeit, +<pb n="146" /><anchor id="Pg146" />aber die Frau fuhr fort und sagte, fast mit einem leisen Vorwurf +im Ton zu ihrem Mann.</p> + +<p>»Siehst Du Gottlieb, das hast Du nun davon mit Deinen +trüben und traurigen Ideen; Du machst Dir und mir und +der Mutter nur das Herz schwer, und nützest und hilfst doch +Nichts. Der liebe Herr Gott da oben wird's schon machen +und lenken; Er hat die Welt so viele Jahrhunderte hindurch +in ihrer Bahn gehalten, und die Menschen darauf geschirmt +und gepflegt, wie unser Herr Pastor sagt, Er wird's auch +schon weiter thun, und wir dürfen uns eigentlich gar nicht +sorgen und kümmern um den »nächsten Tag.«</p> + +<p>»Doch, doch Frau,« sagte aber der Mann, aufstehend +und jetzt, die Hände in den Hosentaschen, in der Stube auf +und ab gehend — »doch Frau, der Mann <emph rend="letter-spacing: 0.20em">muß</emph>, denn wenn +er's <emph rend="letter-spacing: 0.20em">nicht</emph> thäte, wär er ein schlechter Hausvater, und ihm +allein fielen dann all die schweren Folgen zur Last, die daraus +entständen. Ich kann Dir das nicht so mit Worten deutlich +machen, wie mir's neulich der Schulmeister, mit dem ich +darüber sprach, erklärte, aber der meinte es wäre etwa so wie +wenn Einer im Wasser wäre. Da sei es auch nicht genug daß +man sich oben hielte an der Luft, und im Kreis herum schwämme +eben nur nicht zu ertrinken, das thäte nicht einmal ein unvernünftiges +Stück Vieh; nein des Menschen, des verständigen +Menschen Pflicht sei es sich schon im Wasser nach dem festen +Lande umzusehn, ob man das nirgends erreichen könne, denn +zuletzt würde man da im Wasser, man möchte noch so tapfer +schwimmen, doch müde, und ließen erst einmal die Kräfte +<pb n="147" /><anchor id="Pg147" />nach, dann hülfe auch zuletzt das Schwimmen Nichts mehr, +und man sänke eben langsam zu Boden.«</p> + +<p>»Ich verstehe nicht recht was Du damit meinst,« sagte +die Frau, »aber Du siehst mich so sonderbar dabei an — hast +Du noch 'was anderes dahinter?«</p> + +<p>»Nein und Ja,« sagte der Mann nach kleiner Pause, +indem er sich mit dem Rücken an den Ofen lehnte, und langsam +dazu mit dem Kopfe nickte, »eigentlich nicht, denn Gott da +oben weiß daß es wahr ist, und weiß wie, und ob's einmal +enden kann; aber dann — dann hab' ich allerdings noch was +dahinter, denn ich meine — ich meine — « er schwieg und es +war augenscheinlich, er hatte etwas auf dem Herzen, das er +sich scheue so mit blanken klaren Worten heraus zu sagen, die +Frau aber, die eben damit beschäftigt war das Geschirr hinaus +zu räumen, setzte die Kanne wieder auf den Tisch, sah den +Mann erstaunt an, ging dann langsam zu ihm an den Ofen +und sagte leise, vor ihm stehen bleibend:</p> + +<p>»Geh her, Gottlieb — Du hast 'was, was Dich drückt +und willst nicht mit der Sprache heraus — es ist irgend noch +etwas vorgefallen in der Stadt, was Du nicht sagen magst. +Du darfst doch nicht <emph rend="letter-spacing: 0.20em">sitzen</emph>?«</p> + +<p>»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Sitzen</emph>? — weshalb?« lächelte der Mann kopfschüttelnd — »ich +habe nie etwas Böses gethan.«</p> + +<p>»Nun was ist's denn, so sprich doch nur, denn Du ängstigst +mich ja mehr mit Deinem Schweigen, als wenn Du mir +das Schlimmste gleich vornheraus erzählst — dem Hans fehlt +doch Nichts?«</p> + +<p><pb n="148" /><anchor id="Pg148" />»Was soll dem Hans fehlen, närrische Frau — wenn's +aufhört zu gießen wird er schon kommen.«</p> + +<p>»Und was ist's denn? — gelt, Du sagst mir's?«</p> + +<p>»Ich muß Dir's wohl sagen;« seufzte der Mann, »nun +sieh Hanne, ich meine — ich habe so darüber nachgedacht, daß +es jetzt hier in Deutschland immer schlechter wird mit uns — und +daß wir's zu Nichts mehr bringen können, trotz aller Arbeit, +trotz allem Fleiß, und daß jetzt — daß jetzt doch so viele +Menschen hinüber ziehen — «</p> + +<p>»Hinüber ziehen?« frug die Frau erstaunt, fast erschreckt, +und legte die Hand fest auf's Herz, als ob sie die aufsteigende +Angst und Ahnung über etwas Großes, Schreckliches da +hinunter und zurückdrücken wolle, eh sie zu Tage käme — »wo +hinüber Gottlieb?«</p> + +<p>»Nach Amerika;« sagte der Mann leise — so leise daß +sie das Wort wohl nicht einmal verstand, und nur an der +Bewegung der Lippen es sah und errieth. Wie ein Schlag +aber traf sie die Wirklichkeit ihres Verdachts, und ohne ein +Wort zu erwiedern, ohne eine Sylbe weiter zu sagen, setzte sie +sich auf den, dicht am Ofen stehenden Stuhl, deckte ihr Gesicht +mit der Schürze zu und saß eine lange, lange Weile still und +regungslos. Auch der Mann wagte nicht zu sprechen — er +hatte den Gedanken wohl schon eine Zeit lang mit sich herumgetragen, +aber sich immer davor gefürchtet ihm Worte zu geben, +sogar gegen sich selbst, wie viel weniger denn gegen die +Frau. Jetzt war es heraus, und er betrachtete nur scheu die +Wirkung die er hervorgebracht.</p> + +<p><pb n="149" /><anchor id="Pg149" />Auch die alte Mutter saß, mit der Hand auf dem Rad +das sie im Drehen aufgehalten, und horchte nach den Beiden +hinüber, was sie mitsammen hatten, und wie die so still waren +und kein Wort mehr sprachen, mochte es ihr auch unheimlich +vorkommen und sie sagte laut und mürrisch:</p> + +<p>»Nun Gottlieb was giebt's — was hast wieder Du mit +der Hanne — was habt Ihr denn daß Ihr so still und heimlich +thut — macht Einem nicht auch noch Angst unnützer Weise — was +ist nun wieder los?«</p> + +<p>»Ja Mutter,« sagte der Mann jetzt, der sich gewaltsam +Muth faßte über das, was nun doch nicht länger mehr verschwiegen +bleiben konnte und besprochen werden <emph rend="letter-spacing: 0.20em">mußte</emph>, auch +laut zu reden, daß er's vom Herzen herunter bekam — »es +geht mit uns hier den Krebsgang, und ich habe eben zu Hannen +gesagt daß uns zuletzt nichts anderes übrig bleiben würde +als — als es eben auch wie andere zu machen, und — «</p> + +<p>»Und? — und was zu machen?« frug die alte Frau +gespannt — </p> + +<p>»Als <emph rend="letter-spacing: 0.20em">auszuwandern</emph>,« sagte der Mann mit einem +plötzlichen Ruck und seufzte dann tief auf, als ob er selber froh +wäre es los zu sein.</p> + +<p>»Herr Du meine Güte!« rief die alte Frau, ließ die +Hände erschreckt in den Schooß sinken und lehnte sich in ihren +Stuhl zurück, während ihr alle Glieder am Leibe flogen — »Herr +Du meine Güte!« wiederholte sie noch einmal, und die +Finger falteten sich unwillkürlich zusammen, so hatte sie der +Schreck getroffen.</p> + +<p><pb n="150" /><anchor id="Pg150" />»Auswandern,« sagte aber auch jetzt Gottliebs Frau mit +tonloser Stimme, und ließ die Schürze vom Gesicht herunterfallen — »auswandern, +das ist ein schweres — schweres +Wort Gottlieb — hast Du Dir das auch recht — recht +reiflich überlegt?«</p> + +<p>»Tag und Nacht die ganze letzte Woche hindurch,« rief +aber der Mann, der jetzt, da das Eis einmal gebrochen war, +wieder Leben und Wärme gewann. »Wie ein Mühlstein hat's +mir auf der Seele gelegen, und ich habe lange und tapfer dagegen +angekämpft, aber es wäre das Beste für uns, was wir +auf der weiten Gotteswelt thun könnten; und wenn auch nicht +einmal für uns, wenn wir selber auch schwere und bittere +Zeiten durchzumachen hätten, doch für die Kinder, die einmal +den Segen erndten, den wir mit unserem Schweiß, unseren +Thränen gesäet.«</p> + +<p>»Auswandern? ja,« sagte aber jetzt die Großmutter, mit +dem Kopfe nickend und schüttelnd, als ob sie den schrecklichen +Gedanken wieder von sich abwerfen wollte — »ja wohin es +euch lüstet, aber erst wenn ich todt bin. Die paar Tage +müßt Ihr noch hier bleiben die ich noch zu leben habe, oder +sonst schlagt mich todt, werft mich in's Wasser, oder schlagt +mich mit dem Beil auf den Kopf daß ich fortkomme, und hier +auf dem Kirchhof unter der alten Linde liegen kann, wo der +Leberecht liegt. In der Welt könnt Ihr mich doch nicht mehr +umherschleppen, und nutz bin ich auch Nichts mehr, wie das +mit zu verzehren was andere verdienen. Wenn Ihr jetzt fort +wollt schlagt mich vorher todt.«</p> + +<p><pb n="151" /><anchor id="Pg151" />»Ach Mutter wenn Sie nur nicht gar so häßlich reden +wollten,« sagte die Frau traurig, während der Mann wieder +zum Tisch ging, sich dort auf den Stuhl setzte, und den Kopf +in die Hand stützte — »Sie sind noch wohl und rüstig und +werden, will's Gott, noch manches Jahr leben und sich +Ihrer Kinder freuen. Wo die dann hin ziehen und sich ihr +Brod suchen müssen, da gehören Sie auch hin, und was +die verdienen, das haben Sie auch verdient mit Mühe +und Noth und banger Sorge schon vor langen Jahren, +wie wir noch klein und unbehülflich waren, wie unsere +Kinder jetzt.«</p> + +<p>»Wozu mich mitnehmen,« sagte aber die Frau, störrisch +dabei mit dem Oberkörper herüber und hinüber schwankend, +»unterwegs müßtet Ihr mich doch aus dem großen Schiff +hinaus in's Wasser werfen, die Fische zu füttern. Bleibe im +Lande und nähre Dich redlich, das ist <emph rend="letter-spacing: 0.20em">mein</emph> Spruch und +meines Leberecht Spruch von alter Zeit her gewesen, und wir +haben uns wohl dabei befunden, aber das junge Volk jetzt +will immer alles anders haben, will oben zur Decke 'naus und +fliegen und schwimmen, anstatt hübsch auf der Erde und im +alten Gleis zu bleiben. Warum ist's denn früher gegangen? — nein +Gott bewahre, jetzt soll Alles mit Eisenbahnen und +Dampf gehen und keine Geduld, keine Ausdauer mehr; nur +fort, immer gleich fort, in die Welt hinein und mit dem Kopf +gegen die Wand — schlagt mich todt, dann seid Ihr mich los +und könnt hingehn wohin Ihr wollt.«</p> + +<p>Und die alte Mutter stand auf, rückte ihr Spinnrad bei<pb n="152" /><anchor id="Pg152" /> +Seite, und humpelte, noch immer vor sich hin murmelnd und +grollend, aus der Stube hinaus.</p> + +<p>»Sie meint es nicht so bös, Gottlieb,« sagte die Frau +zu dem Mann tretend und ihre Hand auf seine Schulter +legend, »es ist eine alte Frau die an ihrer Heimath mit ganzem +Herzen hängt und sich vor der Reise fürchtet.«</p> + +<p>»Und Du nicht, Hanne?« rief der Mann sich rasch nach +ihr umdrehend, und ihre Hand ergreifend — »Du nicht? Du +würdest Dich dazu entschließen können unsere Heimath hier, +unser Häuschen, unser Feld zu verlassen, und mit mir und +den Kindern über das weite Meer zu fahren, in eine fremde +Welt?«</p> + +<p>Die Frau schwieg und ihre Hand zitterte in der des +Mannes — endlich sagte sie leise — +»So weit fort? — und muß es denn sein, ist es denn +gar nicht möglich mehr, daß wir hier gut und ehrlich durchkommen +durch die Welt, wenn wir uns auch ein Bischen +knapper einrichten wie bisher? Ach Gottlieb, es ist gar hart +so von zu Hause fortzugehn, die Thür zuzuschließen und zu +denken daß man nun nie und nimmer wieder dahin zurückkommt — «</p> + +<p>Der Mann nickte traurig mit dem Kopf und sagte +endlich:</p> + +<p>»Du hast recht Hanne; es ist ein schwerer, recht schwerer +Schritt, und man sollte ihn sich wohl vorher überlegen ehe +man ihn thut, denn zurück kann man nicht wieder, wenn man +nicht wenigstens Alles opfern will, was Einem bis dahin +<pb n="153" /><anchor id="Pg153" />noch zu eigen gehört hat. Thun wir aber recht nur allein +an uns zu denken? — Sieh, wir schleppen uns vielleicht +noch wenn auch kümmerlich, doch ehrlich, durch, bis wir einmal +sterben, und wenn es auch hart ist, daß es Einem nachher +im Alter schlechter gehn soll wie in der Jugend, brauchten +wir doch gerade keine Furcht zu haben daß wir verhungerten; +aber die Kinder — die Kinder — was wird aus denen? Unser +kleines Grundstück ist die Jahre über kleiner und kleiner +geworden; mit dem Geschäft geht's auch kümmerlicher wie +bisher — neue, geschicktere Arbeiter, junge Burschen die noch +keine Familie haben und weniger brauchen, sitzen in den Dörfern +herum, und die Fabriken und Maschinen geben uns ohnedies +den Todesstoß. Stahl und Holz braucht Nichts zu essen +und arbeitet unermüdet Tag und Nacht durch, und die Räder +und Walzen und Hämmer klopfen und drehen und schwingen +ununterbrochen fort gegen den Schweiß des armen Arbeiters +der darüber zu Grunde geht. Ich murre auch nicht darüber, +es muß wohl schon so recht sein, denn Gott hat's den Menschen +selber gelehrt und die Welt muß vorwärts gehn — wir +älteren Leute können uns aber eben nicht mehr darein schicken, +können nichts Anderes mehr ergreifen, und wieder von vorne +anfangen, wenigstens hier im Lande nicht wo Einem die +Hände nach allen Seiten hin gebunden sind, und darum ist +mir der Gedanke gekommen auszuwandern. Da drüben +über dem Weltmeere hat der liebe Herr Gott noch einen großen +gewaltigen Fleck Erde liegen, für uns arme Leute bestimmt, +den Maschinen und Räderwerken zu entgehn; dort haben wir<pb n="154" /><anchor id="Pg154" /> +Platz uns zu bewegen, und wer nur da ordentlich arbeiten +will hat nicht allein zu leben, sondern kann auch vielleicht für +sich und die Kinder was vorwärts bringen und braucht sich +nicht mehr vor der Zukunft zu fürchten und vor Hunger und +Noth. Wenn wir nicht auswandern, was bleibt unsern +Kindern da einmal anders übrig, als in Dienst zu gehn und +sich bei fremden Leuten doch herumzuschlagen ihr Lebelang.«</p> + +<p>»Und die Mutter?« sagte die Frau, sich ängstlich nach +der Thüre umsehend — »was würde aus der alten Frau auf +dem Meere?«</p> + +<p>»Was aus so vielen alten Frauen da wird, liebes Herz,« +sagte aber der Mann, augenscheinlich mit froherem, freudigeren +Herzen, als er bei dem eigenen Weib nicht den Widerstand +fand, den er vielleicht gefürchtet — »sie gewöhnen sich an das +neue Leben, sobald sie das alte nicht mehr um sich sehen, und +die Seeluft soll kräftigen und stärken.«</p> + +<p>»Aber sie wird nicht mit uns wollen.«</p> + +<p>»Sie wird ihre Kinder nicht verlassen,« tröstete sie der +Mann, »und ohne sie dürften wir ja auch gar nicht fort.«</p> + +<p>Die Frau reichte ihm schweigend die Hand, die er herzlich +drückte, und wandte sich dann, und wollte eben das Zimmer +verlassen, als draußen Jemand die Thür aufriß und in +das Haus trat. Das Unwetter hatte jetzt seinen höchsten +Grad erreicht, und der Regen schlug in ordentlichen Güssen +gegen die Fenster an, während der Wind die Wipfel der +Bäume herüber und hinüber schüttelte und die Blüthen von +den Zweigen riß mit rauher Hand.</p> + +<p rend="page-float: 'htb'; text-align: center"> +<figure url="images/illu004.jpg" rend="w50"> +<figDesc>Capitel 6</figDesc> +</figure> +</p> + +<pb n="155" /><anchor id="Pg155" /> +<p>»Schönen Gruß mit einander,« sagte dabei eine rauhe +Stimme, während die Stubenthür halb geöffnet wurde — »darf +man hinein kommen?«</p> + +<p>»Gott grüß Euch,« sagte die Frau — »kommt nur herein, +bei dem Wetter ist's bös draußen sein — es tobt ja, als ob +der letzte Tag hereinbrechen sollte.«</p> + +<p>Der Fremde hing seinen Hut und Mantel draußen ab und +trat mit nochmaligem Gruß in die Stube.</p> + +<p>»Gott grüß Euch,« sagte auch Gottlieb — »da, nehmt +Euch einen Stuhl und setzt Euch zum Ofen; es ist heut unfreundlich +draußen, und man kann ein Bischen Feuer brauchen.«</p> + +<p>»Sauwetter verdammtes,« fluchte der Mann, als er der +Einladung Folge geleitet und sich die nassen Haare aus der +Stirne strich — »ich wollte erst sehen daß ich die Schenke erreichte; +hier um die Ecke herum kam der Wind aber so gepfiffen +daß er mich bald von den Füßen hob, und es war gerade +als ob sie Einem von da oben einen Eimer voll Wasser nach +dem andern entgegen gossen. Schönes Wetter für Enten, aber +für keine Menschen.«</p> + +<p>Es war eine rauhe, kräftige Gestalt, der Mann, mit +krausem dicken schwarzen Bart und ein paar tiefliegenden unstäten +Augen, in einen groben braunen Tuchrock gekleidet, wie +ihn die Fleischer nicht selten auf dem Lande tragen. Die ebenfalls +braunen Hosen hatte er dabei heraufgekrempelt, bis fast +unter das Knie, mit seinen derben Wasserstiefeln besser durch +alle Pfützen und Schlammwege hindurch zu können; die aus +ungeborenem Kalbfell gemachte Weste war ihm bis an den<pb n="156" /><anchor id="Pg156" /> +Hals hinauf zugeknöpft, und eine lange silberne Kette, an der +die in der Westentasche steckende Uhr befindlich war, hing ihm +darüber hin.</p> + +<p>»Ihr seid wohl weit von hier zu Haus?« frug Gottlieb +nach einer längeren Pause, in der er den Mann und dessen +Aeußeres flüchtig nur betrachtet hatte — »hab' Euch wenigstens +noch nicht hier bei uns gesehen.«</p> + +<p>»Zehn Stunden etwa,« sagte der Fremde, seine Pfeife +jetzt aus der Brusttasche seines Rockes nehmend und mit Stahl +und Schwamm, den er bei sich führte, entzündend — »wie +weit ist's noch bis Heilingen.«</p> + +<p>»Eine tüchtige Stunde — wenn der Weg jetzt nicht so schrecklich +wäre, könnte man's recht bequem in kürzerer Zeit gehn.«</p> + +<p>»Hm — ist noch verdammt weit, puh wie das draußen +stürmt; und die Pflaumenblüthen pflückt's beim Armvoll herunter — Pflaumenmuß +wird theuer werden nächsten Herbst.«</p> + +<p>»Das weiß Gott,« sagte Gottlieb — »es wird Alles +theuer, immer mehr jedes Jahr, langsam aber Sicher.«</p> + +<p>»Bah, es geschieht denen recht die hier bleiben, wenn sie +nicht hier bleiben müssen; 's giebt Plätze die besser sind.«</p> + +<p>»Wollt Ihr auch auswandern?« sagte Gottlieb rasch.</p> + +<p>»Auswandern? — nach Amerika? — hm — ich weiß +noch nicht,« brummte der Fremde, sich den Bart streichend — +»es wäre aber möglich daß sie Einen noch dazu trieben. Sind +das Euere Kinder?«</p> + +<p>»Ja. — «</p> + +<p>»Habt Ihr noch mehr?«</p> + +<p><pb n="157" /><anchor id="Pg157" />»Noch einen Jungen von elf und ein halb Jahr.«</p> + +<p>»Und Ihr seid ein Weber?« sagte der Fremde mit einem +Blick auf den Webstuhl — »auch schwere Zeiten für derlei Arbeit, +mit einer Familie durchzukommen.«</p> + +<p>»Ja wohl, schwere Zeiten,« seufzte Gottlieb, als in diesem +Augenblick die Thür draußen wieder aufging und die +Mutter laut ausrief: — </p> + +<p>»Der Hans, lieber Himmel kommt der in dem Wetter.«</p> + +<p>Es war Hans, der älteste Sohn des Webers, durch und +durch naß, aber mit frischem gesunden Gesicht und rothen +Backen, auf denen das Regenwasser in großen Perlen stand.</p> + +<p>»Guten Tag mit einander,« sagte er, als er in's Zimmer +trat und die triefende Mütze vom Kopf riß — »guten +Tag Mutter.«</p> + +<p>»Guten Tag Hans, aber wo um Gottes Willen kommst +Du in dem Regen her; warum hast Du das Wetter nicht bei +Lehmann's abgewartet?«</p> + +<p>»Es wurde mir zu spät Mutter und ich war hungrig +geworden; habe auch noch heute Abend dem Vater etwas zu +helfen.«</p> + +<p>»Ein derber Junge,« sagte der Fremde, der sich den +Knaben indeß mit finsterem Blick betrachtet hatte — »kann +wohl schon ordentlich mit arbeiten.«</p> + +<p>»Ach ja, er packt tüchtig mit zu,« sagte der Vater — »lieber +Gott in jetziger Zeit muß Alles mit Brod verdienen +helfen.«</p> + +<p>»Die Kinder fressen Einen arm,« sagte der Fremde.</p> + +<p><pb n="158" /><anchor id="Pg158" />»Habt Ihr Kinder?« frug Gottlieb.</p> + +<p>»Ich? — hm, ja,« sagte der Fremde nach einer Pause — »könnte +noch Jemandem abgeben davon.«</p> + +<p>»Ich möchte keins hergeben,« sagte die Frau rasch, und +küßte das Jüngste, das sie eben wieder aufgenommen hatte +um es zu füttern, »Kinder sind ein Segen Gottes.«</p> + +<p>»Ja — so sprechen die Leute wenigstens,« sagte der +Fremde trocken, »aber ich glaube es läßt nach mit Regnen; ich +werde die Schenke wohl jetzt erreichen können.«</p> + +<p>»Wollt Ihr nicht vielleicht erst eine heiße Tasse Kaffee +trinken?« frug die Frau, das Kind auf dem linken Arm, zum +Ofen gehend, die dort warmgestellte Kanne wieder vorzuholen.</p> + +<p>»Danke, danke,« sagte aber der Fremde abwehrend — »kann +das warme Zeug nicht vertragen; ein Glas Branntwein +ist mir lieber.«</p> + +<p>»Das thut mir leid,« sagte der Mann, »den kann ich +Euch nicht anbieten; ich habe keinen im Hause.«</p> + +<p>»Thut auch Nichts,« lachte der Fremde; »so lange halt +ich's schon noch aus. Sind doch hülflose Dinger so junge Menschen, +ehe sie die Kinderschuh ausgetreten haben,« setzte er +dann hinzu, als das Jüngste das Mäulchen nach dem schon +einmal gereichten Löffel vorstreckte — »was machte nun so ein +jung Ding, wenn man es hinsetzte und sich selber überließe.«</p> + +<p>»Ach Du lieber Gott,« sagte die Frau bedauernd — »so +ein armer Wurm müßte ja elendiglich umkommen.«</p> + +<p>»Bis den Nachbarn das Geschrei zu arg würde und sie +kämen und es fütterten,« lachte der Andere.</p> + +<p><pb n="159" /><anchor id="Pg159" />»Dafür haben die Kinder Eltern,« sagte die Frau, das +kleine, die Aermchen zu ihr ausstreckende Mädchen liebkosend +und küssend, »die sorgen schon dafür daß kein Nachbar danach +zu sehen braucht.«</p> + +<p>»Wenn die aber einmal plötzlich stürben, wie dann?« +frug der Fremde, mit einem Seitenblick auf die Frau, indem +er seinen Rock wieder zuknöpfte und sich zum Gehen rüstete.</p> + +<p>»Dann ist Gott im Himmel,« sagte Hanne, mit einem +frommen vertrauungsvollen Blick nach oben.</p> + +<p>»Ja, das ist wahr;« sagte der Fremde mit einem leichtfertigen +Lächeln, »der hat allerdings die große Kinderbewahranstalt. +Aber es hat wirklich aufgehört mit Gießen,« unterbrach +er sich rasch, »den Augenblick will ich doch lieber benutzen. +So schön Dank für gegebenes Quartier Ihr Leute, +und gut Glück.«</p> + +<p>»Bitte, Ihr habt für Nichts zu danken, behüt' Euch +Gott,« sagte Gottlieb freundlich.</p> + +<p>»Behüt' Euch Gott;« sagte auch die Frau, und der Mann, +ihnen noch einmal zunickend, nahm draußen wieder den nassen +Mantel um, drückte sich den breiträndigen Hut in die Stirn, +griff einen derben Knotenstock, der daneben in der Ecke lehnte, +auf, und verließ rasch das Haus, die Richtung nach der +Schenke einschlagend.</p> + +<p>»Mich freut's daß er fort ist,« sagte die Frau, die dem +Knaben gerade das Essen auf den Tisch setzte und den Kaffee +einschenkte — »bewahr uns Gott, was hatte der Mann für +ein finstres Gesicht und ein barsches Wesen; nicht schlafen +<pb n="160" /><anchor id="Pg160" />könnt' ich die Nacht, wenn ich den unter einem Dach mit mir +wüßte. In dem Gesicht liegt auch nichts Gutes — und wie +er fluchte und über die Kinder sprach — ob er nur wirklich +selber welche hat.«</p> + +<p>»Er sagt's ja,« bestätigte Gottlieb — »aber mir schien's +ein Fleischer zu sein, seinem Gewerbe nach, und die sind immer +rauh und derb, meinen's aber nicht immer so bös.«</p> + +<p>»So bess're ihn Gott,« sagte die Frau mit einem Seufzer, +»und je seltener er unseren Weg kreuzt, desto besser.«</p> +</div> +<div rend="page-break-before: always"><pb n="161" /><anchor id="Pg161" /> +<index index="toc" level1="Nach Amerika" /> +<index index="pdf" level1="Nach Amerika" /> +<index index="pdb" level1="Nach Amerika" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 7.</head> +<head rend="text-align: center">Nach Amerika.</head> +<p>»Nach Amerika!« — Leser, erinnerst Du Dich noch der +Märchen in »Tausend und eine Nacht«, wo das kleine Wörtchen +»Sesam« dem, der es weiß, die Thore zu ungezählten Schätzen +öffnet? hast Du von den Zaubersprüchen gehört, die vor alten +Zeiten weise Männer gekannt, Geister heraufzurufen aus ihrem +Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar +zu machen? — Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe +schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im Munde des +Volkes erhalten, Blitz und Donner zusammen, die Erde bebte, +und das kecke, tollkühne Menschenkind das sie gesprochen, bebte +zurück vor der furchtbaren Gewalt die es heraufbeschworen.</p> + +<p>Die Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem +Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder +wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergessen sie zu rufen — aber +ein anderes dafür gefunden, das kaum minder stark +<pb n="162" /><anchor id="Pg162" />mit <emph rend="letter-spacing: 0.20em">einem</emph> Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, den +Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen +und Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reißt, +in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern +treulich festgehalten.</p> + +<p>»Nach Amerika,« leicht und keck ruft es der Tollkopf +trotzig der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine +Kraft prüfen sollte, seinen Muth stählen — »nach Amerika,« +flüstert der Verzweifelte der hier am Rand des Verderbens dem +Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde — »nach +Amerika,« sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher +Kraft und doch immer und immer wieder vergebens, +gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein +»tägliches Brod« mit blutigem Schweiß gebeten — und es +nicht erhalten, der keine Hülfe für sich und die Seinen hier +im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln <emph rend="letter-spacing: 0.20em">will</emph>, nicht stehlen +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">kann</emph> — »nach Amerika« lacht der Verbrecher nach glücklich +verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, +die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts — »nach +Amerika,« jubelt der Idealist, der wirklichen Welt +zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über den Ocean drüben +ein Bild erhoffend, das dem, in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht — »nach Amerika« und mit dem einen Wort +liegt hinter ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, +Wirken, Schaffen — liegen die Bande die Blut oder Freundschaft +hier geknüpft, liegen die Hoffnungen die sie für hier gehegt, +die Sorgen die sie gedrückt — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">»nach Amerika!«</emph></p> + +<p><pb n="163" /><anchor id="Pg163" />So gährt und keimt der Saame um uns her — hier +noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, +dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der +reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer +draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain der ihn +zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so +schwer geärgert, und der im Geist schon die langen geraden +Furchen zieht, weit über dem Meer drüben, in dem fetten, +herrlichen Land; — der Handwerker in seiner Werkstatt, dem +sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt mit Neuerungen +und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen +Kunden die ihm bis dahin noch geblieben in <emph rend="letter-spacing: 0.20em">seine</emph> Thür zu +locken; der Künstler in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, +der über einer freieren Entwickelung brütet, und von einem +Lande schwärmt wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und +Hände binden; — der Kaufmann hinter seinem Pult, der +Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern +zieht und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von +einem neuen, andern Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, +von reich gefüllten Waarenhäusern träumt; in Tausenden von +ihnen drängt's und treibt's und quält's, und wenn sie auch +noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe +wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke schon — ein +stiller aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über +das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arzenei, neues +Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und +weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht nicht errathen +<pb n="164" /><anchor id="Pg164" />soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding — nach +Leuten die vordem »hinüber« gezogen und denen es gut gegangen — nach +Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk — für +Andere natürlich, nicht für sich etwa — sie lachen bei +dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein entfernter +Verwandter oder naher Freund, sie wünschen daß es +dem wohl geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich +selber auf.</p> + +<p>So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner +ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter +den <foreign rend="font-style: italic">salto mortale</foreign> gethan, und Alles hinter sich gelassen, +was ihm einst lieb und theuer war — aus dem, aus +jenem Grund — und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, +von denen wir im Leben nie geglaubt daß <emph rend="letter-spacing: 0.20em">sie</emph> je an +Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind, mit Hab' und +Gut hinüberziehn. Und <emph rend="letter-spacing: 0.20em">dort</emph>? — noch liegt ein dichter +Schleier über ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne scheint +ja überall — Dir aber lieber Leser, greif ich aus dem Leben +noch hie und da ein paar Freunde heraus, die wir begleiten +wollen auf dem weiten Weg.</p> + +<milestone unit="tb" rend="stars: 5" /> + +<p>Oben in der Brandstraße — nicht weit vom Brandthor +entfernt, und dem Gasthaus zum Löwen schräg gegenüber, +wohnte Professor Lobenstein mit seiner Familie, in der ersten +Etage eines, zwar sehr alten, aber auch sehr wohnlich eingerichteten +Hauses, das ihm eigen gehörte.</p> + +<p><pb n="165" /><anchor id="Pg165" />Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen +Seite der »besseren Jahre«, etwa einundfünfzig alt, aber rüstig +und gesund, nur erst mit einzelnen grauen Haaren zwischen +den rabenschwarzen Locken, die ihm über die bleiche, aber hohe +und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast jugendlichem, elastischem +Gang und Wesen. Ein tüchtiger Kopf dabei, hatte er +<foreign rend="font-style: italic">jura</foreign> und <foreign rend="font-style: italic">cameralia</foreign> studirt, und einen großen Schatz von +Kenntnissen aufgehäuft; auch in manchem, mit schweren mühsamen +Nachtwachen erkauften Werk der Welt, der undankbaren +Welt das Resultat seiner Studien und Forschungen gebracht +und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg, und der kalten +Aufnahme die es gefunden, wandte er sich später wieder +von den bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz +ab und allein seinem Lieblingsstudium den Cameralien zu, in +denen er besonders der Gewerbskunde seine Thätigkeit widmete, +auch mit einem Buchhändler in Heilingen eine Gewerbszeitung +gründete und herausgab.</p> + +<p>Hierin hatte er Unglück; der Buchhändler machte bankerott +und er übernahm die Zeitung, mit ziemlich großen Verlusten +schon, allein.</p> + +<p>So vortrefflich aber Professor Lobenstein in der Theorie +seiner Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest +war er es in der Praxis, und seine Zeitung wollte und wollte +keinen Boden gewinnen. Mit fabelhaftem Fleiß suchte er dem +zu begegnen, umsonst — umsonst auch daß er Capital nach +Capital in das, zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene +Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypo<pb n="166" /><anchor id="Pg166" />thek +und mit einer höchst ungünstigen politischen Periode, in +der ihm eine große Anzahl Abonnenten absprang, trafen ihn +auch so bedeutende pecuniäre Verluste, daß er sich endlich genöthigt +sah sein Blatt vollständig aufzugeben. Es war das +das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht.</p> + +<p>Professor Lobenstein hatte eine ziemlich starke Familie, +eine Frau, zwei erwachsene Töchter von siebzehn und zwanzig +Jahren, einen Sohn von achtzehn, und zwei kleinere Kinder, +einen Knaben von acht und ein Mädchen von sieben Jahren. +Wenn auch nicht in Reichthum doch in einem gewissen Wohlstand +erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort +»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Nahrungssorgen</emph>« fremd geblieben; der Professor hatte +immer, was man so nennt, ein Haus gemacht, und sich in +einem Umgangskreis bewegt, der ihnen schon an und für sich +eine gewisse Verpflichtung auferlegte Manches mitzumachen, +was seinen, sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht Bedürfniß +schien. Das Alles sollte, ja <emph rend="letter-spacing: 0.20em">mußte</emph> sich jetzt ändern, +denn wenn er auch aus den Trümmern seines Vermögens, +nach allen erlittenen Verlusten, einen kleinen Theil zu retten +vermochte, genügte der nicht, das bisherige Leben fortzuführen. +Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem +eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen, und sich +und den Seinen schwere und ungewohnte Entbehrungen +an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn Alles und Jedes an +frühere und bessere Zeiten erinnerte oder — es war eine +schwere Stunde in der ihm das Bild zum ersten Mal vor die +Seele stieg — in einem anderen Welttheil, ungekannt, aber +<pb n="167" /><anchor id="Pg167" />auch nicht bemitleidet oder verspottet, ein vollkommen neues +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Leben</emph> zu beginnen.</p> + +<p>Aber die Frauen? — würden sie den Mühseligkeiten einer +so langen Reise, einer Ansiedlung drüben in einem noch wilden +Lande gewachsen sein? — Daß er selber die Beschwerden +eines solchen Lebens leicht ertragen würde, daran zweifelte er +keinen Augenblick; er hatte so viel über Amerika gelesen, sich +mit den dortigen Verhältnissen aus allen erschienenen Schriften +so vertraut gemacht, daß er Alles kannte was ihn dort erwartete, +und einem derartigen Wirken eher mit Freude und +Lust, als Bangen entgegenging; aber durfte er seine Frau all +den sie erwartenden Unbequemlichkeiten und Strapatzen aussetzen? +durfte er seine Töchter aus ihrem geselligen glücklichen +Leben reißen, und ihnen mit einem Schlage alle jene Vergnügungen +entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, +die ihnen fast Bedürfniß geworden?</p> + +<p>Einen langen und schweren Kampf kämpfte er mit sich +selber, Monate lang, und er wurde alt in der Zeit; die Augen +lagen tief in ihren Höhlen und seine Züge bekamen etwas +Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner schwersten +Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder dabei +sich leicht mit einem vorgeschützten Unwohlsein beruhigen ließen, +dem scharfen Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die +an seinem Herzen heimlich, aber desto gewaltiger nagte, und +ihren dringenden, ängstlichen Bitten konnte er zuletzt nicht +länger widerstehen. Was sie doch zuletzt hätte erfahren +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">müssen</emph>, vertraute er ihr an und wenn es die arme Frau +<pb n="168" /><anchor id="Pg168" />auch wie ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das +Ganze doch viel ruhiger auf als er erwartet, gefürchtet, und +damit eine schwere Last von <emph rend="letter-spacing: 0.20em">seinem</emph> Herzen — auf das ihre. +Aber leichter trägt sich die getheilte, und bereden konnten sie +jetzt zusammen was zu thun, welchen Weg zu gehen, die +Möglichkeit besprechen die sich hier ihrem Leben bot, die Möglichkeit +errwägen, die ihnen dort eine andere freiere Zukunft +öffnete. Und die Kinder? wohin Mütter und Vater gingen +folgten die ja gern; nur die Scene wechselte für sie, anderen, +vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu geben, und Kummer +und Sorge kannten die ja nicht.</p> + +<p>An demselben Abend waren die beiden ältesten Töchter zu +einem kleinen Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen +und hatten schon den ganzen Tag mit rastlosen Fingern an +dem bunten blitzenden Ballstaat genäht. Der Vater begleitete +sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, Kopfschmerz vorschützend, +und die Sorge um das jüngste Kind, das mit einem +leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn +Uhr schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager +ein, und daneben, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, +saß die Mutter und weinte — weinte als ob sie mit dieser +Thränenfluth all den Gram und Kummer fortwaschen +wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizonte ihres +Glücks erschien, und wild und drohend höher und höher stieg.</p> + +<p>Lachend und plaudernd kehrten die Töchter, mit dem +Vater spät in der Nacht zurück; den leichten, sorglosen +Herzen lag die Welt noch, ein weiter Garten offen da, +<pb n="169" /><anchor id="Pg169" />und was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, +mischte noch sein fastgrünes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, +mit Blum' und Blüthenpracht.</p> + +<p>Aber der Moment näherte sich auch, wo mit der vorgerückten +Jahreszeit all' die nöthigen und mannichfaltigen Vorbereitungen +zu einer so langen Reise, zu einer gänzlichen Umgestaltung +aller ihrer Verhältnisse, getroffen werden <emph rend="letter-spacing: 0.20em">mußten</emph>; +auch schien die Zeit eine passende für den Sohn, der, von der +Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturienten-Examen +glücklich bestanden hatte. Der Vater wünschte allerdings daß er +hier erst studiren, und ihnen dann später, wenn er etwas Tüchtiges +gelernt, vielleicht folgen sollte, dachte ihm aber doch die +freie Wahl zu lassen, und seinem Herzen keinen Zwang aufzuerlegen.</p> + +<p>Am nächsten Morgen nach dem Balle nun — es war +spät mit Aufstehn geworden nach der durchschwärmten Nacht +und die zweite Tochter Marie eben erst zum Kaffee herübergekommen, +während der Sohn das Haus schon, irgend eines +notwendigen Ganges wegen verlassen hatte — saß der Vater, +ungewohnter Weise nicht in seiner Studirstube an der Arbeit, +sondern im Sopha, aus der langen Pfeife den Dampf in +weißen Kräußelwolken von sich blasend, und die Mutter am +Nähtisch, Kleider ausbessernd für das Jüngste, das in seinem +herübergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe +schaukelte.</p> + +<p>»Schon ausgeschlafen, Väterchen?« sagte Marie als sie, +etwas beschämt, die Letzte am Kaffeetische Platz genommen,<pb n="170" /><anchor id="Pg170" /> +»ich habe wohl recht lange heut geschlafen, aber — was ist +Dir denn? — und der Mutter auch?« — rief sie vom Stuhl +wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der +Eltern gewahrte — »bist Du böse auf mich, Mütterchen?«</p> + +<p>»Nein mein Kind,« sagte diese und zwang ein Lächeln +auf die Lippen, »aber der Vater hat Euch etwas recht Ernstes +heute zu sagen, etwas von dem wir noch nicht wissen, ob es +Euch betrüben wird oder nicht.«</p> + +<p>»Der Vater?« rief Marie erschreckt, und auch Anna, die +älteste Tochter, sah ängstlich zu ihm auf; Professor Lobenstein +aber, so in die Enge und zum Aeußersten getrieben, hustete, +paffte den Dampf ein paar Mal scharf vor sich hin, die Pfeife +ordentlich in Gluth zu bringen, und sagte:</p> + +<p>»Ja Kinder, Ihr wißt — wir — wir haben doch in den +letzten Tagen viel über Nord-Amerika gesprochen, und auch +Manches gelesen — «</p> + +<p>»Ja, die herrlichen Romane von Cooper,« rief Marie rasch.</p> + +<p>»Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt,« lächelte +Anna.</p> + +<p>»Der Doctor Haide ist ein Esel,« sagte der Professor, den +Rauch wieder ein paar Mal rasch ausstoßend — »wenn der +hätte in Amerika ordentlich arbeiten wollen, brauchte er sich +jetzt nicht von einer Winkeladvocatur und vom Schimpfen auf +freisinnige Leute zu ernähren; über dessen Berichte wollen wir +uns keine Sorgen machen, aber — « er schwieg wieder einen +Augenblick und sah, wie furchtsam, nach der Frau hinüber. +Die jedoch arbeitete um so emsiger weiter, und selber mit dem<pb n="171" /><anchor id="Pg171" /> +Bedürfniß dem, was ihn schon so lange gedrückt, endlich einmal +Worte zu geben, fuhr er rasch fort — »ich habe eine Frage +an Euch zu thun, Kinder — Hättet Ihr — hättet Ihr wohl +selber Lust hinüber nach — nach Amerika zu gehn?«</p> + +<p>»Nach Amerika?« rief Anna rasch und auch wohl erschreckt. +Marie aber sprang auf, schlug in die Hände und rief +jubelnd:</p> + +<p>»Nach Amerika? oh das wäre ja prächtig — das wäre +herrlich — nicht wahr da sind auch Bälle, Väterchen?«</p> + +<p>Die Mutter seufzte tief auf und der Vater zog wieder, +etwas verlegen an der Bernsteinspitze.</p> + +<p>»Hm — ich weiß nicht,« sagte er langsam mit dem Kopf +schüttelnd — »wo wir im Anfang hinwollten, werden wohl +keine sein. Hängst Du so an Bällen, Marie?«</p> + +<p>»Ich tanze gern,« lächelte das junge fröhliche Mädchen +etwas verlegen und schüchtern.</p> + +<p>»Nun tanzen wirst Du dort hoffentlich auch können, mein +Kind,« sagte der Vater freundlich — »wenn auch nicht gerade +gleich auf solchen Bällen wie wir sie hier gewohnt sind — das +Leben ist dort einfacher.«</p> + +<p>»Oh, und bis zum nächsten Fasching sind wir gewiß +auch wieder zurück,« rief Marie.</p> + +<p>Der Vater schwieg erst eine kleine Weile, und sagte dann +leise aber entschlossen.</p> + +<p>»Wir wollen <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ganz</emph> hinüberziehn, mein Kind.«</p> + +<p>»Auswandern?« rief die ältere Schwester fast erschreckt — das +Wort, dessen Bedeutung sie noch gar nicht vollkommen +<pb n="172" /><anchor id="Pg172" />verstand, traf sie mit einem unbekannten ahnenden Gefühl von +Schmerz und Leid — »und die Mutter?«</p> + +<p>»Ihr werdet mich doch nicht wollen allein zurücklassen?« +lächelte die Frau, sich gewaltsam zwingend über den Schmerz +dieser Stunde.</p> + +<p>»Mutter!« sagte Anna, warf die Arme um ihren Nacken +und küßte sie.</p> + +<p>»Und Eduard?« frug Marie.</p> + +<p>»Bleibt, wenn er meinem Rathe folgt, noch hier bis er +ausstudirt und etwas ordentliches gelernt hat,« sagte der Vater — »wo +nicht, hat er seinen freien Willen und mag uns begleiten; +sowie er zu Hause kommt werde ich mit ihm sprechen.«</p> + +<p>»Aber — « rief Marie — »wer verwaltet unterdessen unser +Haus?«</p> + +<p>»Wenn wir einmal fort sind von hier,« sagte der Professor +ausweichend, »kann uns auch das Haus nichts mehr +nützen, und ich werde es verkaufen.«</p> + +<p>»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Verkaufen</emph>? — unser Haus und den Garten?« riefen +Maria und Anna fast wie aus einem Munde erschreckt und +rasch — </p> + +<p>»Unser freundliches Stübchen, wo wir als Kinder gespielt,« +setzte Marie traurig hinzu.</p> + +<p>»Und die Bäume die Vater alle gepflanzt — die Laube, +die wir uns selbst gebaut, und die so schön geworden ist in +diesem Jahr,« sagte Anna leise — »verlassen wollt' ich es ja +gern, wenn wir Alle gehn, aber daß fremde Menschen jetzt +darin hausen sollen, die vielleicht gar nicht wissen wie wir das<pb n="173" /><anchor id="Pg173" /> +Alles gehegt und gepflegt und — « ihr Blick fiel in diesem +Augenblick auf der Mutter, halb von ihr abgewandte bleiche +Züge, und faßte das Blitzen einer heimlich fallenden Thräne. +Anna erschrak und wurde todtenbleich — hier lag mehr verborgen +als man ihnen gesagt, und heimlicher Gram, heimliche +Sorge nagte an der Eltern Herzen, durfte sie die vermehren? +Sie schwieg einen Augenblick und sah sinnend vor sich nieder, +dann aber Mariens Hand ergreifend sagte sie mit leichterem +vielleicht gezwungen fröhlicherem Ton:</p> + +<p>»Aber wir wollen nicht klagen; Vater und Mutter wissen +am Besten was sie zu thun haben, und was uns gut ist, und +dort baut uns Vater dann ein anderes Haus, und wir selber +pflanzen uns ein neues Gärtchen, schöner als das unsere hier.«</p> + +<p>»Aber ich bliebe hier, wenn ich an Vaters Stelle wäre,« +schmollte Marie, »und was wird Herr Kellmann dazu sagen, +wenn er es erfährt? der ist so immer gegen Amerika, und hat +sich schon oft mit Vater darüber gezankt.«</p> + +<p>»Ach der macht mir die geringste Sorge,« sagte Anna in +ihrem Schmerz lächelnd — »wenn man <emph rend="letter-spacing: 0.20em">für</emph> Amerika spricht, +schimpft er aus Leibeskräften, und citirt Gott weiß was für +Stellen aus Briefen und Zeitungen, alles Günstige zu widerlegen, +oder wenigstens stark zu bezweifeln, und kommt Jemand +der das Land ordentlich angreift, dann hab' ich auch schon +gesehn, daß er den Handschuh wacker dafür aufnimmt, und +man wirklich glauben sollte er bekäme so und so viel für den +Kopf, Leute zu bereden hinüberzuziehn. Das ist ein wunderlicher +Kauz, der die meiste Zeit selber nicht weiß was er will, +<pb n="174" /><anchor id="Pg174" />und ich glaube, wenn es Jemand recht ordentlich bei ihm +darauf anlegte, könnte man ihn selber, nur durch Widersprechen, +dahin bringen, daß er in eigener Person hinüberginge.«</p> + +<p>»Herr Kellmann?« lachte Marie — »nun <emph rend="letter-spacing: 0.20em">den</emph> möcht' ich +in Amerika sehn.«</p> + +<p>»Und wer weiß, ob Dir das nicht noch passirt,« bestätigte +der Vater, mit dem Kopfe nickend.</p> + +<p>»Und darf ich mein neues seidenes Kleid mitnehmen, +Mama?« frug das junge lebenslustige Mädchen jetzt die +Mutter — »hier lassen möcht' ich es doch nicht gern, und +drüben im Wald — «</p> + +<p>»Liebes Kind, wir werden auch nicht mitten in den Wald +gehn,« sagte die Mutter, die indessen heimlich die verrätherische +Thräne aus dem Auge geschüttelt, freundlich dabei der zu ihr +getretenen Tochter die Stirn streichend und küssend, »denkt es +Euch nicht so schlimm. Der Vater wird uns schon einen +Platz aussuchen, wo wir wenigstens unter Menschen und der +Cultur nicht ganz verschlossen sind — er hielte es ja dort sonst +selber nicht aus.«</p> + +<p>»Aber warum gehst Du nur, Väterchen?« bat Marie — +»es ist doch hier so wunderhübsch in Heilingen, und was wir +da drüben haben, wissen wir noch nicht.«</p> + +<p>Der Professor, zu dem Anna ängstlich aufsah, hatte seinen +Sitz verlassen und ging, langsam dabei mit dem Kopf nickend, +im Zimmer auf und ab; er fühlte daß er, auch den Töchtern +gegenüber, diesen eine Erklärung seines Handelns schuldig +sei, denn er riß sie aus einem liebgewonnenen Leben heraus, +<pb n="175" /><anchor id="Pg175" />und führte sie vielen, vielen Entbehrungen — er durfte sich +das nicht leugnen — entgegen. Von ihrer späteren Haltung +dabei hing auch viel ihrer Aller Glück, ihrer Aller Zufriedenheit +ab, und sie waren alt genug ihrem Urtheil zu vertrauen. +Aber es kostete ihm der Entschluß einen schweren Kampf, und +wo ihm die Frau war auf halbem Weg entgegen gekommen, +fürchtete er hier gerade, nicht Widerstand zu finden, denn +dafür hatten sie ihn zu lieb, aber Schmerz und Sorge zu +wecken in den jungen Herzen, denen er die ungebetenen Gäste +gern noch fern gehalten hätte so lang als möglich. Sie standen +jedoch an einem wichtigen, bedeutungsvollen Abschnitt ihres +Lebens, und mußten <emph rend="letter-spacing: 0.20em">sehen</emph>, wohin der Weg sie führte.</p> + +<p>In kurzen, einfachen Worten, frei vom Herzen weg, und +zu den Herzen sprechend, weil sie aus dem Herzen kamen, schilderte +er ihnen jetzt die veränderte Lage in die er, durch das gezwungene +Aufgeben seiner Zeitschrift sowohl, wie durch manche +schwere, ihn betroffene Verluste gekommen. Er verheimlichte +ihnen nicht länger daß er einen Theil — einen großen Theil +seines Vermögens eingebüßt, und das ihm selber liebe Haus +nicht verkaufen würde, wenn ihn eben nicht — die Verhältnisse +dazu <emph rend="letter-spacing: 0.20em">zwängen</emph>. Aber noch blieb ihnen genug nach +einem fernen Welttheil überzusiedeln und dort, mit bescheideneren +Bedürfnissen, von Neuem zu beginnen; Amerika mit seiner +ungeheuren Lebenskraft bot ihnen nach allen Seiten hin die +Möglichkeit der Existenz, und das gut und zweckmäßig angelegte +kleine Capital konnte dort gute Zinsen tragen für spätere +Zeit. Hatten sie sich dann etwas verdient, waren die Hoff<pb n="176" /><anchor id="Pg176" />nungen, +mit denen sie hinüber gingen, Wahrheit geworden, +und sehnte sich ihr Herz noch nach dem Vaterland, wer hinderte +sie dann zurückzukehren zu den theueren Plätzen, die ihnen +ewig lieb bleiben würden in der Erinnerung?</p> + +<p>Dem Professor war es leichter um die Brust geworden, +wie er das Eis nur erst gebrochen. Selbst überzeugt von dem +was er sprach, wurde er warm, indem er den Gedanken weiter +dachte, und seine Phantasie verlor sich zuletzt sogar, Luftschlösser +aufbauend, zauberschnell in weiter Ferne. Der Professor ging +mit dem Menschen durch, und die leicht gerötheten Wangen +belebte ein eigenes, inneres Feuer. Und die Mutter saß dabei, +still und schweigend, und ängstlich bemüht, in der wiederaufgenommenen +Arbeit die eigene Bewegung zu verbergen. Marie +und Anna aber, die des Vaters Hände erfaßt und in den +ihren hielten, schmiegten ihre Häupter an seine Schultern und +flüsterten; die großen, zu ihm aufgeschlagenen Augen voll von +Thränen.</p> + +<p>»Genug, genug, Väterchen; mal' uns das Alles nicht so +prächtig aus — wohin Du und Mutter gehn, gehn auch wir, +und wär' es mitten hinein in den wildesten Wald. Kein unzufriedenes +Wort sollst Du dabei von uns hören, keine Klage, +kein böses Gesicht weiter — keine Thräne — nur die hier sind +uns so ganz von selber über die Backen gelaufen, weil wir die +Mutter weinen sahen. Mit Lieb und Lust wollen wir das +Leben dort beginnen — «</p> + +<p>»Und Kühe und Hühner schaffen wir uns an!« rief Marie,<pb n="177" /><anchor id="Pg177" /> +»und die Kühe melken wir selber und machen Butter und +Käse.«</p> + +<p>»Wie gut,« sagte Anna, daß wir im vorigen Jahr auf +dem Land bei der Tante waren, und dort das Alles zum Spaß +gelernt haben; jetzt wird es uns nützen.«</p> + +<p>»Aber nicht wahr, Mütterchen, nun weinst Du auch nicht +mehr,« rief Marie, zur Mutter hinübergleitend, ihren Arm um +deren Nacken legend und sie küssend — »drüben wird schon +Alles hübsch werden. Und ein paar von den großen Holzschuhen +nehm' ich mir mit, wie sie die Bauern tragen, für draußen bei +nassem Wetter; hei wie wir da herumpatschen wollen und +schaffen und arbeiten; und plätten thun wir auch selbst, dafür +nimmst Du kein Mädchen mehr.«</p> + +<p>Den frohen, leichten Herzen schwammen schon die gewaltigen +Umrisse ihrer ganzen fernen, so ungewissen Zukunft, in +den einzelnen bunten Kleinigkeiten zusammen, die ihrem Geist, +von dem Reiz der Neuheit mit frischem Duft überhaucht, entstiegen. +Nur die Lichtpunkte erspähte der, in die Ferne arglos +hinausschauende Blick, und die goß er sich lustig zusammen zu +einem Ganzen: was dahinter lag, der düstere Hintergrund, +den das erfahrenere Mutterauge wohl erkannt, diente ihnen +nur dazu die einzelnen Lichter stärker hervorzuheben, deutlicher +erkennen zu können, und der Himmel spannte sich blau und +rein über ihren glücklichen Häuptern.</p> +</div> +<div rend="page-break-before: always"><pb n="178" /><anchor id="Pg178" /> +<index index="toc" level1="Der Tanz im rothen Drachen" /> +<index index="pdf" level1="Der Tanz im rothen Drachen" /> +<index index="pdb" level1="Tanz im Drachen" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 8.</head> +<head rend="text-align: center">Der Tanz im rothen Drachen.</head> +<p>Drei volle Monat waren nach den, in den vorigen Capiteln +betriebenen Scenen verflossen, und der Diebstahl im +Dollingerschen Hause zu Heilingen, der eine ganze Woche +lang fast das alleinige Stadtgespräch gebildet, wurde kaum +noch erwähnt. Der vermuthete Dieb (gegen den aber allerdings +nachträglich keine weiteren Beweise aufgefunden worden), +war zwei Tage nach dem Sturz von der Brücke an seiner +Kopfwunde gestorben; er hatte die beiden Tage vollkommen +bewußtlos gelegen, und kein Wort mehr gesprochen. Das +übrige Geld aber — außer den zweihundert und einigen Thalern — wie +die vermißten Pretiosen, konnten, trotz den genausten +Nachforschungen nirgends aufgefunden werden, und hatte +er es wirklich gestohlen, so ließ sich jetzt gar nichts Anderes +vermuthen, als daß er es irgendwo an einer heimlichen Stelle +vergraben, und außer Sicht gebracht habe.</p> + +<p><pb n="179" /><anchor id="Pg179" />Actuar Ledermann hatte dabei ganze Actenstöße über den +Fall geschrieben — man wußte wirklich nicht wo er nur den +Stoff dazu herbekommen; aber mit dem üblichen Canzleistyl +wurde die Sache, der jede gründliche Vorlage mangelte, nach +Möglichkeit gereckt und ausgedehnt und dann, als sich Nichts +weiter darüber ergab, mit starkem Bindfaden umschnürt und +etiquettirt, um später vielleicht, mit Jahreszahl und Nummer +versehn, in irgend ein staubiges Gefach geschoben zu werden, +dort ein Jahrhundert fortzuträumen, — wie der Verstorbene +unter dem Rasen, dicht an der Kirchhofsmauer, an die er, +ohne Sang und Klang damals, noch vor Tag, still und heimlich +hinausgeschafft worden.</p> + +<p>Die Geistlichkeit von Heilingen hatte dem Unglücklichen +allerdings sogar dies »ehrliche Begräbniß« versagen und den +Körper der Anatomie überantworten wollen, da er unter dem +Verdacht eines schweren Diebstahls und gewissermaßen als +Selbstmörder seinen Tod gefunden — was kümmerte die stolzen +Geistlichen die duldende Liebe die Christus gelehrt, wo +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">ihre</emph> Autorität Gefahr leiden konnte gekränkt zu werden, und +sie hatten einmal verordnet, daß solchen Sündern ein »christliches +Begräbniß« versagt werden solle; aber die Polizei war +milder und verständiger als die »Diener des Höchsten« und +erklärte den Tod des Armen für keinen Selbstmord, indem er +nur »auf der Flucht« umgekommen, während wahrscheinlich +der ihm beigegebene Wächter die allerdings unschuldige, und +nicht zur Verantwortung zu ziehende direkte Ursache, seines +Todes gewesen sei.</p> + +<p><pb n="180" /><anchor id="Pg180" />Aber fort — fort mit den traurigen Bildern; das menschliche +Leben hat der dunklen Seiten so viele, und sie drängen +sich uns doch auf, wohin wir gehen — nur der Augenblick +gehöret uns, und nicht muthwillig wollen wir den Schmerz +suchen. So mag mir der Leser denn noch einmal zum rothen +Drachen hinaus folgen — es dauert vielleicht lange, ehe wir +den Platz wieder zu sehn bekommen — und dort tönt heut +fröhliche Musik aus dem hellerleuchteten Saal des großen +Hauses, der mit Guirlanden und Blumen und jungen Birkenreisern +festlich geschmückt ist, indeß ihn eine muntere, laut und +lustig durcheinander wogende Schaar belebt.</p> + +<p>Kaum eine Viertelstunde — oder eine »halbe Pfeife Tabak«, +wie die Bauern sagten — vom rothen Drachen entfernt, +lag Schloß Hohleck an der anderen Seite des nämlichen Hügelrückens, +das gegenüber liegende Thal überschauend, und +der Besitzer desselben, Graf von Hohleck, feierte heute die Vermählung +seines ältesten Sohnes, der dabei das Gut selber +übernahm, und nun seinen Leuten dem Tag zu Ehren ein +Fest »in der Schenke« gab. Bier und Branntwein waren dabei +zu freier Verfügung gestellt, und ein starkes Musikchor aus +der Stadt engagirt worden, den Leuten die ganze Nacht hindurch +zum Tanze aufzuspielen — und sie machten Gebrauch +davon.</p> + +<p>Aber auch aus Heilingen selber hatten sich eine Menge +Gäste eingefunden, dem muntern Leben und Treiben der fröhlichen +Menschen zuzuschauen, und während der untere Gartensaal +einzig und allein den Dienstleuten des Rittergutes einge<pb n="181" /><anchor id="Pg181" />räumt +war, zu dem den Stadtleuten jedoch gastlich der Zutritt +gestattet wurde, hatten sich die letzteren noch besonders in einem +paar der kleineren Stuben festgesetzt, wo sie ihren Wein oder +ihr Bier tranken oder auch eine Parthie spielten, die Zeit auszufüllen.</p> + +<p>Zu den Gästen aus der Stadt gehörten auch mehre unserer +alten Bekannten, unter ihnen Kellmann und Schollfeld, +zwei Stammgäste des rothen Drachen. Ledermann war ebenfalls, +wenn auch später, herausgekommen und ihnen hatte sich +noch der Auswanderungsagent Weigel — sehr zum Aerger +Schollfeld's, der ihn nicht ausstehen konnte — zugesellt. +Weigel blieb aber nicht ruhig an ihrem Tisch sitzen, sondern +ging ab und zu, und hatte sein Glas nur mit bei ihnen stehn, +gewissermaßen seinen Platz zu belegen.</p> + +<p>Ledermann war übrigens heute sehr still und niedergeschlagen, +er hatte sein einziges Kind vor etwa vierzehn Tagen +verloren, und schien sich das sehr zu Herzen zu nehmen, erklärte +auch nur herausgekommen zu sein, sich ein wenig zu zerstreuen +und die Gedanken los zu werden, die ihn in der Stadt drin +peinigten.</p> + +<p>Uebrigens war ihm in den letzten Tagen höchst unerwarteter +Weise eine kleine Erbschaft von 600 Thalern zugefallen +und Schollfeld, der heute Abend außergewöhnlich gut aufgeräumt +schien, versuchte jetzt sein Bestes des Freundes Grillen +oder trübe Gedanken ebenfalls zu verscheuchen.</p> + +<p>»Hören Sie einmal Ledermann,« begann er, mit dem +Deckel seines Kruges klappend und mehr Bier verlangend — »wie +<pb n="182" /><anchor id="Pg182" />ist denn die Geschichte nun mit den 600 Thalern? — +beiläufig gesagt schneiden Sie ein Gesicht dabei, als ob Sie +Schwefelsäure verschluckt hätten.«</p> + +<p>»Er hört nicht einmal,« sagte Kellmann, als der Actuar +kein Wort darauf erwiederte, und die Anrede in der That gar +nicht verstanden zu haben schien — »Ledermann, Mensch, wo +sind Sie jetzt mit Ihren Gedanken, im rothen Drachen bei +Heilingen, im Monde, oder in Amerika?«</p> + +<p>»Wo?« sagte der Actuar, rasch und fast verstört aufschauend, +als aber die Anderen laut lachten, schüttelte er mit +dem Kopf und seinen Krug nehmend und trinkend sagte er +ruhig und ernst:</p> + +<p>»Ach laßt mich zufrieden Kinder — ich habe den Kopf +voll, und bin wahrhaftig heute Abend nicht zum Spaßen +aufgelegt.«</p> + +<p>»Nicht zum Spaßen aufgelegt?« rief aber Schollfeld, +Kellmann unter dem Tisch anstoßend — »ist auch gar nicht +nöthig mein lieber Actuar — wir spaßen auch hier gar nicht; +Jemand aber, der eine Erbschaft macht und irgendwo Stammgast +ist, überkommt dabei die moralische Verpflichtung irgend +etwas zum Besten zu geben, und es bleibt ein Skandal, daß +man einen solchen Glückspilz auch nur noch daran erinnern +muß. Hat der Henker da wieder den Schleicher, den Weigel,« +unterbrach er sich aber plötzlich mit etwas leiserer Stimme, als +er sah wie dieser das Zimmer wieder betrat, und sich ihrem +Tische zuwandte — »ich hatte schon gehofft wir würden ihn +heute Abend los sein; jetzt ist <emph rend="letter-spacing: 0.20em">mein</emph> Vergnügen beim Teufel.«</p> + +<p><pb n="183" /><anchor id="Pg183" />»Nun meine Herren, noch so fröhlich beisammen?« sagte +Weigel jetzt, indem er zum Tisch trat — »ah, da sind ja der +Herr Actuar auch noch dazu gekommen — bitte behalten Sie +ja Platz, ich rücke ein klein wenig hier herüber — so — das +geht vortrefflich. Nun, der Herr Actuar haben in diesen Tagen +ein großes Glück gehabt — da darf man ja wohl gratuliren.«</p> + +<p>»Danke herzlich,« sagte Ledermann ruhig; »es wird +übrigens so viel von den paar hundert Thalern gesprochen, +als ob's eben so viel Tausende wären.«</p> + +<p>»Ih nun, das lassen Sie gut sein,« sagte aber Weigel, +mit dem Kopf schüttelnd — »sechshundert Thaler richtig angewandt +könnten in der That in kurzer Zeit zu so viel Tausenden +werden.«</p> + +<p>»Wenn man sich Sächsische Löbau-Zittauer Eisenbahnactien +dafür kaufte, nicht wahr?« sagte Schollfeld, das Gesicht +halb in den ebengebrachten Krug versteckt, und einen +grimmigen Blick über den Rand desselben hin, nach dem Auswanderungsagenten +schießend.</p> + +<p>»Nun das gerade nicht,« schmunzelte Herr Weigel, sein +Glas ein wenig weiter auf den Tisch schiebend, und sich die +Hände reibend, »da wüßte ich doch noch eine bessere Speculation.«</p> + +<p>»Und die wäre,« sagte der Actuar, seitwärts zu ihm +aufschauend.</p> + +<p>»Wenn Sie sich eine kleine Farm in Amerika kauften.«</p> + +<p>»Puh!« rief Schollfeld, verächtlich den Kopf abwendend,<pb n="184" /><anchor id="Pg184" /> +»jetzt sein Sie so gut, kommen Sie uns hier nicht mit Ihrer +alten Leier von dem verdammten Amerika, und verderben Sie +uns das Bier nicht — hier ist auch Nichts zu verdienen, denn +von uns geht doch keiner hinüber.«</p> + +<p>»Lieber Herr Schollfeld,« sagte aber Weigel mit großer +Ruhe, »von <emph rend="letter-spacing: 0.20em">uns</emph> weiß noch Niemand was er nächstes Jahr +thun wird, und verschwören läßt sich so eine Sache nun einmal +gar nicht — Amerika ist immer noch ein Zufluchtsort.«</p> + +<p>»Ja für die Spitzbuben und Hallunken, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">da</emph> haben Sie +recht!« rief der Apotheker.</p> + +<p>»Ne lieber Herr Weigel!« rief aber auch Kellmann jetzt — »mit +sechshundert Thalern kann ich da drüben auch Nichts +anfangen, und bin dann noch obendrein bei jedem Schritt und +Tritt der Gefahr ausgesetzt, daß ich betrogen und hintergangen +werde. Man kann dort ja nicht einmal seinem eigenen +Bruder trauen.«</p> + +<p>»Aber mein bester Herr Kellmann, das sind die unglückseligen +Ideen, die von — na, ich will keinen Namen nennen — ausgesprengt +werden, um die Leute blind zu machen, rein +blind. Sie sollen eben nicht sehen was für Vortheile, für +fabelhafte Vortheile dort gerade für sie zu Tage liegen, und +die Gerüchte von dort verübten Betrügereien hängen eben als +Vogelscheuche über den Erbsen. Wir haben <emph rend="letter-spacing: 0.20em">hier</emph> eben so +viele schlechte Charaktere wie in Amerika.«</p> + +<p>»Ob eben so <emph rend="letter-spacing: 0.20em">viel</emph>, will ich dahingestellt sein lassen,« +sagte Schollfeld mit einem nichts weniger als freundlichen +Seitenblick auf den Agenten — »aber eben so schlechte gewiß.«</p> + +<p><pb n="185" /><anchor id="Pg185" />»Nun also,« erwiederte Weigel freundlich, ohne auf den +Hieb einzugehn, ja im Gegentheil die Waffe lächelnd umdrehend — »sehn +Sie, selber Herr Schollfeld stimmt mir +darin bei.«</p> + +<p>»Ja aber nicht wie <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Sie</emph> es meinen!« rief da Schollfeld +entrüstet, keineswegs gesonnen sich die Worte so im Munde +verdrehen zu lassen.</p> + +<p>»Von den Betrügereien will ich noch gar Nichts sagen,« +unterbrach ihn aber Kellmann, ziemlich in Eifer — »was ich +dagegen sehr guten Grund habe zu bezweifeln, sind die billigen +Landkäufe, sind dabei die Erleichterungen, welche diese +republikanische Regierung allen möglichen Gewerken und Unternehmungen +bietet, die geringen Taxen, der freie Verkehr +und Umsatz im Innern. Das wird Alles ausgemalt mit Gold +und Silber und Himmelblau, und kommt man am Ende hinüber, +so hat man die ganze nämliche Geschichte wie bei uns. +Daß all das nichtsnutzige Gesindel dort ohne <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Paß</emph> herumlaufen +darf, mag wahr sein, das halte <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ich</emph> aber eben für keinen +Fortschritt.«</p> + +<p>»Verehrtester Herr Kellmann!« rief aber Weigel in Eifer — »gegen +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Thatsachen</emph> können wir doch nicht anstreiten; +wir wollen doch nicht blind und taub mit dem Kopf gegen die +nächste, und womöglich härteste Wand rennen? wir sind doch +vernünftige Menschen, aber haben Sie nicht alle die neueren +Schriften jetzt gelesen, die — «</p> + +<p>»Ach gehn Sie mit Ihren Schmierereien,« rief aber +Schollfeld, dem das Gespräch jetzt zur Last wurde, »für einen<pb n="186" /><anchor id="Pg186" /> +Thaler den Bogen malen ihnen die lumpigen Literaten selbst +die Hölle himmelblau an, und kleben von oben bis unten +Sterne drüber. Laßt mir jetzt Euer Geschwätz von Amerika +hier, oder ich stehe, Gott straf mich, auf, und setze mich wo +anders hin.«</p> + +<p>»Nun, jeder darf sich hinsetzen wo es ihn gerade freut,« +sagte Weigel, wirklich etwas beleidigt, obgleich er sonst einen +ziemlichen Theil vertragen konnte.</p> + +<p>»Ja leider,« sagte aber Schollfeld, mit wieder einem +Seitenblick auf den Agenten, der diesen doch jetzt vermochte +aufzustehn und sein Bier auszutrinken.</p> + +<p>»Herr Schollfeld,« sagte er dabei, »Sie sind in der +Stadt als ein Antiamerikaner bekannt, und ich glaube Sie +würden den Leuten eher zu einer Auswanderung nach Sibirien +wie nach Nordamerika rathen.«</p> + +<p>»Würde ich auch,« sagte Herr Schollfeld trotzig, sich den +Hut noch fester in die Stirn drückend.</p> + +<p>»Nun ja, der Geschmack ist verschieden — Jeder weiß +am Besten wohin er gehört, und dahin treibt ihn der Instinkt,« +sagte Herr Weigel achselzuckend, indem er den Tisch verließ, +und Kellmann erwischte eben noch zur rechten Zeit Schollfeld +hinten am Frackzipfel, der aufspringen und dem sich rasch entfernenden +Weigel nach wollte.</p> + +<p>»Aber so fangen Sie hier doch um Gottes Willen keinen +Skandal mit dem Menschen an!« rief Kellmann leise und +bittend.</p> + +<p>»Instinkt treibt?« rief aber Schollfeld jetzt, da er sich +<pb n="187" /><anchor id="Pg187" />hinten, vielleicht gern, gehalten fühlte — laut hinter dem +Davoneilenden her — »Sie wird bald 'was anders treiben +Sie — Sie <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Seelenverkäufer</emph> Sie!«</p> + +<p>»Pst!« rief aber auch der Actuar jetzt, ihn rasch zu sich +niederziehend — »Sind Sie denn ganz vom Bösen besessen +Apotheker? auf das Wort könnte er Ihnen, wenn er's noch +gehört hätte, die schönste Injurienklage an den Hals hängen.«</p> + +<p>»S'ist aber wahr — der Lump!« rief Schollfeld ärgerlich, +den leeren Krug zum hastigen Trunk aufhebend, und denselben +dann laut auf den Tisch aufstoßend — »es ist ein +Seelenverkäufer, der Kerl, und um einen Thaler beschwatzt er +das Kind, daß es die Eltern, den Mann, daß er die Frau +verläßt — hier Kellner, noch ein Glas Bier. — Sprecht mir +von Raubmördern und Straßenräubern, gegen die das Gericht +einschreitet und ihnen das Handwerk legt — allen Respect +vor einem Mann, der es den Leuten geradezu in's Gesicht +wirft, »ich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">bin</emph> ein schlechter Kerl — ich stehle wo ich's +bekommen kann, und wo ich's nicht gutwillig kriege mord' ich +auch; aber solche heimliche Hallunken sind die Upasbäume der +menschlichen Gesellschaft — sie vergiften was sie erreichen +können, und von außen geben sie sich das Ansehen eines ehrlichen +Baumes und haben grüne Blätter und glatte Rinde. +Gegen <emph rend="letter-spacing: 0.20em">die</emph> Schufte sollte eingeschritten werden, nicht mit +Geldstrafen oder Gefängniß, nein mit Knute und Strang — Himmeldonnerwetter, +wenn ich da 'was in der Regierung zu +befehlen hätte.«</p> + +<p>»Sie würden schöne Geschichten anrichten, kann ich mir +<pb n="188" /><anchor id="Pg188" />etwa denken,« sagte der Actuar trocken, »s'ist so schon manchmal +wie's ist. Lassen Sie doch jeden seinen Weg gehn in der +Welt; der liebe Gott weiß wohl wozu's gut ist. Blutigel sind +auch unangenehme Geschöpfe in der Naturgeschichte, und doch +verwendet sie die Natur wieder zu höchst nützlichen und nothwendigen +Zwecken; denken Sie sich so ein Individuum wäre +ein menschlicher Blutigel.«</p> + +<p>»Dann trink' ich aber nicht mein Bier an einem Tisch +mit ihm,« rief der Apotheker.</p> + +<p>»Bah, das ist wieder zu weit gegangen,« sagte Kellmann, +»viel zu weit gegangen. 'Was Schlechtes können Sie dem +Mann überhaupt nicht nachsagen, denn daß er für Amerika +wirbt, ist einesteils sein Geschäft, anderntheils seine Ansicht, +und er könnte Ihnen von <emph rend="letter-spacing: 0.20em">seinem</emph> Standpunkt aus dann +ebensogut wieder vorwerfen, daß Sie eine Menge Menschen +absichtlich unglücklich machten, die sie von einer Auswanderung +nach jenem Lande abhielten.«</p> + +<p>»Unsinn — baarer Unsinn!« rief aber Schollfeld, unwillig +den Kopf herüber und hinüber werfend — »Jemand +unglücklich machen, daß man ihm von einer Auswanderung +nach Amerika abräth, wäre gerade so, als ob ich als eines +Menschen Mörder betrachtet würde, den ich abhalte aus dem +dritten Stock auf die Straße zu springen. Aber hol den +Lump der Henker,« brach er kurz und ärgerlich ab, »ich war +so guter Laune und jetzt hat er mir den ganzen Abend verdorben. + — Nach Sibirien auswandern — « brummte er dabei, +während er eine neue Cigarre aus der Tasche nahm und sie +<pb n="189" /><anchor id="Pg189" />an dem, auf dem Tisch stehenden Licht entzündete — »Holzkopf +der — nach Sibirien auswandern — ich will nur einmal +in den Saal gehn und sehn wie sie's da treiben, daß +man auf andere Gedanken kömmt — ich bin bald wieder da.« +Und von seinem Stuhl aufstehend verließ er langsam, und +immer noch vor sich hin murmelnd, das Zimmer.</p> + +<p>Der Actuar stand ebenfalls auf und nahm seinen Hut.</p> + +<p>»Na nu?« sagte aber Kellmann erstaunt — »was ist +das für eine Wirthschaft heut Abend? Schollfeld läuft fort, +Lobsich hat sich gar nicht sehen lassen, und Sie wollen jetzt +auch Fersengeld geben? wo bleibt denn da heute Abend unser +Solo? — wir können doch nicht wie die Pferde zu Bette +gehn, ohne unsere Parthie gespielt zu haben?«</p> + +<p>»Mir ist heute nicht wie spielen,« sagte der Actuar, langsam +mit dem Kopfe schüttelnd, »ich habe auch Kopfschmerzen, +und an der frischen Luft wird mir wohl besser werden.«</p> + +<p>»Fort dürfen Sie aber noch nicht,« sagte Kellmann, indem +er sein Bier austrank, und ebenfalls aufstand, »da wollen +wir lieber einmal unten im Garten auf und ab gehn.«</p> + +<p>Der Actuar zögerte einen Augenblick, dann aber legte er +schweigend seinen Arm in den Kellmann's und beide Freunde +gingen mitsammen die Treppe hinunter.</p> + +<p>Es war indessen vollkommen dunkel geworden, und die +Leute hatten sich, des feuchten Abends, wie des im Saal wogenden +Tanzes wegen, meist alle aus dem Garten hinaus, und +in die mehr geschützten Räume der Gebäude gezogen. Nur hie +und da saß noch irgend ein kosendes Pärchen in einer Laube, +<pb n="190" /><anchor id="Pg190" />oder schwärmte auch wohl auf dem Vorbau des Gartens nach +dem, gerade über dem nebelgefüllten Thal jetzt aufzeigenden +Vollmond hinüber, dessen große rothe Scheibe sich glühend +aus den Bergen hob, und das weite, thaublitzende Thal +überschaute.</p> + +<p>Kellmann ging ruhig neben dem still vor sich nieder +schauenden Freund her, bis sie den breiten Fußweg der schönen +ebenen Chaussee erreichten, und eine kleine Strecke derselben +hinauf gewandert waren; dann aber blieb er, diesen zurück +haltend, plötzlich stehen, und sagte mit freundlichem, herzlichen +Ton:</p> + +<p>»Aber lieber Ledermann, Sie dürfen sich Ihrem Schmerz +um das Kind nicht so ganz und rücksichtslos hingeben; lieber +Gott ich begreife daß es ein schwerer, recht schwerer Verlust +ist, aber Gott hat's gegeben und Gott hat's genommen, und +wer weiß ob dem kleinen lieben Wesen dadurch nicht vielleicht +ein recht trübes und schmerzliches Dasein erspart wurde.«</p> + +<p>»Es ist nicht das Kind, Kellmann,« sagte aber der +Actuar, leise mit dem Kopf schüttelnd, »nicht der Tod meiner +kleinen Adele nagt mir jetzt am Herzen, obgleich der da oben +weiß wie weh er mir gethan — nein, ich halte ihn sogar +unter den jetzigen Verhältnissen, in denen ich lebe, für ein +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Glück</emph>, und es ist <emph rend="letter-spacing: 0.20em">furchtbar</emph>, daß ich gezwungen bin so +etwas von dem Tod meines eigenen, einzigen Kindes zu +sagen.«</p> + +<p>»Aber was, um Gottes Willen, haben Sie <emph rend="letter-spacing: 0.20em">denn</emph>?« +rief Kellmann, verwundert vor ihm stehen bleibend und ihn +<pb n="191" /><anchor id="Pg191" />anschauend. »Irgend etwas <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ist</emph> vorgefallen, aber was? — etwa +wieder zu Hause der alte wunde Fleck?«</p> + +<p>Ledermann nickte finster und schweigend mit dem Kopf.</p> + +<p>»Aber was <emph rend="letter-spacing: 0.20em">will</emph> sie denn eigentlich,« rief Kellmann +finster die Brauen zusammen und seinen Arm aus dem des +Freundes ziehend, um besser gesticuliren zu können — »Wetter +noch einmal, Ledermann, Sie hätten da schon lange ernst und +entschieden auftreten sollen, die Sache ist jetzt schon viel zu +weit eingerissen, und die Frau bringt sie, wenn das so fort +geht, wahrhaftig noch unter die Erde.«</p> + +<p>»Ernst und entschieden auftreten? — lieber Gott,« stöhnte +der Actuar kopfschüttelnd — »soll ich mir denn die letzte leiseste +Hoffnung auf einen, nur möglichen Hausfrieden selber +muthwillig vernichten? — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Sie</emph> haben gut reden; <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Ihr</emph> Geschäft +ist in Ihrer eignen Wohnung, und Ihre Erholung gestattet +Ihnen, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">die</emph> außerhalb desselben zu suchen, ich aber sitze +und schwitze den ganzen lieben ausgeschlagenen Tag auf dem +verwünschten Bureau, und komme ich dann Abends zu Hause, +und sehne mich nach einer halbstündigen gemüthlichen Ruhe, +so beginnt die Frau, und wenn sie eine Ursache aus der Luft +greifen sollte, mir das Leben zu einer Hölle zu machen. Lieber +Gott, es fiele mir ja gar nicht ein Abends in ein Wirthshaus +zu gehn, wenn ich Frieden daheim hätte; es giebt vielleicht +wenig Menschen in der Welt, die sich so nach einem stillen, +häuslichen Leben sehnen, wie gerade ich, und keinen, Kellmann, +keinen weiter, dem es <emph rend="letter-spacing: 0.20em">so</emph> verbittert, so gänzlich aus dem Fen<pb n="192" /><anchor id="Pg192" />ster +geworfen wird, jeden Abend wieder von Frischem, wie +gerade mir.«</p> + +<p>»Aber was ist denn nur vorgefallen?«</p> + +<p>»Das Ganze ist mit wenig Worten erzählt,« sagte der +Actuar nach kurzer Ueberlegung entschlossen, »und Sie sollen +mir rathen, wie ich im Stande bin mich einem Zustand zu +entziehn, der mir unerträglich wird. Sie haben gehört daß +ich von einem entfernten Verwandten sechshundert Thaler +geerbt, die ich in den nächsten Wochen ausgezahlt bekomme. +Das Vernünftigste nun wäre das Geld in irgend einem +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">sichern</emph> Staatspapier, oder in guten Actien anzulegen, und +mit den wenigen, aber gewissen Zinsen meinen, überdies ärmlichen +Gehalt zu erhöhen — ich habe fünfhundert Thaler jährlich +und weiß bei Gott oft nicht wie ich auskommen soll.«</p> + +<p>»Nun gut, das ist ja Alles so schön und glatt wie es +nur sein kann.«</p> + +<p>»Jawohl, aber meine Frau besteht darauf das Capital +ihrem Bruder geben zu wollen, der ein Geschäft hat und mir +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">fünf</emph> Procent verspricht.«</p> + +<p>»Ih nun, wenn es da sicher angelegt ist — fünf Procent +wäre aller Ehren werth.«</p> + +<p>»Aber es <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ist</emph> nicht sicher angelegt; der Bursche ist ein +liederlicher leichtsinniger Mensch, der schon einmal Bankerott +gemacht hat und — wie ich ziemlich guten Grund habe zu +vermuthen — an der Grenze eines zweiten steht.«</p> + +<p>»Ahem,« sagte Kellmann nachdenkend.</p> + +<p>»Geb ich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ihm</emph> das Geld,« fuhr der Actuar fort, »so ist +<pb n="193" /><anchor id="Pg193" />es über Jahr und Tag, so sicher wie dort drüben der Mond +aufgeht, verloren, und geb' ich es ihm <emph rend="letter-spacing: 0.20em">nicht</emph>, so weiß ich daß +mir die Frau zu Hause den eignen Heerd zur Hölle macht.«</p> + +<p>»Aber Donnerwetter, Ledermann, nehmen Sie mir das +nicht übel,« sagte Kellmann stehen bleibend, »da würde ich +denn doch einmal einen Trumpf darauf setzen und mein Recht +als Mann und Herr im Hause wahren; nur durch Ihr ewiges +Nachgeben haben Sie die Geschichte schon so, in Grund hinein +verdorben.«</p> + +<p>»Aber was <emph rend="letter-spacing: 0.20em">soll</emph> ich thun?« rief der Actuar verzweifelnd + — »mit Worten <emph rend="letter-spacing: 0.20em">kann</emph> ich nicht gegen sie anstreiten, nicht +sechs Männer könnten das; in Ruhe und Güte ist Nichts anzufangen +mit ihr, und schlagen darf und will ich sie ebenfalls +nicht.«</p> + +<p>»So lassen Sie sich scheiden, zum Wetter noch einmal;« +rief Kellmann, »lieber doch eine trockne Brodrinde kauen, als +mit solchem Drachen das ganze Leben, eine ganze Existenz, +mühselig und qualvoll hinzuschleppen.«</p> + +<p>»Heute Abend zum ersten Mal,« sagte der Actuar seufzend, +»habe ich ihr selber damit gedroht; ich habe ihr vorgehalten, +daß sie sich mit mir nicht glücklich fühlen <emph rend="letter-spacing: 0.20em">könne</emph>, +weil sie fortwährend, und ohne auch nur einen einzigen Tag +Frieden zu gestatten, zanke, und das Beste sein würde, wir +ließen uns, einem Leben zu entgehen das auf die Länge der +Zeit doch nicht durchgeführt werden könne, gerichtlich scheiden.«</p> + +<p>»Nun? — und was hat sie darauf erwiedert?«</p> + +<p>»Ich bin fortgelaufen,« sagte der Actuar, seufzend den<pb n="194" /><anchor id="Pg194" /> +Kopf von dem Freund abwendend, »denn sie wurde — sie +wurde so heftig, und betrug sich — betrug sich so unvernünftig, +daß ich mich vor den Nachbarn schämte, und lieber Hut und +Stock nahm, den Frieden wieder, wie schon so oft, auswärts +zu suchen.«</p> + +<p>»Also sie weigert eine Scheidung?«</p> + +<p>»Sie schwur sie wolle mir die Augen auskratzen, wenn +ich noch einmal ein derartiges Wort erwähne, zerbrach dann +in ihrer Wuth Gott weiß was Alles, und — ich glaube sie +bekam nachher Krämpfe — ihr altes Leiden. Erst hatte ich +gehofft der Tod des Kindes würde sie milder stimmen, aber +nein, und wenn mich etwas über den Verlust des kleinen lieben +Wesens trösten könnte, so ist es gerade der Gedanke, es +dem bösen Beispiel, das ihm die eigene Mutter täglich gab, +entrissen zu sehn — was hätte zuletzt aus ihr werden sollen, +als eben eine solche Frau.«</p> + +<p>»Und so ist gar keine Hoffnung, mit Güte durchzukommen? — «</p> + +<p>Der Actuar schüttelte schweigend mit dem Kopf.</p> + +<p>»Hm, das ist eine verfluchte Geschichte,« sagte Kellmann, +»da — da weiß ich wahrhaftig auch nicht was ich rathen soll. +Das Geld vertraute ich aber — wenn die Sache <emph rend="letter-spacing: 0.20em">so</emph> steht — +meinem Schwager auch nicht an, soviel ist sicher — Sie sind +das sich selber und Ihrer eigenen Existenz schuldig.«</p> + +<p>Der Actuar seufzte tief auf und die beiden Männer gingen +wieder eine Zeitlang, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, +nebeneinander hin. Sie waren indeß die Straße +<pb n="195" /><anchor id="Pg195" />ein Stück hinauf- und wieder zurückgegangen, und blieben +jetzt mehre Minuten nicht weit von dem Eingang des Gartens +stehn, den Rücken diesem, und ihr Gesicht dem sich gerade über +die Berge hebenden Monde zugewandt, als ein junges Mädchen, +noch ein Kind fast und augenscheinlich auf der Wanderung, +ganz allein mit einem kleinen Bündel in der linken Hand, und +einem großen dunklen Tuch über dem rechten Arm, die Straße +herunter kam und ziemlich dicht an ihnen vorüberging. So +viel sie im Mondenlicht erkennen konnten, war sie nur ärmlich +gekleidet, und auch wohl ermüdet von einem vielleicht langen +Marsch, denn sie blieb zweimal stehen und trocknete sich dabei +den Schweiß von der Stirn.</p> + +<p>Das zweite Mal als sie Halt machte geschah das fast +dicht vor den beiden, hier im Schatten eines Hollunderbusches +stehenden Männern, die sie im Anfang gar nicht bemerkte, und +sie schien den Tönen zu lauschen die aus dem etwa zweihundert +Schritt davon gelegenen hellerleuchteten Gartenhaus wild +und lustig heraustönten.</p> + +<p>»Fröhliche Menschen,« flüsterte sie dabei — »<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Glückliche</emph>;« +wie sie aber den Kopf dem Lichte zuwandte, fiel ihr +Blick auch auf die beiden dunklen Schatten unter der Mauer, +und wie unwillkürlich fuhr sie zurück; dabei glitt ihr das +Bündel aus der Hand und fiel zu Boden.</p> + +<p>»Wir thun Dir Nichts, Kind,« sagte Kellmann, der die +Bewegung gesehen hatte, gutmüthig; »wo willst Du denn noch +so spät hin?«</p> + +<p><pb n="196" /><anchor id="Pg196" />»Nach Heilingen,« antwortete das fremde Mädchen, ihr +Bündel wieder aufnehmend — »ist es noch weit bis dorthin?«</p> + +<p>»Eine halbe Stunde etwa, wenn Du rüstig zugingst; +aber Du scheinst müde zu sein und wirst wohl länger brauchen.«</p> + +<p>»Ich komme weit her,« sagte die Fremde, aber sie zögerte +dabei und es war als ob sie noch nach irgend etwas +fragen oder um etwas bitten wolle, und sich auch wieder scheue +es zu thun.</p> + +<p>»Du bist wohl hungrig, Kind?« frug sie da Kellmann, +dessen gutes Herz ihn zu helfen drängte, wo das in seinen +Kräften stand — »sag's gerad' heraus; und wenn Du kein +Geld hast macht das nichts, ich schaffe Dir was.«</p> + +<p>Das Mädchen schwieg und drehte seufzend den Kopf ab +und Kellmann, dem richtigen Princip der Gastlichkeit und +Menschenliebe treu, nicht viel zu fragen erst, wo man gern +giebt, sagte ihr sich einen Augenblick auf die kleine Bank am +Thor zu setzen, und er werde ihr einen Imbiß holen — sie +könne dann Heilingen bald erreichen. Ohne erst eine Antwort +abzuwarten ging er darauf rasch in's Haus, und das Mädchen +zögerte noch einen Augenblick und folgte dann, augenscheinlich +zum Tod ermüdet, der freundlichen Einladung.</p> + +<p>»Du kommst weit her?« sagte der Actuar endlich, der +neben ihr stehn geblieben, im Anfang aber noch zu sehr mit +seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, viel auf die Fremde +zu achten.</p> + +<p>»Von Erfurt.«</p> + +<p><pb n="197" /><anchor id="Pg197" />»Von Erfurt? hm — das ist eine lange Strecke; zu Fuß +den ganzen Weg?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Und willst in Heilingen bleiben?«</p> + +<p>»Ich weiß es noch nicht.«</p> + +<p>»Hast Du Verwandte dort?«</p> + +<p>»Einen Bruder.«</p> + +<p>»Hast Du denn einen Paß bei Dir?«</p> + +<p>»Ja,« sagte das Mädchen und holte, mit einem scheuen +Blick auf den Frager, ihr kleines Bündel vor, das sie Miene +machte aufzuknüpfen, der Actuar aber, der die Bewegung verstehen +mochte, sagte rasch:</p> + +<p>»Nein nein — laß nur sein — ich will ihn nicht sehen + — ich frug nur Deinethalben, damit Du hier in der Stadt +in keine Verlegenheit kämest. Da ist auch Freund Kellmann +schon mit dem Essen — nun laß Dir's schmecken.«</p> + +<p>»Da,« sagte der kleine Kürschner, der schnellen Schrittes +mit einem großen gestrichenen Weißbrod und einem hohen +Glas Milch herankam und es der Fremden reichte — »das +wird Dir gut thun.«</p> + +<p>Das junge Mädchen nahm das Glas mit schüchternem +Danke an und trank — erst ein wenig, dann aber herzhafter + — sie mochte wohl recht durstig gewesen sein. Wie sie fertig +war setzte sie das Glas auf die Bank zurück und nahm ihr +Bündel wieder auf.</p> + +<p>»Ich danke Ihnen auch noch viel tausend Mal,« sagte +sie dabei mit weicher, ergriffener Stimme — »ich hatte +<pb n="198" /><anchor id="Pg198" />seit heute Morgen Nichts gegessen und war recht matt geworden.«</p> + +<p>»Armes Kind,« sagte Kellmann mitleidig — »aber hast +Du denn schon einen Platz in der Stadt wo Du übernachtest?«</p> + +<p>»Ja,« sagte die Kleine — »ich denke so — können Sie +mir aber wohl noch sagen ob das Haus des reichen Herrn +Dollinger nahe am Thore ist, oder weit in der Stadt drin?«</p> + +<p>»Dollinger's Haus? oh nicht so weit in der Stadt drin + — aber was willst Du dort?«</p> + +<p>»Mein Bruder ist in Herrn Dollinger's Geschäft — wohnen +auch die Leute bei ihm im Hause?«</p> + +<p>»Nicht daß ich wüßte,« sagte Kellmann.</p> + +<p>»Aber man kann es doch dort erfahren wo sie wohnen?«</p> + +<p>»Gewiß — gleich unten im Haus bei dem Hausmann; +frage nur nach der Poststraße, wenn Du in's Thor kommst.«</p> + +<p>»Gute Nacht Ihr Herren, und nochmals schönsten Dank + — Gott mag es Ihnen vergelten.«</p> + +<p>»Gute Nacht Kind, guten Weg,« sagte Kellmann, »aber + — wie heißt denn Dein Bruder?«</p> + +<p>»Franz Loßenwerder,« sagte das Mädchen und ging langsam +die Straße hinab.</p> + +<p>»Oh Du mein Gott,« rief der Actuar leise und erschreckt +vor sich hin, wie er den Namen hörte — »das ist ja schrecklich.«</p> + +<p>»Du lieber Gott, das arme Ding muß von dem Schicksal +des Bruders gar Nichts wissen,« seufzte auch Kellmann — +»und wenn sie das jetzt heute Abend erfährt — o wo wird sie +nur die Nacht bleiben?«</p> + +<p><pb n="199" /><anchor id="Pg199" />»Armes, armes Kind,« sagte der Actuar, »und selbst +ohne Geld in der fremden Stadt.«</p> + +<p>»Ich geb' ihr etwas,« rief Kellmann, rasch entschlossen, +und eilte »heh! — pst!« rufend die Straße hinab dem Mädchen +nach, das stehen blieb und nach Bündel und Tuch fühlte +als sie den Ruf hörte, weil sie glaubte daß sie vielleicht etwas +vergessen hätte.</p> + +<p>»Liebes Kind,« stotterte aber Kellmann verlegen, als er +sie eingeholt, denn er konnte es nicht über's Herz bringen ihr +die Wahrheit zu sagen — »ich — ich kenne Deinen Bruder, +aber — er ist jetzt nicht in Heilingen — Du — Du wirst es +morgen schon hören, und im Dollingerschen Hause können sie +Dir auch heute nichts weiter sagen, es ist sogar sehr die +Frage ob der Mann unten im Haus noch auf ist. Gleich +wenn Du in's Thor hineinkommst, das dritte Haus an der +rechten Seite, vor dem die beiden Laternen stecken, ist ein +Gasthaus — ein gutes anständiges Haus, wo sie Dir Quartier +geben werden — da gieb ihnen diese Karte, der Wirth +kennt mich, und sage ihm nur ich hätte Dich hingeschickt.«</p> + +<p>»Aber bester Herr,« sagte das Mädchen bestürzt, als ihr +der gutmüthige Kürschnermeister mit der Karte zwei große +Stücken Geld — es waren zwei Thaler — in die Hand +drückte — »ich weiß gar nicht — «</p> + +<p>Kellmann ließ sie aber gar nicht zu Worte kommen.</p> + +<p>»Schon gut — schon gut,« rief er, drehte sich um, und +kehrte, das Mädchen allein auf der Straße zurücklassend, eben +<pb n="200" /><anchor id="Pg200" />so rasch nach dem Platz zurück, wo der Actuar noch seiner +harrend stand.</p> + +<p>»Haben Sie es ihr gesagt?« frug dieser ihn.</p> + +<p>»Nein — um Gottes Willen nein; das mögen Andere +thun, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ich</emph> könnte es nicht.«</p> + +<p>»Aber was soll jetzt aus ihr werden?«</p> + +<p>»Ich werde mich im Löwen schon nach ihr erkundigen,« +sagte Kellmann nach kurzer Ueberlegung — »und wenn es +ein ordentliches Mädchen ist, hab ich Bekannte genug hier in +der Stadt, ihr einen Dienst zu verschaffen. Aber wie ist es +denn mit der Loßenwerderschen oder Dollingerschen Geschichte +geworden? ist denn noch etwas von dem gestohlenen Gut zu +Tage gekommen? — man hört ja keine Sterbenssylbe mehr +darüber.«</p> + +<p>»Nichts — gar nichts weiter,« sagte der Actuar; »im +Gegentheil hat der arme Teufel von Loßenwerder ein kleines +Tagebuch geführt gehabt, was sich unter den confiscirten +oder mit Beschlag belegten Sachen fand, und worin er +jeden bis dahin eingenommenen Groschen sorgfältig und ordentlich, +mit seinen höchst bescheidenen Ausgaben, aufnotirt. +Das aber als gültig angenommen — und wir haben nicht +die mindeste Ursache es zu bezweifeln da es fast zwölf Jahre +zurückführt — wäre im Gegentheil der Beweis geliefert daß +die aufgefundenen zweihundert Thaler mühsam und redlich +gespartes Geld gewesen wären.«</p> + +<p>»Und <emph rend="letter-spacing: 0.20em">kein</emph> anderer Beweis hat sich gegen ihn herausgestellt?«</p> + +<p><pb n="201" /><anchor id="Pg201" />»Keiner, als daß er im Hause war und sich auffällig +heimlich daraus entfernt hat; aber auch selbst das findet nach +den Acten eine wahrscheinliche, wenn auch etwas wunderliche +Erklärung. Nach einer Zahl vieler höchst mittelmäßiger, oft +aber auch ziemlich guter Gedichte, in denen sich besonders viel +Gemüth ausspricht, scheint der arme verwachsene und hülflose +Mensch eine Art von — Liebe — ich kann es nicht anders +nennen, gegen Dollinger's jüngste Tochter und Henkel's Braut +in seinem unschönen Körper mit herumgetragen, und nur, +seinen Standpunkt gar wohl erkennend, den einzelnen, in seinem +Pult verschlossenen Blättern anvertraut zu haben — +doch das unter uns. Diese unglückselige und hoffnungslose +Neigung <emph rend="letter-spacing: 0.20em">kann</emph> ihn möglicher Weise dazu getrieben haben, +dem jungen Mädchen zu ihrem Geburtstag einen Blumenstock +zu schenken — er hat sogar ein Gedicht geschrieben was den +Punkt berührt, und worin er sich glücklich fühlt daß sie eine +Blume pflegen könnte die er gezogen, wenn sie auch nicht +wüßte von wem sie käme. Daß er unter solchen Umständen +nicht wollte im Hause gesehen sein läßt sich denken, und ein +Diebstahl in ihrem eigenen Zimmer verliert, diesen Thatsachen +gegenüber, an Wahrscheinlichkeit, wenn er auch nicht eben zu +einer Unmöglichkeit gehörte. Das Menschenherz ist schwach, +und Mancher schon ist geringerer Verführung erlegen.«</p> + +<p>»Hm, hm, hm,« sagte Kellmann vor sich hin — »das +ist ja eine rechte, rechte böse Geschichte, und der arme Teufel +da am Ende ganz und gar unschuldig in sein Verderben +gesprungen.«</p> + +<p><pb n="202" /><anchor id="Pg202" />»Ja, und eine Sache die mir selber schon manche schlaflose +Nacht gemacht hat,« sagte der Actuar, »denn ich <emph rend="letter-spacing: 0.20em">kann</emph> +den Gedanken nicht los werden, welchen Antheil ich selber +daran gehabt, den Unglücklichen dahin zu treiben — obgleich +ich eben nicht mehr als meine Pflicht gethan, und an einen +solchen verzweifelten Schritt nicht denken konnte; war er +unschuldig, hätte sich das ja bald in der Untersuchung herausgestellt.«</p> + +<p>»Ja, und die Untersuchung rechnet Ihr Herrn vom Gericht +eben für Nichts,« sagte Kellmann finster — »aber wenn +das sein erspartes, und Gott weiß dann <emph rend="letter-spacing: 0.20em">wie</emph> mühsam erspartes +Geld war, wird es doch auch seinen Erben nicht können +vorenthalten werden.«</p> + +<p>»Die Untersuchung ist noch nicht ganz geschlossen,« sagte +der Actuar, »aber ich glaube auch nicht daß irgend Jemand +anders einen Anspruch darauf wird geltend machen können. +Diese Schwester erwähnte er überhaupt mehrmals in seinen +Notizen, und hat sie auch dann und wann unterstützt, das +Geld wird ihr später allerdings zugesprochen werden.«</p> + +<p>»Und keine Spur ist sonst aufgefunden von dem möglichen, +von dem wirklichen Dieb?«</p> + +<p>»Keine — die Dienstboten sind Alle mehrmals scharf inquirirt +und auf das Genauste die ganze Zeit beobachtet, zu +sehen ob eins von ihnen vielleicht größere Ausgaben als gewöhnlich +mache, oder sich durch irgend etwas anderes verrathen +würde; ja die Leute haben untereinander fast eben so +scharfe Wacht gehalten, den Verdacht von sich abzuwälzen +<pb n="203" /><anchor id="Pg203" />und den Schuldigen aufzufinden, aber es hat sich bis jetzt nicht +das Mindeste herausstellen wollen. Mit Geld ist das eine +böse Sache, und wenn der Dieb die Juwelen nur vorsichtig ein +paar Jahr an sich hält, und dann vielleicht noch gar außer +Landes schafft, wer soll ihn da aufspüren? allwissend sind wir +auch nicht.«</p> + +<p>»Das weiß Gott,« sagte Kellmann — »wie damals mit +der Pelzdecke, die mir Jemand von der Ladenthür weggestohlen, +und die ich zwei Jahr später ganz gemüthlich im Polizeibureau, +beim Polizeidirector selber in der Stube wiederfand; da +hört denn doch Alles auf. Aber mir ist wahrhaftig jetzt nicht +wie spaßen zu Muth; der Anblick des armen Mädchens hat +einen wehmüthigen Eindruck auf mich gemacht; lieber Himmel, +was es doch für Elend auf der Welt giebt, und still und bewußtlos +gehen wir meist daran vorüber.«</p> + +<p>»Und die Musik da drinnen, während das arme Kind +dort allein und freundlos seine Straße geht, und trotzdem jetzt +noch glücklich ist gegen den Augenblick, wo es das Furchtbare +doch erfahren <emph rend="letter-spacing: 0.20em">muß</emph>. Mich leidet's heute nicht länger hier +draußen, Kellmann,« brach er kurz ab — »ich mag die Tanzmusik +nicht hören — wollen wir zurück in die Stadt gehn? +es ist überdies schon spät.«</p> + +<p>»Ich habe Nichts dagegen,« sagte Kellmann, tief aufseufzend + — »mir ist der Abend heute auch verdorben, aber +wir wollen Schollfeld erst abrufen.«</p> + +<p>»Da drin ist wohl Prügelei?« sagte da Ledermann, +als aus dem Hause wilder Lärm zu ihnen heraus tönte.</p> + +<p><pb n="204" /><anchor id="Pg204" />»Das wäre früh,« meinte Kellmann — »die kommt gewöhnlich +sonst erst später, oder ganz zum Schluß. Es ist +doch sonderbar, daß ein deutscher »Tanz« nie ohne eine +Schlägerei enden kann; es scheint auch ungefähr dasselbe, wie +der Cotillon bei einem Ball, nur daß sich die jungen Mädchen +nicht dabei betheiligen — höchstens verheirathete Frauen, ihre +Eheherren zu schützen, und die Verwirrung womöglich noch +größer zu machen — hallo aber das kommt hier heraus.«</p> + +<p>»Sie werden Jemanden hinauswerfen,« sagte der Actuar +ruhig — »lassen Sie uns an die Seite treten daß wir nicht +in das Gewirr gerathen.«</p> + +<p>Der Actuar hatte allerdings recht, denn unter dem Lachen, +Schreien und Jubeln der Menge, durch das einzelne wilde +Flüche einer, ihnen keineswegs unbekannten Stimme tönten, +wälzte sich ein Haufen Menschen aus dem Saal heraus, in +der Mitte einen Mann schleppend, der sich mit Händen und +Füßen, wenn auch umsonst, gegen solche unwürdige Behandlung +sträubte, und in dem die beiden Freunde sehr zu ihrem +Erstaunen den Auswanderungsagenten Weigel erkannten.</p> + +<p>»Laßt mich los!« schrie dieser dabei, mit den wildesten, +ungemessensten Flüchen und Schimpfreden — »laßt mich los +oder ich rufe die Polizei — Hülfe! — Mörder! Feuer!«</p> + +<p>»Brüll nur mein Herzchen!« sagte aber der Verwalter +von Hohleck, eine riesige breitschultrige Gestalt, der den machtlos +dagegen Ankämpfenden wie in einer eisernen Klammer am +Kragen gepackt hielt — »Dich könnten wir hier brauchen, +die Leute heimlich beschwatzen daß sie Hof und Dienst verlassen +<pb n="205" /><anchor id="Pg205" />und nach Amerika liefen — ei Du Hallunke, Du kommst mir +einmal wieder vor die Fäuste.«</p> + +<p>»Halt da — Hohmeier! laßt ihn los!« rief aber in diesem +Augenblick eine andere, etwas schwer klingende Stimme, die +dem also Gefährdeten zu Hülfe zu eilen schien — »der hier — Homeier — der +hier ist mein Freund — mein ganz intimer +Freund und den laß ich mir — Homeier, den laß ich mir +nicht aus dem Hause werfen.«</p> + +<p>Es war Niemand anderes als der Wirth, Lobsich, selber, +aber, wie es die Seeleute nennen, »halb im Wind«, mit +schwerer Zunge und schon etwas taumelndem Gang, daß sich +der Zustand in dem er sich befand, nicht gut verkennen ließ. +Er versuchte dabei den Agenten zu halten und aus den Händen +derer die ihn gefaßt hatten fortzuziehn; Hohmeier, der Verwalter +schob ihn aber mit seinem linken Arm bei Seite, als +ob es ein Kind gewesen wäre, und sagte ruhig:</p> + +<p>»Geht zu Bett Lobsich, das wär' Euch viel besser heut +Abend, aber mischt Euch nicht in Sachen die Euch Nichts +kümmern.«</p> + +<p>»Nichts kümmern?« rief aber der Wirth gereizt, indem +er den Verwalter mit großen stieren Augen ansah — »nichts +kümmern <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Hoh</emph>meier? — oh <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Hoh</emph>meier wem gehört denn dies +Haus, heh? — nichts <emph rend="letter-spacing: 0.20em">kümmern</emph>? wem gehört denn der +rothe Drache, heh, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Hoh</emph>meier.«</p> + +<p>Die Schaar war indessen bis grade dorthin gekommen, +wo Kellmann und der Actuar standen, und wo sie den Agenten +zwischen zwei ziemlich nah zusammen wachsenden Akazienbäu<pb n="206" /><anchor id="Pg206" />men +durchtragen wollten als dieser, solche letzte Gelegenheit +vielleicht, benutzend, Arm und Beine auseinanderspreitzte, daß +sie ihn nicht hindurchbringen konnten, während er von Neuem +sein »Hülfe! Mörder! Feuer!« aus voller Kehle schrie.</p> + +<p>»Wenn ihm nur Jemand die Beine ausheben wollte!« +sagte Herr Schollfeld, der ein höchst vergnügter Zeuge der +Scene war, ohne jedoch seines schwächlichen Körpers wegen +selber Theil daran zu nehmen, jetzt wohlmeinend. Ein paar +Knechte vom Hof, die ihren Verwalter in seinem Richteramt +unterstützten, ließen sich das auch nicht zweimal sagen, und +der wüthend, aber vergebens dagegen Antretende fand sich bald +in der vollkommnen Gewalt der Leute, ohne im Stande zu +sein auch nur den geringsten erfolgreichen Widerstand zu +leisten.</p> + +<p>»Heh <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Hoh</emph>meier!« schrie aber Lobsich, der sich indeß +durch die im Garten stehenden Stühle und Tische wieder nach +vorn gedrängt hatte den Mann frei zu machen, von dem er +sich plötzlich einbildete daß er sein Freund sei, »laßt mir den +Menschen los, sag ich Euch <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Hoh</emph>meier — Donnerwetter ich +will doch einmal sehn wer hier in meinem eigenen Hause zu +befehlen hat. Ihr oder ich — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Hoh</emph>meier. Es ist mir doch +was Unbedeutendes!« Er schien sich auch in der That den +Leuten entgegenwerfen zu wollen; im Vorspringen, und das +viele Getränk im Kopf, blieb er aber mit dem einen Fuß in +einer dort stehenden Fußbank hängen, und schlug der Länge +lang in den Garten, während die Knechte den jetzt wüthend +um sich schlagenden Agenten rasch aufgriffen und, lachend +<pb n="207" /><anchor id="Pg207" />über des Wirthes Unfall, aus der Gartenthür auf die Straße +warfen.</p> + +<p>Ein furchtbarer Lärm entstand jetzt, die Leute jubelten +und lachten, und erzählten sich untereinander wie der »Auswanderungsmann« +einen Schaafknecht vom Gut hätte bereden +wollen als »Schaafmeister« nach Amerika auszuwandern, und +vom Verwalter dabei erwischt wäre, und der »Auswanderungsmann« +stand vor dem Gartenthor und schimpfte und wüthete, +bis einer der Knechte das Schloß wieder aufdrückte und hinaus +und ihm nach wollte, und dann auf der Chaussee stehen blieb +und hinter dem davon Laufenden herfluchte, und Steine hinter +ihm drein warf.</p> + +<p>Drinnen im Saal tönte die Musik aber wieder rauschender +als vorher, und die jungen Burschen durften die Zeit hier +nicht länger im Garten versäumen. Während die aber wieder +in den Saal drängten, Tänzerinnen zu bekommen, und +Schollfeld von Kellmann angerufen war, mit ihnen zurück +nach der Stadt zu gehn, blieb Lobsich noch im Garten, an +dessen Thüre er trat, und nach der Straße hinaus mit lauter +und immer ärgerlicher werdender Stimme Weigel's Namen +schrie. Lobsich war jedenfalls stark angetrunken und wollte +sehr wahrscheinlich den Mann zurück holen, um ihm jetzt ernstlich +beizustehn und den Skandal noch einmal von Neuem zu +beginnen.</p> + +<p>Die drei Freunde hielten sich dabei im Schatten eines +dichten Fliederbusches, von dem aufgeregten und jetzt doch nicht +zurechnungsfähigen Menschen nicht bemerkt zu werden, und +<pb n="208" /><anchor id="Pg208" />dann unbelästigt den Garten zu verlassen, als Lobsich's Frau, +die das Toben ihres Mannes wohl im Haus gehört, von +dort her und den Mittelweg herunter eilte. Ohne daß er sie +bemerkte kam sie auch bis dicht an ihn hinan, und hier seinen +Arm ergreifend sagte sie mit leiser, bittender Stimme.</p> + +<p>»Lobsich — Vater — komm sei vernünftig, laß das +Schreien und Toben hier auf der Landstraße und geh zu Bette — thu +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">mir's</emph> zu Liebe Lobsich, wenn ich Dich darum bitte.«</p> + +<p>»Laßmchfrieden,« stammelte aber der Betrunkene mit +schwerer Zunge und suchte sie von sich abzuschütteln — »laß +mchfrieden sag ich — Dnrrwttrrr — ich weiß — ich weiß +was ich ss — se thun habe — «</p> + +<p>»Aber Lobsich, ich bitte Dich um Gottes Willen,« flüsterte +die Frau in Todesangst — »Du machst Dich und mich +unglücklich wenn Du Dich nicht änderst — was soll daraus +werden?« — </p> + +<p>»Laßmch — frieden,« stammelte aber der Mann, sie +unwillig von sich abschüttelnd, aber er verließ den Thorweg +wenigstens und taumelte durch den Garten fort, seitwärts vom +Hause ab — »Weibervolk,« murmelte und fluchte er +dabei — Himmelsakkrments Weibervolk — Unsinn — violettblaues — ist +mir doch — ist mir doch was Unbe — Unbedeutendes — « +und er verschwand damit hinter den Büschen. Die Frau aber +blieb, den Ellbogen auf das Thürschloß gestützt und das Gesicht +in den Händen bergend, allein zurück, richtete sich aber +rasch wieder auf, als sie Schritte auf sich zukommen hörte, und +wollte nach dem Haus zurück.</p> + +<p><pb n="209" /><anchor id="Pg209" />»Frau Lobsich,« sagte Kellmann, der es war, gutmüthig, +ja fast herzlich — »macht denn das Lobsich jetzt öfter daß er +so über die Schnur haut?«</p> + +<p>»Ach Sie sind es Herr Kellmann,« sagte die arme Frau +beruhigt. »Lieber Gott, ich weiß meinem Herzen keinen Rath +mehr, wenn er's so fort treibt; wie soll das enden?«</p> + +<p>»Aber ich habe Ihren Mann so doch noch in meinem +Leben nicht gesehn,« sagte Kellmann verwundert.</p> + +<p>»Ach ja,« seufzte die Frau — »es ist nicht das erste Mal, +aber ich habe immer gesucht es so viel als möglich zu verheimlichen, +es giebt gar solch ein böses Beispiel für die Leute. +Es sind auch eigentlich nur einige Wochen erst daß er so scharf +zu trinken anfängt. Lieber Gott, im Kopf hat er früher schon +manchmal eins gehabt, aber er artete doch nie aus, jetzt jedoch +geht der Spiritus mit ihm durch, und er wird zum Thier. +Ach guter Herr Kellmann, wenn Sie einmal ein recht ernstes +aber doch freundliches Wort mit ihm sprechen wollten; auf +Sie hält er etwas. Mir verspricht er's wohl auch,« setzte sie +leiser hinzu, »aber — er vergißt es immer nur zu rasch wieder.«</p> + +<p>»Ich will mein Möglichstes mit ihm versuchen, Frau +Lobsich,« sagte Kellmann freundlich — »aber,« setzte er rascher +und leiser hinzu — »dort glaub' ich kommt er schon wieder +zurück, es wird besser sein wenn Sie versuchen ihn heute +Abend zu Bett zu bringen; mit einem betrunkenen Menschen +läßt sich Nichts anfangen.«</p> + +<p>»Na? — Donnrrwttrrr,« stammelte aber in diesem Augenblick +der Wirth, der auf seinem Zickzack Cours wieder nach der<pb n="210" /><anchor id="Pg210" /> +Thür zurückkam, und die Arme einstemmend einen, wenn auch +vergebenen Versuch machte, mit gespreitzten Beinen vor seiner +Frau stehen zu bleiben — »Dnnrrrwttrrr,« wiederholte er, +herüber und hinüber schwankend — »was's das vor Wirthschaft +heh? wo gehört die — gehört die Frau hin, heh? — +in die Hofthür mit fremden Kerlen schwatzen heh? — ist +mir doch — ist mir doch was Unbe — Unbedeutendes.«</p> + +<p>»Aber lieber Lobsich,« nahm hier der jetzt auch hinzugetretene +Schollfeld das Wort, »sein Sie doch vernünftig und +gehn Sie — «</p> + +<p>»Hallo?« rief aber der Wirth, sich halb nach dem Redner +herumdrehend, in dessen hell vom Mond beschienenen Zügen +er den Apotheker erkannte — »sin' wir auch hier? heh? — +haben auch mit g'holfen mein' besten Freund — mein' besten +Freund mit hinaus zu werfen — heh? Sie — Sie Giftmischer +Sie — Sie — «</p> + +<p>»Herr Lobsich!« rief Schollfeld ärgerlich, »Sie sind +heute nicht zurechnungsfähig, sonst — «</p> + +<p>»Was? — Pillendreher will noch — will noch raiss — +raiss'niren — heh?« rief aber der gereizte Wirth und that +einen Schritt gegen den Mann an.</p> + +<p>»Aber Lobsich so bedenke doch um Gottes Willen was +Du sprichst,« bat ihn die Frau, seinen Arm ergreifend — +»komm mit mir in's Haus — wir haben noch so viel zu thun.«</p> + +<p>»Viel zu thun? — heh? — habe keine Zeit mehr heut +Abend — hickup« — stammelte aber der Mann gegen den +Schlucken ankämpfend — »muß noch — muß noch — hickup — muß +<pb n="211" /><anchor id="Pg211" />noch Wein abziehn und — und Bier trinken — +hickup — und — und hahahahaha — da ist — da ist ja die +ganze Gesellschaft — ja wohl — hickup — ja wohl, komme +schon — komme schon meine Herrn — Lobsich ist immer da — +ein verfluchter Kerl, der — der — hickup — der Lobsich — +ist mir doch — ist mir doch was Unbedeutendes;« — und in +einer unbestimmten Idee daß ihn vom Haus aus Jemand gerufen +hätte, wobei er seine Umgebung ganz vergaß, taumelte +er dem Saal wieder zu, wohin ihm die Frau ängstlich folgte. +Sie mußte ihn ja zurückhalten, daß er so seinen Gästen und +Leuten nicht wieder unter die Augen kam.</p> +</div> +<div rend="page-break-before: always"><pb n="212" /><anchor id="Pg212" /> +<index index="toc" level1="Rüstungen" /> +<index index="pdf" level1="Rüstungen" /> +<index index="pdb" level1="Rüstungen" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 9.</head> +<head rend="text-align: center">Rüstungen.</head> +<p>»Nach New-Orleans!«</p> + +<p>»Das ausgezeichnet schöne, 360 Last große, schnellsegelnde, +kupferfeste und gekupferte dreimastige Bremer Schiff erster +Klasse:</p> + +<p><emph rend="letter-spacing: 0.20em">Die Haidschnucke</emph>, Capitain <emph rend="letter-spacing: 0.20em">E. Siebelt</emph>, +mit vorzüglicher Gelegenheit für Cajüts- und Zwischendecks-Passagiere — wird +am 30. August expedirt.</p> + +<p>Agent dafür, I. G. Weigel,</p> + +<p>Hauptagent des Central-Bureau's für Norddeutsche Auswanderung +in Heilingen, am Markt Nr. 17.«</p> + +<p>Diese Anzeige stand am Morgen nach den, im letzten Capitel +beschriebenen Vorfällen im Heilinger Tageblatt, und Dr. +Haide, der Redacteur desselben, hatte die Gelegenheit nicht unbenutzt +wollen vorübergehen lassen, einige entsetzliche Mordgeschichten +und falsche Bankerotte aus den Vereinigten Staaten, +<pb n="213" /><anchor id="Pg213" />wie zur Entmuthigung aller Auswanderungslustigen, in der +nämlichen Nummer seines Blattes abzudrucken.</p> + +<p>Weigel war wüthend darüber, und schrieb augenblicklich +einen anderen Artikel dagegen; den nahm Doctor Haide aber +nicht auf, weil er, wie er ganz naiv erklärte, »sich dadurch selber +blamiren würde.« Uebrigens sei die Sache auch schon erledigt, +indem die Schiffsanzeige <emph rend="letter-spacing: 0.20em">für</emph>, sein Artikel aber <emph rend="letter-spacing: 0.20em">gegen</emph> Amerika +und die Auswanderung wäre, und er es sich zum Grundsatz +gemacht hätte, jeden Artikel nach beiden Seiten hin zu beleuchten — wenn +Herr Weigel etwas gegen ihn wolle einrücken +lassen, sei er keineswegs verpflichtet es aufzunehmen, und er +möge ihn deshalb, wenn er damit durchzukommen glaube, nur +ganz einfach darauf verklagen.</p> + +<p>Die Abfahrt dieses Schiffes war aber für Heilingen in +so fern von nicht unbedeutender Wichtigkeit, als sich mehre +Familien dieser Stadt ernstlich dahin entschlossen hatten, mit +demselben nach Amerika auszuwandern. So unter Anderen +Professor Lobenstein, der sein Haus jetzt verkauft, und der Stadt +überhaupt durch seine beabsichtigte Auswanderung höchst willkommenen +Stoff zu den mannichfaltigsten Vermuthungen und +Erörterungen geliefert hatte. Ja mehrere Kaffeegesellschaften +der näheren Bekannten Lobenstein's waren wirklich nur einzig +und allein zu dem Zweck gegeben worden, sich einmal ordentlich +über die Sache »aussprechen« zu können.</p> + +<p>Auch in dem Dollinger'schen Haus hatten die letzten +Wochen bedeutende Veränderungen hervorgebracht, indem der +junge Henkel Briefe von Amerika erhielt, nach denen seine An<pb n="214" /><anchor id="Pg214" />wesenheit +dort, dringend nothwendig geworden. Zwei Wechsel +trafen zugleich für ihn ein, wie ziemlich starke Aufträge zu Ankäufen +in Tuchen und Seidenwaaren von seinem Haus, welches +Geschäft er mit Herrn Dollinger in Gemeinschaft auszuführen +gedachte.</p> + +<p>Der alte Herr Dollinger, so schwer es ihm auch wurde, +und so lange er sich dagegen gesträubt, mußte da wohl endlich +seine Einwilligung zu der Verbindung Clara's mit dem jungen +Amerikanischen Kaufmann, über dessen Familie und Geschäft +in New-Orleans er von einem dortigen Geschäftsfreund das +Beste erfahren hatte, geben. Nur wunderte man sich dort, daß +der junge Henkel in Nord-Deutschland sei, während man ihn +auf einer größern Tour durch Italien und Griechenland vermuthet. +Die Leute dort konnten nicht wissen daß der junge +Mann auf dem Rhein andere Pläne für seine Zukunft geschaffen, +als er sie früher vielleicht ausgesonnen.</p> + +<p>Am letzten Sonntag war also, ganz in der Stille, die +Trauung vollzogen und Clara, das liebe holde Mädchen, die +Frau des jungen reichen Amerikaners — wie man ihn überall +in der Stadt nannte, geworden. Jetzt galt es nun freilich noch, +in der kurzen Zeit all die nöthigen und so mannichfachen Vorbereitungen +zu einer Reise nach Amerika für die junge Frau +zu treffen. Es sollte aber wirklich auch nicht viel mehr als +eine Reise werden, denn Henkel hatte sich schon selber fest erklärt, +seinen künftigen Wohnsitz keineswegs in Amerika, sondern +in Havre nehmen zu wollen, wo überdies, der bedeutenden +Geschäftsverbindung wegen mit diesem Hafen, ein Associé +<pb n="215" /><anchor id="Pg215" />des Hauses sich aufhalten mußte. Ein oder zwei Monate gedachten +die jungen Eheleute dann jedes Jahr in dem reizend +gelegenen Heilingen zuzubringen, was ihnen, wie den Eltern, +die jetzige Trennung sehr erleichterte, und spätestens im März +oder April schon wieder nach Europa zurückkehren zu können. +Die ganze Reise war dadurch wirklich fast nur zu einer etwas +längeren Vergnügungsfahrt geworden.</p> + +<p>Auch für Clara's Mutter war das Bewußtsein, ihr Kind +nicht für immer zu verlieren und bald wieder in die Arme +schließen zu können, eine unendliche Beruhigung, und selbst +hierzu hatte es ihr einen großen Kampf gekostet, ihre Einwilligung +zu geben. Clara selbst aber hing mit ganzem Herzen +an dem theuren Mann, und fühlte sich vollkommen glücklich +in einer Verbindung, die seit sie den Fremden kennen und lieben +gelernt, ihr das Ziel ihrer irdischen Wünsche geschienen.</p> + +<p>Was war ihr die Reise, was die Gefahr und Mühseligkeit +derselben? sie wäre ihm in eine Wildniß gefolgt, und hätte +sich doch glücklich an seiner Seite gefühlt.</p> + +<p>Der junge Henkel wünschte nun die Ueberfahrt in einem +Englischen Dampfer nach New-York, und von da mit einem +Amerikanischen Dampfschiff nach New-Orleans zu bewerkstelligen, +Clara fürchtete sich aber an Bord eines Dampfers zu gehn, +theils der doppelten Gefahr, theils der unangenehmen Bewegung +derselben in schwerem Wetter wegen, von der sie viel +gehört, und da es sich jetzt gerade so traf daß eine ihr befreundete +Familie, Professor Lobenstein's, ebenfalls nach New-Orleans, +und in einem Segelschiff von Bremen ab auswan<pb n="216" /><anchor id="Pg216" />derte, +bat sie mit diesen reisen zu dürfen. Henkel selber schien +nicht recht damit einverstanden, fügte sich aber doch endlich den +Bitten seiner jungen Frau.</p> + +<p>Wenn aber bei Dollinger's im Haus wenig mehr als +Wäsche und Kleider herzurichten waren, nur zu einer Reise +nicht zu einer Uebersiedlung nach Amerika, und man diese schon +großenteils gepackt und vorausgeschickt hatte, die letzten Stunden +in der Heimath durch kein Aussuchen und Packen gestört +zu haben, so schien dagegen bei Professor Lobenstein das ganze +Haus von innen nach außen gekehrt zu sein.</p> + +<p>Der Professor nämlich hatte auf keinerlei Weise bewogen +werden können mit seinen Sachen eine Auction anzustellen, +und nur das Nothwendigste mitzunehmen, da Fracht und +Spesen unterwegs ein wirkliches Capital auffressen würden, +für das er sich Alles was er dort brauchte auch an Ort und +Stelle neu anschaffen könnte. Allen die ihm dies riethen +zeigte er aus verschiedenen Schriften die statistisch aufgestellten +Arbeitslöhne der verschiedenen Handwerker, wie die Preise der +Provisionen, und bewieß ihnen auf das Klarste und Unumstößlichste +was jedes einzelne Stück Meublen und Hausgeräth +in notwendiger Folgerung in Amerika kosten müsse. Eben +so hatte er sich mit unendlicher Ausdauer einen Ueberschlag +der verschiedenen Frachtpreise nach New-Orleans, und von +da in's Innere gemacht, bis er endlich zu dem obigen Resultat +gekommen, und nun auch augenblicklich eine Anzahl Tischler +in Arbeit setzte, lauter neue Kisten für seine Sachen anzufertigen.</p> + +<p><pb n="217" /><anchor id="Pg217" />Eine große Anzahl von diesen war nun schon, gepackt +und mit eisernen Reifen beschlagen, als Fracht vorausgeschickt, +eine andere Sendung sollte heute abgehn, und die letzten dann +in den nächsten Tagen befördert werden, noch zur rechten Zeit +an Ort und Stelle zu sein. Kellmann selbst, dem Hause eng +befreundet, hatte dahin mehrere Aufträge übernommen, und +kam heute Morgen, Bericht über die Ausführung derselben abzustatten.</p> + +<p>Er selber war natürlich mit der ganzen Uebersiedlung gar +nicht einverstanden, hatte aber doch, als er alle Gründe des +Professors dafür gehört, weit weniger dagegen gesagt, als die +Familie im Anfang vermuthet und auch wohl gefürchtet haben +mochte. Der Professor sei eben ein Professor, meinte er nur, +und wo der einmal seinen Kopf aufgesetzt habe, ließ sich auch +Nichts mehr abstreiten oder gar dagegen beweisen, man müsse +ihn eben sich selber überlassen, und — es thue ihm nur um +die Familie leid. Nichtsdestoweniger gab er sich jede erdenkliche +Mühe ihnen, wo er es nur irgend vermochte, beizustehn, +wobei er den Professor doch von manchem unüberlegten oder +unpraktischen Schritt zurückhielt. So kämpfte er, und zwar +glücklicher Weise mit Erfolg, gegen die unglückselige Idee des +Professors an, sich hier, trotz Allem was er darüber schon gelesen, +von dem Auswanderungsagenten Land und eine Farm +zu kaufen. Er wollte drüben nicht »in Gefahr kommen« von +Amerikanischen und betrügerischen Landspeculanten hintergangen +zu werden, und seine Berechnung sämmtlicher Kosten gleich +<pb n="218" /><anchor id="Pg218" />hier an Ort und Stelle machen können, was ihm nicht möglich +sei, wenn er die Contracte nicht in der Tasche habe.</p> + +<p>Kellmann, auf dessen praktisches und gesundes Urtheil er +sonst überhaupt viel gab, machte ihn mit seinen ernstlichen +Vorstellungen aber doch stutzig, und noch eine authentische Person +über die dortigen Verhältnis zu hören, wandte er sich zuletzt +an den jungen Henkel, und bat diesen um Meinung und +Rath über die, ihm allerdings sehr am Herzen liegende Sache. +Dieser rieth ihm aber ebenfalls auf das Entschiedenste ab, sein +Geld hier an eine solche Speculation wegzuwerfen, denn dieser +Weigel scheine ihm, was er bis jetzt von ihm gesehn, eine keineswegs +volles Vertrauen verdienende Persönlichkeit. Er solle +warten bis sie drüben wären, dort habe er Zeit genug (Kellmann +hatte ihm dasselbe gesagt), und finde er in New-Orleans +oder Missouri nichts Besseres, so sei er selber vielleicht im +Stande ihm ein kleines reizendes Gut abzutreten, das er einmal +auf einem Jagdzug in's innere Land gekauft, und jetzt +noch verpachtet hätte.</p> + +<p>»Und der Preis?«</p> + +<p>»Er würde zufrieden sein.« Damit war die Sache für +jetzt abgemacht; freilich zu Weigels Verdruß, der die Farm, +wie er sich ausdrückte, nun noch »zur Verfügung« behielt.</p> + +<p>Es mochte etwa Morgens um elf sein, als Kellmann +Professor Lobensteins besuchte. Das Haus war am vorigen +Tag öffentlich verauctionirt und von einem reichen Weinhändler +in Heilingen erstanden worden, die Familie aber jetzt in +angestrengter Arbeit eifrig bemüht das unangenehme Gefühl +<pb n="219" /><anchor id="Pg219" />nicht allein zu verscheuchen, sondern auch eines vor dem anderen +zu verbergen, »zum <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ersten</emph> Male in der <emph rend="letter-spacing: 0.20em">eigenen</emph> Heimath +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">fremd</emph> zu sein;« zum ersten Mal fremd in den Räumen, +die ihrer Kindheit Spiele gesehn, und Zeuge gewesen waren +ihrer keimenden Hoffnungen und Träume.</p> + +<p>Der erste schwere Schritt zu einem neuen Leben und Wirken +war aber damit geschehn; freilich auch zu gleicher Zeit die +Brücke abgebrochen, die noch zurück hätte führen können in das +Vaterland. Das Band war damit zerrissen, das sie noch an +dieses knüpfte, und wunderbarer Weise hatte sich jetzt, wie sie +sich gestern noch fast Alle gefürchtet vor dem Gedanken die +lieben theueren Räume zu verlassen, ein fremdes unheimliches +Gefühl zwischen sie und das Haus geworfen, und sie <emph rend="letter-spacing: 0.20em">ersehnten</emph> +den Augenblick wo sie hinaus konnten, fort, nur fort von +hier — aus den Erinnerungen fort. Und doch sprachen sie das +nicht aus gegen einander; Jedes hielt sich nur allein für so +thöricht und kindisch, mit den quälenden Gedanken; keines +wußte daß das Gefühl in ihrer Aller inneres Leben verwoben +sei, und in des Herzens feinsten Fasern Wurzel schlug.</p> + +<p>Die Stimmung Aller, so sehr sie sich auch hüteten dem +was sie dachten Worte zu geben, war denn auch an dem ganzen +Morgen schon eine stille, gedrückte gewesen, und Kellmann's +Erscheinen befreite Alle wie von einer Last. Unten auf der +Treppe wurde der aber schon laut.</p> + +<p>»Na, ist das ein Vergnügen zu so einer Auswanderungsfamilie +in's Haus zu kommen,« rief er, als er sich mit zusammengehaltenen +Schößen zwischen einer Reihe Kistendeckel hin<pb n="220" /><anchor id="Pg220" />durchdrückte, +die, mit den Nägeln nach außen, an der Wand +lehnten, und dabei noch über eine Unzahl Körbe und Schachteln +wegsteigen mußte, nur in die Stube zu kommen.</p> + +<p>»Nehmen Sie sich in Acht, lieber Kellmann,« rief ihm +der Professor, der seine Stimme gehört hatte, aus der halbgeöffneten +Thüre entgegen (er konnte diese nicht ganz aufmachen +da ebenfalls eine Kiste dahinter stand). »Sie möchten sich da +draußen die Kleider zerreißen.«</p> + +<p>»Ist schon bereits geschehen,« brummte Kellmann, indem +er versuchte einen Blick nach seinem, allerdings beschädigten +Rücktheil zu gewinnen, »meine Güte, wie sieht das bei Ihnen +aus — ah guten Morgen meine Damen — und schon so +fleißig? — was um Gottes Willen nähen Sie denn da? — Getraidesäcke +für die nächste Erndte?«</p> + +<p>»Fehlgeschossen Herr Kellmann,« rief ihm aber Marie, die +sich gern mit dem freundlichen Mann neckte, entgegen — »Jacken +sind das für uns, in den Busch, zwischen den Dornen und +Schlingpflanzen, die uns sonst das leichte Zeug von den Schultern +rissen. Warten Sie einen Augenblick, da können Sie uns +gleich Ihre Meinung sagen; die meinige ist gerade fertig, und +ich will sie eben anprobiren. Lassen Sie nur, ich werde +schon allein fertig, dort drüben müssen wir überdies Alles +allein machen — So — nun, wie gefalle ich Ihnen darin?«</p> + +<p>»Gar nicht,« sagte Kellmann mürrisch, »ich sähe Sie +weit lieber in einem leichten Ballkleid und mit Ihrem gewöhnlichen +heiteren Gesicht, als in der Sackleinwand und — hm — +das verdammte Amerika. Geht denn Eduard jetzt noch mit, +<pb n="221" /><anchor id="Pg221" />oder bleibt er da? wo steckt er denn wieder? — der ist immer +fort wenn ich komme.«</p> + +<p>»Der geht mit, lieber Kellmann,« rief der Professor, »er +konnte sich nicht dazu entschließen, seine Eltern und Geschwister +allein in die Welt ziehn zu lassen, wo er ihnen vielleicht, zum +ersten Mal in seinem Leben, nützlich sein würde, und ist jetzt +noch in der Geschwindigkeit zu einem Tischler gegangen, die +paar Wochen wenigstens zu benutzen, und doch eine Idee von +dem Handwerk zu gewinnen; wer weiß was wir da Alles zu +thun bekommen.«</p> + +<p>»Wird auch was recht's davon in den paar Tagen profitiren,« +brummte Kellmann — »bei wem ist er denn, bei +Leupold?«</p> + +<p>»Leupold?« rief der Professor, »der geht ja mit unserem +Schiff nach New-Orleans.«</p> + +<p>»Der Tischlermeister Leupold wandert auch aus?« rief +Kellmann laut und verwundert.</p> + +<p>»Hat sein Häuschen und seine Werkstätte verkauft, und +ist jetzt wahrscheinlich schon unterwegs nach Bremen,« betätigte +ihm der Professor.</p> + +<p>»Na nu ist mir's aber doch über den Spaß,« rief Kellmann + — »da läuft ja halb Heilingen fort; jetzt freut mich +mein Leben; nächstens werden wir uns unsere Schränke und +Schuhe und Röcke selber machen können wenn wir 'was haben +wollen; ich darf nur gleich den meinigen zum Schneider schicken +daß er ihn mir noch ausbessert, ehe er auch durchbrennt. S'ist +wirklich zum Verzweifeln.«</p> + +<p><pb n="222" /><anchor id="Pg222" />»Lieber Gott,« sagte der Professor — »die Leute verlangen +nur Ellbogenraum sich zu rühren; sie wollen einen Platz haben, +der ihren Bedürfnissen Befriedigung verspricht.«</p> + +<p>»Da haben Sie gleich den faulen Fleck,« rief Kellmann, +»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Bedürfnisse befriedigen</emph>, wenn die Leute lebten wie ihre +Voreltern gelebt haben, und nicht mit jedem Jahre auch neue +Bedürfnisse kennen lernten und befriedigt haben wollten, so +hätten wir alle Platz, und das verwünschte Amerika könnte +sehen wo es Hände und Fäuste bekäm zuzupacken und ihm den +Boden zu bestellen. Aber ich will mich nicht länger ärgern — laßt +sie laufen, nachher wird's hier erst recht gemüthlich — apropos — Ihren +Freund Weigel haben sie gestern Abend im +rothen Drachen hinausgeworfen — er wollte Dienstleute, ich +glaube einen Schäfer, verlocken nach seinem gerühmten Amerika +auszuwandern.«</p> + +<p>»Meinen <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Freund</emph>?« sagte der Professor achselzuckend, +»ich habe mit Herrn Weigel nie in einer solchen Beziehung +gestanden, aber ich achte ihn als einen Mann der ein gutes +Herz mit einer tüchtigen Portion gesundem Menschenverstand +verbindet, und besonders schätzenswerthe statistische Kenntnisse +Amerika's besitzt.«</p> + +<p>»Bah!« sagte Kellmann, den Kopf auf die Seite werfend, +und mit den Fingern schnalzend, »so viel für seine statistischen +Kenntnisse; <emph rend="letter-spacing: 0.20em">unverschämt</emph> ist er, das halt' ich für seine +Hauptforce, und er wirft Ihnen da mit der größten Kaltblütigkeit +eine Masse Zahlen in den Bart, denen man nicht gleich widersprechen +kann, weil sich der Gegenbeweis eben nicht führen +<pb n="223" /><anchor id="Pg223" />läßt. Wenn das Alles wahr ist was er über Amerika sagt, +wäre <emph rend="letter-spacing: 0.20em">er</emph> der größte Esel wenn er nicht selber hinüberginge.«</p> + +<p>»Seine Verhältnisse gestatten es ihm nicht, wie er mich +oft versichert hat,« vertheidigte ihn aber der Professor.</p> + +<p>»Ja, das kennen wir schon,« sagte Kellmann, »und wenn +mich irgend etwas glauben machen könnte daß <emph rend="letter-spacing: 0.20em">er</emph> wirklich +Amerika kennt, so wäre es der Umstand daß er selber nicht +hinübergeht.«</p> + +<p>»Im rothen Drachen war ja wohl gestern ein kleines +Fest?« frug die Frau Professorin dazwischen, die das unerquickliche +Gespräch abzubrechen wünschte.</p> + +<p>»Ja, für die Dienstleute von Hohleck,« sagte Kellmann, +»und Schollfeld und ich waren ebenfalls hinausgegangen um +den Spaß mit anzusehn.«</p> + +<p>»Und ihr Freund, der lange Actuar war nicht dabei?« +lachte Marie.</p> + +<p>»Er kam später nach,« sagte Kellmann — »der arme +Teufel ist jetzt auch immer verdrießlich und niederschlagen.«</p> + +<p>»Er hat sein Kind verloren,« sagte Anna mitleidig.</p> + +<p>»Ja, und zu Hause fühlt er sich auch wohl nicht so recht +wohl und behaglich.«</p> + +<p>»Wir haben davon gehört,« sagte die Professorin — »seine +Frau soll eigenwillig und heftig sein, und ihm oft gar +unangenehme Scenen bereiten.«</p> + +<p>»Seine Frau ist — « fuhr Kellmann auf, aber er unterbrach +sich selber wieder, und trommelte eine Weile mit den +Fingern auf dem vor ihm stehenden Tisch.</p> + +<p><pb n="224" /><anchor id="Pg224" />»Was ist Ihnen denn nur heute, Herr Kellmann?« sagte +aber Marie, jetzt zu ihm tretend und seinen Arm berührend — »Sie +schneiden ja heut Morgen ein so bitterböses Gesicht, wie +ich noch fast in meinem Leben nicht an Ihnen gesehn. Ist +Ihnen irgend etwas Aergerliches begegnet? — oder — Sie +sind doch nicht böse mit uns?«</p> + +<p>»Böse mit Ihnen? lieber Gott Mariechen,« sagte Kellmann +herzlich ihre Hand ergreifend — »ich müßte böse mit +Ihnen sein daß Sie fortgehn und mich hier allein zurücklassen; +sonst wüßt' ich wahrhaftig nicht weshalb.«</p> + +<p>»So kommen Sie mit,« lachte Marie, indem sie neckisch +zu ihm aufsah.</p> + +<p>Kellmann seufzte tief auf, sagte dann aber kopfschüttelnd, +und mit der Hand über seine Stirn streichend, als ob er sich +daraus all' die trüben Gedanken verscheuchen wollte — </p> + +<p>»Nach Amerika? — ja, weiter fehlte mir gar Nichts; +aber heute sind es wirklich andere Sachen die mir im Kopf +herumgehn.«</p> + +<p>»Ist etwas vorgefallen, und können wir Ihnen helfen, +lieber Herr Kellmann?« sagte Anna freundlich.</p> + +<p>»Ach Gott nein,« sagte der kleine Mann seufzend — »es +ist ein Stück von dem allgemeinen Elend, das über den ganzen +Erdball hinspielt, und das uns gewöhnlich mit einem unheimlichen +Gefühl, auch nicht außer dem Bereich desselben zu liegen, +durchschauert, wenn wir ihm einmal auf unserem Lebenspfad +begegnen. Sie sahen mich als ich vor dritthalb Stunden +etwa drüben aus dem Löwen kam?«</p> + +<p><pb n="225" /><anchor id="Pg225" />»Ja, Sie grüßten ja herauf,« sagte die Professorin — </p> + +<p>»Nun gut; ich war dort, einem armen Mädchen nachzufragen, +das wir gestern Abend spät auf der Straße trafen, und +das ich dorthin schickte Nachtquartier zu suchen« — Und nun +erzählte ihnen Kellmann mit kurzen Worten das gestrige Zusammentreffen +mit des unglücklichen Loßenwerder Schwester, +und ebenfalls daß sich schon jetzt herauszustellen scheine, wie der +arme Teufel von Loßenwerder unschuldig in Verdacht gerathen +sei. Nur in reiner Verzweiflung mochte er sich den Tod gegeben +haben, als man ihm das letzte, einzige das er auf der +Welt hatte — seinen ehrlichen Namen — nehmen wollte — oder +eigentlich schon von Gerichts wegen genommen hatte. Unsere +wackeren Polizeigesetze halten ja nun einmal jeden Menschen +für einen Spitzbuben, bis er nicht durch Atteste genügend dargethan +hat daß — »gegen ihn noch nichts Gravirendes bekannt +geworden.«</p> + +<p>»Und was geschieht jetzt mit dem armen, armen Mädchen?« +frugen fast gleichzeitig Marie und Anna — »lieber +Gott, hier in der fremden Stadt, allein, ohne Mittel, ohne +Freunde, wie entsetzlich müßte es da sein, wenn sie vielleicht +aus rohem Munde zuerst die furchtbare Nachricht vernähme.«</p> + +<p>»Gestern Abend,« sagte Herr Kellmann etwas verlegen, +»kam uns das Ganze wirklich so schnell und überraschend, daß +wir nicht die geringste Zeit zum Ueberlegen behielten; wir — wir +gaben ihr nur ein paar Groschen und schickten sie in den +Löwen, hier gegenüber, um da zu übernachten, damit sie nicht +in der Stadt nach ihrem Bruder früge, und die entsetzliche<pb n="226" /><anchor id="Pg226" /> +Geschichte gleich in der ersten Viertelstunde erführe; heute +Morgen wollte ich dann selber herkommen und sehn was sich +thun ließ — «</p> + +<p>»Und jetzt? — weiß sie was geschehen ist? frug die Professorin +mitleidig die Hände faltend — Herr Kellmann zuckte +mit den Achseln und sagte:</p> + +<p>»Sie ist fort — «</p> + +<p>»Fort? — wohin?« riefen die Frauen.</p> + +<p>»Kein Mensch konnte mir darüber Auskunft geben, gestern +Abend war sie richtig dort angekommen, und ihres dürftigen +Aussehns wegen in die Gesindestube gewiesen, und dort muß +sie unglückseliger Weise ihren Namen genannt, vielleicht nach +ihrem Bruder gefragt und das Schrecklichste gleich erfahren +haben, denn sie war, selbst ihr Bündel im Stich lassend, hinausgelaufen +in Nacht und Nebel und — und nicht wieder +zurückgekehrt.«</p> + +<p>»Du lieber Gott,« sagte Anna, »wenn sie sich nur kein +Leides gethan.«</p> + +<p>»Ich bin gleich zu Ledermann und dann auf die Polizei +gegangen, diese aufmerksam zu machen,« sagte Kellmann etwas +kleinlaut, »werde auch selber noch mein möglichstes thun das +arme Ding wieder aufzufinden, aber — ich weiß wahrhaftig +nicht wo man die eigentlich suchen soll, denn sie kennt ja keinen +einzigen Menschen in der Stadt.«</p> + +<p>»Und in ihres Bruders früherem Logis? — «</p> + +<p>»Hat sie Niemand gesehn — ich war dort.«</p> + +<p><pb n="227" /><anchor id="Pg227" />»Waren Sie auch schon — auf dem Kirchhof?« frug +ihn Marie jetzt leise und schüchtern.«</p> + +<p>»Wahrhaftig, daran hatte ich gar nicht gedacht,« sagte +Kellmann rasch seinen Stuhl zurückschiebend, »die Möglichkeit +ist da, und ich will keinen Augenblick mehr versäumen — vielleicht +ist es jetzt noch nicht zu spät.«</p> + +<p>»Und Sie sagen uns Antwort?«</p> + +<p>»Sowie ich etwas Bestimmtes über sie weiß — aber — aber +was dann mit ihr anfangen? — hier in der Stadt <emph rend="letter-spacing: 0.20em">kann</emph> +sie nicht bleiben,« sagte Kellmann, die Thürklinke schon in der +Hand, »und überhaupt scheint mir ihr schwächlicher Körper +zu grober Handarbeit gar nicht geeignet.«</p> + +<p>»Vielleicht bietet sich da für die Schwester in demselben +Haus ein Ausweg,« rief Anna plötzlich, »das für den Bruder +ja so viel gut zu machen, wenn er wirklich unschuldig gelitten. +Gestern Nachmittag noch klagte mir Clara ihr Leid, daß ihre +Kammerjungfer, mit der sie sehr zufrieden ist, und die ihr bis +dahin fest versprochen mitzugehn, plötzlich anderes Sinnes geworden +wäre, und sich jetzt weigerte Heilingen zu verlassen. +Clara ist so seelensgut, sie würde gewiß Alles thun was nur +in ihren Kräften steht, das arme Kind den herben Verlust vergessen +zu machen.</p> + +<p>»Aber wird sich das Mädchen selber dazu eignen?« sagte +Kellmann.</p> + +<p>»Weshalb nicht,« rief aber auch jetzt Marie — »bringen +Sie die Arme nur hierher, sobald Sie sie finden, und nehmen +sie Henkel's nicht mit, findet Papa gewiß einen Ausweg.«</p> + +<p><pb n="228" /><anchor id="Pg228" />»Ja, Papa einen Ausweg,« sagte aber der Professor — »ich +kann <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Niemanden</emph> mehr mitnehmen Kinder, so viel +solltet Ihr eigentlich jetzt schon wissen, denn wir sind Leute +genug.«</p> + +<p>»Ach wenn sie überhaupt gehen will,« rief Kellmann, +»die Passage bringen wir hier schon zusammen, und wenn sich +Fräulein Anna bei Frau Henkel für sie verwenden will, wär' +es ein Glück für das arme Mädchen, den hiesigen für sie so +trüben Verhältnissen so rasch wieder entrissen zu werden. Doch +jetzt leben Sie wohl — ich habe da nicht lange Zeit mehr zu +verlieren, und hoffe Ihnen bald günstige Nachrichten bringen +zu können.«</p> + +<milestone unit="tb" rend="stars: 5" /> + +<p>Actuar Ledermann hatte die Nacht einen heftigen Fieberanfall +bekommen, und sich am anderen Morgen auf seinem +Bureau entschuldigen lassen. Erst um zehn Uhr etwa fühlte +er sich etwas besser, und beschloß ein wenig an die frische Luft +zu gehn, in dem sonnigen Morgen draußen die trüben quälenden +Gedanken zu verscheuchen.</p> + +<p>Er ging auf den Kirchhof, das Grab seines kleinen Lieblings +zu besuchen, und nahm einen Monatsrosenstock mit hinaus, +ihn darauf zu pflanzen.</p> + +<p>Der Weg der zu dem Grab, zwischen den andern Hügeln +hin, führte, lief eine kurze Strecke die Mauer entlang, die bis +jetzt leer gelassen und von Unkraut überwuchert lag. Nur ein +einziger, unter Gras und Unkraut fast versteckter flacher Hügel war +<pb n="229" /><anchor id="Pg229" />dort aufgeworfen, über dem kein Kreuz den Namen des Hingeschiedenen +kündete, keine Blume ein sorgendes Herz verrieth, +das dem Entschlafenen die stille Thräne nachgeweint. Und +dort? — in das hohe, feuchte Gras geschmiegt, lag eine schlanke +Mädchengestalt, Stirn und Antlitz in dem wuchernden Unkraut +verborgen, auf dem die vollen aufgelösten Locken ruhten.</p> + +<p>»Lieber Gott,« sagte der Actuar, mit dem Blumenstock im +Arm neben ihr stehen bleibend, leise vor sich hin — »es ist +doch noch viel, viel Elend in der Welt, und wenn Einem recht +traurig und weh um's Herz ist, sollte man eigentlich immer +hinaus auf den Kirchhof gehn. Da haben die Leute nicht +ihre glatten unbewegten Alltagsgesichter vor, sondern geben +sich wie sie sind, und wenn es auch eben kein Trost sein sollte +andere Menschen unglücklich zu sehn, ist es doch jedenfalls +einer, zu wissen daß man es nicht allein ist.« Und sich +langsam abwendend schritt er dem Grabe seines Kindes zu, +setzte den Blumentopf auf den kleinen Hügel, und sich selber +dann auf eine dicht daneben liegende Marmorplatte, die das +Grab eines anderen Menschen deckte.</p> + +<p>Dort blieb er lange, das Gesicht mit den Händen bedeckt, +und regungslos in seiner Stellung verharrend, seinen schmerzlichen +Gedanken überlassen, bis die Sonne höher und höher +stieg, und ein stechender Kopfschmerz ihn mahnte den, den heißen +Strahlen vollkommen ausgesetzten Platz zu verlassen, wenn er +sich nicht noch kränker machen wollte als er schon war. Er +stand auf, und sah sich nach dem Todtengräber um, diesen zu +bitten den Blumenstock für ihn einzusetzen, und fand ihn auch, +<pb n="230" /><anchor id="Pg230" />nicht weit von dort entfernt, mit einem neuen Grabe beschäftigt. +Langsam seinen Spaten schulternd ging er mit ihm zu +dem verlangten Platz, und dort sein Handwerksgeräth neben +sich in den Boden stoßend und sich den Schweiß von der <corr sic="gluhenden">glühenden</corr> +Stirne trocknend, sagte er freundlich:</p> + +<p>»Warmer Tag heute, Herr Actuar — sehn Sie einmal +was für ein schönes <corr sic="Stockchen">Stöckchen</corr>; das müssen wir aber ordentlich +angießen, sonst vertrocknet es gleich in der lockeren Erde — werde +Ihnen das schon besorgen.«</p> + +<p>»Bitte sein Sie so gut,« sagte Ledermann, und der Mann +nahm den Stock auf, drehte ihn um und schlug mit der flachen +Hand unter den Topf, diesen locker und los zu bekommen.</p> + +<p>»Kennen Sie das junge Mädchen was da auf dem Grabe +an der Mauer liegt?« frug der Actuar jetzt, als sein Blick wieder +zufällig dort hinüber streifte — »dort drüben meine ich.«</p> + +<p>»Ja ich weiß schon,« sagte der Mann, ohne den Kopf zu +wenden und mit seiner Arbeit beschäftigt — »nein — sie saß +vor dem Kirchhofsgitter schon heut' Morgen wie ich <corr sic="offnete">öffnete</corr>, +um drei Uhr <corr sic="fruh">früh</corr>, und muß die ganze Nacht da zugebracht +haben. Wie ich das Thor aufmachte frug sie mich nur nach +dem Grabe eines armen Teufels, den wir hier vor kurzer Zeit +zu Ruh gebracht, und ist seit der Zeit nicht von dort weggegangen. +Das kommt manchmal vor.«</p> + +<p>»Und wer liegt da begraben?« frug Ledermann schnell, +dem ein plötzlicher Gedanke an das Mädchen von gestern Abend +aufstieg.</p> + +<p rend="page-float: 'htb'; text-align: center"> +<figure url="images/illu005.jpg" rend="w50"> +<figDesc>Capitel 9</figDesc> +</figure> +</p> + +<p>»Dort an der Mauer?« sagte der <corr sic="Todtengraber">Todtengräber</corr>, »ih Sie +<pb n="231" /><anchor id="Pg231" />wissen ja, der kleine bucklige Bursche, der von der Brücke gesprungen +war, und sich den Kopf aufgeschlagen hatte.«</p> + +<p>Dem Actuar fuhr es mit einem eisigen Stich durchs +Herz, aber er erwiederte Nichts, gab dem Mann eine Kleinigkeit +für seine Dienstleistung, und ging dann langsam, als ihn +dieser wieder verlassen und seine frühere Arbeit aufgenommen +hatte, zu Loßenwerder's Grab, wo die Trauernde noch still und +regungslos in ihrem Jammer lag. Nur das krampfhafte Zittern +des Körpers verrieth das darin wohnende Leben.</p> + +<p>»Liebes Kind,« sagte Ledermann leise — das Mädchen +bewegte sich nicht — »mein liebes Kind,« sagte er lauter, und +berührte ihre Schulter mit seinem Finger. Langsam hob sie +das bleiche, Thränen überströmte Gesicht zu ihm empor, und +als sie den fremden Mann neben sich sah, richtete sie sich verwirrt, +beschämt aus ihrer Stellung auf.</p> + +<p>»Aber wie können Sie sich hier so Stunden lang in das +feuchte Gras werfen,« sagte der Actuar mit freundlichem Vorwurf — »Sie +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">müssen</emph> ja krank werden — nicht wahr, Sie +kennen mich nicht mehr?«</p> + +<p>Das Mädchen sah ihn groß und verwundert an, und schüttelte +dann langsam mit dem Kopf.</p> + +<p>»Ich sprach gestern Abend mit Ihnen, draußen vor dem +Thor, wo die Musik in dem Hause war,« sagte Ledermann — »hatten +Sie gar keine Ahnung von dem Schicksal des +Bruders?«</p> + +<p>»Keine,« sagte die Arme leise, das Köpfchen wieder +senkend.</p> + +<p><pb n="232" /><anchor id="Pg232" />»Und wo erfuhren Sie seinen Tod?«</p> + +<p>Das Mädchen schauderte zusammen als sie des Augenblicks +gedachte, und sagte endlich, wie mit angstgepreßter +Stimme:</p> + +<p>»Gestern Abend in dem Haus — die Leute in der Gesindestube +frugen mich wo ich herkäme und um meinen Namen, +und dann — </p> + +<p>»Und dann?« frug der Actuar mitleidig, als das Mädchen +schwieg und ihr Antlitz wieder zitternd in den Händen +barg — </p> + +<p>»Dann sagten sie« — setzte das Mädchen, am ganzen +Körper bebend hinzu — »daß Einer der so hieß — und sie +spotteten dabei über sein Gebrechen — daß Einer — hier — « +sie vermochte nicht auszureden und warf sich, rücksichtslos um +den neben ihr stehenden Fremden, und in krampfhafter Verzweiflung, +wieder auf das Grab nieder, das sie laut schluchzend mit +ihren Armen umschlang, und den Bruder rief, sie zu sich zu +nehmen in sein stilles, kühles Bett.</p> + +<p>Nur mit Mühe, und herzlichen tröstenden Worten die er +zu ihr sprach, brachte sie Ledermann, als sich ihr Schmerz in +etwas ausgetobt, endlich dahin sich etwas zu fassen und zu beruhigen, +und ihm mehr über ihr Schicksal und sich selber zu +sagen. Sie hieß Hedwig, war funfzehn Jahr alt und hatte +bis zu ihrem elften Jahr bei einer entfernten armen Verwandten +zugebracht, nach deren Tode sie, ein Kind noch, bei fremden +Leuten in Dienst gehen mußte. Ihre Elteren schienen in +besseren Verhältnissen gelebt zu haben, waren aber früh ge<pb n="233" /><anchor id="Pg233" />storben, +und die Waisen sich selber überlassen gewesen. Ihr +um zehn Jahr älterer Bruder Franz hatte sie dabei noch immer +dann und wann von dem Wenigen was er selber verdiente, +unterstützt, auch ihr vor einigen Monaten — und das mußte +etwa grade vor seinem Tode gewesen sein, geschrieben, daß er +recht sparsam lebe, und bald so viel zusammen zu haben hoffe +mit ihr, der Schwester, nach Amerika auszuwandern, dort +vielleicht ein kleines Geschäft oder irgend etwas Anderes anzufangen, +ehrlich durch die Welt zu kommen. Hedwigs Aussage +nach mußte er ihr auch die genaue Summe geschrieben +haben, die er besaß, und als sie der Actuar dringend bat ihm +den Brief zu verschaffen, wenn es irgend möglich sei, da der +vielleicht vollständig des Bruders Unschuld beweisen konnte, +zog sie aus ihrer Brust das zusammengefaltete und dort bis +jetzt sorgfältig bewahrte Papier. Es war das letzte was sie +von ihm bekommen, und als Monat nach Monat verstrich +und keine neue Nachricht kam, wurde sie zuletzt unruhig und +schrieb nach Heilingen. Aber auch hierauf erhielt sie keine +Antwort und nicht mehr im Stande die Ungewißheit zu ertragen, +verließ sie ihren Dienst und machte sich, mit wenigen +Groschen in der Tasche auf, den weiten Weg zu Fuß zurückzulegen. +Und ihr Empfang? großer Gott mit Spott und +Hohn wurde ihr Bruder — das einzige noch auf der Welt +ihr gehörende Wesen, das sie mehr als sich selber liebte — eines +furchtbaren Verbrechens beschuldigt, in Folge dessen er +sich selber das Leben genommen, und schlimmer, gewaltiger +noch als die Nachricht seines Todes, erschütterte das reine, +<pb n="234" /><anchor id="Pg234" />vertrauensvolle Herz des armen Kindes der erste <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Zweifel</emph> an +den Hingeschiedenen, der doch heimlich und quälend in ihr aufsteigen +wollte, wie sie sich auch dagegen sträubte; und doch +<emph rend="letter-spacing: 0.20em">wußte</emph> sie daß er keiner schlechten Handlung fähig gewesen sei.</p> + +<p>Während dieser Erzählung flossen ihre Thränen stärker; +wenn aber der Schmerz auch nur mehr aufgerüttelt wurde durch +das Wiederdurchleben vergangener Scenen, fand sie doch auch +einen Trost in dem Aussprechen über ihren Verlust. Der Actuar +überlas indeß flüchtig den Brief, und den Datum mit +dem verübten Raub vergleichend sah er, ob Loßenwerder nun +schuldig oder unschuldig sei, daß jenes, bei ihm gefundene +Geld sein Eigenthum gewesen sein müsse, schon vor dem Tag, +und nicht mehr als Beweis gegen ihn gelten konnte.</p> + +<p>So traf sie Kellmann, der von Lobensteins direct auf den +Gottesacker gegangen war, das arme Mädchen aufzusuchen. +Mit wenigen Worten sagte ihm der Actuar was er von ihr +erfahren, und der gutmüthige kleine Kürschner setzte sich neben +sie auf das Grab des Bruders, nahm ihre Hand in die seine, +und diese streichelnd sprach er ihr Muth und Hoffnung in das +arme gequälte Herz. Sie sollte nicht mehr allein stehn auf +der Welt; er wollte Freunde für sie finden, die sich ihrer annähmen, +und sie Beide, Ledermann und er, wollten nicht ruhen +noch rasten bis ihres Bruders Name wieder ehrlich gemacht +sei vor der ganzen Stadt; lieber Gott, sie konnten ja nichts mehr +für den Armen thun.</p> + +<p>Hedwig weinte, während er sprach; aber die Thränen +lösten ihren Schmerz — die freundlichen Worte; oh die ersten +<pb n="235" /><anchor id="Pg235" />wieder seit so langer, langer Zeit die sie gehört, thaten ihr +wohl und bannten die Verzweiflung aus ihrem Herzen, der sie +ja sonst wohl rettungslos verfallen wäre. Wieviel Segen hat +schon ein herzliches Wort gebracht, dem Unglücklichen gespendet — wie +viele Thränen getrocknet, wie manches Weh, +wenn es nicht heilen konnte, doch gelindert.</p> + +<p>Kellmann erbot sich dann auch, sie zu seiner Mutter zu +führen, wo sie wenigstens bleiben konnte bis sich etwas Weiteres +entschieden. Von Amerika sagte er ihr noch Nichts, die +nächsten Tage mochten sie erst mit dem Gedanken vertrauter +machen, wenn sie hörte wie viel Leute die auch ihren Bruder +gekannt und liebe Freunde von ihm selber seien, gerade jetzt +nach dort hinübergingen.</p> + +<p>Hedwig zögerte noch schüchtern das gütige Erbieten anzunehmen, +aber die Worte klangen so herzlich, so gut gemeint, +sie stand so hülflos, so allein in der weiten Welt, der fremde +Mann erschien ihr wie ein Engel des Himmels in ihrem +Schmerz, und unter Thränen nahm sie seine Hand und dankte +ihm, und sagte daß sie ihm folgen würde, wohin er sie führe.</p> +</div> +<div rend="page-break-before: always"><pb n="236" /><anchor id="Pg236" /> +<index index="toc" level1="Die beiden Familien" /> +<index index="pdf" level1="Die beiden Familien" /> +<index index="pdb" level1="D. bd. Familien" /> +<head type="sub" rend="text-align: center">Capitel 10.</head> +<head rend="text-align: center">Die beiden Familien.</head> +<p>Der Leser muß mir noch, ehe wir unsere weitere Wanderung +zusammen antreten, zu zwei Stellen folgen, in Lage +und Art freilich gar sehr verschieden. Den Characteren, die wir +dort finden, begegnen wir später wieder, theils auf der Reise, +theils in ihrem neugewählten Vaterland.</p> + +<p>An der Hannöverschen Grenze lag ein kleines Dorf, Waldenhayn +mit Namen, und fast versteckt zwischen mächtigen +Linden und Fruchtbäumen, die es von allen Seiten dicht umgaben.</p> + +<p>Mitten im Dorf auf einem flachen, aber die ganze Ortschaft +überschauenden Hügel stand die Kirche, und daneben das +kleine freundliche Pfarrhaus, das sein Dach über gute und +glückliche Menschen gespannt hatte, Jahrzehnte lang — und +heute? — Guter Gott welche Veränderung in dem Haus — der +Vater, Pastor Donner, still und ernst in seinem Sorgen<pb n="237" /><anchor id="Pg237" />stuhl, +und, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, ordentlich +eingehüllt in eine dichte Tabakswolke, die Mutter mit verweinten +Augen, und doch immer geschäftig herüber- und hinübergehend, +bald aus der in jene Stube, Kleinigkeiten zu besorgen +die sie immer wieder vergaß, ehe sie nur das andere Zimmer +betreten.</p> + +<p>Der älteste Sohn Georg ging zu Schiff — ging nach +Amerika über das weite, wilde Weltmeer nach einem anderen +Vaterland, dort für den unruhigen Geist das Glück zu suchen, +das er hier nicht fand, und »wann würden sie ihn — ja würden +sie ihn je wieder sehen?« Oh es ist ein großer Schmerz +für ein Elternherz ein Kind in der Blüthe der Jahre zu verlieren — wie +viel Sorge, wie viel schlaflose Nächte hat es gemacht, +bis es wuchs und gedieh; welche Hoffnungen knüpften +sich an das junge Wesen, und blühten und reisten mit ihm; +wie treulich wurde da nicht jeder Schritt bewacht, den noch +unsicheren Fuß vor Stoß und Fall zu schützen, wie ängstlich +jedem bösen Eindruck gewehrt, der Herz oder Geist hätte vergiften +können. Und nun das Alles preiszugeben der Welt, +ihren Verführungen, ihren Gefahren für Geist und Körper, +das Alles preiszugeben und hinausgeworfen zu sehn auf die +stürmischen Wogen des Lebens — sich selbst überlassen, und +der eigenen, vielleicht doch noch zu schwachen Kraft. Wie viele +heimliche Thränen werden da geweint, wie trüb und traurig +liegt da oft des Kindes Zukunft vor dem ahnenden Blick des +Vaters und der Mutter — Krankheit wird es erfassen und +halten, und keine liebende Hand in der Nähe sein, es zu pflegen +<pb n="238" /><anchor id="Pg238" />und ihm den Schweiß von der heißen, glühenden Stirn zu +trocknen, die Verführung ihre falschen, goldblinkenden Netze +nach ihm auswerfen, und keine treu warnende Stimme ihm +zur Seite stehn — Noth und Mangel vielleicht in bitterem +Weh auf ihm lasten, und Niemand da sein, der ihm Hülfe +bringt, und den Unglücklichen tröstet und unterstützt — Mutter +und Vater sind fern, fern von dem Geliebten, seine Klage +dringt nicht herüber zu ihnen — ihr Trost und Hülfswort +nicht zurück zu ihm.</p> + +<p>Und ein solcher Abschied dann — der Tod pocht nicht +viel härter an des Glückes Thor, und das Bewußtsein den +Geschiedenen still und geschützt in kühler Erde zu wissen, auf +der die treu gepflegten Blumen keimen, ist oft noch weniger +bitter als dieser <emph rend="letter-spacing: 0.20em">freiwillige</emph> Tod — der Fortgang über's +Meer, in eine fremde, ungekannte Welt — vielleicht so ohne +Wiederkehr wie jener, und ohne jedes beruhigende Gefühl der +Sicherheit. Der Scheidende ist da noch immer besser, weit +besser daran als die Zurückbleibenden; ihm liegt die Welt jetzt +frei und offen da, jede Stunde draußen, jede Meile Wegs +bringt ihm Neues, Unbekanntes, und wehrt dem Blick nur an +dem einen Schmerz zu haften. Er hat auch zu sorgen, für +sich und sein Gepäck, seine ganze Zukunft ist ihm in der einen +Stunde in die eigene Hand gegeben — ein ungewohnt Geschäft +bis jetzt — und fremde Landschaft, fremde Scenen wechseln +so rasch an ihm vorüber, daß jedes Bild einen Theil des +alten Schmerzes fortführt mit sich. Selbst der Gedanke an die +Verlassenen hat nicht das Herbe, Bittere für ihn, als es für +<pb n="239" /><anchor id="Pg239" />diese hat, wenn sie sein gedenken, und sich mit Vermuthungen +quälen müssen wie es jetzt ihm geht, was er thut, was er +treibt, wo er jetzt gerade weilt. <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Er weiß</emph> in welchem Kreis +die Seinen sich bewegen, kennt in jeder Tageszeit ihre kleinen, +häuslichen Beschäftigungen, ihr gleichmäßiges Wirken und +Schaffen, und sein Herz, das immer noch daheim bei ihnen +weilt, wahrt seinen festen Anhaltspunkt an sie sich unverkümmert +fort, bis das Bild, von anderen dicht umdrängt in weiter +immer weiterer Ferne langsam erbleicht, und nur noch auf dem +Hintergrund des Herzens wie schlummernd liegt, in seinen +Träumen ihn zu segnen, oder dereinst, wenn die Welt ihn kalt +und rauh von sich stößt, und er allein und freundlos sich da +fühlt, wieder aufzuglühen in aller Frische und Wärme, ein +Trost und Hoffnungsziel, dem armen, einsamen Wanderer.</p> + +<p>Georg war ein junger lebenskräftiger Mann von dreiundzwanzig +Jahren, mit dunkelbraunen, vollen, ihm frei und ungescheitelt +über die offene sonngebräunte Stirn fallenden Locken, +schwarzen klaren Augen und freien, gutmüthigen Zügen, die +selbst eine breite dunkle Narbe über den rechten Backen, der +Autograph eines Commilitonen, nicht entstellen konnte. Er hatte +Medicin studirt, und sich das Doctordiplom mit eifrigem Fleiß +verdient, aber die Aussichten für einen jungen Arzt waren trüb +und unversprechend in seiner Heimath, und jene fremde Welt, +von der er schon so viel gelesen und gehört, zog ihn mächtig +an. Sein Vater konnte und wollte dieses Streben nicht bei +ihm unterdrücken; auch er erkannte die Banden, die hier einen +kräftigen Geist so leicht in Fesseln legen, und ehrte den Wunsch +<pb n="240" /><anchor id="Pg240" />und Drang der jungen, nach Thaten dürstenden Brust, einen +Schauplatz zu finden für ihr Sehnen und Wirken, wenn er +sich auch wohl selber dann wieder mit einem schweren Seufzer +gestehen mußte, wie manche Hoffnung der Sohn zertrümmert, +wie manche Erwartung er getäuscht sehn würde in dem neuen +Leben, das jetzt ihm freilich im vollen Glanz einer aufsteigenden +Sonne, von warmem Lichte übergossen winkte. Und wie +würde sich sein Herz dann bewähren, das jetzt jubelnd zu den +blinkenden, Flaggen- und Blumengeschmückten Wällen seiner +eigenen Luftschlösser aufschaute, wenn es an deren Trümmern +stand? oh daß er dann hätte an seiner Seite stehen und ihn +leiten dürfen den dunklen, schmalen Pfad zum wahren Glück — retten +ihn dann vor sich selbst und seinem bittern Weh.</p> + +<p>Aber die Zeit lag noch fern, und weshalb sich selbst den +Augenblick vergiften, wo sich der Himmel noch blau und rein +über seiner Zukunft spannte. Georg selbst sah auch Nichts +von solchen trüben Bildern, die das Herz des Vaters oft mit +banger Trauer füllten; ihm war das Thor jetzt weit und frei +geöffnet, das hinaus in's Leben führte und an dessen Schwelle +er stand, und nur die Trennung noch vom Vaterhaus lag +schwer auf seiner Seele.</p> + +<p>Am schwersten freilich trug gerade diese Stunde, weil +ganz und ungetheilt, das Mutterherz. Nicht dachte <emph rend="letter-spacing: 0.20em">sie</emph> in diesem +Augenblick an die Hoffnungen die dem Sohne in der Welt +draußen blühen, an die Gefahren die ihm drohen könnten; sie +sah und fühlte Nichts, als die Trennung von dem <emph rend="letter-spacing: 0.20em">Kind</emph>, den +Abschied von dem Heißgeliebten, und wie im Traum hatte sie +<pb n="241" /><anchor id="Pg241" />schon den ganzen Tag ihren gewöhnlichen Beschäftigungen +obgelegen, wie im Traum noch einmal seine Lieblingsgerichte +bereitet für den Abend, den letzten Abend, den er im Vaterhause +zubringen würde.</p> + +<p>Lieber Gott, die Speisen kamen Abends auf den Tisch +und wurden gegessen, aber Keiner von allen, die jüngsten Geschwister +ausgenommen, schmeckten was sie aßen; man sprach +dabei über das an dem Nachmittag fortgesandte Gepäck, über +das Wetter, über die Uhr die zehn Minuten vorging — Georg +trug Grüße auf an alle seine Bekannte, die sich noch seiner erinnerten. +Er hatte an dem Tag noch selber ein paar Briefe +schreiben wollen, war aber nicht dazu gekommen — Vieles +Andere war ihm ebenfalls entfallen; so wollte er einen Absenker +von dem Rosenstock mitnehmen der vor der Mutter Fenster +blühte, und jetzt blieb ihm doch keine Zeit mehr; aber während +dem Essen stand die Schwester — unvermißt — vom Tische +auf, ging hinaus, grub einen Absenker aus, und brachte ihn +in einem kleinen Topf dem Bruder, dem sich die Thränen in +die Augen zwangen — er mochte kämpfen dagegen wie er +wollte als er die Gabe sah. Die Mutter stand vom Tisch +auf und ging hinaus — nicht ein Wort wurde gesprochen +so lange sie fort war. Die Speisen verschwanden dabei von +den Tellern und der Wein wurde getrunken, und die Mutter +kam zurück und nahm ihren Platz wieder ein, lautlos wie +vorher; man konnte den langsamen Gang der Uhr hören, an +der Wand.</p> + +<p>Da endlich füllte der Vater sein Glas bis zum Rand, +<pb n="242" /><anchor id="Pg242" />hob es mit der Linken und ergriff mit der anderen Georgs +Hand. Er hatte etwas zum Herzen des Sohnes, zum Trost +vielleicht der Mutter sprechen wollen, aber die Worte schwollen +ihm im Mund — er brachte eine volle Minute keine Sylbe +über die Lippen, und sich gewaltsam fassend und zusammennehmend +sagte er endlich.</p> + +<p>»Auf ein frohes Wiedersehn Georg!«</p> + +<p>Georg preßte des Vaters Hand und trank ihm und der +Mutter und den Geschwistern zu — und die Mutter hob ihr +Glas und stieß mit dem Sohne an, aber mehr vermochte das +Mutterherz nicht — zu lange hatte sie jetzt gewaltsam gegen +ihr eigenes Gefühl an- und den Schmerz niedergekämpft, den +Anderen zu Liebe; länger war sie es nicht im Stande, und das +Glas mit zitternder Hand niedersetzend, daß der Wein über +und auf das Tischtuch floß, stand sie auf, warf die Arme +krampfhaft um den Hals des Sohnes und schluchzte laut.</p> + +<p>»Mutter, liebe — liebe Mutter — «</p> + +<p>»Mein Kind — mein Kind,« jammerte die Frau und der +Schmerz wuchs an Heftigkeit, wie der mächtig aber still dahinwälzende +Strom schäumend hinausdonnert in's Freie, wo er +sich erst einmal Bahn gebrochen aus seinem Bett — »mein +liebes — liebes Kind.«</p> + +<p>»Aber Mutter,« bat der Pastor, »fasse Dich; es ist ja doch +nur vielleicht auf kurze Zeit, bis sich der Junge draußen die +Hörner abgelaufen, und ihm die Heimath anders aussieht wie +jetzt; dann kommt er wieder.«</p> + +<p>»Liebe — liebe Mutter,« flüsterte Georg, sie innig an sich +<pb n="243" /><anchor id="Pg243" />schließend, und auch ihm erstickten unaufhaltsam fließende +Thränen die Stimme.</p> + +<p>Die Geschwister weinten auch, und der Vater war aufgestanden +und ein paar Mal mit raschen Schritten, wie um +den Anderen Zeit zu geben, eigentlich aber nur seine eigene +Fassung wiederzugewinnen, im Zimmer auf- und abgegangen. +Jetzt blieb er neben der Gattin und dem Sohne stehn, und +sie langsam trennend sagte er mit sanfter, bittender Stimme:</p> + +<p>»Kommt Kinder, kommt — macht Euch selber nicht das +Herz zum Brechen schwer; das ist unrecht. Ueberdies quält Ihr +Euch zweimal, und habt morgen früh noch dasselbe Leid. Es +ist eine lange Trennung, aber keine Trennung für's Leben — wir +sind Alle noch rüstig und gesund, und werden uns, +will es Gott, hoffentlich Alle einmal froh und freudig in die +Arme schließen können.«</p> + +<p>»Aber Du schreibst bald, Georg,« flüsterte die Mutter sich +mit aller Kraft zusammennehmend — »Du läßt uns nie lange +ohne Nachricht, nicht wahr Du versprichst mir das?«</p> + +<p>»Gewiß Mutter, gewiß — so oft ich kann — aber ängstigt +Euch nur auch nicht, wenn einmal ein Brief länger ausbleibt +als gewöhnlich; der Weg ist weit, und ein Brief kann +leicht verloren gehn.«</p> + +<p>»So, und jetzt zu Bett Kinder,« mahnte der Vater — »es +ist spät geworden, sehr spät, und Du mußt früh wieder heraus +Georg, die Post nicht zu versäumen; sind Deine Koffer hinübergeschafft?«</p> + +<p>»Es ist Alles drüben,« sagte die Mutter, sich aus den<pb n="244" /><anchor id="Pg244" /> +Armen des Sohnes windend und ihre Thränen trocknend, +»nur sein Ueberrock ist noch hier, den er anzieht, und die kleine +Tasche in die er morgen früh sein Nacht- und Waschzeug steckt — doch +das besorg' ich schon selber und werd' es nicht vergessen. +Ich bin früh auf, Georg, Du mußt ja doch auch noch +Deinen Kaffee haben bevor Du gehst.«</p> + +<p>»Gute Nacht Mutter!« rief Georg, umschlang sie noch +einmal und küßte ihr Lippen, Augen und Stirn, »gute Nacht +meine gute, gute Mutter — gute Nacht!«</p> + +<p>»Gute Nacht mein Georg, mein Kind,« sagte die arme +Frau unter Thränen — »schlaf nur jetzt recht aus — zum +letzten Mal unter unserem Dach — für die nächste Zeit wenigstens,« +setzte sie rasch hinzu — »denn mit Gottes Beistand +hoff' ich soll es nicht das letzte Mal gewesen sein — und — und +meinen Segen nimm mit Dir, wohin Du gehst — wo +Du weilst — was Du thust — — er ruhe auf Dir, mein +gutes, gutes Kind!«</p> + +<p>Georg beugte sich unwillkürlich dem ernsten heiligen Wort — seine +ganze Gestalt zitterte dabei, und die Mutter mußte +sich endlich mit freundlicher Gewalt aus seinen Armen winden; +dann aber floh sie auch hastigen Schrittes aus dem Zimmer, +sich in dem eigenen Kämmerlein recht, recht herzlich auszuweinen.</p> + +<p>Die Geschwister sagten dem Bruder jetzt gute Nacht — die +älteste Schwester Louise hing lange an seinem Hals, aber +riß sich los, den Schmerz der Eltern nicht zu vermehren. Die +Jüngeren küßten ihn auf die Wangen und sagten. »Gute<pb n="245" /><anchor id="Pg245" /> +Nacht Georg — weck' uns nicht zu spät morgen früh, daß wir +Dir auch noch können glückliche Reise wünschen.«</p> + +<p>Georg küßte sie herzlich und bat sie brav und gut zu sein, +und Vater und Mutter Freude — viel Freude zu machen, +denn er selber ginge nun fort, und die Eltern würden deshalb +recht traurig sein.</p> + +<p>»Gute Nacht Georg,« sagte der Vater, als die Kinder zu +Bett gegangen waren, und Alle, außer ihm, das Zimmer verlassen +hatten, »habe keine Angst daß Du die Post morgen verschläfst, +ich wache schon auf zur rechten Zeit — gute Nacht +mein Sohn. Komm komm, fange nicht selber wieder an, +und mach' mir das Herz nicht schwer vor der Zeit — aber +Georg, um Gottes Willen was ist Dir? — sei ein Mann — Nun +ja — so lange die Frauen da waren hat es mir auch +das Herz fast abgedrückt — man darf es sie ja nicht so merken +lassen, sonst zerfließen sie ganz — «</p> + +<p>»Mein lieber — lieber Vater,« schluchzte Georg an seinem +Halse.«</p> + +<p>»Mein guter, guter Sohn!« flüsterte der Pastor, des +Kindes Stirne küssend, und jetzt selber im Innersten ergriffen +und bewegt — »bleibe brav — bleibe so brav wie Du +bist — ich kann Dir nichts Besseres wünschen — trage Gott +im Herzen und Dich selbst, und — Deiner alten Eltern Bild, +deren Segen Dir folgt auf allen Deinen Wegen.«</p> + +<p>»Mein Vater!«</p> + +<p>»So mein Sohn — jetzt gute Nacht und bete zu Deinem<pb n="246" /><anchor id="Pg246" /> +Schöpfer daß er uns morgen in der schweren Abschiedsstunde +stärkt — gute Nacht mein Georg — gute Nacht.«</p> + +<p>Leise machte er sich los aus des Sohnes Arm, küßte ihn +noch einmal, und verließ dann rasch das Zimmer. Georg +aber blieb lange, lange Minuten auf dem Stuhle sitzen wo +ihn der Vater verlassen, das Gesicht in seinen Händen bergend.</p> + +<p>»Gute Nacht,« flüsterte er endlich leise und kaum hörbar, +als Alles schon im Hause still war, und zu Ruhe gegangen — »gute +Nacht Ihr Lieben und Gott schütze Euch und mich; aber +nicht möglich wäre es mir, die furchtbare Trennungsstunde noch +einmal durchzuleben, nicht möcht' ich Dir Vater, Dir Mutter den +Schmerz, das bittere Weh zum zweiten Mal bereiten. Es ist +vorbei — Alles vorbei, und wenig Stunden noch und die +Heimath selber liegt, ein schöner Traum nur, in der Erinnerung +Tiefe. So denn an's Werk« setzte er fest und entschlossen hinzu, +»und ob das Herz darüber brechen will, »durch« ist mein Wahlspruch +jetzt, durch Nacht zum Licht — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">durch</emph>.«</p> + +<p>Und mit den, fest zwischen den zusammengebissenen Zähnen +gemurmelten Worten stand er auf, und sein Schlafzimmer +öffnend warf er den Rock ab, und badete Gesicht und Nacken +in kühlem Wasser. Dann, als er die Glut die ihn durchtobte, +in etwas gelöscht, packte er den kleinen Nachtsack mit den, sorglich +für ihn auf dem Waschtisch ausgebreiteten Gegenständen, +zog sich wieder an, knöpfte den Ueberrock bis an den Hals zu, +denn die Nacht war kalt, und nach der gehabten Aufregung +fröstelten ihn die Glieder, und im Zimmer umherschauend fiel +sein Blick auf den, unter dem Spiegel stehenden, für ihn ein<pb n="247" /><anchor id="Pg247" />geschlagenen +Rosenstock. Rasch barg er ihn in der weiten Tasche +seines Ueberrocks, öffnete dann das Fenster, das in den Garten +hinaus und von da über den Kirchhof führte, der Landstraße +zu, und schwang sich auf das Fensterbret.</p> + +<p>»Ade!« flüsterte er, »ade Du trautes, liebes Haus, ade — Gott +halte seine Hand über Dir, und schütze die lieben Menschen — ade, +ade.« Und von dem Bret hinunterspringend in +den Garten, durcheilte er diesen, schwang sich leicht über die +Kirchhofmauer, die er als Kind unzählige Male überklettert, +und schritt dann langsam und traurig seinen einsam dunklen +Weg entlang.</p> + +<milestone unit="tb" rend="stars: 5" /> + +<p>Noch hob sich die Sonne nicht über den östlichen Fichtenhang, +und der dämmernde Tag grüßte eben die schlummernde +Erde, als sich die Mutter von ihrem Lager hob, das Mädchen +weckte daß es Feuer in der Küche mache, den Kaffee bereit zu +halten, und dann den Mann rief, dem Sohn ade zu sagen. +Pastor Donner hatte aber auch nur in unruhigem Schlaf +gelegen — die Gedanken und Sorgen ließen ihn nicht ruhen, +und wie aus bösem Traum fuhr er oft empor, mit einem +wehen Stich durch's Herz zurückzusinken, <emph rend="letter-spacing: 0.20em">daß</emph> es eben kein +Traum sei, der ihn bedrücke und quäle.</p> + +<p>Er stand auf, zog sich an, und während die Mutter draußen +in der Küche sorgte, dem Sohn ein rasches Frühstück zu bereiten, +ging der Vater hin ihn zu wecken.</p> + +<p><pb n="248" /><anchor id="Pg248" />»Georg!« sagte er, als er die Thür öffnete, die in des +Sohnes Kammer führte — »Georg — es wird Zeit — heiliger +Gott!« unterbrach er sich aber rasch und erschreckt als er +das Gemach leer, das Bett unberührt und keine Spur mehr +von dem Kinde fand — »heiliger, erbarmender Gott — er ist +fort.« Und wie er sich auch vorgenommen sich zu fassen, und +der Frau, dem Kind, die letzten Augenblicke nicht mehr zu erschweren, +durch seine eigene Schwäche, traf ihn <emph rend="letter-spacing: 0.20em">der</emph> Schlag +doch zu hart — zu unerwartet. In diesem Augenblick betrat +die Mutter das Zimmer, und sah wie der Vater sich erschüttert +von der Thür abwandte und das Antlitz in den Händen barg.</p> + +<p>»Mein Sohn — mein Kind!« stammelte sie, in der sie +durchzuckenden Ahnung des Geschehenen, der sie wie ein jäher +Schlag in's Herz traf — »wo ist — wo ist Georg?« Aber +der Vater zog sie an die Brust, und ihre Stirn, auf die seine +heißen Thränen fielen, küssend, flüsterte er leise:</p> + +<p>»Er hat uns den Schmerz des Abschiedes sparen wollen, +Louise — er ist fort.«</p> + +<p>»<emph rend="letter-spacing: 0.20em">Fort!</emph>« hauchte die Frau — kaum noch den Sinn der +Worte fassend, und brach bewußtlos in den Armen des Gatten +zusammen.</p> + +<milestone unit="tb" rend="stars: 5" /> + +<p>Außerhalb Waldenhayn, wenn auch noch zu demselben +Kirchspiel gehörend, und dicht an der Grenze des bis hier herniederlaufenden +Holzes, stand ein kleines, schon halb verfallenes<pb n="249" /><anchor id="Pg249" /> +Haus, das früher einmal von einem Forstgehülfen des herrschaftlichen +Waldes bewohnt, dann aber nicht mehr benutzt, +und um ein Billiges, eigentlich auf Abbruch, verkauft worden +war. Der Mann der es kaufte aber, hatte früher ebenfalls in +herrschaftlichen Diensten gestanden, und dann das Metzger-Handwerk +getrieben; sein wildes, liederliches Leben jedoch +ließ sein Geschäft nicht fördern, noch vorwärts gehn. Er schien +auch keine rechte Lust an einer regelmäßigen Arbeit zu haben, +heirathete dann, als er Alles was er sein nannte, durchgebracht, +ein Mädchen vom herrschaftlichen Gut, das den Dienst +dort verlassen mußte und von dem Herrn selber eine Abstandssumme +bekam, und kaufte mit dem Gelde eben das kleine unwohnliche +Gebäude, das er nichtsdestoweniger bezog, und sich +jetzt angeblich vom Viehhandel ernährte. Er zog im Lande +herüber und hinüber, und kaufte und verkaufte Vieh, mehr +aber noch trieb er sich in den Wirthshäusern herum, wo er +trank und spielte, und den schlimmsten Ruf im Lande hatte, +den ein Mensch haben kann, ohne daß jedoch die Polizei den +mindesten Halt an ihn bekommen konnte. Aber die ordentlichen +Leute zogen sich von ihm zurück; Niemand mochte Umgang +mit ihm oder seinem Weibe haben, und auf dem Weg +zu seinem Hause wuchs Gras; wen dort nicht ein besonderes +Geschäft hinführte, betrat ihn nimmer.</p> + +<p>So hatte der »schwarze Steffen,« wie er im Lande seines +dunklen Haares und Aussehns wegen hieß, sechs Jahre in dem +kleinen Haus gewohnt, und sein Weib ihm, außer dem Kind +das sie in die Ehe gebracht, noch drei andere geboren. In der +<pb n="250" /><anchor id="Pg250" />letzten Zeit tauchte dabei ein anderer Verdacht gegen ihn auf, +daß er sich nämlich unter der Hand mit Wilddieben einlasse, +und — wenn auch vielleicht nicht selber wildere, doch das Gestohlene +kaufe und unterbringe.</p> + +<p>Sicher ist, daß nicht alles Fleisch was er zu Markte führte, +im Stall gemästet worden, und als nun auch gar einmal, und +vor nicht so sehr langer Zeit, ein Forstgehülfe, in Ausübung +seiner Pflicht, erschossen worden, wurde die Aufsicht über den +schwarzen Steffen, dem man aber doch nicht zu Kragen konnte, +so scharf geführt, und diesem zuletzt so unerträglich, daß er +schon ein paar Mal mit den Forstbeamten im Wirthshaus +Streit gesucht und gefunden, und ihm zuletzt von der Herrschaft, +nach lange geübter Nachsicht, der Befehl zugestellt wurde, +das auf den Abbruch damals erstandene Haus, von dem übrigens +kein Ziegel mehr sein gehörte, zu räumen und abzutragen +oder stehen zu lassen, wie es ihm gefalle, seinen Wohnsitz aber, +wider ihn eingelaufener Klagen wegen, wo anders zu nehmen, +vom ersten des nächsten Monats an.</p> + +<p>Steffen war heute einmal ausnahmsweise den ganzen +Tag zu Haus geblieben, und hatte manche von seinen Sachen, +wobei ihm die Frau half, zusammengetragen und in einen +Ranzen gepackt. Die Kinder aber achteten wenig darauf; sie +waren gewohnt daß der Vater oft fortging, und dann immer +mehre, manchmal sogar acht Tage fortblieb, ehe sie ihn wieder +zu sehen bekamen, oder auch nur von ihm hörten. Fragen, +wohin er ging, durften sie nie.</p> + +<p>Der Vater war übrigens mürrischer heute als je — er +<pb n="251" /><anchor id="Pg251" />sprach fast kein Wort, trank aber oft aus der Flasche, die zum +ersten Mal offen in der Stube stand, und woraus sich auch +die Mutter zweimal einschenkte, und sich dann zu dem jüngsten +Kinde setzte, und es auf den Schoos nahm und küßte.</p> + +<p>»Weshalb weinst Du, Mama?« sagte das zweite Kind, +ein Junge von etwas über fünf Jahren — »hat Dir Jemand +'was zu Leid gethan?«</p> + +<p>»Weil sie eine Närrin ist,« brummte der Vater, der die +Frage gehört hatte, und jetzt einen ärgerlichen Blick nach der +Frau schoß — »ich dächte wir hätten nun genug darüber geschwatzt +und die Sache wär' abgemacht.«</p> + +<p>»Nun ja — ich sage ja auch kein Wort mehr dagegen,« +erwiederte die Frau — »es — es überkommt Einen nur noch +manchmal so — nachher wird's besser und — es geht ja doch +nun einmal nicht anders,« setzte sie still und schwer vor sich +hinseufzend, hinzu.</p> + +<p>Steffen entgegnete nichts weiter darauf, schickte aber bald +darauf, unter irgend einem Vorwand, die Kinder mitsammen +hinaus in den Garten, und sagte dann, als er sich mit der +Frau allein sah, mürrisch und finster.</p> + +<p>»Du flennst und flennst, und wirst die Bälge noch zuletzt +aufmerksam und ängstlich machen mit Deiner Heulerei — kannst +Du sie hier ernähren, so bleib da, ich habe Nichts dagegen; +kannst Du's aber nicht, dann sei auch vernünftig +und mach' jetzt keine dummen Streiche — es wär' ein Spaß, +wenn sie uns abfaßten, und Du weißt am Besten was uns +nachher bevorstünde.«</p> + +<p><pb n="252" /><anchor id="Pg252" />Die Frau war schlank und voll gewachsen, mit besonders +kleinen Händen und Füßen, mußte auch einmal in früheren +Jahren wirklich schön gewesen sein, und mehr noch als nur +die Spuren war ihr davon geblieben, hätte sie eben etwas gethan +sich das zu erhalten. Aber in ihrem ganzen Aeußeren +ging sie, wenn nicht geradezu unreinlich, doch vernachlässigt; +die ungeordneten Haare wurden durch einen zerbrochenen, +ächten Schildpatkamm, und durch ein schwarzes abgescheuertes +Sammetband, in dem vorn eine große bronzene Broche mit +einem unächten Turquis saß, gehalten; in den Ohren hingen +ihr ebenfalls lange emaillirte unächte Ohrringe, die mit dazu +beigetragen hatten ihr bei ihren bescheidenen und einfachen +Nachbarn den Namen der »stolzen Jule« zu geben, und das +Kleid von gutem Stoff und nach neuem Schnitt gemacht, +zeigte unausgebesserte Risse, und Spuren von Fett, in Streifen +und Flecken, die schlecht zu dem blitzenden falschen Schmucke +paßten.</p> + +<p>Auch in den Augen selber lag etwas Keckes, Unweibliches, +das aber doch jetzt einem mächtigeren Gefühl gewichen war, +denn nur manchmal, bei den rauhen Worten, blitzte es an +gegen den Mann, und um die Lippen zog sich dann ein eigener +fester Zug von Trotz und Zorn.</p> + +<p>»Ich hab' Dir genug zu Willen gethan, daß ich mit Dir +gehe und die Kinder zurücklasse,« sagte sie dann nach kleiner +Weile — »wenn's mir das Herz dabei zusammenzieht, wärst +Du schlimmer wie ein Thier, wolltest Du's mir wehren. Der +Wolf läßt seine Brut nicht im Stich, und wir wollen fort — «</p> + +<p><pb n="253" /><anchor id="Pg253" />»Der Wolf hat auch draußen zu leben, und für die Jungen +Milch — wer giebt's uns?« zischte der Mann zwischen den +zusammgebissenen Zähnen durch — »wir könnten krepiren hier +im Nest, keine Katze miaute deshalb im ganzen Kreis.«</p> + +<p>»Ich weiß es, ich weiß es,« sagte die Frau, »und das +ist das Einzige was mich freut, daß wir ihnen jetzt einen +Streich spielen — den Lumpen. Und wie sie schreien und +schimpfen werden — aber ernähren müßen sie sie doch, davon +hilft ihnen kein Gott. Leid thut's Einem freilich immer, die +armen Dinger, die noch Nichts von der Welt wissen und begreifen, +so allein zurückzulassen — wenn ich das Jüngste nur +mitnehmen dürfte — « setzte sie leise hinzu.</p> + +<p>»Komm mir nur jetzt nicht wieder mit dem alten Gewäsch,« +rief aber der Mann finster und ärgerlich — »ich dächte +das hätten wir über und genug besprochen und überlegt, und +wären einig darüber.«</p> + +<p>»Ueberlegt gar nicht,« sagte aber die Frau, die Brauen +fest zusammenziehend — »wenn ich davon anfing hast Du +mich immer grob angefahren und ausgezankt, und Deinen +Willen gehabt dabei, wie bei allem Anderen. Ich weiß daß +ich nicht zu den Weichen gehöre, aber — Mutter bleibt doch +Mutter, und — 's ist immer ein häßlich unnatürlich Ding.«</p> + +<p>»Papperlapapp!« sagte der Mann den Kopf herüber und +hinüber werfend — »unnatürlich — natürlich ist's allerdings +nicht daß die Scheunen ringsherum voll liegen, und das reiche +Lumpenpack das Geld mit vollen Fausten zum Fenster hinaus<pb n="254" /><anchor id="Pg254" />wirft, +während wir hier trocken Brod nagen sollen, und das +nicht einmal immer kriegen — schöne Natürlichkeit das.«</p> + +<p>»Wenn Du nur nicht den dummen Streich mit dem — «</p> + +<p>»Halt's Maul!« brummte aber der Mann mürrisch — »ich +sollte mich wohl erwischen und anzeigen lassen, daß ich +jetzt im Zuchthaus säß und spänn — Gott verdamm mich, ich +schösse eher die ganze Bande über den Haufen, einen nach dem +anderen — bist Du nun fertig mit Deinen Sachen?«</p> + +<p>»Ja!« sagte die Frau leise und unwillkürlich zusammenschaudernd — »es +kann fort gehn.«</p> + +<p>»Wir wollen aber doch warten bis es dunkel ist,« sagte +Steffen nach kleiner Pause; »besser ist besser, und der Märtens +unten an der Straße braucht nicht gleich zu wissen daß wir +fortgefahren sind, beide zusammen, seine Nase hineinzustecken +vor der Zeit; er ist mir so schon ein paar Mal hier oben herumgekrochen, +wo er Nichts zu suchen hatte.«</p> + +<p>»Aber wenn sie uns nun doch vor der Zeit vermissen?« +sagte die Frau, »und unserer Spur nachgehn; wenn's jetzt +schlimm ist, nachher wird's erst bös, und wir dürften dann nur +gleich mit Sack und Pack abziehn.«</p> + +<p>»In's Arbeitshaus, eh? — nein, eine Weile halt' ich sie +uns schon von den Hacken, und Gefahr daß sie uns finden, +hat es auch nicht. Wo wir zur Eisenbahn kommen bin ich +bekannt, und habe schon manchmal Vieh da gekauft, wenn sie +auch eben meinen Namen nicht wissen, und wenn wir fortgehn, +lasse ich einen alten Hut von mir und das gelbe Tuch von +Dir unten an dem tiefen Wasserloch unter den Erlen. Sobald<pb n="255" /><anchor id="Pg255" /> +Jemand hier in der Gegend vermißt wird, suchen sie dort immer +zuerst, und der Schulze im Dorf hat das Pulver nicht +erfunden, dem ist leicht was aufgehängt. Bis sie eine Weile +stromab geangelt haben, sind wir hoffentlich unterwegs, und +wenn nicht unter, doch über dem Wasser. Aber ich will jetzt +noch einmal hinunter zum Märtens gehn und Mehl holen; +es ist auch heute der gewöhnliche Tag, und hierher kommt nachher +keiner so leicht, nimm Du indeß die Kinder vor, und instruire +sie wie sie sich zu verhalten haben.«</p> + +<p>Und seine Mütze aufgreifend steckte Steffen die Hände in +die Taschen, und schlenderte langsam den Hang hinunter dem +nächsten, eine gute Viertelstunde entfernten Hause zu, während +die Frau die Kinder zu sich hereinrief, das Jüngste, ein +kleines liebes Mädchen von anderthalb Jahren, auf den +Schoos nahm, und sich damit still und lautlos in die Ecke +setzte.</p> + +<p>Die Sonne neigte sich indessen ihrem Untergang, und der +Vater kam nach etwa einer Stunde, als es schon völlig dunkel +geworden war zurück — die Mutter saß noch immer mit dem +Kind auf dem Schoos, das bei ihr eingeschlafen war, und hielt +es fest an sich gedrückt.</p> + +<p>»So Jule, es ist Zeit,« sagte der Mann, seine Arbeitsjacke +abwerfend und den Rock anziehend, »weiß die Albertine was +sie zu thun hat?«</p> + +<p>Die Frau zitterte am ganzen Leib, aber sie erwiederte kein +Wort, stand auf, küßte das Kind das sie auf dem Arm trug, +<pb n="256" /><anchor id="Pg256" />und legte es in sein Bettchen — einen Kasten, der in der Ecke +der Stube stand.</p> + +<p>»Albertine,« sagte sie dann zu der Aeltesten, und wandte +sich von der düster brennenden Oellampe, die Steffen auf den +Ofen gestellt hatte, ab, daß die Tochter ihr nicht in die jetzt +wirklich todtenbleichen Züge schauen sollte — »ich gehe mit +dem Vater heute Abend eine Weile fort — den Karl bring ich +erst noch zu Bett — sollten wir morgen früh nicht bei Zeiten +da sein, so — so zieh die Kinder an und gieb ihnen zu essen — der +Brodschrank ist offen, und Milch steht unter der Diele +in der Schüssel — Du paßt mir auf daß den Kleinen Nichts +passirt — Du — Du bist ja schon ein großes Mädchen.«</p> + +<p>»Und geht mir nicht vor die Thür morgen, bis wir nicht +wieder da sind,« sagte Steffen, »wie ich heut Abend drunten +gehört habe, ist hier ein toller Hund herumgelaufen. Das +Beste wird sein Ihr haltet die Hausthür zu, daß er nicht etwa +gar herein kommt.«</p> + +<p>Die Frau hatte dabei das etwa dreijährige Mädchen +das indeß gar schläfrig geworden war, ausgezogen und in sein +Bettchen gelegt — und der Junge, Carl, saß auf der Bank +am Fenster, noch auf sein Abendbrod wartend. Aber er sah +auch erstaunt dabei die Eltern an, die noch nie so spät Abends +fortgegangen waren, und auch wohl noch nie, oder doch nur +selten gar so freundlich mit ihnen gesprochen hatten.</p> + +<p>»Was für ein Hund ist es, Vater?« frug er jetzt, da der +Gedanke an den tollgewordenen Hund ihn besonders interessiren +<pb n="257" /><anchor id="Pg257" />mochte — »Märtens' Bello? der kennt mich, und beißt mich +nicht.«</p> + +<p>»Nein, der große Türk aus dem Dorfe unten,« sagte +Steffen — »der den Müller auch schon einmal gebissen hat.«</p> + +<p>»Oh der ist schlimm!« rief der Knabe erschreckt — »da +geh' ich gewiß nicht hinaus.«</p> + +<p>»Geh' nun zu Bett Carl, es ist spät,« sagte der Vater.</p> + +<p>»Ich habe mein Abendbrod noch nicht,« brummte der arme +kleine Bursch.</p> + +<p>»So? — dann wird Dir's Albertine geben — und — seid +brav und folgt ihr — «</p> + +<p>Er gab dem Knaben und ältesten Mädchen die Hand, +und ging zu den Bettchen der Kleinen die er küßte; dann aber +als ob er sich einer solchen Regung schäme, richtete er sich rasch +wieder auf, drückte den Hut in die Stirn, und sagte, das Zimmer +verlassend, und noch in der Thür sich umdrehend:</p> + +<p>»Ich warte auf Dich unten am Wasser — mach schnell!«</p> + +<p>»Sei ein gut Kind Albertine, und hab mir gut auf die +Kleinen Acht,« flüsterte die Frau jetzt dem Mädchen zu, das +eben dem Bruder ein Stück Brod und Salz gegeben hatte, an +dem der aß und verwundert dabei hinter den Vater her aus +der Thür, und nach der Mutter schaute, die lange — o lange +Zeit nicht so freundlich mit ihnen gesprochen hatte.</p> + +<p>»Aber Mutter wo geht Ihr nur hin?« — frug das Mädchen, +der das Benehmen der Eltern ebenfalls auffiel, verwundert.</p> + +<p>»Auf's Amt,« sagte die Frau, auf die Frage schon vor<pb n="258" /><anchor id="Pg258" />bereitet — »wir +müssen morgen früh mit Tagesanbruch in der +Stadt sein, und wollen gehn so lang's kühl ist.«</p> + +<p>»Und wann kommst Du wieder?«</p> + +<p>»Hoffentlich morgen gegen Abend — wenn wir fertig +werden; auf dem Amt sind sie aber gar weitläufig — manchmal +dauert's länger als man denkt. Geht mir aber nicht vor +die Thür, Ihr habt zu essen genug — jedenfalls sind wir morgen +Abend um die Zeit wieder da — und acht' mir auf die +Kleinen, Tine — sei ein vernünftig gutes Mädchen — Du +bist groß genug. Und — wenn Jemand nach uns fragen +sollte, so sag nur wir wären in den Wald gegangen, und +kämen gleich wieder — es wird aber wohl Niemand fragen,« + — setzte sie leise, und wie zu ihrer eigenen Beruhigung +hinzu.</p> + +<p>Sie sah sich im Zimmer um, ob sie Nichts vergessen habe + — ihr Bündel lag aber versteckt draußen vor der Thür, wie +der Mann seine gepackte Jagdtasche ebenfalls draußen verborgen +gehabt und jetzt mitgenommen hatte. Ihr Blick überflog +auch nur flüchtig den kleinen Raum, und haftete dann auf dem +Bettchen des jüngsten Kindes — sie konnte nicht widerstehn, +und trat noch einmal zu dem schlummernden Kind.</p> + +<p>»Geh doch hinaus Tine, und hole ein paar Stücken Holz +herein, so lang ich noch hier bin, daß Du morgen früh Kaffee +kochen kannst — ich bleibe so lang bei den Kindern,« setzte sie +langsam und ohne das älteste Mädchen dabei anzusehn, hinzu. +Dieses ging, und in wilder, fast ängstlicher Hast küßte die Frau +jetzt die kleine, schon sanft schlummernde Line, und hob dann +<pb n="259" /><anchor id="Pg259" />das Jüngste aus seinem Kasten, auf dessen rosige Lippen sie +den eigenen Mund in wilder Heftigkeit preßte, bis es schrie. +Die Thränen — die Mutter <emph rend="letter-spacing: 0.20em">konnte</emph> sich nicht ganz verleugnen +in dem Augenblick — liefen ihr dabei voll und +schwer die Wangen hinunter, und erst als sie das Aelteste +mit dem Holz zurückkehren hörte, legte sie das leicht beruhigte +Kind wieder auf sein Lager, und küßte den Jungen, dem die +Thränen auch anfingen in die Augen zu steigen. Er wußte +freilich nicht recht weshalb, und nur vielleicht weil er die +Mutter weinen sah, wurd' es ihm auch so weh und weich +um's Herz.</p> + +<p>»Aber Mutter, was ist Dir nur heute Abend?« sagte das +Mädchen, dem die außergewöhnliche Bewegung derselben unmöglich +entgehen konnte — »was habt Ihr nur, Du und der +Vater?«</p> + +<p>»Bah — der Vater war garstig mit mir, und wir haben +uns gezankt,« sagte die Mutter, das Gesicht abwendend von +dem Kind.</p> + +<p>Ein scharfer Pfiff von draußen her schlug an ihr Ohr, +und sie fuhr erschreckt in die Höhe.</p> + +<p>»Ja — ich komme schon!« murmelte sie, kaum hörbar, +vor sich hin, »so adieu Albertine — hab auf die Kinder Acht, +und — <emph rend="letter-spacing: 0.20em">behüt Euch Gott</emph>!« und mit dem, wie scheu geflüsterten +und vielleicht seit langer, langer Zeit nicht ausgesprochenen +Segen, verließ sie rasch das Zimmer und das +Haus.</p> + +<p><pb n="260" /><anchor id="Pg260" />»Was zum Teufel trödelst Du denn da drin, und läßt +mich eine Stunde hier warten?« rief der Mann mürrisch, als +sie ihn endlich an der verabredeten Stelle traf — aber die +Frau erwiederte kein Wort, und die fieberheiße Stirn in die +Hand pressend, folgte sie dem, jetzt ebenfalls finster und schweigend +Voranschreitenden, durch die Nacht.</p> +</div> +</body> + +<back> +<div rend="page-break-before: right"> +<divGen type="pgfooter" /> +</div> +</back> + +</text> +</TEI.2> + +<!-- +A WORD FROM PROJECT GUTENBERG + + +This file should be named 18475-tei.tei. + +This and all associated files of various formats will be found in: + + + http://www.gutenberg.org/dirs/1/8/4/7/18475/ + + +Updated editions will replace the previous one — the old editions will be +renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no one +owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and +you!) can copy and distribute it in the United States without permission +and without paying copyright royalties. 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You may copy it, give it away or re-use it under +the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or +online at http://www.gutenberg.org/license + + + +Title: Nach Amerika! Erster Band + +Author: Friedrich Gerstaecker + +Release Date: May 2006 [Ebook #18475] + +Language: German + +Character set encoding: US-ASCII + + +***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACH AMERIKA! ERSTER BAND*** + + + + + + Nach Amerika! + Ein Volksbuch + + Erster Band + von + Friedrich Gerstaecker. +Illustrirt von Theodor Hosemann. +Leipzig, Hermann Costenoble, Verlagsbuchhandlung +Berlin, Rudolph Gaertner, Amelang'sche Sort-Buchhandlung + +1855 + + + + + + [image] + + + + + + + NACH AMERIKA! + + +Wie man ein Bild, aus einem Werk heraus, vorn auf den Umschlag bringt, den +Beschauer dadurch gewissermassen in den Charakter des Ganzen einzuweihen, +so will auch ich hier den Anfang des einen Capitels, aus der Mitte des +Bandes heraus, zum Vorwort waehlen, den Leser gleich von vorn herein mit +dem bekannt zu machen, was ich ihm biete. + +"Nach Amerika!" -- Leser, erinnerst Du Dich noch der Maerchen in "Tausend +und eine Nacht", wo das kleine Woertchen "Sesam" dem, der es weiss, die +Thore zu ungezaehlten Schaetzen oeffnet? hast Du von den Zauberspruechen +gehoert, die vor alten Zeiten weise Maenner gekannt, Geister heraufzurufen +aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu +machen? -- Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe schlugen, wie sich die +Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner +zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkuehne Menschenkind das sie +gesprochen, bebte zurueck vor der furchtbaren Gewalt die es +heraufbeschworen. + +_Die_ Zeiten sind vorueber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht +gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das +rechte Wort vergeben sie zu rufen -- aber ein anderes dafuer gefunden das, +kaum minder stark, mit _einem_ Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, +den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhaeltnissen und +Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reisst, in dem es bis dahin mit +seinen staerksten, innigsten Fasern treulich festgehalten. + +"Nach Amerika," leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten +schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft pruefen sollte, seinen +Muth staehlen -- "nach Amerika," fluestert der Verzweifelte der hier am Rand +des Verderbens dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde -- +"nach Amerika," sagt still und entschlossen der Arme, der mit maennlicher +Kraft, und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der +Verhaeltnisse angekaempft, der um sein "taegliches Brod" mit blutigem Schweiss +gebeten -- und es nicht erhalten, der keine Huelfe fuer sich und die Seinen +hier im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln _will_, nicht stehlen +_kann_ -- "nach Amerika" lacht der Verbrecher nach gluecklich veruebtem Raub, +frohlockend der fernen Kueste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt +vor dem Arm des beleidigten Rechts -- "nach Amerika," jubelt der Idealist, +der wirklichen Welt zuernend, weil sie eben wirklich ist, und ueber dem +Ocean drueben ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht -- "nach Amerika" und mit dem einen Wort liegt hinter +ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes frueheres Leben, Wirken, Schaffen -- liegen +die Bande die Blut oder Freundschaft hier geknuepft, liegen die Hoffnungen +die sie fuer hier gehegt, die Sorgen die sie gedrueckt -- _"nach Amerika!"_ + +So gaehrt und keimt der Saame um uns her -- hier noch als leiser, kaum +verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft +und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und +Kasten. Der Bauer draussen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain, der +ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so schwer +geaergert, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit +ueber dem Meer drueben, in dem fetten, herrlichen Land; -- der Handwerker in +seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft +setzt, mit Neuerungen und grossen, marktschreierischen Firmen, die wenigen +Kunden die ihm bis dahin noch geblieben in _seine_ Thuer zu locken; der +Kuenstler in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, der ueber einer +freieren Entwickelung bruetet, und von einem Lande schwaermt wo +Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Haende binden; -- der Kaufmann hinter +seinem Pult, der Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Buechern +zieht, und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestuetzt, von einem neuen, +andern Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefuellten +Waarenhaeusern traeumt; in Tausenden von ihnen draengt's und treibt's und +quaelt's, und wenn sie auch noch vielleicht Jahre lang nach aussen die alte +fruehere Ruhe wahren, in ihren Herzen glueht und glimmt der Funke fort -- ein +stiller aber ein gefaehrlicher Brand. Jeder Bericht ueber das ferne Land +wird gelesen und ueberdacht, neue Arzenei, neues Gift bringend fuer den +Kranken. Vorsichtig und aengstlich, und wie weit herum um ihr Ziel, dass man +die Absicht nicht errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem +Ding -- nach Leuten die vordem "hinueber" gezogen und denen es gut gegangen +-- nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk -- fuer Andere natuerlich, +nicht fuer sich etwa -- sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen +will hinueber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wuenschen +dass es dem wohl geht, und haeufen mehr und mehr Zunder fuer sich selber auf. + +So ringt und draengt und wuehlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem +nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den _salto mortale_ gethan, +und Alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und theuer war -- aus +dem, aus jenem Grund -- und taeglich, stuendlich noch hoeren wir von anderen, +von denen wir im Leben nie geglaubt dass _sie_ je an Amerika gedacht, wie +sie mit Weib und Kind und Hab und Gut hinueberziehn. + +Und dort? -- + +-- Die vorliegenden Blaetter sollen dem Leser ein Bild geben von dem Leben +und Treiben solcher Leute. Hier aus unserer Mitte heraus, aus den +verschiedenartigsten Verhaeltnissen und Sphaeren, aus allen Schichten der +menschlichen Gesellschaft sehen wir sie ziehen -- Gute und Boese, den +Leichtsinnigen und den Spekulanten, den Bauer und Handwerker, den +Gelehrten und den Arbeiter, den rechtschaffenen Buerger und den heimlichen +Verbrecher, Alle dem _einen_ Ziel entgegenstrebend. Und _Alle_ vereinigt +sie das Schiff; der eine kleine Bau, der hunderte von Menschen auf seinem +schwanken Kiel hinuebertraegt, dem fernen Welttheil zu; oh was fuer +Hoffnungen, was fuer Plaene und Traeume birgt er in seinem Schooss. Aber die +Auswanderer liegen die langen Wochen, ja Monate, verpuppten Raupen gleich, +im engen Haus, still und gedraengt beisammen; Jeder mit dem alten Leben +abgeschlossen hinter sich, mit dem neuen noch nicht begonnen, in einem +wunderlichen unnatuerlichen Zustand, ungeduldiger Ruhe, bis der Anker in +die Tiefe rollt, und die ausgeschobene schmale Planke der bunten Schaar +von Tag- und Nachtfaltern den Weg in's Freie oeffnet. + +Hinaus flattern sie da nach allen Seiten, wie eine Hand voll Spreu, vom +Winde fort gefuehrt; die Einen selbstbewusst und keck dem fremden, +unbekannten Leben in die Arme springend, die Anderen scheu und zaghaft bei +jedem Schritte fast moralische Selbstschuesse und Fussangeln fuerchtend; Alle +aber entschlossen, die meisten sogar gezwungen, dem neuen Vaterlande die, +im alten aufgegebene Existenz abzuringen, Jeder in seiner Art, auf seine +Weise. + +Dort nun sehen wir sie schaffen und wirken in Gutem und Boesen, die Einen +mit ihren kuehnsten Hoffnungen erfuellt, Andere, zerknirscht und zertreten, +die Stunde verwuenschend, die den Gedanken an Auswanderung gebar -- sehn wie +sich die Wildniss lichtet, wie Farmen und Staedte entstehn, und sich das +deutsche Element ausbreitet nach allen Seiten, und folgen den einzelnen +Bekannten und Freunden, die wir zu Hause schon, oder auf der Fahrt erst +lieb gewonnen, oder fuer die wir uns interessiren, auf ihren verschiedenen, +oft wunderlichen Bahnen. + +Manchen alten Reisegefaehrten fuehr ich dabei dem Leser vor, und hoffe ihn +nicht zu langweilen, den weiten Weg; schlafen wir dann auch manchmal +draussen im Freien, oder in niederer Blockhuette auf duennem "Quilt", muessen +wir auch eine Zeit lang mit Maisbrod und Wildpret, oder gar mit Speck und +Syrup verlieb nehmen, wie es der Farmer am Ohio liebt, wir lernen doch das +Land kennen, mit seinen guten und schlechten Eigenschaften, seinen +Vortheilen und Maengeln, seinen Buergern und Einwanderern, seinen inneren +Verhaeltnissen, seinem Leben und seiner Lebenskraft, und bin ich im Stande +ihn auch nur einen Blick in jene ferne, von Tausenden so heiss ersehnte +Welt, wie ich sie selbst gefunden, thun zu lassen, so hab ich meinen Zweck +mit diesem Buch erreicht. + +_Rosenau_ bei Coburg im September 1854. + + Friedrich Gerstaecker. + + + + + + INHALT DES ERSTEN BANDES. + + +Das Dollinger'sche Haus +Der rothe Drachen +Der Diebstahl +Franz Lossenwerder +Die Auswanderungs-Agentur +Die Weberfamilie +Nach Amerika +Der Tanz im rothen Drachen +Ruestungen +Die beiden Familien + + + + + + Capitel 1. + + + DAS DOLLINGER'SCHE HAUS. + + +Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger zu Heilingen -- einer nicht +unbedeutenden Stadt Deutschlands -- hatte am Sonntag Mittag, ein kleines +Familienfest die Glieder des Hauses um den Speisetisch versammelt, und +diesen heute in aussergewoehnlicher Weise mit Blumen geschmueckt, und +delicaten Speisen und Weinen gedeckt. Es war der Geburtstag der zweiten +Tochter des Hauses, der liebenswuerdigen Clara und nur ihr erklaerter +Braeutigam, ein junger deutscher, in New-Orleans ansaessiger Kaufmann, als +Gast der Familie zugezogen worden. + +Am oberen Ende des Tisches, um dem Leser die Personen gleich in +Lebensgroesse vorzufuehren, sass Vater Dollinger, ein etwas wohlbeleibter aber +behaebiger, stattlicher Mann, mit klaren, blauen, unendlich gutmuethigen +Augen und schneeweissen Locken und Augenbrauen, die aber dem edel +geschnittenen Gesicht gar gut und ehrwuerdig standen. Ihm zur Rechten sass +seine Frau, allem Anschein nach etwa funfzehn oder sechzehn Jahre juenger +wie er selber, und durch ihr volles, dunkelbraunes Haar vielleicht auch +noch sogar juenger aussehend, als sie wirklich war. Sie ebenfalls, mit +ihrer stattlichen Gestalt, hatte einen leichten Anflug zu Corpulenz, aber +das etwas ausgeschnittene Kleid, wie die schwere goldene Kette, Broche und +Ohrringe, die sie fast etwas zu reichlich schmueckten, passten nicht ganz zu +dem sonst so freundlichen, matronenhaften Aeussern. + +Clara neben ihr, war das veredelte Bild der Eltern; die lieben treublauen +Augen schauten gar so vertrauungs- und unschuldsvoll hinein in die Welt, +an deren Schwelle sie stand, und die ihr, wie ein eben geoeffnetes, +prachtvoll gebundenes Buch auf den ersten, fluechtig durchblaetterten +Seiten, nur freundliche Blumen und ihr zulaechelnde Gestalten zeigte. Kein +Schmerz hatte diese engelsanften Zuege noch je durchzuckt, keine Thraene +wirklichen Schmerzes den reinen Blick getruebt, und die ganze zarte, +sinnige Gestalt glich der eben entkeimenden Fruehlingsbluethe im sonnigen +Wald, die dem jungen Fruehlingstag in Glueck und Unschuld die schwellenden +Lippen zum Kusse bietet, und in der blitzenden Thauperle ihres Kelchs, den +reinen Aether ueber sich, nur schoener, nur gluehender zurueckspiegelt. + +Ihre um nur wenige Jahre aeltere Schwester, Sophie, die an des Vaters Seite +sass, aehnelte der Schwester in mancher Hinsicht an Gestalt, aber das +einfach kindliche, was Claerchen jenen unendlichen Reiz verlieh, fehlte +ihr. Ihre Gestalt war voller, majestaetischer, aber auch ihr Blick mehr +kalt und stolz; "ich bin des reichen Dollingers Kind" lag klar und +deutlich in den scharf zusammengezogenen Mundwinkeln, in dem fest und +entschieden, blitzenden Auge, und auch ihre Kleidung, ihr Schmuck war, +wenn nicht reicher, doch jedenfalls mehr in's Auge springend, Bewunderung +fordernd. + +Zwischen Beiden sass Clara's Braeutigam, ein junger, bildhuebscher Mann in +moderner, fast fuer einen Mann etwas zu gewaehlter und sorgfaeltig geordneter +Kleidung; er trug das Haar in natuerlichen dunkelbraunen Locken und das +Gesicht glatt rasirt, bis auf einen kleinen, aufmerksam gekraeussten, und +nur bis zur halben Backe reichenden Backenbart, an den Fingern aber mehre +sehr kostbare Diamant-Ringe, eine Brillant-Tuchnadel von prachtvollem +Feuer, und eine schwere goldene, ebenfalls mit kleinen Edelsteinen +besetzte Uhrkette. + +Die Bekanntschaft Clara's und ihrer Eltern hatte er dabei auf eine etwas +romantische Weise, und zwar gleich als ihr Lebensretter oder doch Befreier +aus einer nicht unbedeutenden Gefahr gemacht. Herr und Frau Dollinger +waren naemlich mit ihren beiden Toechtern im vorigen Herbst auf einer +Rheinreise bei Ruedesheim aus- und zu dem kleinen Waldtempel oben ueber +Asmannshausen hinaufgestiegen, um sich von dort nach dem Rheinstein +uebersetzen zu lassen; die Mutter hatte aber durch das nicht gewohnte +Bergsteigen heftige Kopfschmerzen bekommen oder, was wahrscheinlicher ist, +ennuyirte sich am Land und wuenschte an Bord des Dampfers zurueckzukehren, +und als sie gerade mit dem Kahn ueber den Rhein fuhren, kam ein Dampfboot +stromab, und hielt auf ihr Winken, sie an Bord zu nehmen. Herr und Frau +Dollinger, mit Sophie, von den Kahnfuehrern unterstuetzt, hatten auch schon +gluecklich die Treppe und das Deck erreicht, und dicht hinter ihnen folgte +Clara, als diese sich ploetzlich erinnerte, ihre Geldtasche im Kahn +vergessen zu haben, und anstatt diese sich heraufreichen zu lassen, selber +wieder zuruecksprang sie zu holen. Durch das Hineinspringen fing aber der +schmale Kahn an zu schwanken, waehrend sie, die vergessene kleine Tasche +aufhebend, das Gleichgewicht verlor und, mit dem Kopf voran, in den Rhein +stuerzte. Ungluecklicher Weise waren gerade in dem naemlichen Augenblick die +Kahnleute an Deck des Dampfers gestiegen, den Koffer eines Passagiers, der +mit an Land fahren wollte, in ihren Kahn zu heben, und wenn sie jetzt +auch, auf das Geschrei an Bord, rasch in diesen zuruecksprangen, trieb doch +Clara schon hinter dem Dampfboot aus, als der junge, eben von Amerika +zurueckgekehrte Mann, der dem ganzen Vorfall vom Deck des Dampfers +zugesehn, mit keckem Muth ins Wasser sprang und die Jungfrau doch +wenigstens so lange an der Oberflaeche unterstuetzte, bis das Boot herbeikam +sie beide aufzunehmen. + +Das Weitere nahm einen ziemlich einfachen Verlauf, Joseph Henkel, wie der +junge Mann hiess, gewann sich in den naechsten Wochen, die er in der +Gesellschaft der ihm zu grossen Dank verpachteten Familie zubrachte, die +Achtung des Vaters und die Liebe von Mutter und Tochter, und als er zuerst +bei der Mutter um die Hand der Tochter anhielt, sagten Beide nicht nein. +Allerdings wollte der Vater erst, wenn auch nicht gerade Schwierigkeiten +machen, doch etwas Genaueres ueber die Existenzmittel eines Mannes +erfahren, dem er das Glueck und Leben eines lieben Kindes anvertrauen +sollte. Henkel selber bot ihm dazu die Hand und gab ihm Adressen an +verschiedene Haeuser in New-Orleans, die ihm ueber seine dortige Stellung +genaue Auskunft geben konnten. + +Nach seinem Vermoegen mochte der alte Dollinger, wenn auch Kaufmann, nicht +so genau forschen; er war selber reich genug, einen _reichen_ +Schwiegersohn entbehren zu koennen, und etwas Vermoegen musste der junge Mann +haben, dafuer buergte sein ganzes Auftreten, buergte besonders in den Augen +seiner Frau der reiche und wirklich kostbare Schmuck, den er trug. Joseph +Henkel war aber auch ausserdem ein interessanter und sehr gescheidter Mann, +der Manches in der Welt schon gesehen und erlebt, und das Gesehene und +Erlebte mit lebendigen Farben und Worten zu schildern wusste. Er hatte die +ganzen Vereinigten Staaten von Nord nach Sued und von Ost nach West +durchstreift, und dort theils seinen Geschaeften gelebt, theils gejagt, +sogar ein kleines Dampfschiff auf dem Arkansas laufen gehabt, mit den +Indianern Handel zu treiben, und ihnen die Produkte des Ostens gegen ihre +eigenen Fabrikate und den Gewinn ihrer Jagden einzutauschen. Er war auch +einmal von jenen wilden trotzigen Staemmen, die uns Cooper so herrlich und +unuebertroffen beschrieben, gefangen genommen und zum Opfertod verdammt, +und damals wirklich nur durch ein halbes Wunder gerettet worden, und Clara +hatte eine ganze Nacht nicht schlafen koennen, nur in der Angst und Unruhe +um die entsetzliche Gefahr, der sich der tollkuehne Mensch damals schon +ausgesetzt. + +Der junge Mann schien aber zwischen jenen wilden Staemmen den Umgang mit +civilisirten Menschen keineswegs verlernt zu haben, und besass ganz +besonders ein fast wunderbares Geschick, sich seiner Umgebung +anzuschmiegen, und sich in ihre Charaktere ordentlich hineinzuleben. Als +ein tuechtiger und raffinirter Kaufmann, der vorzueglich eine vortreffliche +statistische Kenntniss der Union besass, gewann er sich dabei, und gleich +von allem Anfang an, die Achtung des alten Dollinger. Der Frau aber hatte +er leicht ihre kleinen, oft liebenswuerdigen Schwachheiten abgelauscht, und +wusste ihnen auf so geschickte Art zu begegnen, dass Frau Dollinger, mit der +Rettung des geliebten Kindes im Hintergrund, schon nach sehr kurzer Zeit +ganz entzueckt von ihm war, und sein Lob dem Gatten unaufhoerlich redete. +Auch mit der aelteren Schwester, Sophie, wusste sich Henkel bald auf guten +Fuss zu stellen; er hatte bei ihr das leichteste Spiel, denn ihre Schwaechen +lagen offen zu Tag, denen aber schmeichelte er mit solcher +Liebenswuerdigkeit, dass ihm Clara, die es fuehlte wie er dabei aus sich +herausging und etwas annahm was ihm nicht natuerlich war, oder doch +jedenfalls dem Mann, den sie liebte, nicht natuerlich sein _sollte_, +dennoch nicht boese darueber werden konnte. + +Desto freier, offener und natuerlicher war er dafuer gegen sie selber; er +las, sang und spielte Pianoforte mit ihr, lehrte sie eine Menge kleiner +reizender, schottischer und irischer Lieder, oder plauderte mit ihr leicht +und sorglos Stunden lang in den Tag hinein, und konnte oft so herzlich +dabei lachen, dass es Einem ordentlich gut that, ihm zuzuhoeren. Selbst +Sophie entsagte dann nicht selten ihrem sonst etwas mehr abgeschlossenen, +fast steifen Wesen und kam zu ihnen, Theil an ihrer Froehlichkeit zu +nehmen. + +Nur in den letzten Tagen war der junge "Amerikaner" wie er im Hause +gewoehnlich scherzhaft hiess, oder der "Delaware" wie ihn Sophie, wenn sie +manchmal bei recht guter Laune war, nannte, auffaellig niedergeschlagen +gewesen; er hatte Briefe von Amerika bekommen, wie er sagte, und ein sehr +lieber Freund von ihm war dort schwer erkrankt, auch ein Schiff das ihm +gehoerte, und das nicht versichert worden, so lange ausgeblieben, dass sein +Compagnon fast den Untergang desselben befuerchte. Der alte Herr Dollinger +troestete ihn deshalb, und er schien sich auch darueber hinwegzusetzen, die +sonst so bluehende Farbe seiner Wangen wollte aber doch nicht sogleich +wieder dorthin zurueckkehren, und das Auge hatte etwas Unsicheres, +Unstaetes, ihm sonst gar nicht Eigenes bekommen. + +Nur heute, zu dem Fest der holden Jungfrau, die er bald die seine zu +nennen hoffte, hatte er all die trueben Gedanken, welcher Art sie auch +gewesen, und woher sie stammten, von sich abgeschuettelt, und war ganz +wieder der frohe glueckliche Mann, wie ihn Clara kennen -- _lieben_ gelernt. +Auf seinen Wunsch nur, womit Frau Dollinger eigentlich nicht ganz +einverstanden gewesen, war auch heute keine groessere Gesellschaft geladen +worden, sondern die kleine Familie speiste ganz "unter sich" in dem +festlich mit Blumen und Guirlanden geschmueckten Zimmer des jungen +liebenswuerdigen Geburtstagkindes. Frau Dollinger hatte sich eigentlich +schon laenger auf eine zu diesem Zweck einzuladende, groessere Gesellschaft +gefreut. Herr Dollinger selber hielt aber nicht viel von solchen Feten; +dafuer jedoch bedung sie sich aus, dass sie wenigstens den Nachmittag +spatzieren fahren wollten, wobei sie der junge Henkel gewoehnlich zu Pferde +begleitete. + +Etwas that aber der alte Herr Dollinger gern, und zwar ein Glas Champagner +trinken, und der zweite Stoepsel war eben lustig hinausgeknallt, der +Gesundheit des "jungen Brautpaares" zu Ehren, als die Thuer aufging und +Lossenwerder, ein Comptoirdiener des Hauses, mit einem kleinen Paket in's +Zimmer trat. + +Lossenwerder war schon seit elf oder zwoelf Jahren im Haus, und seinem +Aeussern nach eben keine angenehme Persoenlichkeit; er hinkte auf dem linken +Bein, das er als Kind einmal gebrochen, war ueberhaupt haesslicher und +magerer Natur, und schielte auf dem rechten Auge, wodurch sein sonst +gerade nicht unangenehmes Gesicht einen etwas falschen Ausdruck bekam. Das +Stoerendste aber an dem ganzen Menschen war sein Stottern, wegen dem man +sich auf ein laengeres Gespraech gar nicht mit ihm einlassen konnte, und kam +er einmal in Affekt, konnte er kein Wort mehr herausbringen. Frau +Dollinger sowohl wie Sophie konnten ihn auch nicht leiden, ja die letztere +behauptete sogar er verstelle sich und sie habe ihn schon ganz ordentlich, +wenigstens zehntausend Mal besser sprechen hoeren, als er es jedesmal +affektire, wenn er zu ihnen in die Wohnung komme; Clara aber hatte Mitleid +mit dem armen Menschen, den sie seines Ungluecks wegen innig bedauerte, +schenkte ihm oft eine Kleinigkeit und spottete nie ueber ihn, waehrend Herr +Dollinger selber, ihn als einen brauchbaren und treuen Diener, der noch +ausserdem eine vortreffliche Hand schrieb, kannte und sehr zufrieden mit +ihm war, ihm auch jedes nur moegliche Vertrauen bewiess. + +"Hallo, Lossenwerder, was bringst Du mir da in's Haus?" rief ihm sein +Principal jetzt halb lachend, halb erstaunt entgegen, als der kleine Mann +das Zimmer betrat und schuechtern an der Thuere stehen blieb -- "ist das fuer +mich oder meine Tochter?" + +"Gewiss fuer mich, Vaeterchen," rief Clara, rasch von ihrem Sitze +aufspringend -- "siehst Du, der Onkel hat mich doch nicht ganz vergessen +mit meinem Fest, und mir Gruss und Geschenk geschickt." + +"Hehehe -- moe -- moe -- moechten es sich wo -- wo -- wo -- wo -- wohl wue -- n -- +nschen Fraeulein" lachte aber der Stotternde, indem er Herrn Dollinger +zuwinkte, dass das Paket fuer ihn sei -- "ka -- ka -- ka -- kann ich mir de -- de +-- de -- de -- denken -- Go -- go -- gold und Ba -- ba -- ba -- ba -- bank -- no -- +noten." Er zog dabei einen Brief aus der Tasche, den er dem Herrn uebergab. + +"Hm, hm, hm" sagte aber dieser kopfschuettelnd, "und das bringst Du mir +jetzt in's Haus -- gerade wo ich ausfahren will -- warum hast Du es denn +nicht dem Cassirer gegeben?" + +"Ni -- ni -- nirgends zu fi -- fi -- fi -- finden" stotterte Lossenwerder. + +Herr Dollinger warf den Kopf, den Brief fluechtig durchfliegend, herueber +und hinueber, sagte dann aber, aufstehend und das Papier vor sich +hinlegend: + +"Ja, da laesst sich denn weiter Nichts aendern; gieb mir das Paket +Lossenwerder, und sieh dann zu, dass Du Herrn Reibich findest. Ich lasse ihn +bitten um sieben oder halb acht Uhr heute Abend auf einen Augenblick zu +mir zu kommen -- verstanden?" + +"Ja -- ja -- jawohl He -- he -- he -- herr Do -- do -- do -- Do -- " + +"Schon gut" lachte Herr Dollinger, ihm zuwinkend, "und hier, Lossenwerder, +magst Du auch einmal ein Glas auf das Wohl meiner Tochter trinken. +Fraeulein Clara's Geburtstag ist heute -- hier Clara, reich es dem jungen +Herrn." Er fuellte dabei ein Wasserglas bis zum Rande voll von dem +funkelnden, schaeumenden Nass, und waehrend Clara mit freundlichem Laecheln +dem armen Teufel das Glas credenzte, nahm Herr Dollinger das Paket mit +Geld, ging zu dem nahen Secretair, in dem der Schluessel stak, oeffnete ihn, +legte das Geld hinein, zog dann den Schluessel ab und sagte, diesen der +Tochter ueberreichend: + +"So Kinder, heute muesst Ihr einmal auf ein paar Stunden mein Cassirer sein, +bis der andere aufgefunden werden kann." + +Clara nickte dem Vater freundlich zu, und Lossenwerder, der das volle Glas +in der Hand hielt und auf einmal ganz blutroth im Gesicht geworden war, +hob es empor und rief stotternd: + +"Fr -- re, re, re, re, re, raeu -- le -- le -- lein Cla -- ra -- ra -- ra -- ra -- +aus ga -- ga -- ganzem He -- he -- he -- he -- he -- he -- her -- ze -- ze -- zen." + +Als ob er aber mit den Worten in der Kehle Luft gemacht, setzte er das +Glas an, und der Wein verschwand wie durch Zauberei. + +"Alle Wetter" lachte Herr Dollinger, der sich gerade nach ihm umdrehte, +"Lossenwerder hat einen vortrefflichen Zug -- nun? -- hat's geschmeckt?" + +"Gu -- gut Herr Do -- do -- do -- do -- do." + +"Genug, genug" winkte ihm der Principal wieder ab -- "also bestell mir das +ordentlich." + +Lossenwerder, der Art entlassen, und vielleicht froh aus einer Umgebung zu +kommen, in der er sich nicht heimisch fuehlen konnte, setzte das Glas auf +einen Seitentisch ab, machte eine etwas linkische Verbeugung, und wohl +wissend dass er zu einem ordentlichen Danke doch keine Zeit mehr uebrig +hatte, empfahl er sich ohne weiter auch nur einen Versuch zu muendlichem +Abschied zu machen. + +"Eine unangenehme Persoenlichkeit" sagte Frau Dollinger zu ihrem +Schwiegersohn _in spe_, als der Mann noch die Thuer nicht einmal ordentlich +hinter sich geschlossen hatte; "ich kann mir nicht helfen, auf mich macht +der Mensch immer einen fatalen Eindruck." + +"Wie -- wie befehlen Sie meine Gnaedige?" sagte der junge Henkel etwas +zerstreut; Sophie bog sich in diesem Augenblick zu ihm nieder und +fluesterte ihm ein paar Worte zu -- + +"Er kann ja doch Nichts fuer seine Gebrechen" nahm Clara aber die Antwort +auf, "und thut gewiss Alles in seinen Kraeften sie eben durch gutes Betragen +vergessen zu machen." + +"Papa, ich wuerde das Geld auch nicht so offen in dem Secretair da liegen +lassen" sagte Sophie. + +"Nicht so offen? -- ich habe ja zugeschlossen -- " + +"Nun, es ist immer nicht gerade gut, wenn die Dienstleute wissen wo man +Geld liegen hat" stimmte die Mutter bei. + +"Dienstleute?" meinte Herr Dollinger -- es war ja Niemand von ihnen im +Zimmer -- " + +"Doch Lossenwerder?" + +"Bah" lachte der Kaufmann, mit dem Kopf schuettelnd. + +"Ist es denn viel?" frug seine Frau. + +"Nun, der Muehe werth waer's immer" sagte Herr Dollinger, "fuenf Tausend +Thaler etwa -- es soll aber auch nicht ueber Nacht da liegen bleiben, und +Lossenwerder hat mir auf heute Abend den Cassirer zu bestellen, das Geld an +sicheren Ort zu legen, bis ich morgen darueber verfuegt habe." + +"Der Lossenwerder verwandte keinen Blick von dem Geld, so lang er im Zimmer +war" sagte die Mutter, mit dem Finger vor sich hindrohend. + +"Lieber Gott, Muetterchen, Du weisst ja aber doch dass er schielt" +vertheidigte ihn lachend Clara -- "eben so fest und unverwandt hat er mich +indessen mit dem andern Auge angesehen; seine Schuld ist's nicht dass er +zwei Stellen auf einmal im Auge behalten muss." + +"Lasst mir den armen Teufel zufrieden" sagte aber auch Herr Dollinger -- +"der ist mir nuetzlicher wie zwei von meinen anderen Leuten; mehr zum +Nutzen wie Staat freilich, aber Staat will er auch nicht machen. Jetzt +uebrigens Kinder wird es Zeit dass wir uns ruesten, und Henkel, Sie muessen +noch Ihr Pferd holen lassen." + +"Ich habe es schon, in der Voraussetzung dass wir bei dem schoenen Wetter +doch wohl eine kleine Parthie machen wuerden, hierher bestellt," erwiederte +rasch der junge Mann -- wuenschen Sie den Wagen jetzt?" + +"Ich glaube ja, je eher, desto besser; die Tage sind kurz und wenn wir +noch eine Stunde oder zwei fahren wollen, duerfen wir nicht mehr viel +laenger warten." + +"Aber Ihr Maedchen moechtet Euch ein wenig warm einpacken" sagte jetzt die +Mutter, alles Andere in dem Gedanken an ihre Toilette vergessend -- "zum +still im Wagen Sitzen passt ein Sommerkleid noch nicht und heute Abend wird +es kuehl werden." + +"Und nicht so lange machen," mahnte der Vater, der sich sein Glas noch +einmal voll schenkte und leerte; "der Wagen wird im Augenblick da sein." + +Der Wagen fuhr auch wirklich kaum zehn Minuten spaeter vor, Herr Dollinger, +der nun seinen Hut und Stock aufgenommen, ging, seine Handschuh anziehend, +im Hofe auf und nieder, und endlich erschienen, diesmal in wirklich sehr +kurzer Zeit, die Damen, ihre Sitze einzunehmen. + +"Nun, wo ist Henkel?" sagte Herr Dollinger, sich nach seinem zukuenftigen +Schwiegersohne umschauend, "ich habe sein Pferd auch noch nicht gesehen; +jetzt wird uns der warten lassen." + +Die Familie hatte indessen im Wagen Platz genommen, und der alte Herr +schaute etwas ungeduldig zum Schlag hinaus, als der junge Henkel zum Thor, +aber ohne Pferd, hereinkam. + +"Nun? und Sie sitzen noch nicht im Sattel?" rief er ihm schon von weitem +entgegen -- "das ist eine schoene Geschichte; jetzt duerfen wir den Frauen +nie im Leben wieder vorwerfen, dass sie uns warten lassen." + +"Ich muss tausend Mal um Entschuldigung bitten," sagte der junge Mann, zum +Wagen hinantretend, "aber mein Stallmeister hat mich sitzen lassen. Wenn +Sie mir erlauben schicke ich einen der Leute danach, oder gehe selber, es +ist nicht weit von hier. Aber thun Sie mir die Liebe und fahren Sie +langsam voraus, ich hole Sie in Zeit von zehn Minuten ein." + +"Wir koennen ja hier warten," sagte die Mutter. + +"Ja, wenn die Pferde stehen wollten," brummte Herr Dollinger -- "zieh nicht +so fest in die Zuegel Johann, das Handpferd kann das nicht vertragen und +wird nur noch immer unruhiger -- wir wollen langsam vorausfahren -- machen +Sie aber dass Sie nachkommen; auf dem Balkon vom rothen Drachen trinken wir +Kaffee, dort ist eine wundervolle Aussicht -- der Stalljunge mag +hinueberlaufen und Ihnen das Pferd holen." + +Die Pferde zogen in diesem Augenblick an, Henkel musste aus dem Weg +springen und verbeugte sich leicht gegen die Damen, von denen ihm Clara +freundlich laechelnd zunickte. + +Eine starke Viertelstunde spaeter sprengte der junge "Amerikaner," seinem +Thiere die Sporen gebend, dass es Funken und Kies hintenaus stob, ueber das +Pflaster, zum Entsetzen der Fussgaenger dahin, dem Wagen nach, den er nur +erst eine kurze Strecke vor dem bezeichneten Platz wieder einholte. Im +Stall wollte Niemand etwas davon gewusst haben, dass er sein Pferd bestellt +gehabt -- Einer schob die Vergessenheit natuerlich auf den Andern, und +Dollinger's Stallknecht musste die Leute sogar erst zusammensuchen, bis er +das Pferd bekam, deshalb hatte es so lange gedauert. Als er mit demselben +zurueckkehrte, ging der junge Mann in dem kleinen, dicht am Haus liegenden +Garten auf und ab, sprang aber dann, dem Burschen ein Trinkgeld zuwerfend, +und dessen Entschuldigung nur halb hoerend, rasch in den Sattel und flog, +wie vorher erwaehnt, in vollem Carriere die Strasse nieder. + +Er hatte den Hof kaum verlassen, als Lossenwerder, einen grossen, +wunderschoen bluehenden Monatsrosenstock unter dem Arm, vorsichtig und wie +scheu, dass ihn Niemand gewahre, ueber den Hof und in die Hinterthuer des +Hauses schlich, und sich leise und geraeuschlos die Treppe damit +hinaufstahl. Er blieb etwa zehn Minuten im Haus und wollte dann aus +derselben Thuer wieder ueber den Hof zurueck, als der Stallknecht aus der +Futterkammer kam. Unschluessig blieb der kleine Mann eine kurze Zeit hinter +der Thuer stehen, und schlich sich dann, als der Bursche den Platz nicht +verlassen wollte, vorn zur Hausthuer hinaus auf die Strasse, den Weg nach +seiner Wohnung einschlagend. + + + + + + Capitel 2. + + + DER ROTHE DRACHEN. + + +Der "rothe Drachen", ein Wirthshaus, das wegen seines vortrefflichen +Bieres, wie sonst mancher schaetzenswerthen Eigenschaften einen sehr guten +Namen hatte, lag etwa eine halbe Stunde von Heilingen, an der grossen +Landstrasse, die gen Norden fuehrte. Ein freundlicher Thalgrund umschloss +Haus und Garten und die dunklen, den Gipfel des naechsten Hanges kroenenden +Nadelhoelzer hoben nur noch mehr das freundliche Gruen der jungen Birken und +Weisseichen hervor, die sich ueber die niedere Abdachung erstreckten, und +bis scharf hinan an den hocheingefriedigten und sorgfaeltig in Ordnung +gehaltenen Frucht-, Gemuese- und Blumengarten des Hauses selber lehnten. + +Es war ein warmer, sonniger Fruehlingsnachmittag; der Bach, der am Hause +dicht vorbeirieselte, plaetscherte und schaeumte in frischem jugendlichen +Uebermuth, des Eises Huelle, die ihn so lange gefangen gehalten oder doch +fest und aengstlich eingeklemmt, nun endlich einmal enthoben zu sein, und +die Voegel zwitscherten so froh und munter in den Zweigen der alten +knorrigen Linde, die unfern der Thuere stand, und flatterten und suchten +herueber und hinueber, aus den bluehenden Obstbaeumen fort ueber den Hof und +von dem Hof wieder fort in dicht versteckten Ast und Zweig hinein, mit +einem gefundenen Strohhalm oder einer erbeuteten Feder im Schnabel, dass +Einem das Herz ordentlich aufging ueber das rege glueckliche Leben. Und wie +blau spannte sich der Himmel ueber die bluehende, knospende Welt, wie leicht +und licht zogen weisse duftige Wolken, Schwaenen gleich, durch den Aether +hin, farbige, fluechtige Schatten werfend ueber Wiesen und Feld und die +weite Thalesflucht, die sich dem Auge in die Ferne oeffnete und dem +leuchtenden Blick neue Schaetze bot, wohin er fiel. + +Ein Fruehling in Deutschland -- ein Fruehling im _Vaterland_; oh wie sich das +Herz da mit der wirbelnden, schmetternden Lerche hebt und jubelnd, +jauchzend gen Himmel steigt; zwinge die Thraene da nicht zurueck, die sich +Dir, dem Gluecklichen, in's Auge draengt -- in ihrem Blitzen preisest Du den +Vater droben, wie es die jubelnde Lerche dort thut, die mit zitterndem +Fluegelschlag ueber den gruenen Matten schwebt; -- wie das raschelnde +fluesternde Blatt im Wald, wie der schwankende, thaugeschmueckte Halm und +die knospende, duftende Bluethe im Thal. Ein Fruehling im Vaterland -- oh wie +schoen, wie jung und frisch die Welt da um uns liegt in ihrem braeutlichen +Glanz, voll neuer Hoffnungen in jedem jungen Keim, und wie sich das Herz +der schoenen Blume gleich zusammenzog, als der Herbststurm ueber die Haide +fuhr, mit rauher Hand den Blattschmuck von den Baeumen riss und zu Boden +warf und Schnee und Eis vor sich hin jagte ueber die erstarrende Flur, so +oeffnet es sich jetzt mit vollem Athemzug wieder den balsamischen +Fruehlingsgruss, und vorbei, vergessen liegt vergangenes Leid -- wie der +verwehte Sturm selber keine Spur mehr hinterliess und die schoensten Blumen +jetzt gerade an den Stellen bluehen, wo er am tollsten, rasendsten getobt. + +Ein warmer erquickender Regen war die letzten Tage gefallen, und so gut er +dem Land gethan, hatte er doch die Bewohner des nahen Staedtchens in ihre +Haeuser und Strassen gebannt gehalten, von wo aus sie sehnsuechtig die nahen +gruenenden Berge theils, theils die dunklen Wolken betrachteten, die nicht +nachlassen wollten Segen auf die Fluren niederzutraeufeln. Heute aber hatte +sich das geaendert; voll und warm gluehte die Sonne am Himmelszelt und +hinaus stroemten sie in jubelnden Schaaren, hinaus in's Freie. Der "rothe +Drachen" vor allen anderen Plaetzen, der so reizend an der Oeffnung des +Thales lag und die Aussicht bot in das darunter liegende freie Land, hatte +dabei sein reichlich Theil erhalten der froehlichen Schaar, dass die Wirthin +mit ihren Kellnern und Maegden nicht Haende genug hatte zu schaffen und +herzurichten, und die Tische und Baenke im Garten draussen fast alle besetzt +waren rund herum von Schmausenden. + +Der "rothe Drachen" sollte uebrigens, wie die Sage ging, seinen Namen von +einem wirklichen Drachen bekommen haben, der einmal vor vielen hundert +Jahren in der Schlucht weiter oben, die auch noch ebenfalls nach ihm die +Drachenschlucht hiess, gehaust und viele Menschen und Rinder verschlungen +hatte. Der Wirth des "rothen Drachen" nun, Thuegut Lobsich, dessen +Voreltern schon diesen Platz gehalten, behauptete dabei, Einer seiner +"Ahnen" habe den Drachen im Einzelkampf erlegt -- (die Gaeste meinten, mit +schlechtem Bier vergiftet) und dafuer von dem damals regierenden Fuersten +Platz und Wirtschaft als Gerechtsame, mit dem Schild als Wahrzeichen, +erhalten. + +Wie dem auch sei, Thuegut Lobsich that wirklich gut auf dem Platz, der ihm +vortreffliche Nahrung bot, und befand sich so wohl, wie sich nur ein Wirth +in einer gut gelegenen Wirthschaft befinden kann. Seine Frau war aber +dabei der Nerv des Ganzen, in Kueche und Stall, in Keller und Haus, und +waehrend sich Vater Lobsich, wie er sich gern nennen liess, obgleich er noch +jung und ruestig war, am Liebsten zu seinen Gaesten irgendwo an einen Tisch +drueckte und "das Bier controllirte", wie er sagte, dass ihm die Burschen +kein Saures brachten und die Gaeste verjagten, arbeitete die Frau im +Schweisse ihres Angesichts vor dem Heerd, die bestellten Portionen +herzurichten und zu gleicher Zeit auch den Verkauf von Kaffee, Thee, Milch +und Kuchen zu ueberwachen. Dabei fuehrte sie die Kasse und rechnete mit +Kellnern und Maedchen ab, und wehe denen, die eine halbe Portion Kaffee +oder Kuchen vergessen, ein nichtbezahltes Glas nicht aufnotirt oder einem +schlechten Kunden noch einmal gegen den direkt gegebenen Befehl geborgt +hatten. + +Boese Zungen meinten dabei nicht selten, Frau Lobsich sei der "einzige Mann +im Hause" und Thuegut duerfe nur tanzen, wenn sie nicht daheim waere; boese +Zungen erwaehnten dann aber nicht dabei, dass sie wirklich allein das +Hauswesen in Zucht und Ordnung hielt, und so scharf und heftig sie draussen +in Kueche und Wirtschaft, wo sie fremde Leute doch auch eigentlich nur zu +sehen bekamen, sein konnte, und so grosse Ursache sie dabei oft hatte +aergerlich zu sein, und die Ursache dann auch fuer vollkommen genuegend +hielt, es wirklich zu werden, so still und freundlich konnte sie sich +betragen, wenn sie allein mit ihrem Manne war, und so gern gab sie ihm in +Allem nach, was nicht eben zu Ruin und Schaden trieb. Salome Lobsich war +das Muster einer Hausfrau, und was ebensoviel sagen will, eine gute Gattin +dabei -- ob ihr Mann dasselbe auch von sich sagen konnte, stand auf einem +anderen Blatt. + +Heute hatte sich uebrigens eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft in dem gar +so freundlich gelegenen Garten des rothen Drachen eingefunden, und dicht +vor der Thuer desselben, unter der alten breitschattigen Linde, die ihre +Arme so weit nach rechts und links hinueberstreckte, dass man sie schon +hatte stuetzen muessen, nur den Weg zu ihr und den Platz darunter frei zu +behalten, sass Lobsich selber mit einem kleinen Kreis guter Bekannten, +d. h. alter Kunden und quasi Stammgaeste von ihm, denn er selber kam selten +irgend wo anders hin, und wer also sein Bekannter _bleiben_ wollte, musste +ihn eben besuchen. + +Zu diesen gehoerte besonders Jacob Kellmann, ein Kuerschner und Pelzhaendler +aus Heilingen, dann der Aktuar Ledermann von dort, eine lange hagere, +etwas ungeschickte Gestalt, mit aber nicht unangenehmen, gutmuethigen +Gesichtszuegen, und der Apotheker aus Heilingen, Schollfeld mit Namen, die +es gewoehnlich so einzurichten wussten, dass sie an einen Tisch mit einander +zu sitzen kamen. Lobsich nahm ebenfalls am Liebsten zwischen dieser +kleinen Gesellschaft Platz, und nur dann und wann, besonders wenn er die +Stimme seiner Frau irgendwo hoerte, stand er auf und ging einmal durch den +Garten und die Reihen seiner Gaeste, zu sehn ob Alle ordentlich bedient +wuerden, und keine Klagen einliefen gegen unaufmerksame Kellner, die er in +dem Fall auch wohl gleich an Ort und Stelle mit einem Knuff oder einer +Ohrfeige abstrafte, als warnendes Beispiel. Er musste an irgend Jemand +seinen Aerger auslassen, dass er nicht bei seinem Biere konnte sitzen +bleiben. + +"Ist doch ein prachtvolles Wetter heute," sagte Kellmann, der eben einen +tuechtigen Zug aus seinem Glase gethan, und nun mit vollem zufriedenen +Blick ueber das freundliche Bild hinaus schaute, das sich, von der warmen +Nachmittagssonne beschienen, in all seinem blitzenden Glanz und +Farbenschimmer vor ihnen aufrollte "und es waechst und gedeiht Alles +draussen so schoen und steht so praechtig -- merkwuerdig dabei, dass Alles so +theuer bleibt, und die Preise, statt herunter zu gehen, immer nur steigen +und steigen." + +"Ja das weiss Gott," seufzte der Aktuar, dem der Gedanke selbst den +Geschmack am Bier wieder zu verderben schien, denn er setzte das schon zum +Mund gehobene Glas unberuehrt vor sich nieder -- "und wenn das noch eine +Weile so fort geht, koennen wir alle mit einander verhungern oder +davonlaufen." + +"Nun Ihr habt gut reden," sagte Kellmann, "Ihr bekommt vom Staat Euer +Gewisses und koennt Euch genau danach einrichten -- Euer Geld muss Euch +werden, wenn der erste jedes Monats kommt, unsereins haengt aber allein von +den Zeiten ab, und wenn die Lebensmittel knapp werden, kauft Niemand einen +Pelz. Holz will auch sein und daran kann sich nachher die ganze Familie +waermen." + +"Ihr redet wie Ihr's versteht," brummte der Aktuar, -- "unser Gewisses +bekommen wir, das ist wahr, aber nur deshalb, damit wir gewisses Elend vor +den Augen haben. Ich habe fuenfhundert Thaler Gehalt, und Frau und Kind und +Dienstmaedchen zu ernaehren, und soll anstaendig dabei gekleidet gehn, denn +vor zehn und zwanzig Jahren hatte ein Aktuar in meiner Stellung auch nicht +mehr, und machte das Alles moeglich, ja befand sich wohl dabei. Jetzt aber +wird Brod, Butter, Fleisch, Holz, Wohnung, kurz Alles was wir nun einmal +zum Leben brauchen, gesteigert von Tag zu Tag, aber meine fuenfhundert +Thaler _bleiben_; vor zehn Jahren kaufte ich zwanzig Pfund Brod fuer +dasselbe Geld, fuer das ich jetzt nicht zehn bekomme -- aber _meine_ +fuenfhundert Thaler _bleiben_. Auch mein Hausherr verlangt hoeheren Zins -- +schon voriges Jahr bin ich hoeher gegangen, um nicht gesteigert zu werden, +d. h. fuer denselben Preis aus der zweiten in die dritte Etage gezogen, +aber dies Jahr muss ich ganz hinaus, denn er will wieder zehn Thaler mehr +haben und ich kann's ihm nicht geben. Ihr Leute habt Euch gut in die +Zeiten schicken, denn wenn das Brod theuer wird, schlagt Ihr desto mehr +auf Euere Waare, der kleine Beamte aber, der Staatsdiener um geringen +Lohn, das ist das geplagte, gefaehrdete Geschoepf, und jede neue Taxe macht +ihm keine neue Berechnung, sondern schnallt ihm nur den Leibriemen um ein +Loch enger, dass er weniger isst, bis er in's _letzte_ Loch geworfen wird, +zum ersten Mal von seinen irdischen Strapatzen, ohne Furcht vor rasch +abgelaufenen Ferien, wirklich ungestoert auszuruhen." + +"Ach geht mit Eueren erbaermlichen Lamentationen an solch freundlichem +Tag," fiel ihm der Wirth hier in die Rede, der sich erst vor ein paar +Augenblicken wieder mit zum Tisch gesetzt und schon eine ganze Weile +ungeduldig mit dem Kopf geschuettelt hatte. "Das Reden macht's nicht besser +und Stoehnen und Seufzen hilft auch Nichts -- Kopf oben, das ist die +Hauptsache; das andere macht sich von selber -- aber hallo" -- unterbrach er +sich ploetzlich, von seinem Sitze aufstehend und die Strasse +hinunterzeigend, die in das weite Thal fuehrte -- "was kommt dort fuer ein +Trupp den Weg entlang?" -- und in der That wurde dort oben ein ganzer Zug +Maenner, Frauen und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspaennigen +Waegelchen sichtbar. + +"Das sind Auswanderer!" rief Jacob Kellmann, von seinem Stuhl aufspringend +und dem Zug entgegenschauend -- "seht nur ein Mensch an, wieder ein ganzer +Schwarm aus dem Hessischen; Heiland der Welt, da muss doch endlich einmal +Platz werden." + +"Na nu ist wieder der Frieden beim Henker," rief aber der Apotheker +muerrisch -- "hier Lobsich setzt Euch auf Eueren Stuhl und trinkt Euer Bier +aus, und Ihr Kellmann, lasst das Volk da draussen laufen, wohin sie wollen -- +unzufriedene Bande, die es ist und die es nirgends gut genug kriegen kann, +wo ihr nicht das Confekt auf goldenen Tellern praesentirt wird. Na kommt +nur hinueber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr sticht -- Euch werden sie +schon noch das Fell ueber die Ohren ziehn, dass Ihr am hellen lichten Tag +die Sterne zu sehn bekommt." + +"Nein was fuer ein Zug!" rief aber Kellmann, die langsam naeher kommende +Schaar mit unverkennbarem Interesse betrachtend; "die armen Teufel." + +"Hoert Kellmann," rief aber Schollfeld aergerlich, "tretet mir da ein wenig +aus dem Weg, dass ich auch was sehen kann, und setzt Euch wieder, ich +daechte doch wahrhaftig, Auswanderer hier an der Strasse waeren nichts so +besonders Neues, dass Ihr Maul und Nase aufsperrt und thut, als ob Euch so +etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen waere." + +Schollfeld war uebrigens nicht umsonst so muerrisch; er hatte einen Zorn auf +Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung als eine indirekte +Beleidigung gegen den Staat, gewissermassen als eine Grobheit, die man ihm +geradezu unter die Nase sage -- : "ich mag nicht mehr in Dir leben und +weiss einen Platz, wo's besser ist." Das _dachten_ sich naemlich die +"Toelpel", wie er sie nannte, aber Sie _wussten_ es nicht -- gar Nichts +wussten sie und liefen blind und toll in die Welt hinein. Der Staat haette +auch eigentlich den Skandal gar nicht dulden sollen; hunderte von +Menschen, reine Deserteure aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei +vorbei, Anderen noch obendrein ein boeses Beispiel gebend, und er begriff +die Regierung nicht, wie sie dem Volke nur noch einen Pass gestatten +konnte. + +Der Zug war indessen naeher gekommen und Lobsich rasch in das Haus gegangen +Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen Trupps gewoehnlich eine Menge +junge Burschen befanden, die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst +hatten; um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und den Hals +trocken machte. + + [Capitel 2] + +Die ersten Waegen passirten still vorbei; die Fuehrer warfen einen langen, +vielleicht sehnsuechtigen Blick nach den behaglich hinter ihren Tischen +sitzenden Gaesten und dem kuehlen funkelnden Bier hinueber, aber hielten +nicht an, sich laengere Rast dafuer auf den Abend versprechend. Nur von den +Fussgaengern blieben mehre Trupps unfern der Linde, unter der unsere kleine +Gesellschaft sass, und nicht weit von der Gartenthuere stehn, und waehrend +ein paar der Maenner dem Kellner winkten, ihnen Bier herauszubringen, als +ob sie sich scheuten in ihrer bestaubten schmuzigen Kleidung, mit der +schweissbedeckten Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen +heruebersehenden Gruppen hineinzugehn, hielt ein Trupp Frauen ebenfalls +dort. Angezogen von der ploetzlichen weiten und freien Aussicht, die ihnen +hier nach unten zu das Thal oeffnete, durch das sie gekommen, blieben sie +erfreut und ueberrascht stehn und schauten dabei auf das reizende Bild hin, +das wie mit einem Schlage so vor ihnen in's Leben sprang. + +"Heiland der Welt, Lisbeth," rief ein junges, sechzehnjaehriges Maedchen +der, vielleicht zwei Jahr aelteren Schwester zu -- "dort drueben liegt +Holstetten, und von da ist's nur noch neun Stunden zu Haus -- dahinter kann +ich den weissen Weg durch's schwarze Nadelholz sehn, der hinueberfuehrt nach +Krisheim." + +"Ja Marie," antwortete das Maedchen, und waehrend sie sprach, liefen ihr die +grossen hellen Zaehren an den bleichen Wangen nieder, "gleich hinter dem +Berg dort muss die Windmuehle liegen, und dann kommt Bachstetten und +nachher" -- sie konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll und +sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren Schmerz sah, +noch schwerer machen. Aber zurueckdaemmen liess sich das auch nicht, die +Wunde war noch zu frisch und blutete zu stark, und beide Maedchen standen +wenige Minuten still und weinend da, die schoenen thraenenueberstroemten Zuege +den ihr naechsten Menschen ab- und der verlassenen Heimath, die sie wohl +nie im Leben wieder schauen sollten, zugekehrt. + +"Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich haelt und pflegt, wie sie +es versprochen," brach die Juengste endlich wieder mit leiser kaum hoerbarer +Stimme das Schweigen. + +"Sie hat's ja versprochen," fluesterte fast eben so leise die Schwester +zurueck, "aber -- -- -- -- so lieb wird sie's doch nicht haben wie wir." + +"Komm Lisbeth," sagte die Juengere wieder und ergriff, ohne sie aber dabei +anzusehn, der Schwester Hand -- "wir wollen gehn -- die Wagen sind schon ein +Stueck voraus." + +Beide Maedchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen Heimath zu +und schritten dann schweigend Hand in Hand den Weg entlang, der nach und +durch Heilingen fuehrte, ihre weite, unbekannte Bahn. + +"He Marie, Lisbeth!" rief sie der Vater an, der eben an der Thuer des +Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner erhalten hatte -- "wollt Ihr +einmal trinken Kinder?" + +"Ich danke Vater," sagte Marie zurueck, ohne sich umzusehn oder stehn zu +bleiben, "wir sind nicht durstig." + +"Woher des Wegs Ihr Leute?" wandte sich jetzt Kellmann, der trotz +Schollfeld's aergerlichen Worten zu dem Alten getreten war, an diesen. + +"Aus Hessen," sagte der Mann ruhig und that einen langen durstigen Zug aus +dem, mit dem trefflichen Bier gefuellten, schaeumenden Glas. + +"Und wohin?" + +"Nach Amerika." + +"Hm -- ist ein weiter Weg -- ist Euch wohl schlecht gegangen hier im Lande?" +sagte Kellmann, die kraeftige und doch gramgebeugte Gestalt des alten +Landmanns teilnehmend betrachtend. + +Der Bauer, dessen Blick auch an dem fernen Punkt indess gehangen, wo seine +fruehere Heimath lag, liess das Auge einen Moment wie misstrauisch ueber den +Frager gleiten und erwiederte dann leise und kopfschuettelnd: + +"Schlecht? -- lieber Gott wie man's nimmt; man soll g'rad nicht klagen; der +liebe Gott hat geholfen und wird weiter helfen." + +"Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben holen die in +Amerika herumfliegen?" mischte sich hier der Apotheker in's Gespraech, der +nicht umhin konnte dem "Auswanderer", wie er sich ausdrueckte, "einen Hieb +zu versetzen" -- "habt Ihr auch Messer und Gabeln mit?" + +Der Bauer sah den kleinen, spoettisch laechelnden Mann einen Augenblick +ruhig von der Seite an, zahlte dann dem neben ihm stehenden Kellner, dem +er das Glas zurueckgab, sein Bier, und ohne irgend etwas auf die Frage zu +erwiedern, oder aergerlich darueber zu scheinen, ja als ob er sie nicht +gehoert haette, wandte er sich und folgte mit einem "gruess Euch Gott Ihr +Herren", seinen vorangegangenen Toechtern. + +"Holzkopf," brummte der Apotheker, nur noch mehr gereizt ueber diese +anscheinende Misachtung, hinter ihm drein -- "dem Volk ist zu wohl hier," +setzte er dann, mit einem kraeftigen Zug aus seinem Glase hinzu -- "der Art +Leute fuehlen sich nicht behaglich, wenn sie nicht baumfest unter dem +Daumen gehalten werden." + +"Guten Abend miteinander," sagte in diesem Augenblick ein Anderer der +Auswanderer, der, mit einem kurzen Pfeifenstummel in der Hand zu dem Tisch +trat, auf dem in einem schuetzenden Kelchglas ein Licht mit darum +gesteckten Fidibus zum Anzuenden der Cigarren stand -- "wenn's erlaubt ist, +moechte ich mir wohl einmal eine Pfeife bei Euch anbrennen." + +"Mit Vergnuegen," sagte Ledermann, ihm einen Fidibus anzuendend und +hinreichend. + +"Danke schoen," nickte der Mann, das Feuer benutzend und den blauen Qualm +in schnellen kurzen Zuegen ausblasend. -- + +"Und wo geht die Reise hin?" frug Ledermann dem Rauchenden. + +"Da hinueber," sagte dieser; immer noch scharf ziehend, indess er mit dem +linken, zurueckgebogenen Daumen ueber die linke Achsel wiess -- "uebers grosse +Wasser." -- + +"Habt Ihr dort schon einen Platz?" frug der Aktuar. + +"Ja," sagte der Mann freundlich -- "mein Bruder hat mir geschrieben aus dem +Wiskonsin heraus; da soll's gut sein." + +"Und geht Ihr Alle dorthin?" frug ihn Kellmann. + +"Die meisten von uns, ja; eine Parthie will aber auch hinueber in's +Missuri; da ist's waermer." + +"Es sind wohl lauter Landleute hier miteinander?" + +"Ja meistens -- ein Schneider ist dabei, und der Schmied aus dem Dorfe und +der Herr Pastor ist schon voraus." + +"Der Pastor geht auch mit?" frug Kellmann schnell. + +"Ahem," nickte der Mann, "der ist aber mit der Post gefahren, aber er hat +gesagt er wollte sehn dass wir Alle auf ein Schiff kaemen. Danke schoen Ihr +Herren, adje." + +"Glueckliche Reise," rief ihm Kellmann nach. + +"Danke," nickte der Mann noch einmal zurueck, "koennens brauchen," und +schloss sich den uebrigen wieder an, von denen die letzten gerade die Thuer +des Wirthshauses passirten. + +Es waren aermliche, viele von ihnen kraenklich oder wenigstens bleich +aussehende Gestalten, in die Bauerntracht ihrer Gegend gekleidet; die +meisten Frauen mit Kindern auf dem Arm, Manche sogar deren an der Brust, +und ein Buendel dazu auf dem Ruecken, die im Schweiss ihres Angesichts, wie +sie bis jetzt gelebt, muehsam der fernen ersehnten Heimath +entgegenstrebten. Hie und da waren auch ein paar kraeftige junge Burschen +von zwoelf bis vierzehn Jahren vor ein kleines leichtes Handwaegelchen +gespannt, darauf gepackte Betten, Kleidungsstuecke und Lebensmittel die +weite Strasse entlang zu ziehen. -- Die Leute hatten kein Geld uebrig, denn +das wenige, was sie zur Reise aufgespart, mussten sie fuer das Schiff +aufheben, und ein paar Thaler sollten doch auch noch wenigstens, wenn das +irgend anging, uebrig bleiben, damit sie nur die ersten Tage in Amerika, +ehe sie Arbeit bekaemen, vor Sorge geschuetzt waeren. Den glaenzenden +Schilderungen die ihnen von dem neuen Lande ihrer Hoffnungen gemacht +waren, trauten die armen Frauen am wenigsten in ihrem vollen Umfange; von +Jugend auf, wie ihnen nur eben die Kraefte wurden ihre juengeren Geschwister +in der Welt herumzuschleppen, hatten sie arbeiten, hart arbeiten muessen, +und viel anders wuerde es auch wohl nicht da drueben sein. Der Sorgen waren +hier nur gar so viele angewachsen, mit jedem Jahre mehr, wie sie sich auch +plagten und quaelten, und schlechter _konnte_ es dort drueben nicht sein. +Das war fuer jetzt der einzige Trost den sie mit sich trugen die lange, +heisse Strasse entlang mit einer kleinen Hoffnung moeglicher Besserung +vielleicht, und sie drueckten dann die Kinder nur fester an ihr Herz und +kuessten sie, und fluesterten ihnen leise und heimlich zu dass sie nicht mehr +schreien sollten, denn sie gingen nach _Amerika_, und da wuerde schon Alles +gut werden, wie ihnen der Vater gesagt. + +Die Maenner und Burschen zogen der fernen Welt aber schon mit mehr +Vertrauen entgegen; das Bewusstsein der eigenen Faehigkeit und Kraft hob sie +dabei auch ueber Manches hinweg das die abhaengigen Frauen schwerer zu Boden +drueckte. Wer bei einer langen Wanderung voran geht, und fuer den Weg zu +_denken_ hat, wird nie so muede als der, der ihm folgt, nur fuer sich denken +laesst, und hinter drein zieht. Viele von den Maennern trugen auch +Jagdtaschen und Gewehre auf dem Ruecken, Buechsen und Schrotflinten -- was +sollte es "da drueben" nicht Alles zu schiessen geben; -- Manche auch +nachgemachte bunte Blumenstraeusse auf dem Hut. Einzelne, aus Baiern und +Thueringen, die sich ihnen angeschlossen, hatten sogar ein paar kleine +gefaerbte Maraboutfedern mit ihren Landesfarben, blau und weiss, und gruen +und weiss in ihrem Hutband stecken; die Meisten aber schienen keine solche +Erinnerung an die Heimath mitnehmen zu wollen, in das neue Vaterland. + +Die Leute gingen vorueber, und die Gaeste hatten ihnen schweigend +nachgeschaut, so lange fast, bis sie die naechste Biegung der Strasse ihren +Blicken entzog. Auch Lobsich war wieder vor die Thuer seines Gartens +getreten, und sich jetzt kopfschuettelnd zurueck zu seinem Tische wendend, +brummte er vor sich hin. + +"S'ist mir doch was Unbedeutendes" -- es war dieses eine seiner stehenden +Redensarten, die in der That unbegrenztes Erstaunen ausdruecken sollte -- +"was die Leute diess Fruehjahr wieder an zu ziehen fangen; Tag fuer Tag geht +das so fort; Trupp nach Trupp kommt ueber die Berge herueber, mit Sack und +Pack, mit Weib und Kind -- und Alles fort, Alles fort, und man merkt nicht +einmal von _wo_ sie fort sind." + +"Doch, doch," sagte Kellmann, die Augenbrauen in die Hoehe ziehend und mit +dem Kopf nickend, "doch, doch Lobsich; ob man's wohl merkt? -- geht einmal +da ueber die Berge hinueber und seht Euch in den Doerfern um; da steht +manches alte halbzerfallene _leere_ Haus, an das irgend eine Familie da +drueben noch mit Schmerzen zurueckdenkt, und in das Niemand anderes mehr +Lust hat einzuziehen, weil er noch eine Menge _bessere_, ebenfalls leer, +in demselben Dorfe findet. Es ist immer ein trauriger Anblick solch ein +leeres Haus, und ich seh's nicht gern." + +"Und was fuer _Geld_ tragen sie ausser Land," fiel der Apotheker hier ein, +der indess, sich zu zerstreuen, im Heilinger Tageblatt gelesen hatte, jetzt +aber nicht umhin konnte auch noch ein Wort mit drein zu werfen -- "was sie +nicht mit hinuebernehmen koennen, lassen sie wenigstens in den Seestaedten, +und zu uns kommt Nichts mehr davon zurueck. Wenn ich nur das erst einmal +erlebe, dass die Leute zu ihrem Glueck foermlich _gezwungen_, und nicht mehr +aus dem Land hinausgelassen werden; geht das aber so fort, so werden sie +so lange auswandern, bis uns hier weiter gar Nichts uebrig bleibt als +mitzugehen, wenn wir nicht eben allein sitzen wollen in dem veroedeten +Land, unseren Acker selber zu bauen. Hol sie der Teufel, wofuer hat sie +denn eigentlich der liebe Gott in die Welt gesetzt und ihnen den Holzkopf +gegeben, der sie zu allem Anderen untauglich macht. Ackern und Duengen +muessen sie drueben doch auch, und weshalb koennen sie das nicht eben so gut +_hier_? -- Nein Gott bewahre, die paar Thaler die sie sich _hier_ erspart +haben, muessen erst wieder verschleppt und hinausgeworfen werden an +Experimente und reinen Uebermuth, und nachher sitzen sie erst recht da; +dort drueben _koennen_ sie Nichts mehr sparen, und _muessen_ schon drueben +bleiben, wenn sie auch wieder herueber moechten. Die Paar die sich doch noch +ein paar Thaler zusammenscharren, die kommen nachher schnell genug wieder +zurueck, aber es sind nur wenige, und die anderen armen Teufel haben die +Bruecke muthwillig hinter sich abgebrochen, und sitzen nun auf der +wohlriechenden Haide ohne Unterfutter. Jesus Maria und Joseph, es muss ein +ordentlicher Jammer drueben sein." + +"Na, _so_ arg nun denn doch wohl noch nicht, Schollfeld," sagte Kellmann +kopfschuettelnd, "man hoert doch nun auch so Manches von da drueben was nicht +gar so schlecht klingt, und wo sich's schon aushalten liesse, wenn man -- +wenn man eben einmal einen solchen verzweifelten Schritt absolut thun +muesste oder wollte." + +"Nicht so arg?" rief aber Schollfeld, der hier sein Steckenpferd ritt, und +sich selten eine Gelegenheit entgehen liess auf Amerika zu schimpfen -- +"nicht so arg? da, hier lesen Sie einmal das Tageblatt, was der wackere +Dr. Hayde darueber schreibt; das ist ein Mann, der hat Haare auf den Zaehnen +und muss die Sache verstehn, denn er ist Einer von den Wenigen die drueben +gewesen und gluecklich wiedergekommen sind. Er bringt kaum eine Nummer in +der er nicht ein oder den anderen Hieb auf die Verhaeltnisse Ihres +"gluecklichen Amerika" hat -- das muss ja ein wahres Raubnest sein, lesen Sie +nur einmal." + +"Hoeren Sie lieber Schollfeld, ich will Ihnen einmal 'was sagen," +erwiederte ihm Kellmann ruhig, "dieser Dr. Hayde, der Ihnen die schoenen +Artikel schreibt ist, der Meinung aller ordentlichen Kerle in Heilingen +nach, das wenigste zu sagen eine kleine geschwollene Giftkroete, ein +weggelaufener Advokat, den die Verhaeltnisse aus Deutschland vertrieben, +und den in Amerika Niemand mit seinen Talenten haben mochte. Zu faul zum +arbeiten, und nicht im Stande etwas Anderes zu thun, wurde er dort +wahrscheinlich vom Schicksal hin- und hergestossen, und wie ein aus einer +Thuer geworfener Mops, stellt er sich jetzt draussen hin, wo sich Niemand +die Muehe giebt ihn zu stoeren, und schimpft und klefft. Ich will Amerika +eben nicht in allem vertheidigen, aber was _der_ gerade darueber sagt wuerde +mich auch nicht bestimmen. Wie ein Dreckkaefer schleppt er sich nur mit +groesster Muehe kleine Stueckchen Koth herbei, und rollt sie zusammen eine +Kugel zu machen in die er sein Ei legt -- pfui ueber den Burschen." + +"Na jetzt freut mich aber mein Leben," rief Herr Schollfeld erstaunt aus -- +"erst schimpfen Sie selber auf Amerika, und nun auf einmal soll der arme +Doktor die ganze Schuld tragen." + +"Ich _schimpfe_ nicht auf Amerika," sagte Kellmann ruhig, "ich kann nur +nicht leiden wenn man es auf Kosten unseres eigenen Vaterlandes +herausstreicht, und gegen alle seine Nachtheile blind ist. Es waere +allerdings noch viel gefaehrlicher sich die Lichtseiten alle zu bunt +auszumalen; die armen Leute die nachher hinuebergehn und es anders finden, +sind dann zu sehr enttaeuscht, und fallen gewoehnlich, wie mir gesagt ist, +aus einem Extrem in's Andere -- aber so taugt's auch Nichts." + +"Guten Abend selbander," sagte in dem Augenblick eine andere Stimme dicht +hinter ihnen, und als sie sich danach umschauten, stand ein alter +Bekannter von ihnen, Mathes Vogel, ein reicher junger Bauer aus dem +naechsten Dorf, an ihrem Tisch und streckte ihnen freundlich die Hand +entgegen. + +"Hallo Mathes, wie geht's?" rief Kellmann die gebotene herzlich schuettelnd +-- "Wetter noch einmal Mann, wo habt Ihr jetzt gerade in der Saatzeit +gesteckt, dass Ihr in der Welt herumreist wie ein Baron, der seine Gueter +verpachtet hat? Ihr seid verreist gewesen." + +"Ja Herr Kellmann, in Bremen." + +"Wo seid Ihr gewesen?" frug Schollfeld erstaunt. + +"In Bremen, Herr Schollfeld!" rief der junge Bauer, gegen diesen gewandt, +"oben in der Hafenstadt." + +"Guten Abend Mathes," kam hier der Wirth dazwischen, der den alten Kunden +ebenfalls begruesste -- "lange nicht gesehn, recht gross geworden mein Junge; +hast Du Durst?" + +"Merkwuerdigen," sagte der Bauer laechelnd. + +"Na warte, den wollen wir begiessen," schmunzelte aber Lobsich, rasch in +den Garten zurueckgehend, "der soll mir nicht umsonst in den rothen Drachen +gefallen sein." + +"Aber was hat Euch nach Bremen gefuehrt?" wiederholte Kellmann, fast etwas +misstrauisch gemacht durch das wunderliche halb verlegene Benehmen des +jungen Burschen. + +"Ja Herr Kellmann," sagte der reiche Bauerssohn, wirklich jetzt verlegen +seinen Hut um den Zeigefinger der linken Hand drehend -- "das hat -- das hat +so seine eigene Bewandtniss -- Ich bin -- ich bin zu einem Entschluss +gekommen -- ich will -- ich will auswandern." + +"Was will er?" schrie Schollfeld, der die Worte nicht ganz verstanden, den +ungefaehren Sinn aber etwa errathen hatte. Jedenfalls schoepfte er Verdacht +und ehe Kellmann nur im Stande war ein Wort darauf zu erwiedern rief er +nochmals laut: "wo will er hin?" + +"Nach Amerika," sagte aber der junge Mann entschlossen und wollte noch +etwas hinzusetzen, aber der Apotheker schlug dermassen auf den Tisch, und +fing so an zu schimpfen und zu fluchen, Niemand wusste eigentlich auf was +und gegen wen, dass Mathes gar nicht gleich wieder zu Worte kommen konnte, +und vielleicht auch eben nicht boese darueber war. + +"Hallo, wer ist todt?" rief aber in dem Augenblick Lobsich, der mit dem +bestellten Bier fuer einen seiner besten Kunden selber ankam -- "dass Dich +die Milz sticht, was ist denn dem Apotheker eigentlich in die Krone +gefahren?" + +"Dem Apotheker Nichts," nahm aber Kellmann kopfschuettelnd das Wort, "doch +hier dem Dings da, dem Mathes -- was meint Ihr, Lobsich was er vor hat?" + +"_Heirathen_?" sagte dieser, und ein breites vergnuegtes Schmunzeln ueber +den so richtig und schnell gerathenen Vorsatz zog sich ueber sein dickes +gutmuethiges Gesicht. + +"Heirathen!" schrie aber der Apotheker dazwischen, indem er sich seinen +Hut in die Stirn drueckte und seinen Rock anfing zuzuknoepfen -- "heirathen? +-- ja prost die Mahlzeit; _auswandern_ will der Kerl, wie ein blindes Pferd +das durch die Stallwand bricht, in einen Teich zu fallen." + +"_Auswandern_?" schrie aber auch jetzt Lobsich in unbegrenztestem +Erstaunen -- "na das ist mir aber doch wahrhaftig was Unbedeutendes." + +"Oh hol Euch der Teufel mit Eurer albernen Redensart!" rief aber der nun +einmal aergerliche Apotheker, und nahm seinen Stock unter den Arm -- sein +stetes Zeichen dass er fertig zum Gehen sei -- "was Unbedeutendes; ja wohl, +wenn der Raptus erst einmal in _solche_ Koepfe und Geldbeutel faehrt, +nachher werden wir sehn was wir hier anrichten. Ich will mir aber mein +Abendbrod nicht verderben -- gute Nacht Ihr Herren." + +"Halt Schollfeld!" rief aber Kellmann, ihn am Arm fassend und +zurueckhaltend -- "brennt mir nicht durch, ich gehe auch gleich mit und +wollte nur erst hoeren, was Mathes den Gedanken in den Kopf gesetzt hat. +Hol's der Henker, er macht sich entweder einen Spass mit uns, oder es ist +nur so eine Idee von ihm, die wir ihm wieder ausreden koennen." + +"Wenn ich das wuesste blieb ich die ganze Nacht hier," sagte Schollfeld, +seinen Stock wieder auf den Tisch legend und zu dem verlassenen Stuhl +zurueckgehend. "Mensch, Mathes, seid Ihr denn rein vom Teufel besessen, +oder habt Ihr nur heute, in irgend einer Kneipe, ein wenig des Guten zu +viel gethan, dass Ihr so tolles Zeug zusammenfaselt." + +Mathes blieb aber bei allen diesen Ausbruechen des Erstaunens, die erste +Erklaerung nur einmal ueberstanden, vollkommen ruhig, und zog nur, statt +jeder weiteren Antwort, einen Brief aus seiner Brusttasche, den er langsam +auffaltete und vor sich legte, als ob er ihn vorlesen wollte. + +"Nun was soll's mit dem Wisch?" rief aber der Apotheker aergerlich, "Ihr +habt Euere Seele doch noch nicht dem Gott sei bei uns verkauft?" + +"So schlimm noch nicht," lachte der junge Bursch, "das hier ist nur ein +Brief von Caspar Lauber, den Sie ja Alle kennen und der vor etwa sieben +Jahren nach Wisconsin auswanderte." + +"Der was that?" rief der Apotheker, die Augen zusammenkneifend und das +linke Ohr zu ihm hindrehend -- "nuschelt nicht so in den Bart, dass Euch ein +Christenmensch noch verstehen kann ehe Ihr unter die Heiden geht." + +"Der nach Wisconsin auswanderte," sagte der junge Bauer laechelnd -- "er +hatte mir damals versprochen zu schreiben wie es ihm ginge, schlecht oder +gut; -- wenn schlecht, wollte ich ihm helfen, wenn gut, vielleicht +nachkommen. Aber er schrieb nicht Jahr nach Jahr, und da er ueberhaupt +Nichts von sich hoeren liess, glaubte ich schon er sei da drueben gestorben +oder untergegangen in dem weiten Reich, bis ich vor vier Wochen etwa einen +Brief von ihm erhielt und seit der Zeit habe ich keine Ruhe gehabt bis zu +dem heutigen Tag." + +"Nun ja natuerlich," brummte der Apotheker. + +"Aber so lasst ihn doch nur reden," rief jetzt auch aergerlich der Actuar +dazwischen, "Ihr raisonnirt nur in einem fort und glaubt nachher, wenn Ihr +recht geschrieen habt, Ihr haettet recht." + +"So lest den Brief einmal!" sagte Kellmann, die Arme auf den Tisch +stuetzend, "nachher wissen wir ja gleich woran wir sind." + +"Aber erst muss ich noch Bier haben," rief Schollfeld dazwischen, "ich mag +die Luegen wenigstens nicht trocken mit anhoeren." + +Lobsich winkte einem der naechsten Kellner, die indess leer gewordenen +Glaeser wieder zu fuellen, denn der Brief interessirte ihn selber zu sehr, +den Tisch jetzt zu verlassen, und Mathes sagte wie entschuldigend: + +"Der Brief ist sehr kurz, aber es steht Alles darin was ich zu wissen +verlangte, und er lautet: + +"Lieber Mathes -- ich habe bis jetzt mein Versprechen nicht gehalten, Dir +zu schreiben, weil es mir sehr schlecht gegangen ist." + +"Na ja," fiel ihm hier der Apotheker in das Wort -- "und nun muesst Ihr Hals +ueber Kopf machen dass Ihr auch hinueber kommt." + +Kellmann wollte dem ewigen Einredner etwas erwiedern, aber Mathes fuhr, +laechelnd die Hand gegen ihn aufhebend, wieder laut fort: + +"Ich wollte aber nicht gern, dass mich Jemand Anders unterstuetzen sollte, +weil das hier im Lande eine Schande ist; ich wollte mir selber helfen, und +habe mir kuemmerlich, aber ehrlich und fleissig durchgeholfen. Jetzt habe +ich eine kleine Farm von achtzig Acker, und vier und zwanzig Stueck +Rindvieh, und dreissig Schweine und zwei Pferde und es geht mir gut. Ich +habe hart arbeiten muessen, aber ich komme durch. Wenn Du mit Geld hier +herueber kommst und willst mich aufsuchen, dass ich Dir mit Rath und That an +die Hand gehen kann, dann brauchst Du keine Angst zu haben, dass Du nicht +durchkommst. Wenn Du eine Frau hast, bringe sie mit; Kinder sind ein Segen +hier, kein Fluch wie fuer manchen armen Mann in Deutschland. Wer arbeiten +will kommt fort, wer faul ist geht zu Grunde. Es gruesst Dich zehntausend +Mal Dein Caspar Lauber -- Lauber's Farm bei Milwaukie, Wisconsin." + +"Und auf den Brief wollt Ihr auswandern?" rief aber auch Kellmann jetzt +erstaunt -- "Mathes, ist Euch denn das Auswanderungsfieber so ploetzlich in +die Glieder geschlagen, dass Ihr die Seekrankheit fuer das einzige Mittel +haltet die es curiren koennte?" + +Mathes schuettelte aber gar ernsthaft mit dem Kopf, faltete den Brief +zusammen, den er zurueck in seine Tasche schob, und sagte mit fester und +entschlossener Stimme: + +"Lange im Sinn hab' ich's schon gehabt, aber der Brief hat es zuletzt zum +Ausbruch gebracht." + +"Aber Mathes, Ihr vor allen Anderen habt doch Euer Auskommen hier im +Land," rief jetzt auch Lobsich, waehrend der Apotheker das ihm eben +gebrachte Glas auf einen Zug hinuntergoss, wie um seinen Ingrimm damit +nieder zu spuelen -- "wenn Ihr nach Amerika auswandern wollt, wer soll denn +noch da bleiben?" + +"Ich _bliebe_ auch," sagte Mathes rasch und mit vor innerer Bewegung fast +erstickter Stimme, "ich bliebe auch, wenn mich mein Vater liesse, aber -- +der will nicht in die Heirath willigen mit Rossner's Kaethchen, des Haeuslers +Tochter aus Rodnach; hier haelt er mich dabei unter dem Daumen mit seinem +Gut und Geld, und das Maedchen stirbt mir indessen in Arbeit und Gram; dort +drueben aber ist ein Platz, wo fleissige Menschen auch durchkommen koennen +mit Gottes Huelfe _ohne_ Geld, _ohne_ Ansehn. Der Lauber hatte gar Nichts +wie er hinueberging; nicht das Hemd auf seinem Ruecken war sein, und ich +weiss dass er nicht einen rothen Pfennig mit in das fremde Land gebracht +hat. Aus dem ist jetzt ein rechtschaffener Farmer geworden, mit eigenem +Land, Haus und Vieh, und was der kann -- schwere Noth noch einmal -- das +kann ich auch. Ich gehe hinueber, nehme das Kaethchen mit -- Geld zur +Ueberfahrt krieg ich schon, und wenn ich meine beiden Schimmel um den +halben Werth verkaufen sollte, und dort hilft der liebe Gott schon weiter. +Verhungern werden wir nicht, und ich brauche mir hier nicht mehr unter die +Nase reiben zu lassen, "das sollst Du thun und das nicht, und _die_ sollst +Du heirathen, die Du nicht magst und willst, und die Dich lieb hat und +Dich gluecklich machen kann, der sollst Du das Herz brechen -- weil ihr eben +nur der volle Geldsack fehlt." + +"Unsinn!" sagte der Apotheker, jetzt wieder und zwar im Ernste aufstehend +-- "wenn Jemand einmal rein verrueckt geworden ist, laesst sich auch nicht +mehr mit ihm streiten. Gehn Sie mit Kellmann?" + +"Ja, gleich," erwiederte der Gefragte -- "weiss denn aber schon Euer Vater +um den Plan, Mathes?" + +"Heute hab' ich's ihm gesagt," erwiederte der Gefragte leise -- "aber er +glaubt es noch nicht." + +"Und ist es denn schon wirklich so fest bestimmt?" sagte Kellmann +theilnehmend. + +"Meine Passage in Bremen fuer mich und -- meine _Frau_ ist schon bezahlt," +rief der junge Bursch da entschlossen -- "den funfzehnten geht das Schiff +ab, und ich habe nur noch eben Zeit das Nothwendigste in Ordnung zu +bringen." + +"Ja da koemmt freilich jeder gute Rath zu spaet," sagte Kellmann, jetzt +ebenfalls aufstehend und seinen Hut ergreifend, "wenn der Sprung erst +einmal geschehen ist, braucht man nicht mehr ueber das Springen zu streiten +und ich wuensche Euch das Beste in Euerer neuen Heimath." + +"Ich weiss es, ich weiss es," sagte Mathes geruehrt -- "aber vielleicht seh +ich Sie selber noch einmal auf freiem Boden drueben, mit Axt oder Pflug in +der Hand, wie ein wackerer, richtiger Farmer." + +"Wen -- mich?" rief aber Kellmann ordentlich erschreckt aus -- "ich nach dem +vermaledeiten Lande, dass alle unsere besten Buerger frisst? Nein Mathes, fuer +dies Leben nicht -- aber wann geht Ihr fort? vielleicht laesst Euer Vater +doch noch mit sich reden, und lenkt ein wenn er sieht dass es Euch wirklich +Ernst ist." + +Mathes schuettelte mit dem Kopf und der Actuar rief: + +"Ein Bauer und einlenken, Kellmann? -- da kennt Ihr unseren deutschen Bauer +nicht; worauf der einmal seinen Dickkopf gesetzt hat, da muss er durch, und +wenn's nicht geht, so zerhaut er sich eben den Schaedel, aber er laesst nicht +nach. Der alte Vogel und nachgeben; Du lieber Gott, wenn er den eigenen +Sohn mit einem einzigen Wort vom Verderben retten koennte -- er spraech es +nicht." + +"Na, da kann ich wohl auch meine Bude hier bald zuschliessen und mitgehn," +sagte Lobsich, sich den Kopf kratzend -- "Schwerebrett das ist mir -- hm -- +hm -- ist mir doch was Unbedeutendes, das -- das Amerika." + +"Und was sagt denn das Kaethchen dazu?" frug Kellmann jetzt den Mathes, +waehrend die Uebrigen schon aufgestanden waren und sich zum fortgehn +geruestet hatten. + +"Die weint und will nicht mit," sagte Mathes leise -- "aber sie wird schon +gehen." + +"Sie will nicht mit?" + +"Sie meint, es braeche meinem Vater das Herz." + +"Das Herz brechen? -- dem alten Vogel?" lachte aber dieser veraechtlich -- +"na Gott sei Dank, die hat einen guten Begriff von ihm -- als ob dem etwas +das Herz brechen koennte." + +"Nun, es fraegt sich nur jetzt wem sie es lieber bricht," meinte der +Actuar, "dem Alten, wenn sie geht, oder dem Jungen, wenn sie bleibt -- die +Wahl wird ihr nicht schwer werden. Aber Schollfeld, Ihr seid ja auf einmal +so still geworden?" + +"Ach lasst mich zufrieden," brummte dieser aergerlich -- "weiss es Gott, man +moechte am Ende selber mit hinueberlaufen, nur Nichts mehr von dem +verwuenschten Auswandern reden zu hoeren." + +"Hahahaha!" rief da Kellmann, "Schollfeld bekoemmt auch ueberseeische +Ideen." + +"Ueberseeische -- haette bald was gesagt," knurrte dieser aber, auf der +Strasse hingehend, ohne weder Mathes noch Lobsich gute Nacht zu sagen. + +Die Uebrigen wechselten noch kurzen Gruss mit ihren Bekannten dort, +zuendeten sich frische Cigarren an, und schlenderten langsam, den +freundlichen Abend so viel als moeglich zu geniessen, die Strasse hinab, der +eigenen Heimath zu. + + + + + + Capitel 3. + + + DER DIEBSTAHL. + + +Zehn Minuten mochten sie so etwa schweigend nebeneinander hergegangen +sein, als hinter ihnen auf der Strasse eine Equipage und klappernde +Hufschlaege gehoert wurden, die sie rasch einholten und an ihnen +vorbeirauschten, eine dicke Staubwolke dabei ueber den Weg waelzend. Es war +die Familie Dollinger mit dem, neben dem Wagen hin galoppirenden Fremden, +dem Braeutigam der Tochter. + +"Die kommen schneller von der Stelle als die armen Auswanderer vorhin," +sagte Kellmann, als sie vorbei waren -- "Wetter noch einmal, es ist doch +ein anderes Ding so ein paar fluechtige Rappen vor sich zu haben, und wie +im Flug durch die Welt zu jagen, als mit einem schweren Packen auf dem +Ruecken und wunden Fuessen vielleicht, muehselig die staubige Strasse entlang +zu keuchen." + +"Ja, die Gaben sind ungleich vertheilt in der Welt," seufzte der Actuar, +"was der Eine haben moechte, _hat_ der Andere schon, und das ist auch wohl +das ganze Geheimniss der socialen Frage, laesst sich aber nun einmal nicht +aendern, und wir duerfen vielleicht den Kopf darueber schuetteln, und wuenschen +dass es anders waere, aber weiter eben Nichts." + +"Der auf dem Pferd, war der Dings da von Amerika," sagte der Apotheker +jetzt, "der das schmaehlige Geld hat und des reichen Dollingers Tochter +noch dazu heirathet. Soll mir noch einmal einer sagen dass Eisen der +staerkste Magnet sei; Gold ist's, und wo das liegt zieht es anderes hin. + +"Und wie steht's mit Actien?" lachte Kellmann. + +"Bah -- bleibt immer dasselbe," brummte der Apotheker, "das Gold steckt +darin, und kann durch einen sehr einfachen chemischen Process leicht +herausgezogen werden -- wenn man sie hat." + +"Es wundert mich uebrigens dass der alte Dollinger sein Kind ueber das grosse +Wasser hinueberziehen laesst," meinte der Actuar -- "dem haette es doch auch +hier im Lande nicht an einer eben so guten Parthie gefehlt." + +"Liebe," meinte Kellmann achselzuckend -- "Liebe ist blind sagt ein altes +Sprichwort; dagegen lassen sich eben keine Gruende anbringen. Waer's +uebrigens auch nicht wegen dem grossen Wasser, der Bursche gefaellt mir +ausserdem nicht, und ich moechte ihm meine Tochter nicht geben und wenn er +bis ueber die Ohren in Golde staecke. Er hat ein verschlossenes, +hochfaehrtiges Wesen, behandelt den gemeinen Mann wie einen Hund, und +spricht von Allem was wir hier haben, unseren Einrichtungen, unseren +Gesetzen, unseren Vergnuegungen selber, ja unserem Klima und Land, das doch +zum Henker auch _sein_ Vaterland ist, mit der groessten Verachtung. Amerika, +und immer wieder Amerika, hinten und vorn; ei Blitz und Hagel, ich will +gar nicht leugnen dass es manche gute Seiten haben mag, das Amerika, wenn +ich sie auch gerade nicht einsehen kann, aber so viel besser wie unser +Deutschland ist es doch auch nicht drueben, und wenn's so einem Burschen da +einmal zufaellig geglueckt ist, sollt' er nicht als Lockvogel sich hier +mitten zwischen uns hineinsetzen, anderen vernuenftigen Leuten +unglueckselige Ideeen in den Kopf zu pflanzen. + +"Wenn sich andere vernuenftige Leute solche Ideeen einpflanzen _lassen_, +geschieht's ihnen ganz recht," sagte der Apotheker -- "man braucht nicht zu +glauben was jeder dahergelaufene Lump eben sagt." + +"Nun _ganz_ ohne kann's aber auch nicht sein," meinte Kellmann +kopfschuettelnd, "und ich -- ich halt' es immer fuer gefaehrlich. S'ist +merkwuerdig, wie rasch sich das mit der Hochzeit gemacht hat." + +"Nun, wer sich die Braut gleich fix und fertig aus dem Wasser zieht hat +leicht freien," sagte der Actuar -- "Glueck muss der Mensch haben, dann geht +Alles wie am Schnuerchen; wer aber _das_ nicht hat, der mag sein Lebtag +fischen und faengt doch Nichts -- am wenigsten aber solch einen Goldfisch. + +"Wo stammt er denn eigentlich her?" frug der Apotheker jetzt, wie sie +wieder eine Weile schweigend neben einander hingegangen waren, "man hoert +doch sonst eigentlich gar Nichts von ihm, und er kommt auch mit keinem +Menschen weiter zusammen -- stolzer aufgeblasener Bursche der." + +"Gott weiss es," sagte der Actuar; "er ist, glaub' ich, mit einem +hollaendischen Schiff heruebergekommen, und hatte einen Pass von Amsterdam." + +"Und der Pass lautete nach Heilingen?" + +"Nun nicht gerade nach Heilingen, aber doch nach der Residenz, und wie +sich die Sache dann hier mit der Dollingerschen Familie gestaltete, nun +lieber Gott, da drueckte der Stadtrath das eine, und die Stadtverordneten +drueckten das andere Auge zu, und man sah nicht so genau nach den Papieren. +Ueberdiess verzehrte er ja hier viel Geld; waer' es ein armer Teufel +gewesen, haetten wir ihn wahrscheinlich schon bald wieder ueber die Grenze +gehabt. + +"Hm, ja, glaub's," sagte Kellmann mit dem Kopfe nickend, "s'ist in +Heilingen eben nicht anders wie -- wie anderswo -- warum auch?" + +Das Gespraech drehte sich von da ab, auf die staedtischen Einrichtungen, +deren waermster Vertheidiger der Apotheker war, und ueber die sich der +Actuar natuerlich nur sehr vorsichtig ausliess, waehrend sie Kellmann um so +unnachsichtiger angriff; kam dann auf die Saat und die Preise, und wieder +mit einem Seitensprung auf die jetzige Politik unseres lieben deutschen +Reiches, bis sie das Thor und zwar gerade mit Sonnenuntergang erreichten, +wo Jeder seinen Weg ging, die eigene Heimath aufzusuchen. + +Der Actuar Ledermann besonders, der an dem entgegengesetzten Ende der +Stadt wohnte, beeilte seine Schritte, noch vor einbrechender Dunkelheit +seine Wohnung zu erreichen; das Geruecht ging naemlich in der Stadt, dass ihn +seine Ehehaelfte bei solchen Gelegenheiten oft allerdings sehr unfreundlich +empfange, und ihm einmal sogar schon einige sonst sehr nuetzliche, bei +_der_ Gelegenheit aber nichts weniger als passende haeusliche Geraethe +entgegen und vor die Fuesse geworfen habe. Thatsache war, dass "Madame" oder +Frau Actuar Ledermann, was auch ihres Gemahls Thaetigkeit und Ansehn +ausserhalb seiner eigenen vier Pfaehlen sein mochte, _innerhalb_ derselben +jedenfalls das Commando, und nicht immer mit Maessigung fuehrte, und der +Actuar suchte den Hausfrieden wenigstens soviel als moeglich zu erhalten +und jeden Anlass, zu irgend einer Stoerung desselben, zu vermeiden. + +Mit solchen Gedanken vielleicht im Kopf, wollte Ledermann eben vom +Marktplatz aus in die Strasse einbiegen, an deren aeussersten Ende seine +eigene, sehr bescheidene Wohnung stand, als er seinen Titel genannt und +sich selber gerufen hoerte. + +"Herr Actuar -- Herr Actuar Ledermann." + +Er drehte sich rasch um und sah einen Gerichtsdiener eilig auf sich +zukommen, der, die Muetze abnehmend, vor ihm stehen blieb und ihm meldete, +dass er eben abgeschickt worden ihn zu holen oder aufzusuchen, da ein +Einbruch geschehen sei, ueber den an Ort und Stelle Protokoll aufgenommen +werden solle. + +"Protokoll aufnehmen?" sagte Actuar Ledermann, keineswegs angenehm +ueberrascht; "ja was hab ich denn heute damit zu thun, wo ist mein +_College_?" + +"Herr Actuar Beller sind unwohl geworden, heute Nachmittag," berichtete +der Polizeidiener, "und mussten zu Hause gehn; ich bin eben abgeschickt zu +sehn, welchen von den andern Herren ich zuerst treffen koennte." + +"Hm -- ist sehr amuesant," brummte Ledermann vor sich hin -- "kommt mir +gerade apropos. Bei wem ist es denn?" + +"Bei Herrn Dollinger." + +"Was? -- bei Kaufmann Dollinger?" rief der Actuar rasch und erstaunt -- "am +hellen Tag, waehrend er ausgefahren war?" + +"Er ist, wenn ich nicht irre, eben zu Hause gekommen," berichtete der +Mann, und hat glaub' ich sein Pult geoeffnet, und eine bedeutende Summe +Geldes entwendet gefunden." + +"Hm, hm, hm," sagte der Actuar kopfschuettelnd und seinen Rock dabei, den +er der Bequemlichkeit wegen aufgelassen hatte, zuknoepfend, "es wird immer +besser hier bei uns. Am hellen lichten Tage. Aber die ganze Stadt steckt +auch voll fremden Volkes, das sich natuerlich keine Gelegenheit +entschluepfen laesst Reisegeld zu bekommen." + +"Es muss doch wohl Jemand gewesen sein der mit dem Hause genau bekannt +war," sagte der Polizeidiener -- "nach dem wenigstens, was ich bis jetzt +von den Dienstleuten darueber gehoert habe, kann's nicht gut anders sein." + +"Nun wir werden ja sehn; da muss ich aber erst -- " + +"Wenn sich der Herr Actuar nur eben an Ort und Stelle bemuehen wollen," +sagte jedoch der Diener des Gerichts, "alles Noethige ist schon dorthin +geschafft und ich war eben nur fortgelaufen, einen der Herren zu suchen." + +Der Actuar, dem Dienste natuerlich Folge leistend, seufzte tief auf und +schritt, im Geist wahrscheinlich des Empfangs gedenkend, der seiner +harrte, wenn seine Frau auf ihn mit dem Abendessen warten musste, rasch die +"Poststrasse" hinaufbiegend, dem gar nicht weit entfernten Dollinger'schen +Hause zu, dort den Thatbestand in Augenschein und zu Protokoll zu nehmen, +etwaige Spuren des Uebelthaeters zu entdecken und zu verfolgen, und die +Leute im Hause nach moeglichem Verdachte zu inquiriren. + + * * * * * + +Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger, in dem Alles sonst so still und +ruhig und wie am Schnuerchen zuging, wo Jeder seine angemessene und fest +bestimmte Beschaeftigung hatte, genau wusste was ihm oblag, und das that, +ohne eben viel Laerm darum zu machen, lief und rannte und sprach heute +alles durcheinander, und saemmtliche Bande der Ordnung schienen geloest. + +Frau Dollinger vor allen Dingen lag in Kraempfen in ihrem Boudoir, und +beanspruchte die Huelfe ihrer beiden Toechter und der weiblichen Dienstboten +im Haus, ihren Zustand zu bewachen; Herr Dollinger selber war in seinem +Zimmer des obern Stocks, und ging dort mit raschen Schritten und auf den +Ruecken gekreuzten Armen auf und ab, waehrend dem jungen Henkel indessen die +Bewachung des Platzes selber uebertragen war, und die andern Dienstboten, +mit einem nicht unbedeutenden Theil der Nachbarschaft und deren +Verwandten, in den verschiedenen Winkeln und Ecken des Hauses herumstanden +und kopfschuettelnd, die Haende ein ueber das andere Mal in Verwunderung +zusammenschlugen. Die verschiedenartigsten Vermuthungen und Beweise wurden +da laut, und die Orte und Stellungen oder Beschaeftigungen jedes Einzelnen +auf das Genaueste und Peinlichste angegeben, wo und wie sich Jeder gerade +in der Zeit etwa befunden haben mochte, als die entsetzliche, verruchte +That geschehen und vollbracht sein musste. + +Dem Actuar, mit dem ihm folgenden Gerichtsdiener wurde uebrigens willig und +dienstfertig Platz gemacht; Alle wollten aber hinter drein, und die Frauen +besonders gaben dabei durch die entschiedensten Ausrufe -- "Ne Du meine +Guete" und "Ne so was" ihre vollkommenste Misbilligung des Geschehenen zu +erkennen. Nichts desto weniger wurde auch selbst ihnen die Thuere vor der +Nase zugemacht, und Einer der Bedienten bekam strenge Ordre die Hausflur +zu raeumen, und Niemand mehr, so lange die Untersuchung dauere, die Treppe +hinaufzulassen, ausgenommen, es wisse Jemand noch um den Diebstahl, und +koenne irgend einen Fingerzeig geben den Dieben auf die Spur zu kommen; +solche Zeugen sollten nachher vernommen werden. + +Oben an der Treppe empfing sie Herr Henkel, um sie gleich zu dem Ort, wo +der Diebstahl veruebt worden, hinzufuehren; einer der Leute war indessen +abgeschickt Hrn. Dollinger selber zu rufen, und dieser erschien jetzt, den +Actuar freundlich gruessend. + +Es war indessen schon ziemlich dunkel, und im Zimmer Licht angezuendet +worden. + +"Ich bedaure sehr, Herr Dollinger," sagte der Actuar, "dass, wie ich gehoert +habe, eine so fatale Sache mich hier in Ihr Haus gefuehrt haben muss." + +"Ja allerdings," erwiederte der alte Herr, "ist es sehr unangenehm; +weniger des Verlustes wegen, der sich allenfalls ertragen liess, als wegen +dem Bewusstsein getaeuschten Vertrauens, mit selbst keinem gewissen +Anhaltspunkt auf Verdacht. Ich wollte gern das Doppelte verloren haben, +wenn es haette koennen auf andere Weise geschehn." + +"Das Ganze ist uebrigens mit einer raffinirten Geschicklichkeit +ausgefuehrt," fiel Henkel hier ein, "und der Thaeter, wer auch immer, +jedenfalls ein hoechst gefaehrliches Subject, von dem ich nur hoffen will +dass wir ihm auf die Spur kommen." + +"Duerfte ich Sie bitten mir den Platz zu zeigen?" + +"Treten Sie hier in das Zimmer meiner Toechter; dort der Secretair ist +erbrochen." + +"Hm -- mit einem breiten meisselartigen Instrument," sagte der Actuar nach +kurzer Besichtigung der offenen, arg beschaedigten Mahagoniplatte -- "und +die Thuer ebenfalls eingebrochen?" + +"Nein -- die Thuer ist unbeschaedigt und muss jedenfalls mit einem +Nachschluessel geoeffnet sein." + +"Und was vermissen Sie in dem Secretair?" + +"Eine Summe Geldes, die ich erst vor wenigen Stunden, und im Beisein +meiner Familie und eines zuverlaessigen Comptoirdieners, im Paket wie ich +sie von der Post erhalten, hier eingeschlossen hatte, und von der der Dieb +auf eine mir unbegreifliche Weise muss Kenntniss bekommen haben." + +"Wer ist dieser Comptoirdiener?" + +"Oh, Lossenwerder; Sie kennen ihn ja wohl?" + +"Lossenwerder," sagte der Actuar nachdenkend -- "ist wohl schon eine ganze +Weile in Ihrem Geschaeft?" + +"Schon zwoelf Jahr; mit keinem Schatten irgend eines Verdachts; ich nahm +ihn als einen ganz jungen Burschen in mein Haus; er muss aber gegen irgend +Jemand davon gesprochen haben." + +"Hm, hm, wollen ihn uns doch einmal nachher besehn; also hier hinein +hatten Sie das Geld gelegt?" + +"Es ist ein Secretair, den meine Toechter gemeinschaftlich benutzen, und zu +dem jede von ihnen ihren Schluessel hat. Bitte lieber Henkel, lassen Sie +doch einmal Sophie oder Clara einen Augenblick zu uns herueber rufen." + +"Ich habe schon das Maedchen geschickt, eine der jungen Damen ersuchen zu +lassen," entgegnete der junge Henkel, der indessen im Zimmer umhergegangen +war, und sich ueberall umgesehen hatte, ob nicht vielleicht doch der Dieb +irgend eine Spur, irgend ein Zeichen hinterlassen habe, an das man sich +spaeter einmal halten koenne. -- + +"Und vermissen Sie weiter Nichts als das Geld?" frug der Actuar. + +"Auch ein Schmuck meiner aeltesten Tochter scheint mit geraubt zu sein," +sagte Herr Dollinger -- "aber da kommt Clara, die Ihnen das Naehere davon +selber angeben wird." + +Clara betrat in diesem Augenblick das Gemach; sie sah todtenbleich und +angegriffen aus, und Henkel eilte ihr entgegen sie zu unterstuetzen. + +"Clara, mein liebes armes Kind," sagte Herr Dollinger, auf sie zugehend +und die Hand nach ihr ausstreckend, "fehlt Dir etwas? -- Der Schreck hat +Dich wohl so angegriffen. Mach Dir doch nur keine Sorge, mein Herz; +vielleicht bekommen wir Alles wieder und wenn nicht -- nun ein _Unglueck_ +ist es dann auch nicht; wenn Ihr mir nur Alle gesund bleibt, koennen wir +die paar tausend Thaler schon verschmerzen." + +"Es ist nicht der Verlust, lieber Vater," sagte aber das junge Maedchen, +sich gewaltsam zusammennehmend, und des Vaters Hand ergreifend -- "nur die +Ueberraschung, der Schreck wahrscheinlich, und das -- das Unheimliche +dabei, als ich mein Zimmer vorhin betrat, und die Spuren des veruebten +Verbrechens entdeckte. Ich fuerchtete die entsetzlichen Menschen noch +irgend wo zu sehn, die vielleicht hinter einer Gardine stehen, unter einem +der Divans liegen, hinter einem Ofen lauern konnten und, wenn entdeckt, zu +verzweifelter Gegenwehr getrieben mich anfallen wuerden, und all solch +kindische Gedanken mehr. Dort der auf den Tisch geworfene Regenschirm +dabei, die hinuntergeworfene Stickerei von dem Secretair selber, am +meisten aber der Tabaksgeruch im Zimmer und die verloeschte, angerauchte +Cigarre dort auf dem Fensterbret, erfuellten mir das Herz mit einem +unbeschreiblichen Grausen." + +"Eine Cigarre?" sagte Ledermann, sich vergebens nach dem bezeichneten +Gegenstand umschauend -- "wo lag sie?" + +"Dort im Fenster, als ich zurueckkam." + +"Die alte angerauchte Cigarre?" sagte Henkel rasch -- "die hab' ich zum +Fenster hinausgeworfen; ich glaubte Einer der Dienerschaft haette sie in +der Aufregung mit hereingebracht und dort abgelegt -- sie muss unten auf der +Strasse liegen." + +"Bitte schicken Sie doch einmal einen Burschen danach, dass er sie +heraufholt," sagte der Actuar; "man darf auch das Unbedeutendste nicht +unbeachtet lassen, und wir wollen indessen die vermissten Gegenstaende +aufnehmen. Das Geld? -- " + +"Davon giebt Ihnen dieser Brief das genaue Verzeichniss," sagte Herr +Dollinger, "aber ich fuerchte fast dass wir durch das Geld selber nicht auf +die Spur kommen werden, indem das Paket fast nur Gold und kleinere +Banknoten enthielt, die leicht umzusetzen und schwer zu controliren sind. +Eher hoffe ich durch den Schmuck den Dieb verrathen zu sehn, da einige +sehr auffaellige Stuecke, wie ich hoere, dabei gewesen sind." + +"Duerfte ich Sie um eine genaue Angabe derselben, heute Abend noch, wenn +irgend moeglich _schriftlich_ bitten?" erwiderte, nach einigem Besinnen, +der Actuar, "diese Einzelheiten wuerden mich jetzt zu lange aufhalten." + +"Kannst Du das geben, Clara? + +"Bis auf die kleinste Nadel hinunter," sagte das junge Maedchen rasch, +"besonders auffaellig war eine kleine, rundum mit Brillanten besetzte +Broche, ein Erbstueck unserer Grossmutter, und ausgezeichnet vor jedem +andern Schmuck, den ich noch in meinem ganzen Leben gesehen, durch einen, +in der Mitte gefassten, genau dreieckigen, hellblauen und wundervollen +Turquis. Mein Schmuck lag gleich dicht dahinter, den aber muss der Dieb in +der Eile uebersehen haben; er ist unangeruehrt geblieben." + +"Das ist allerdings gluecklich," sagte der Actuar, "waere wohl auch des +Mitnehmens werth gewesen. Lag gleich dabei?" + +"Hier in dem rothen Kaestchen." + +"Aber das ist auch geoeffnet worden." + +"Das? -- nein, das hab ich wohl selbst geoeffnet, nachzusehen, ob auch Alles +darin sei, und nicht wieder ordentlich geschlossen. Die Haken waren +allerdings auf, wenn ich mich nicht ganz irre, aber der Dieb hat +keinenfalls eine Ahnung gehabt, welchen Werth das kleine unscheinbare +Kaestchen enthalte, oder es staende jetzt nicht mehr da." + +"Sehr wahrscheinlich, hm -- aber Sie vergeben wohl nicht, mein Fraeulein, +alle diese Einzelheiten besonders zu notiren; wer weiss ob sie nicht noch +einmal wichtig werden. Ah, da kommt auch Herr Henkel wieder; haben Sie die +Cigarre gefunden?" + +"Gott weiss wo sie ist;" lachte dieser, "irgend Jemand muss es doch noch der +Muehe werth gehalten haben sie aufzuheben, und in einer Pfeife vielleicht +zu verrauchen -- ich bin selber hinunter gegangen, kann sie aber nirgends +mehr entdecken. Uebrigens ist es auch fast dunkel geworden, und ich werde +morgen ganz frueh nachsuchen lassen. Der Stummel wird Ihnen freilich nicht +viel helfen." + +"Man weiss nicht," sagte der Actuar kopfschuettelnd, "je nach der Guete des +Tabaks liess sich vielleicht auf die Schicht der menschlichen Gesellschaft +schliessen, in der sich unser heimlicher Besuch herumtriebe. Aber das ist +allerdings Nebensache; wo also ist der Dieb hereingekommen? -- hier durch +diese Thuer?" + +"Doch wohl vom Garten her durch das Fenster Euers Schlafzimmers," sagte +Herr Dollinger, "denn durch das Haus wuerde er es sich am hellen Tage im +Leben nicht getraut haben." + +"Aber ich moechte meine Seligkeit zum Pfande setzen dass ich den Schluessel, +der nach unserer Schlafkammer fuehrt, ehe wir fortgingen, herumgedreht und +stecken gelassen haette, so dass von innen ein Oeffnen unmoeglich war." + +"Und war die Thuer noch verschlossen wie wir zurueckkamen?" + +"Nein, nur in's Schloss gedrueckt, aber der Schluessel stak darin." + +"Hm, hm, hm -- dann ist der Bursche dort wahrscheinlich hinaus" -- sagte der +Actuar -- "zur Thuer hier hereingekommen und dort zur Nothroehre hinaus -- hm, +muss aber genau mit der Gelegenheit bekannt sein. Mein lieber Herr +Dollinger, wir werden Ihre Leute doch ein wenig scharf in's Gebet nehmen +muessen, denn ein ganz Fremder, kann sich die Zeit nicht so abgepasst +haben." + +"Wo kommt der Blumenstock her?" sagte da ploetzlich Clara rasch und +erstaunt, auf einen sehr schoenen Rosenstock deutend, der in ihrem Fenster, +zunaechst der Thuere stand -- "wer hat den jetzt hier heraufgestellt?" + +"So lange wir hier sind Niemand" -- rief Henkel -- "war er vorher nicht da?" + +"Nicht heute Mittag, das weiss ich gewiss; aber vielleicht hat ihn eins der +Dienstleute mir heimlich hier hereingesetzt." + +"Heimlich? -- so?" sagte der Actuar, "den freundlichen Geber wollen wir +also vor allen Dingen einmal herauszubekommen suchen." + +"Es ist heute mein Geburtstag," sagte Clara leise und erroethend." + +"Oh?" meinte Herr Ledermann mit einem freundlichen Laecheln, "da thut es +mir freilich leid, meine ganz ergebensten Gratulationen zu keiner +angenehmeren Zeit vorbringen zu koennen -- will eben nicht passen bei einer +solchen Untersuchung, kann es aber doch auch nicht geradezu +hinunterschlucken -- ich gratulire eben nicht zur Untersuchung." + +"Es muss gewiss ein gesegnetes Land sein," sagte Henkel mit einem leisen, +halb boshaften Laecheln, "wo die Polizei sogar witzig sein kann." + +"Hm," meinte der lange Aktuar, sich nach dem Sprecher umdrehend, "die +Polizei macht eben keinen Anspruch darauf, und ist das meistens +Privateigenthum. Aber wir wollen die Zeit nicht mit Allotrien vergeuden; +ist nicht herauszubekommen wer den Blumenstock hier, waehrend Ihrer +Abwesenheit in das Zimmer gesetzt hat?" + +"Jedenfalls muessen die Dienstboten darum wissen," sagte der junge Henkel, +"und es wird das Beste sein sie einzeln darum zu befragen." + +"Allerdings; -- Einzelverhoer hat ueberhaupt viele Vortheile, bitte schicken +Sie einmal die Leute herauf, dass man vor allen Dingen ihre Gesichter zu +sehen bekommt." + +"Aber nicht hier, Vaeterchen, nicht wahr nicht hier in meiner Stube?" bat +Clara -- "ich wuerde den fatalen Gedanken im Leben nicht wieder los." + +"Wir wollen hinuntergehn in das untere Zimmer," sagte Herr Dollinger, +freundlich dem Wunsch der Tochter nachgebend, "es laesst sich das dort eben +so gut abmachen als hier." + +"Manchmal ist der Platz des Verbrechens selber der geeignetste," warf der +Actuar ein, "aber wie Sie wuenschen -- nur um eines moechte ich Sie noch +vorher bitten, dass ich mir einmal die Stelle oder das Fenster ansehn darf, +durch das sich Ihrer Vermuthung nach, der oder die Diebe entfernt haben +koennten." + +"In unserem Schlafzimmer?" + +"Doch durch diese Thuer?" + +"Lieber Henkel, Sie sind wohl indessen so freundlich, meine Leute unten +zusammenzurufen; wir kommen gleich hinunter. Sie werden heut viel +belaestigt." + +"Aber ich bitte Sie, bester Herr Dollinger," sagte der junge Mann, rasch +seinen Hut aufgreifend, "wenn ich Ihnen nur darin von irgend einem +wirklichen Nutzen sein koennte. Lieber erlauben Sie mir vielleicht mit +Ihnen einer moeglichen Spur zu folgen, denn meine Augen sind darin +vielleicht schaerfer als manche andere." + +"Es wird in der Dunkelheit nicht eben mehr viel zu spueren geben," meinte +indess der Actuar; "das werden wir uns muessen auf morgen frueh aufsparen -- +also jetzt noch das Fenster, wenn ich bitten darf -- ich moechte mir nur die +Gelegenheit einmal von oben besehn." + +Clara selber oeffnete die Thuer und fuehrte dem Actuar mit ihrem Vater in das +kleine freundliche Gemach, dessen beide, schon von Blaetter schiessenden +Weinranken ueberzogene Fenster, auf den Garten hinaussahen. Das eine +Fenster war allerdings geoeffnet gewesen, aber der Rankenwuchs so dicht +zusammengezogen, dass sich ein Koerper kaum haette hindurchzwingen koennen. +Die Hoehe nach dem Garten hinunter, und gerade unter dem Fenster sollte ein +kleiner Rasenplatz sein, war eben nicht betraechtlich, vielleicht zehn oder +zwoelf Fuss, und unten umgab niederer aber ziemlich dichter Hollunder den +Rasen. Im Zimmer selber liess sich aber nicht das mindeste erkennen, das +einen solchen Verdacht unterstuetzt haette; das Einzige was dafuer sprach, +war die aufgeschlossene Thuer. + +Zu der Unterstube des Hauses waren indessen die Dienstleute versammelt +worden, streng examinirt zu werden. Der Hausmagd vor allen andern lag die +Pflicht ob, die Etage, wenn sie nach unten in die Kueche ging, in +Abwesenheit der Herrschaft verschlossen zu halten. Diese aber behauptete +steif und fest, und weinte dabei und rief Gott und alle Heiligen zu Zeugen +an, dass sie die Vorsaalthuer auch ordentlich, "zweimal herum" abgeschlossen +und den Schluessel zu sich gesteckt haette, und Niemanden in der weiten +Gotteswelt gesehen habe, der das Haus in der Zeit betreten haben koenne. +Trotzdem aber sei die Vorsaalthuer, als sie wieder nach oben gekommen +offen, wenigstens aufgeschlossen, wenn auch zugeklinkt gewesen, und sie +haette selber im Anfang nicht begreifen koennen wie das moeglich waere, aber +auch nicht weiter darueber nachgedacht, und es ihrer eigenen +Unaufmerksamkeit zugeschoben. Nach der Abfahrt der Herrschaft sei sie aber +nur eine ganz ganz kurze Zeit unten geblieben um -- sie wollte erst nicht +mit der Sprache heraus, aber der Herr Actuar draengte gar so sehr -- um den +jungen Herrn Henkel fortreiten zu sehn. Nachher mochte sie vielleicht noch +zehn Minuten der Koechin geholfen haben, und war dann nicht wieder von dem +Vorsaal oben fortgekommen, auf dessen Balkon sie gesessen und genaeht +hatte. In der Zeit habe Niemand mehr den Vorsaal oder des Fraeuleins Zimmer +betreten, darauf wolle sie das heilige Abendmahl nehmen, und der Diebstahl +muesse jedenfalls in den paar Minuten, die zwischen dem Fortreiten des +jungen Herrn und ihrem eigenen Wiederhinaufgehn nach oben gelegen haetten, +veruebt sein -- anders war es nicht moeglich. + +"Wer aber hatte den Blumenstock in des Fraeuleins Zimmer gestellt?" + +"Einen Blumenstock? -- waehrend die Herrschaft fort war?" + +"Allerdings, eine Monatsrose -- in das Fenster naechst der Thuer." + +"Der das gethan hat, muesse damit zum Fenster, oder in derselben Zeit mit +einem Nachschluessel zur Thuer hereingekommen sein, als der Diebstahl veruebt +worden, denn sie haette keine Seele im Haus gesehn. + +Die Dienstboten hatten indessen mit einander gefluestert, als der Actuar +das Wort nahm und mit langsam bedaechtiger, aber ziemlich ernster Stimme +sagte: + +"Hoert einmal Leute, ich will Euch etwas sagen; Ihr habt Euch da gut +unschuldig stellen, als ob Ihr eben erst auf die Welt gekommen waert, damit +dringt Ihr aber nicht durch. Das Geld ist fort -- Ihr seid die Einzigen die +unter der Zeit im Haus waren, und Euere Pflicht waere es gewesen -- + +"Aber Herr Actuarius" -- + +"Ruhe da, wenn ich Euch etwas mitzutheilen habe -- und Euere Pflicht waere +es gewesen, sag' ich, aufzupassen, dass niemand Fremdes den Platz betrat, +der Euch anvertraut war, und fuer den Ihr also auch in der Zeit zu stehn +hattet. Jemand ist aber in der Zeit da gewesen, und hat etwas gebracht und +etwas geholt, und man wird sich jetzt an _Euch_ halten muessen, bis der +Jemand ausfindig gemacht ist. Was giebt's da hinten -- was ist gekommen?" + +"Dullmanns Rieke von ueber dem Weg drueben," sagte die Koechin jetzt, gegen +den Actuar vortretend, "will den Lossenwerder haben heimlich aus dem Haus +schleichen sehn. Da _haben_ Sie einen; _uns_ brauchen Sie so etwas nicht +unter die Nase zu reiben, Herr Actuar -- wir sind ehrliche Dienstboten die +sich ihr bischen Brot sauer genug im Schweisse ihres Angesichts -- " + +"Ach halt' sie das Maul," fiel ihr aber der Actuar etwas unsanft in die +Rede -- "_wer_ ist im Haus gewesen, Lossenwerder? -- und heimlich +hinausgeschlichen? -- wer hat ihn gesehn?" + +"Hier die Rieke von Dullmann's -- " + +"Wann war das?" fragte der Actuar das jetzt vorgeschobene Maedchen, das +feuerroth wurde und ihren einen Schuerzenzipfel anfing wie einen Plumpsack +zusammenzudrehen. Erst ganz kurze Zeit vorher hatte sie einer ihrer +Freundinnen im Dollinger'schen Haus, und gewiss nicht in der Absicht die +Mittheilung gemacht, gleich damit, ohne weitere Warnung, vor die Polizei +gezogen zu werden. + +"Nun Mamsell -- wie hiess sie? -- Rieke? -- Wann haben Sie Lossenwerder aus dem +Haus kommen sehn, und ist er ruhig hinausgegangen oder _geschlichen_?" + +"Wenn Lossenwerder im Haus war," sagte Herr Dollinger ruhig, "so wird er +auch ordentlich hinaus_gegangen_ und nicht geschlichen sein; der waere der +Letzte dem ich so etwas zutrauen moechte." + +"Die Rieke behauptet," fiel aber hier die Koechin in dem Bewusstsein +unrechtlich gekraenkten Ehrgefuehls rasch ein, "dass sie gar nicht auf ihn +geachtet haben wuerde, wenn er sich nicht so schnell und heimlich, und +dicht unter den Fenstern, am Hause hingedrueckt haette. Wer kein boeses +Gewissen hat, kann gerade und offen gehen." + +"Sie sind aber gar nicht gefragt, zum Henker noch einmal," rief der Actuar +jetzt ungeduldig werdend -- "wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, lasse ich Sie +so lange hinausfuehren, bis wir Sie wieder brauchen. Hier Mamsell Rieke; +wenn Sie sich die Schuerze abgedreht haben, dann sein Sie so gut und sagen +Sie uns einmal wo und wie Sie den Herrn Lossenwerder gesehen haben." + +"Ich -- ich weiss nicht gewiss" -- stammelte das Maedchen verlegen -- "aber -- +aber Lossenwerder kam -- bald nachher wie die Herrschaft fortgefahren war -- +" + +"Wie lange nachher?" frug der Actuar. + +"Etwa eine halbe Stunde denk' ich -- vielleicht nicht so lange -- kam er +viel rascher als es sonst seine Art ist, denn er geht gewoehnlich immer +sehr langsam -- kam er -- kam er aus der Thuer heraus, die er geschwind +hinter sich zuzog -- und dann -- " + +"Und dann?" -- + +Und dann hielt er den Kopf nieder, als ob er nicht wollte dass ihn Jemand, +der vielleicht von oben heruntersaehe, erkennen moechte -- hielt er den Kopf +nieder und drueckte sich -- drueckte sich dicht am Haus hin, so schnell er +konnte die Strasse hinunter, und um die Ecke." + +"Und nachher?" frug der Actuar. + +"Nu, um die Ecke kann sie doch nicht sehn," sagte die Koechin. + +"Ob Sie still sein wird," sagte Herr Ledermann jetzt aber wirklich boese +gemacht -- "Wenzel, wenn mir die Person da jetzt noch einmal das -- noch +einmal den Mund aufthut, dann wissen Sie was Sie zu thun haben." + +"Sehr wohl, Herr Actuar," sagte der Gerichtsdiener -- + +"Und sind Sie dann nachher nicht heruebergekommen und haben das den Leuten +im Hause gesagt, was Sie gesehn?" frug der Actuar. + +"Ich habe ja aber Nichts gesehen," sagte die Rieke. + +"Sie haben doch den Lossenwerder gesehn" -- + +"Ja aber der geht doch so oft in das Haus hier herein, und kommt nachher +immer wieder heraus." + +Der Actuar warf sich ungeduldig herueber und hinueber und sagte endlich +muerrisch: + +"Unsinn -- baarer Unsinn -- aber hatte er denn irgend etwas in der Hand? -- +_trug_ er etwas?" + +"_Trug_? -- ja -- ja sehn Sie Herr Actuar -- das kann ich Sie nicht sagen -- +das weiss ich nicht -- " + +"Nun Sie werden doch gesehen haben, ob er irgend ein schweres Paket in der +Hand hatte oder nicht." + +"Ja sehn Sie, das weiss ich Sie wahrhaftig nicht, aber ich glaube es fast," +sagte das Maedchen, "denn ich habe den Herrn Lossenwerder eigentlich noch +gar nicht anders gesehn, als dass er irgend 'was getragen haette; und wenn's +nur ein paar Briefe gewesen waeren, oder ein Regenschirm." + +"Lieber Herr Actuar, ich glaube Sie sind da auf einer falschen Faehrte," +sagte Herr Dollinger jetzt -- "man kann einem Menschen allerdings nicht +in's Herz sehen, aber fuer den Lossenwerder moechte ich fast selber +einstehen." + +"Mein bester Herr Dollinger," sagte aber der Actuar kopfschuettelnd, "es +ist das mit den Untersuchungen eine wunderliche Sache, und Leute auf die +man am allerwenigsten gedacht, von denen man nie das geringste Unrechte +vermuthet hatte, kommen da oft in den sonderbarsten Verwickelungen vor und +-- sind schuldig. Ich selber kenne Lossenwerder als einen ordentlichen +braven Menschen, und will zu Gott hoffen, dass unser ganzer Verdacht +unbegruendet ist; das heimliche Schleichen aus dem Haus aber, und dass ihn +Niemand sonst im Haus gesehen hat macht ihn verdaechtig. Meine Pflicht ist +es wenigstens ihn selbst deshalb zu vernehmen und ich werde jedenfalls +noch heute Abend nach ihm schicken muessen -- unsere Eisenbahnverbindungen +sind jetzt zu schnell, und man darf keiner Menschenseele mehr zwoelf +Stunden Vorsprung lassen, wenn man nicht oft das leere Nachsehn haben +will." + +"Passen Sie auf," sagte Herr Dollinger, "der Lossenwerder wird den +Blumenstock zum Geburtstag Clara's oben hinaufgetragen haben, und zum Dank +dafuer kommt der arme Teufel jetzt noch in den Verdacht des fatalen +Diebstahls." + +"Wie aber ist er ohne Nachschluessel in die verschlossene Thuer gekommen," +warf der Actuar ein -- + +"Hm -- " sagte Herr Dollinger, "das weiss ich freilich nicht -- nun fragen +Sie ihn selber, das wird jedenfalls der kuerzeste Weg sein." + +"Um das Verzeichniss der gestohlenen Gegenstaende duerfte ich Sie dann +vielleicht nachher noch bitten." + +"Meine Tochter wird es gerade jetzt eben schreiben," sagte Herr Dollinger, +"wenn Sie nur noch kurze Zeit warten wollen." + +"Dann duerfte ich Sie wohl bitten, es mir gleich in meine Wohnung zu +schicken," meinte der Actuar nach kurzer Ueberlegung, "ich muss vor allen +Dingen erst in meine Wohnung und werde dann von da gleich noch einmal in's +Bureau gehen. Wo ist denn der Lossenwerder wohl am leichtesten zu finden?" + +"Ich habe eben nach seinem Hause geschickt," sagte Herr Dollinger, "aber +dort ist er nicht. Paul, der Bursche, behauptet, er ginge manchmal, aber +selten, in eine Bierstube an der Ecke der Roessnitzer und Hertzergasse, aber +dort war er auch nicht; es ist uebrigens an beiden Orten bestellt, ihn +gleich, so wie Jemand seiner ansichtig wird, hierherzuschicken." + +"Sehr wohl," sagte der Actuar, seine Papiere zusammenpackend, und sie dem +Gerichtsdiener uebergebend; nach kurzer Begruessung wollte er sich dann eben +entfernen, als er noch einmal in der Thuer stehen blieb und, sich scharf +auf dem Absatz herumdrehend, fragte: + +"A prospos -- _raucht_ Lossenwerder?" + +"Soviel ich weiss _nicht_," sagte Herr Dollinger. + +"Doch ja, manchmal," sagte Einer der Leute -- Sonntags nach Tisch z. B. +regelmaessig eine Cigarre." + +"Hm, so?" sagte der Actuar und verliess dann rasch das Zimmer und Haus. + +Er hatte uebrigens auch alle Ursache sich zu beeilen, denn daheim wartete +ein mit jeder Minute drohender aufsteigendes Unwetter auf ihn, das er mit +einer Art von verzweifelten Hoffnung immer noch mit den, dem +Gerichtsdiener wieder zu dem Zweck abgenommenen, und geschaeftsmaessig unter +den Arm geklemmten Streifen Akten abzuleiten gedachte. Jedenfalls musste +ihm der Vorfall im Dollinger'schen Haus, der so viel von seiner Zeit in +Anspruch genommen, entschuldigen. Frau Actuar Ledermann aber hatte sich +schon den ganzen Nachmittag ueber, mit immer wachsender Ungeduld, +vorgenommen gehabt mit ihrem Gatten gegen Abend einen der vor der Stadt +gelegenen Gaerten, wo Concert sein sollte, zu besuchen und die Parthie war +ihr jetzt -- was halfen alle Gruende dagegen -- zu Wasser geworden; es +verstand sich von selbst dass Actuar Ledermann die Schuld, und deshalb auch +die Folgen trug. + +Frau Actuar Ledermann hatte sich uebrigens vor einigen Tagen, wo sie trotz +dem nassen Wetter und allen Vorstellungen ihres Mannes spatzieren gegangen +war, furchtbar erkaeltet, und brachte keinen lauten Ton ueber die Lippen. +Das aber, und dass sie ihren gerechtfertigten Ingrimm nicht mit der vollen +Kraft ihrer Stimme hinaus_giessen_ konnte ueber den Gatten, wie sie es -- und +er auch -- gewohnt war, sondern alles das was sie ihm zu sagen hatte -- und +sie hatte ihm viel zu sagen -- heraus_fluestern_ musste, reizte ihren Zorn +nur noch immer mehr. + +"Aber liebes Kind, ich versichere Dich," sagte der Actuar in einem +vergeblichen Versuch den aufsteigenden Sturm zu beschwichtigen, "dass ich +mich ueber anderthalb Stunden bei dem verwuenschten Diebstahl im +Dollinger'schen Hause aufgehalten habe und -- " + +"Und ich versichere Dich," zischte sie, mit einem Gesicht, dem die +Anstrengung die es sie kostete die Worte hoerbar zu machen, einen noch viel +unfreundlicheren, ja sogar boshaften Ausdruck gab -- "dass ich Dich vor +anderthalb Stunden schon gerade so erwartet habe wie jetzt, und seit drei +Stunden vollkommen angezogen dasitze und auf Dich passe." + +"Aber Du _bist_ ja gar nicht angezogen, beste Therese." + +"Weil ich mich wieder ausgezogen habe," rief die Frau -- "glaubst Du ich +soll mir ein Beispiel an einem liederlichen Menschen nehmen, und bei Nacht +und Nebel noch draussen herumstreichen, wie Leute die das Licht zu scheuen +haben? -- Und dann mit meinem Katharr -- dass ich mir den Tag ueber im warmen +Sonnenschein ein wenig Bewegung machte, das faellt Dir nicht ein; aber +Nachts, wenn der schaedliche Thau niederfaellt, der fuer mich gerade Gift +waere, da moechtest Du mich jetzt wohl noch hinausschleppen nicht wahr? +damit ich nur recht schnell unter die Erde kaeme -- o ich armes +unglueckseliges Weib -- " + +"Aber Therese Du bist unbillig, ich habe Dir doch angeboten heute +Nachmittag mit mir nach dem rothen Drachen hinauszugehn -- " + +"Weil Du wusstest dass das nichtsnutzige Geschoepf von einer Waescherin mir +mein Kleid nicht vor vier Uhr bringen wuerde," zischte die Frau. + +"Aber Du hast ja noch andere -- " + +"Am Sonntag zum Skandal der andern Menschen mit einer solchen _Fahne_ zu +einem anstaendigen Vergnuegungsort hinausziehn, nicht wahr? -- _Dir_ laege +natuerlich Nichts daran was die Leute ueber Deine Frau sagten; aber Du bist +auch an anderen Orten lieber wie zu Hause, und statt Deiner Frau einmal +ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten, und nachher mit ihr zusammen +auszugehen, musst Du natuerlich g'rad in's Wirthshaus laufen, und ein +Bischen vor Mitternacht dann wieder zu Hause kommen." + +"Liebes Kind, es ist halb neun Uhr jetzt" -- sagte der Actuar ruhig, "dann +aber Therese," fuhr er nach kleinem Zoegern, mit einer fast gewaltsamen +Anstrengung etwas herauszubringen, das er auf dem Herzen hatte, fort -- +"bist Du theilweise mit selbst Schuld daran, _dass_ ich mir eben ausser dem +Hause mein Vergnuegen suchen _muss_." + +"Ich?" wollte die Frau erstaunt rufen, der etwas zu hoch eingesetzte Ton +blieb aber total aus, und Ledermann sah nur, mit der entsprechenden +Gesticulation, das zum Hoechsten erstaunte Gesicht der Gattin. Dadurch aber +vielleicht, und durch die ungewoehnliche, freilich erzwungene Stille, etwas +muthiger gemacht, fuhr er entschlossen fort: + +"Ja liebes Kind, Du; denn anstatt Deinem Mann, wenn er von seinen +Berufsgeschaeften ermuedet zu Hause kommt den Aufenthalt daheim zu einem +freundlichen zu machen, in dem er gerne bleibt, laesst Dich Dein +unglueckseliges, heftiges Temperament nicht ruhen noch rasten, sondern Du +musst irgend eine Gelegenheit vom Zaune brechen mit mir zu zanken. Gebricht +es Dir aber vollkommen an Stoff, was jedoch nur in hoechst seltenen Faellen +zu sein scheint, so bist Du muerrisch und verschlossen, machst ihm ein +finsteres, verdriessliches Gesicht, und sprichst kein Wort." + +Sprachlos nur vor Zorn und Staunen ueber die unerhoerte, bodenlose +Frechheit, hatte die Frau indessen dem heute so redseligen Gatten (der +aber nicht dabei zu ihr aufzuschauen wagte, sondern bald die rechte, bald +die linke Ecke der Stube mit den Augen suchte) angesehn. Es war eine +allerdings noch jugendliche schlanke, aber eher magere als volle Gestalt, +die Frau Actuar Ledermann, mit etwas vorstehenden, wenigstens stark +markirten Backenknochen und durchdringend scharfen, wenn auch kleinen +lichtgrauen Augen, die Lippen schmal und um den Mund in vielen kleinen +Faeltchen, zusammengezogen, das Kinn jedoch etwas zurueckstehend, was ihr +ein besonderes, und nicht eben angenehmes Profil gab. Auch in ihrem Anzug +liess sie sich zuviel gehn; der Zauber reinlicher Kleidung fehlte ihr, der +selbst der aermlichsten Tracht etwas Nettes, Freundliches giebt; die Krause +die das oben am Hals dicht anschliessende Kleid einfasste, war schon mehrere +Tage getragen und verdrueckt, ebenso zeigten die Manschetten Spuren +laengeren Dienstes, und die Haube sass ihr verschoben und zu viel +zurueckgedraengt auf dem, nicht ueberreich mit Haaren bedeckten Scheitel. +Frau Actuar Ledermann war nicht huebsch, und der Affect der ihre Zuege in +diesem Augenblick mehr entstellte als belebte, nahm ihnen leider auch die +letzte Spur sanfter Weiblichkeit, die sonst doch wohl noch hie und da +darin verborgen lag. Der bis jetzt mehr durch Erstaunen als Maessigung +niedergekaempfte Zorn gewann aber auch endlich die Oberhand, und waehrend +die Anstrengung, sich bei ihrer Heiserkeit gehoert zu machen, ihr Antlitz +fast dunkel faerbte, keuchte sie, die Arme in die Seite gestemmt, den +Oberkoerper gegen den ueberrascht einen Schritt zurueckweichenden Gatten +vorgebeugt: + +"Spreche kein Wort, _heh_? sagt der Herr? -- prahlt da, "wenn er von +Berufsgeschaeften nach Hause kommt" -- spreche kein Wort? -- sitzt in der +Kneipe den ganzen gesegneten Nachmittag -- im rothen Drachen und das nennt +er Berufsgeschaefte; vertrinkt das Geld das wir hier zum nothwendigsten +Leben brauchten, und wirft mir jetzt meine Heiserkeit vor, die mir der +Himmel geschickt hat, oder mein boeses Glueck, dem ich auch einen solchen +Mann verdanke -- dass ich kein Wort spreche und verdriesslich bin. Ich soll +wohl _tanzen_? eh? -- wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist vor Jammer +und Elend daheim, und wenn ich den ganzen Tag da sitze, und bruete und +denke wie wir auskommen wollen mit den paar Groschen, die zum Sterben und +Verhungern zu viel, zum Leben aber zu wenig sind. Dann soll ich nachher, +wenn der gestrenge Herr sein Gesicht zeigt, lachen und vergnuegt und lustig +sein, nur damit der Haustyrann sich nicht unbehaglich fuehlt in _seinen_ +vier Waenden." + +Heftiger Husten unterbrach hier die Zornesrede der Frau, der die uebermaessig +angestrengte Luftroehre den Dienst versagte, und der Actuar Ledermann nahm +still und schweigend, den Moment benutzend, ein Licht von dem kleinen +Seitenschrank, zuendete es an der Lampe an, und verliess kopfschuettelnd und +seufzend das Gemach, sich auf sein eigenes kleines Stuebchen zurueckzuziehn. + + + + + + Capitel 4. + + + FRANZ LOSSENWERDER. + + +In Heilingen, in der Glockenstrasse, stand ein vortreffliches Weinhaus, in +dem die wohlhabenderen Buerger Abends gewoehnlich zusammenkamen und ihr +Flaeschchen, aus denen auch oft zwei und drei wurden, tranken. Das Lokal +war ziemlich gemuetlich, und dem Zweck entsprechend, in eine Menge kleiner +Zimmerchen abgetheilt, die theils durch wirkliche Thueren und Verschlaege, +theils durch Vorhaenge von einander getrennt lagen, einzelnen +Gesellschaften zu gestatten eben einzeln zu bleiben, und ihr Glas, +ungestoert von dem Nachbar, zu trinken. + +Das Haus hiess "der Pechkranz" nach einer alten Sage, die der Wirth sehr +gern mit der Heilinger Chronik belegte, und die noch in dem +dreissigjaehrigen Kriege spielte; ein, ueber der Eingangsthuer in neuerer Zeit +erst aus Stein gehauener Bachus, hielt auch in der einen Hand einen +Tyrsusstab, und in der anderen einen Pechkranz, in hoechst wunderlicher +Weise Sage und Geschaeft mit einander vereinigend. Die Allegorie war aber +gar nicht so uebel angebracht, und haette sich auch schon ohne Tilly recht +leidlich und genuegend erklaeren lassen, denn Bachus hatte hier schon in der +That in manchen Kopf seinen Pechkranz hineingeworfen, dass es lichterloh +zum Dache hinausbrannte, ohne weiter eben groesseren Schaden anzurichten, +als der alte Pechkranz in damaliger Zeit angerichtet haben sollte. + +Der Wirth war uebrigens nicht in Heilingen geboren und erzogen, sondern ein +Rheinlaender, der sich hier erst vor einigen Jahren niedergelassen, und +durch gute Getraenke auch bald gute und schlechte Kunden genug bekommen +hatte. Seine Preise waren allerdings ein wenig theuer, "aber," sagten die +Heilinger, "wer einmal Wein trinkt, dem darf es auch nicht auf einen +Groschen dabei ankommen, wenn er nur aecht und rein ist," und Wirth und +Gaeste befanden sich wohl dabei. + +Es war am Abend des naemlichen Tages, an welchem ich meine Erzaehlung +begann, als die Gaeste, die den Tag ueber meist auf Spaziergaengen im Freien +gewesen waren, anfingen einzutreffen, und die Kellner geschaeftig herueber +und hinueber sprangen, Wein und Speisen den Hungrigen und Durstigen zu +bringen. Die kleinen Raeumlichkeiten fuellten sich nach und nach, und selbst +in dem grossen Mittelsaal, der ungefaehr das Centrum des Ganzen bildete, +hatten sich schon hie und da einzelne Gruppen gebildet, oder auch einzelne +Gaeste sassen in irgend einer Ecke, ihre Flasche Wein vor sich, und auf +eigene Hand, in ungeselliger Gemuethlosigkeit, langsam Glas nach Glas zu +leeren. Es ist das aber nicht die rechte Art; zu einer schoenen Landschaft +und einer guten Flasche Wein gehoeren mindestens zwei Personen, um Beides +recht und ordentlich zu geniessen, die eine sich _darueber_, die andere sich +_dabei_ auszusprechen; wenn man allein ist, geht mehr als der halbe Genuss +von Beiden verloren. Es giebt allerdings Menschen, die sich zufriedener +fuehlen wenn sie Alles allein geniessen koennen, aber denen geh' aus dem Weg; +es sind Hypochonder oder Schlimmere, und der einzige Dank, den Du ihnen +schuldig bist ist dafuer, dass sie sich eben auch von Dir zurueckziehn. Nur +wer Niemanden hat an den er sich anschliessen darf, wer allein und +freundlos in der Welt dasteht und das Leid das ihn drueckt, allein tragen, +die wenigen frohen Momente seines Lebens allein geniessen muss, den bedauere +und hilf ihm, wenn Du kannst, denn er ist der Ungluecklichste von Allen. + +Es mochte neun Uhr Abends sein, als ein Bekannter von uns, der +Kuerschnermeister Kellmann, die Weinstube betrat und, sich ueberall +umschauend, ob er nicht irgend einen Freund traefe zu dem er sich setzen +koennte, in einer der Ecken eine bekannte Gestalt entdeckte. Aber er sah +erst ein paar Secunden wirklich aufmerksam dorthin, ehe er seinen Augen +traute, und sagte dann, auf Jenen losgehend und neben dem Tisch stehen +bleibend: + +"Hallo, _Lossenwerder_? Ihr hier im Pechkranz? na da moechte man doch, wie +die Schwaben sagen, den Ofen einschlagen. Alle Wetter Mann und vor einer +Flasche Ruedesheimer; nun das lass ich gelten und es freut mich wahrhaftig, +dass Ihr endlich einmal aufthaut und unter Menschen kommt. Aber was ist +denn heute los bei Euch? denn einen ganz besonderen Grund muss doch die +Festlichkeit haben." + +"Ha -- ha -- ha -- hat sie auch He -- he -- he -- he -- herr Ke -- ke -- ke -- +kellmann," sagte der kleine Mann verlegen laechelnd und sich etwas +schuechtern dabei umschauend, denn es schien ihm nicht angenehm, die +Aufmerksamkeit der uebrigen Gaeste so direkt auf sich gelenkt zu sehn. + +"Jetzt kann ich aber auch den Leuten widersprechen," sagte Kellmann, +seinen Hut und Stock an einen der naechsten Haken haengend und sich neben +ihn setzend, "wenn sie behaupten Ihr traenkt nur Wasser, und Sonntags +hoechstens einmal ein Glas Duennbier -- ich kriege Leibschneiden, wenn ich +nur an das Zeug denke -- und sonst lebtet, als ob Ihr die Woche mit einem +halben Thaler auskommen muesstet. Alle Wetter Mann, das ist recht, dass Ihr +Euch auch manchmal ein Glas Rheinwein goennt; das haelt Leib und Seele +zusammen, und staerkt die Nerven und Muskeln mehr wie Rindfleisch. Wuerde +mir schwer ankommen, wenn ich unseren vaterlaendischen Wein entbehren +muesste," setzte er mit einem halbunterdrueckten Seufzer hinzu. + +"Ha -- ha -- ha -- haben Sie a -- a -- a -- auch wohl ni -- ni -- nicht noe -- noe -- +noe -- noe -- noe -- noethig, be -- be -- be -- bester He -- he -- he -- he -- he -- he." + +"Ih nun wer weiss was Einem noch Alles bevorsteht," unterbrach ihn Kellmann +-- "hier Kellner -- mir auch eine Flasche von dem Ruedesheimer; der Duft hat +mir Appetit gemacht." + +"Hallo Lossenwerder bei einer Flasche Ruedesheimer," rief aber jetzt noch +eine andere Stimme aus dem naechsten Stuebchen, wo ein paar junge Kaufleute +bei ihrem Glase zusammensassen -- "da muessen wir auch dabei sein; +Lossenwerder hat vielleicht heute seinen splendiden Tag und traktirt -- +haben Sie was in der Lotterie gewonnen?" + +Die jungen Leute, die Kellmann und Lossenwerder begruessten, kamen mit ihrer +Flasche heraus, und setzten sich an denselben Tisch, mit dem immer +verlegener werdenden kleinen Mann anstossend und trinkend. Denen gesellten +sich aber noch bald darauf Andre zu; Lossenwerder war in der ganzen Stadt +bekannt und oft auch, seiner koerperlichen Maengel wegen, zum Besten +gehalten. Vertheidigen konnte er sich aber schon seines Stotterns wegen +nicht, was den Gegnern gleich nur noch mehr Anlass und Stoff gegeben haette; +so wurde denn diese freilich gezwungene Zurueckhaltung endlich fuer +Gutmuetigkeit ausgelegt, mit der er sich Scherz und Stichelrede ruhig +gefallen liess, und was die schaerfste Erwiderung nicht vermocht, erreichte +er unfreiwillig dadurch, dass man es endlich muede wurde, den sich nicht +Verteidigenden zum Besten zu haben, und ihn eben zufrieden liess. Aber in +des Verwachsenen Betragen aenderte das Nichts; abgestossen und verhoehnt -- in +nur sehr wenigen Ausnahmen -- von Allen, mit denen er in Beruehrung kam, zog +er sich mehr und mehr in sich selbst zurueck, ging, ausser den noethigen +Geschaeftswegen und ausser der Geschaeftszeit, fast nirgends hin, und lebte +so einfach, ja fast duerftig, wie nur ein Mensch leben kann, der eben _nur_ +Geld ausgiebt, um zu existiren. In einem Weinkeller hatte ihn aber noch +Niemand gesehn, und die Gaeste dort, die ueberdies keinen weiteren Zweck da +hatten als sich zu amuesiren, glaubten das einmal einen Abend mit dem +kleinen "Stotterberg", wie er spottweis, seines Stotterns und Hoeckers +wegen genannt wurde, am Besten thun zu koennen. + +Im Anfang wollte sich Lossenwerder aber auf Nichts einlassen, ja machte +sogar zwei oder drei, wenn gleich vergebliche Versuche, sich zu entfernen, +denn von allen Seiten wurde er gehalten, und Jeder wollte und musste mit +ihm trinken. Nach und nach aber fing er an aufzuthauen; der ungewohnte +kraeftige Wein mochte ihm das Blut leichter und rascher durch die Adern +jagen. Nun sollte er erzaehlen, aber das ging nicht, sein Stottern wurde, +mit der schwereren Zunge, kaum verstaendlich, bis Einer, im Spott eben, auf +den Gedanken kam, ihn zum Singen aufzufordern. Lossenwerder weigerte sich +erst ganz verschaemt; das aber kam den Anderen zu komisch vor, und mit +Lachen und Toben, waehrend ein paar schon Champagner bestellten, den Genuss +wuerdig zu feiern, raeusperte sich Lossenwerder ploetzlich und stieg, von dem +Wein erregt, und jetzt unter dem lauten Jubel der ihn umdraengenden Gaeste, +auf einen Stuhl. + + [Capitel 4] + +Was aber, wie sich die Uebrigen gedacht, Spott und Scherz hatte werden +sollen, das erstarb in athemlosem Schweigen, nur von leisen Ausrufungen +des Staunens und der Bewunderung unterbrochen, als der kleine verkrueppelte +Mensch, mit einer hellen, glockenreinen Stimme, und Toenen, die zum +innersten Herzen drangen, erst noch scheu, dann aber immer +zuversichtlicher werdend, und wie von dem Inhalt des Liedes mit +fortgerissen, dieses also begann: + + "Ich habe schon zu oft geschaut + In Deiner Augen Glanz, Du Holde, + Auf meine Kraft zu fest vertraut, + Viel mehr, als ich vertrauen sollte. + + Doch nein, fuer Dich Geliebte sind + Des Lebens schoenste, reinste Bluethen, + Von keinem Schmerz getruebt, bestimmt, + Und was koennt' ich dafuer Dir bieten? + + Nichts -- gar Nichts, als ein treues Herz; + Doch nimmer sollst Du es erfahren -- + Ich kann, wie frueher, meinen Schmerz + In tiefer, innerer Brust bewahren. + + Sei gluecklich! -- wenn auch ohne mich, + Ich will Dich lieben, aber schweigen + Und mein Gebet nur soll fuer Dich + Empor, zum Thron des Hoechsten steigen. + + Wenn dann mein Herz im Grabe liegt, + Und austraeumt seine stillen Leiden, + Dann soll der Geist zum Himmel nicht + Entfliehn, und zu der Seel'gen Freuden. -- + + Ein schoen'res Loos werd' ihm zu Theil, + Umschwebend Dich in trueben Tagen, + Soll er, zu Deinem Schutz und Heil, + Selbst seiner Seligkeit entsagen." + +Lossenwerder war ganz geruehrt geworden beim Schluss des Liedes, und die +Thraenen standen ihm in den Augen; waehrend sein wirklich haessliches Gesicht +durch den Schmerz aber eher einen komischen als ernsten Ausdruck bekam, +jubelte die Schaar jetzt um ihn her, die wirklich erst wieder Athem und +Laut gewann, als der wundersame Zauber dieser Stimme von ihnen genommen +war. + +"Bravo -- bravo Lossenwerder -- bravo dacapo! Donnerwetter Mann, Ihr habt ja +eine Stimme wie eine Nachtigall, und stottert nicht die Probe dabei -- wie +am Schnuerchen geht das!" + +"Es ist erstaunlich!" rief Kellmann, vor lauter Verwunderung ueber das eben +Gehoerte wirklich fast sprachlos. + +"Nun aber auch trinken -- hier Lossenwerder -- hier," riefen sie, ihm das +Glas bis zum Rand mit dem schaeumenden Trank fuellend, "und dann noch ein +Lied; bei Gott, das zuckt und prickelt Einem ordentlich durch die Adern, +und klingt wie Glockenton so rein und voll; Lossenwerder wo habt Ihr das +Singen gelernt?" + +"Vo -- vo -- vo -- vo -- vo -- von mi -- mi -- mir se -- se -- se -- se -- selb -- +bber," stotterte der kleine Mann, kaum im Stande jetzt mit immer schwerer +werdender Zunge nur die paar Worte vorzubringen, waehrend ihm im Gesang die +Strophen wie der Lerche das schmetternde Lied; aus der Kehle wirbelten. + +"Und da hat bis jetzt noch gar kein Mensch etwas davon erfahren," rief +Kellmann wieder -- "behaelt die liebe Gottesgabe da ebenfalls fuer sich +allein, kommt nirgends hin, spricht mit Niemand, trinkt und singt mit +Niemand, und hat eine Stimme in der Luftroehre sitzen, die Einer, wer es +darauf anzulegen verstaende, in reines Gold verwandeln koennte." + +Von allen Seiten tranken sie jetzt dem kleinen Mann zu, und ueberschuetteten +ihn mit Lob und Jubel, und dieser schwamm wirklich in einem wahren Meer +von Wonne. So wohl war ihm auch noch nie geworden -- Niemand hatte sich bis +jetzt um ihn bekuemmert, Jeder ihn verspottet und verhoehnt, und zum ersten +Mal, vielleicht seit langen, langen Jahren, fuehlte er sich unter Menschen +einem Menschen gleich, wusste sich nicht mehr verachtet und unter die Fuesse +getreten, und sah freundliche Augen um sich her, die ihn wie ihres +Gleichen anschauten. + +Dem loeste sich auch endlich seine Zunge, oder wenigstens sein guter Wille +zu reden, so weit, dass er beginnen wollte Geschichten zu erzaehlen. Das +ging aber unter keiner Bedingung; beim Singen ja, aber beim Sprechen +brachte er kein Wort mehr ueber die Lippen, und selbst das Singen versagte +ihm zuletzt den Dienst; die Augenlider wurden ihm schwer, er fing an zu +lallen, und war eben zurueck auf seinen Stuhl und dem Schlaf in die Arme +gesunken, als die Thuer aufging und zwei Gerichtsdiener in's Zimmer traten. +Es war etwa elf Uhr Abends und die meisten Gaeste, mit Ausnahme des einen +Tisches, hatten das Haus schon verlassen. + +"Hallo was ist das?" sagte Herr Kellmann, der die beiden Leute zuerst +bemerkte, "das ist wunderlicher Besuch -- es wird doch nicht etwa eine +Polizeistunde eingefuehrt in Heilingen?" + +Aber auch der Wirth war die "Diener der Gerechtigkeit", wie sie meist +etwas poetisch genannt werden, gewahr geworden und ging auf sie zu, sich +zu erkundigen was sie hierher gefuehrt. + +"Ein kleiner buckliger Mann soll hier heute Abend bei Ihnen sein," sagte +der Erste -- "er ist aus dem Dollingerschen Geschaeft." + +"Dort sitzt er in der Ecke," sagte der Wirth vom Pechkranz nach +Lossenwerder hinueberzeigend, "hat er etwas verbrochen?" + +"Ich weiss nicht," erwiederte der Zweite ziemlich kurz -- "wir sollen ihn +abholen." -- + +"Wird schwer sein," meinte der Wirth -- "sie haben ihm heute Abend hier +ordentlich zugetrunken, und der Wein hat jetzt das Uebergewicht -- wenn er +aufsteht kippt er wieder um." + +"Hm -- da wird wohl auch nicht viel mit Fragen aus ihm herauszubringen +sein, Meier; was meinst Du, nehmen wir ihn mit?" + +"Ich denke das Beste wird sein wir fuehren ihn zu Haus, und Einer bleibt +bei ihm bis er morgen frueh wieder zu Verstande kommt; jetzt ist doch +Nichts mit ihm anzufangen." + +"Aber um Gottes Willen was ist denn vorgefallen?" frug Kellmann bestuerzt; +"der arme Teufel hat doch nicht etwa irgend 'was verbrochen?" + +"Noch ist nichts Gewisses bekannt," erwiederte der erste Polizeidiener, +"nur bei Dollinger's ist heute Nachmittag eingebrochen, und die +Untersuchung muss jetzt erst ergeben, wer schuldig sei." + +"Bei Dollinger's eingebrochen?" riefen Mehrere, "heute Abend?" + +"Nein heute am hellen Tag," sagte der Mann. + +"Alle Wetter das muss dann gewesen sein waehrend sie nach dem rothen Drachen +gefahren waren," sagte Kellmann rasch -- "sie kamen an uns vorbei mit dem +jungen Henkel." + +"In der Zeit war's," bestaetigte der Polizeidiener, "denn wie sie zu Hause +kamen, wurde es entdeckt -- hier da Lossenwerder -- Sie da -- wachen Sie auf." + +"Ja wenn Sie den stossen wollen bis er munter wird," lachte Einer der +jungen Leute, "da haben Sie Arbeit." + +"Sie -- Lossenwerder -- hoeren Sie?" + +"Ja -- ja" -- stammelte der von dem ungewohnten Weine, von dem er eigentlich +gar nicht so sehr viel getrunken, Betaeubte -- "me -- me -- me -- mehr We -- we +-- wein; ich za -- za -- za -- zahle A -- a -- a -- a -- a -- alles!" + +"So?" sagte der Polizeidiener ruhig -- "nun fuer heute moecht' es doch wohl +genug sein; komm, fass ihn da drueben unter den Arm, er wohnt ja auch nicht +so sehr weit von hier -- wo ist sein Hut?" + +"Hier -- armer Teufel, das wird ein boeses Erwachen werden." + +"Wie man sich bettet so schlaeft man," sagte der zweite Polizeidiener, und +den Betrunkenen in die Hoehe richtend, der dabei unverstaendliche Sachen +stammelte und sogar einen total misglueckenden Versuch machte wieder zu +singen, fuehrten sie ihn hinaus und seiner Wohnung zu, indess die Gaeste noch +das "fuer und wider" der Schuld des Mannes, von dem sie nie etwas Uebles +gehoert bei einer anderen Flasche besprachen. + +Und es _war_ ein boeses Erwachen fuer den Mann; von dem Weindunst betaeubt +schlief er, wie ein Todter, bis zum lichten Tag, und als er die Augen +aufschlug und ihm der Kopf schmerzte zum Zerspringen, fiel sein erster +Blick auf den ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gehenden +Polizeidiener, den er einen Moment bestuerzt anstarrte, und dann die Augen +wieder schloss, wie vor einem unangenehmen Traumbild. + +"Nun Lossenwerder, ausgeschlafen?" sagte der Mann aber, froh endlich einmal +zu einem Resultat zu kommen -- "das hat lange gedauert -- kommen Sie, stehn +Sie auf und ziehn Sie sich an." + +Die Stimme war _kein_ Traum, und der kleine Mann richtete sich erschreckt +von seinem Bett, auf dem er noch mit den Kleidern vom vorigen Abend lag, +empor. Wo war er? -- wie war er hierher gekommen? er drueckte sich mit +beiden Haenden die Stirn und der klare Angstschweiss brach ihm aus ueber den +ganzen Koerper; er _wusste_ nicht mehr was gestern Alles geschehn, und die +unheimliche finstere Gestalt vor ihm fuellte sein Herz mit einer wilden +Ahnung von Unheil, die alles Blut dorthin in jaehem Strom zuruecktrieb. + +Wie ein Schlag da hinein traf ihn die Nachricht von dem entdecktem +Diebstahl, das Gefuehl, dass der Verdacht auf ihm laste, und die naechste +Stunde -- waehrend ein anderer Polizeibeamter bei ihm visitirte und man +nichts weiter, als in einem Winkel seines kleinen Schreibtisches, unter +dreifachem Schloss, ein Paeckchen mit 200 Thalern in fuenf und zwanzig Thaler +Cassenanweisungen, wie noch einige Goldstuecke fand, wie seine Abfuehrung +dann nach dem Dollingerschen Hause, da Herr Dollinger gebeten hatte den +Mann, an dessen Schuld er nicht glauben wollte, erst einmal an Ort und +Stelle selber zu befragen -- lag wie ein Alp auf seiner Seele, unter dessen +Last er auch kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, ja nicht einmal +eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten vermochte. + +In dem Dollingerschen Hause angekommen, wurde er gleich in Herrn +Dollinger's Zimmer hinaufgefuehrt, und der alte Herr ging, als Lossenwerder +die Stube betrat, mit auf dem Ruecken gekreuzten Haenden in seinem Zimmer +auf und ab. Der junge Henkel sass in der einen Ecke des Sophas, das rechte +Knie ueber das linke geschlagen, mit einem Buch in der Hand, ueber das hin +er aufmerksam den Gefangenen betrachtete. + +Lossenwerder war bleich wie ein Todter -- jeder Blutstropfen hatte sein +Antlitz verlassen, und bei dem Versuch den er zum Reden machte, kam kein +Laut ueber seine Lippen. + +"Lossenwerder," sagte Herr Dollinger endlich, nach einer kleinen Weile vor +ihm stehen bleibend und ihn ernst, ja traurig betrachtend -- "ein boeser +Mensch ist gestern, waehrend unserer Abwesenheit, in unser Haus geschlichen +und hat, ausser einigen Juwelen, auch noch das Geld entwendet, das Du mir +gestern Mittag gebracht und das ich, wie Du weisst, in den Secretair dort +schloss. Warst Du waehrend unserer Abwesenheit wieder im Haus und in dem +Zimmer meiner Toechter?" + +"He -- he -- he -- he -- he -- he -- he -- rr Do -- Do -- Do -- Do." + +"Schon gut Lossenwerder, Du bist jetzt aufgeregt und das Sprechen wird Dir +schwer; beschraenke Dich auf ein einfaches ja und nein." + +"Ja -- a -- !" + +"In dem Zimmer meiner Toechter?" + +"J -- a -- a -- a aber -- i -- i -- i -- i -- ich wo -- wo -- wollte" -- + +"Sie haben einen Blumentopf dort hineingesetzt?" sagte Herr Henkel jetzt +ruhig. + +Das Blut stieg dem kleinen Mann rasch bis in die Schlaefe hinauf, aber der +naechste Moment liess sein Antlitz wieder so weiss als vorher; er nickte nur, +zur Betaetigung des eben Gesagten, mit dem Kopf. + +"Lossenwerder," sagte der Herr Dollinger mit leiser, bewegter Stimme und +dicht zu dem kleinen Mann hinantretend, wobei er die Hand auf dessen +Schulter legte, "Lossenwerder, noch gestern wuerde ich eben so leicht +geglaubt haben, dass eines von meinen eigenen Kindern eines schlechten, +unrechtlichen Streiches faehig waere, bis mich leider die immer deutlicher +sprechenden Thatsachen in meinem Glauben an Dich _wankend_ gemacht haben." + +"He -- he -- he -- he -- he -- herr Do -- Do -- Do -- Do -- -- Dollinger" -- + +"Ich will Dir klar und einfach unseren ganzen Verdacht vorlegen," sagte da +der alte Herr, dem Angeklagten jedes unnuetze Wort zu ersparen -- "gestern, +waehrend unserer Abwesenheit, ist der Secretair meiner Toechter erbrochen +und das Dir bekannte Geld entwendet worden -- drueben ueber der Strasse hat +Dich ein Maedchen gesehn, wie Du heimlich aus dem Hause geschlichen bist. +Ebenso bestaetigt Wilhelm, der Stalljunge, Dich gesehn zu haben, wie Du +haettest das Haus durch die nach dem Hofe zu fuehrende Thuer verlassen +wollen, bei seinem Anblick aber, was selbst dem Jungen aufgefallen ist, +zurueckgefahren, und dann auch nicht ueber den Hof gekommen waerst. Das +Stubenmaedchen, die keine Ahnung davon haben konnte dass Geld in dem +Secretair lag, ist bereit den schwersten Eid abzulegen, dass sie, wenige +Minuten spaeter, nachdem man Dich hatte aus dem Hause schleichen sehen, die +Vorsaalthuer nicht mehr aus den Augen gelassen, und gewiss waere, dass Niemand +die Schwelle mehr ueberschritten habe, bis sie den zurueckkehrenden Wagen in +den Hof einfahren gehoert. Heimlich bist Du im Haus gerade in der Zeit, in +welcher das Geld entwendet wurde, gewesen, und die gestrige Ausschweifung, +die man an Dir nicht gewoehnt ist, wie die bei Dir gefundene Summe, lassen +allerdings das Schlimmste fuerchten. Lossenwerder -- ich brauche Dir nicht zu +sagen, wie weh -- wie weh mir das gerade von _Dir_ thut, und ich wollte die +doppelte Summe, so bedeutend sie ist, gern verschmerzen, wenn es _nicht_ +geschehen waere. Mache aber jetzt Deinen Fehler, wenigstens so weit das +noch in Deinen Kraeften steht, wieder gut; gestehe was Du mit dem uebrigen +Gelde gemacht, wo Du es verborgen hast, und ich selber will dann auch +Alles thun was in meinen Kraeften steht, Deine Strafe zu erleichtern. Ein +anderer Welttheil mag Dir nachher in spaeterer Zeit Gelegenheit geben +Deinen Fehltritt zu bereuen, und das wieder zu werden, fuer was ich Dich, +selbst bis diesen Morgen noch, gehalten habe." + +Lossenwerder hatte waehrend dieser Auseinandersetzung wie aus Stein gehauen +vor seinem Prinzipale gestanden, nur das Zittern seiner Glieder verrieth +dass er lebe; jetzt aber brach er in die Knie, und zum ersten Mal +vielleicht mit dem vollen Bewusstsein der gegen ihn erhobenen Anklage -- +oder auch von Schuld und Angst zu Boden gedrueckt, denn wer konnte in den +stieren, ueberdies nicht geraden Augen und in den todtenbleichen, mit +grossen Schweissperlen bedeckten Zuegen das richtige lesen -- umfasste er die +Knie des alten Herrn und bat mit wild stotternder Stimme, aus der dieser +nur mit aeusserster Anstrengung einen Sinn herausfinden musste -- ihn nicht +ungluecklich zu machen -- Nichts so Schreckliches von ihm zu denken. + +"Ein aufrichtiges Gestaendniss, Lossenwerder," entgegnete darauf Herr +Dollinger, "ist das Einzige, was Deine Schuld jetzt noch in etwas +erleichtern kann. Das Gericht wird einen unbewachten Augenblick, dem die +Reue auf dem Fusse folgt, nicht so schwer strafen, wie den hartnaeckigen +Uebelthaeter. + +"A -- a -- a -- a -- a -- aber ich bi -- bi -- bin ni -- ni -- ni -- nicht schu -- +schu -- schu -- schuldig," -- stotterte der Unglueckliche -- "ich we -- we -- we +-- we -- weiss vo -- vo -- vo -- von Ni -- ni -- ni -- nichts -- " + +"Du weisst von Nichts, Lossenwerder?" sagte Herr Dollinger leise mit dem +Kopf schuettelnd -- "und woher ist das Geld das man bei Dir gefunden, woher +die Fuenfundzwanzig Thaler-Note, die Du locker in der Tasche getragen, und +die Dir der Polizeidiener gestern Abend noch herausgenommen hat?" + +"Ge -- spa -- pa -- pa -- pa -- partes Geld -- e -- e -- e -- e -- e -- ehrlich ge -- +ge -- gespartes G -- g -- g -- geld!" stammelte der arme Teufel. + +Herr Henkel stand jetzt auf und ging langsam auf Herr Dollinger zu, dem er +ein paar Worte in's Ohr fluesterte und dann, waehrend dieser leise und +traurig mit dem Kopf nickte, das Zimmer verliess. Lossenwerder aber, der ihm +aengstlich mit den Augen folgte und vielleicht in einer unbestimmten Ahnung +fuehlte dass man ihn fortfuehren -- in ein Gefaengniss bringen werde, ergriff +wieder und jetzt aber wie in Todesangst des alten Mannes Hand, und bat ihn +um Gottes -- um seiner Seligkeit willen, soweit es ihm die, jetzt in der +Aufregung nur noch mehr fehlende Sprache immer gestattete, dass er ihm nur +das nicht anthun -- dass er ihn in kein Gefaengniss moege fuehren lassen. Herr +Dollinger erklaerte aber natuerlich darin Nichts thun zu koennen, denn wenn +er Nichts gestehen wolle oder zu gestehen habe, so muesse allerdings das +Gericht, bei so stark vorliegendem Verdacht, die Untersuchung aufnehmen, +wonach sich bald seine Schuld oder Unschuld herausstellen wuerde. + +"Hab' ich aber einmal erst auf solchen Verdacht gesessen," stotterte der +Unglueckliche, "so bin ich gebrandmarkt mein Lebelang" -- + +Herr Dollinger zuckte die Achseln, und die Thuer oeffnete sich in diesem +Augenblick, den einen Polizeidiener zeigend, der Lossenwerder leise auf die +Achsel klopfte und freundlich sagte: + +"Wenn's gefaellig waere." + +Lossenwerder zuckte zusammen als ob er einen Schlag bekommen, und wandte +sich noch einmal, wie Huelfe suchend, an Herrn Dollinger, aber ein Blick +auf diesen ueberzeugte ihn, dass er schon nicht mehr helfen koenne, wo das +Gericht die Sache in die Hand genommen, und sein Gesicht in den Haenden +bergend, folgte er dem Gerichtsdiener fast willenlos hinaus. + +Gerade als er durch die Thuer schritt begegnete ihm, noch auf der Schwelle, +Frau Dollinger, und rasch bei Seite tretend, als ob sie selbst durch seine +Beruehrung angesteckt zu werden fuerchte, warf sie ihm einen zornigen, +veraechtlichen Blick zu und ging an ihm vorueber. + +Lossenwerder seufzte tief auf, sagte aber kein Wort, denn wie er den Kopf +hob, sah er am andern Ende des Vorsaals Clara mit dem jungen Henkel in +eifrigem Gespraech, und auch dort musste er vorbei. Das war zu viel und wie +unschluessig blieb er stehn und sah sich um, als ob er einen Weg zur Flucht +suche. + +"Na kommen Sie, Lossenwerder, machen Sie keine Dummheiten," sagte aber, ihm +ermunternd auf die Schulter klopfend, der Polizeidiener -- "es ist Alles +ein Uebergang, wie der Fuchs sagte, als sie ihm das Fell ueber die Ohren +zogen." + +Lossenwerder nahm sich zusammen und schritt festen Trittes an dem jungen +Maedchen vorueber, das ihn mitleidig betrachtete. + +"Etwas ueber zweihundert Thaler hat man schon bei ihm gefunden," fluesterte +der junge Henkel ihr leise zu -- "ich hoffe dass Vater Dollinger das andere +auch noch wieder bekommen soll." + +"Ach Lossenwerder, warum habt Ihr das gethan?" sagte Clara, leise und +mitleidig den Gefangenen ansehend, als er an ihr vorueberging. + +"U -- u -- u -- und Si -- si -- si -- si -- sie g -- g -- g -- glau -- ben d -- d -- +das a -- a -- a -- a -- auch?" rief Lossenwerder und die grossen hellen Thraenen +standen ihm dabei in den Augen, aber der Polizeidiener hatte sich schon +laenger mit ihm aufgehalten, als er meinte verantworten zu duerfen, nahm ihn +leise an der Hand und fuehrte ihn die Treppe hinunter. Lossenwerder folgte +ihm wie in einem Traum. + +Das Polizeigebaeude war nur hoechstens fuenfhundert Schritt von dort +entfernt, und stand an der andern Seite einer kleinen steinernen Bruecke +die ueber den, mitten durch die Stadt und haeufig ueberbrueckten kleinen Fluss +fuehrte. Als sie hinunter auf die Strasse kamen, liess der Polizeidiener +seinen Gefangenen los, kein Aufsehn zu erregen, und fluesterte ihm zu nur +ruhig neben ihm hinzugehn. Lossenwerder verstand ihn wohl gar nicht, denn +er sah verstoert zu ihm auf, und dann um sich her, und fand die Augen der +Voruebergehenden alle neugierig auf sich geheftet; sich aber doch, wenn +auch nur dunkel, des Zwanges bewusst der auf ihm lag, nahm er sein +Taschentuch heraus, trocknete sich die feuchte Stirn damit ab, und ging +mit krampfhaft zusammenengebissenen Zaehnen neben seinem Waechter her. So +erreichten sie die Bruecke, wo vier oder fuenf Jungen standen, die neugierig +die Ankommenden betrachteten; Lossenwerder's Blick schweifte ueber sie hin, +aber er sah sie nicht, bis er dicht bei ihnen war und einer derselben +spottend rief: + +"Hoho, hoho -- Stotterberg hat gestohlen, Stotterberg hat gestohlen!" + +Die Anderen stimmten lachend mit in den Ruf ein, und der Polizeidiener +drehte sich aergerlich und drohend gegen die Buben um, die scheu +auseinander stoben; Lossenwerder aber fuhr sich mit beiden Haenden +krampfhaft gegen die Stirn -- "hat gestohlen!" schrie er dabei, ohne zu +stottern, mit gellendem wilden Schrei, und ehe sein Waechter es verhindern +konnte, ja nur eine Ahnung davon hatte, warf er sich mit einem +verzweifelten Sprung, ueber die niedere Ballustrade hin in den unten +vorbeilaufenden Strom. Noch ueber dem Gelaender erfasste ihn der +Polizeidiener an einem Rockzipfel, das Gewicht des niederfallenden Koerpers +war aber zu gross, als dass er es mit einer Hand haette aufhalten koennen, ja +er musste sogar loslassen, nicht selber das Gleichgewicht zu verlieren, und +der Unglueckliche schlug gleich darauf auf das Wasser, unter dessen +Oberflaeche er im naechsten Augenblick verschwand. + +Der Fluss war indess hier weder breit noch tief, und auf der ziemlich +belebten Strasse fanden sich gleich mehre Leute, die unterhalb der Bruecke +in's Wasser sprangen, das ihnen etwa bis unter die Arme reichte, den +niedertreibenden Koerper aufzufangen. Sie hatten ihn auch bald erreicht und +gefasst, und von kraeftigen Armen wurde derselbe an die Oberflaeche gehoben +und zum Ufer gezogen. Wenn ihm jedoch auch das Wasser selber noch nichts +geschadet hatte, war der Unglueckliche doch durch den Sturz, in dem er +wahrscheinlich durch das Zurueckhalten seines Rockes gegen einen der +Brueckenpfeiler geworfen worden, schwer am Kopf verletzt -- die Wunde +blutete stark, und die Maenner trugen den Bewusstlosen zuerst auf die +Polizei, und von dort, auf den Ausspruch eines rasch herbeigerufenen +Arztes, in die Charite. + + + + + + Capitel 5. + + + DIE AUSWANDERUNGS-AGENTUR. + + +Am Marktplatz zu Heilingen, und an der Ecke eines kleinen, auf diesen +auslaufenden Gaesschens, stand ein ziemlich grosses, gruen gemaltes und gewiss +sehr altes Erkerhaus, dessen Giebel und Stuetzbalken geschnitzt, und mit +wunderlichen Koepfen und Gesichtern verziert, und braun angestrichen waren, +und sich so weit dabei nach vorn ueberneigten, dass es ordentlich aussah, +als ob der ganze Bau mit dem spitzen, wettergrauen Dach naechstens einmal +ohne weitere Meldung nach vorn ueber, und gerade mitten zwischen die Toepfer +und Fleischer hineinspringen wuerde, die an Markttagen dort unten ihre +Waare feil hielten. + +Nichtsdestoweniger wurde es noch immer, bis fast unter das Dach hinauf +bewohnt, und der untere Theil desselben ganz besonders zu kleinen +Waarenstaenden und Laeden benutzt. Die Ecke desselben nun, hatte seit langen +Jahren ein Kaufmann oder Kraemer in Besitz, der sich zu seinen +Materialwaaren, Kaffee, Zucker, Tabak, Lichten, Gruetze &c. auch noch in +der letzten Zeit die Agentur mehrer Bremer und Hamburger Schiffsmakler zu +verschaffen gewusst, und damit bald in einer Zeit, wo die Auswanderungslust +so ueberhand nahm, solch brillante Geschaefte machte, dass er die +Materialwaarenhandlung seiner Frau, wie seinem aeltesten Sohn uebertrug, und +fuer sich selber nur ein kleines Stuebchen, ebenfalls nach dem Markt hinaus, +behielt, ueber dessen Thuere ein riesiges, sehr buntgemaltes Schild jetzt +prangte. Dies Schild verdient uebrigens mit einigen Worten beschrieben zu +werden, da die Heilinger in den ersten Tagen -- als es eben erst +aufgehangen worden -- in wirklichen Schaaren davor stehen blieben und es +anstaunten. + +Es war ein breites, laenglich viereckiges Gemaelde, ein grosses, dreimastiges +Schiff vorstellend, wie es sich unter vollen Segeln der fremden, ersehnten +Kueste naeherte. Die See selber war hellgruen gemalt, mit einer Unmasse von +sichtbar darin herumschwimmenden Fischen, die den Beschauer wirklich etwas +besorgt um die Sicherheit des Fahrzeugs selber machen konnten. Dessen +wackerer Kiel schaeumte aber mitten hindurch, und der, dem Anschein nach +vollkommen runde, nur nach hinten zu etwas laenglich auslaufende Rumpf, +presste eine grosse gruen und weiss gestreifte Welle vorne auf, die sich wie +eine breite Falte quer vor seinen Bug legte. Die Segel standen dazu fast +ein wenig zu sackartig, und nur an den vier Zipfeln festgehalten, stramm +und steif von den Raaen ab, und die langen blutrothen Wimpel mit roth und +weisser Bremer Flagge hinten an der Gaffel, stroemten und flatterten lustig +nach hinten aus, wahrscheinlich den raschen Durchgang des Schiffes durch +das Wasser anzuzeigen, das derart, durch den Wind getrieben, selbst diesen +ueberfluegelte. Ueber Deck war aber auch die Mannschaft, und Kopf an Kopf +eine volle Reihe bunter Passagiere sichtbar, mit sehr dicken rothen +Gesichtern, die Gesundheit an Bord des Schiffes bestaetigend, und mit sehr +hellgelben und sehr breitraendigen, rothbebaenderten Strohhueten auf, waehrend +hinten auf Deck der Capitain des Schiffes mit einem dreieckigen Hut, wie +einem Fernglas in der einen und einem Dreizack in der andern Hand stand. +Was der Maler mit dem Dreizack andeuten wollte weiss nur er und Gott; er +muesste denn gemeint haben dass der Capitain, wie frueher Neptun, das Meer +beherrsche. Uebrigens war es auch moeglich dass er fischen wolle, und sich +mit dem Fernrohr nur eben den staerksten und fettesten der ihn reichlich +umschwimmenden Fische ausgesucht habe. + +Den Hintergrund dieses prachtvollen Seestuecks bildete ein schmaler +Streifen mit einzelnen Palmen bedeckter Kueste, an der eine Anzahl +pechschwarzer, nackter Maenner standen, die nur einen gelb und blauen +Schurz um die Huefte und einen gruenen Busch in der Hand trugen. -- Diese +sahen uebrigens gerade so aus, als ob sie die Ankunft des Schiffes schon +sehnsuechtig und vielleicht sehr lange Zeit erhofft haetten, und nun die +Zeit nicht erwarten koennten dass die Fremden an Land stiegen, damit sie +geschwind fuer sie arbeiten, und ihnen den Boden urbar machen duerften. + +Neben dem Bild, und zu beiden Seiten der Thuer, wie sogar noch an dem +innern Theile des Fensterschalters, hingen lange Listen der verschiedenen +anzupreisenden Plaetze fuer Auswanderung. Obenan New-York, Philadelphia und +Boston, dann Quebeck und New-Orleans, Galveston; in Brasilien, Rio de +Janeiro und Rio Grande; in Australien Adelaide, dann Chile, Valdivia und +Valparaiso, und Buenos Ayres mit einer Menge neu entdeckter verschiedener +Kolonien und Ansiedlungen, wohin ueberall die besten kupferfesten Schiffe +A, in unglaublich kurzer Zeit und mit Allem versehen ausliefen, was dem +gluecklichen Passagier das Leben an Bord eines solchen Schiffes nur in der +That zu einer Vergnuegungsfahrt machen muesse und wuerde. + +Weigel, wie der Eigentuemer dieser "auslaendischen Versorgungsanstalt" (ein +Spottname den die Heilinger der Weigelschen Agentur gaben) hiess, war ein +dicker, vollgenaehrt und bluehend aussehender Mann, ungefaehr sechs bis +achtunddreissig Jahr alt, mit ein wenig fest umgeschnuerter Cravatte, was +seinen Augen etwas Stieres gab, und sonst einem leisen Anflug von Grau in +den sonst braunen, widerspenstigen Haaren. Die Augen waren gross, blau und +ziemlich ausdruckslos; ein fast mitleidiges Laecheln aber, das oft, und +besonders dann wenn er irgend Jemandes Meinung bestritt, um seine +Mundwinkel spielte, gab dem Ausdruck seiner Zuege jene scheinbare +Ueberlegenheit, die sich zuversichtliche Menschen oft ueber Andere, wenn +mann es ihnen gestattet, anzumassen wissen. Ganz vorzueglich wusste er diese +Miene anzunehmen, wenn er ueber Amerika, oder irgend einen ueberseeischen +Fleck Landes sprach, ueber dem fuer ihn ein gewisser heiliger und +unantastbarer Zauber schwamm, und Jemand dann irgend einen Zweifel gegen +das Gesagte zu hegen wagte. Er schwaermte besonders fuer Amerika, und es gab +deshalb auch, seiner Aussage nach, keinen groesseren Luegner in der Stadt, +als den Redacteur des Tageblatts, den Advokaten und Doctor Hayde in +Heilingen. Dieser und er waren denn auch, wie das sich leicht denken laesst, +grimme und erbitterte Feinde und Gegner, woselbst sich nur irgend eine +Gelegenheit dazu fand. + +Weigel bekam, wie das gewoehnlich bei den Agenturen der Schiffsbefoerderung +ueblich und der Fall ist, fuer jede Person die er einem Bremer oder +Hamburger Rheder sicher an Bord lieferte, einen Thaler, kurzweg genannt +"fuer den Kopf" und er theilte deshalb die Leute -- seine Mitbuerger sowohl +wie saemmtliche uebrige Bewohner Deutschland's, in solche ein "die Energie +hatten," d. h. zu ihm kamen und sich bei ihm einen "Platz nach Amerika" +besorgen liessen, wo sie nachher drueben selber sehn konnten wie sie fertig +wurden, und in solche, die "im alten Schlendrian hinkrochen, und hier +lieber verfaulten, ehe sie einen maennlichen entscheidenden Schritt thaten, +ihrer Existenz auf die Beine zu helfen." Jeder der hier blieb betrog ihn +aber wissentlich und mit kaltem Blut um seinen, ihm in ehrlichem Verdienst +zustehenden Thaler, und es verstand sich von selbst, dass er vor einem +solchen Menschen keine Achtung haben konnte. + +Er selber kannte die Verhaeltnisse Amerika's nur aus Buechern die das Land +lobten, denn andere las er gar nicht, und bekam er sie einmal zufaellig in +die Hand, so warf er sie auch gewiss mit einem Kernfluch ueber den +"nichtswuerdigen Literaten, der wieder einmal einen ganzen Band voll Luegen +zusammengeschmiert" in die Ecke. Sein groesster Aerger war aber jedenfalls -- +und so regelmaessig wie die Uhr Morgens acht schlug -- das Tageblatt, das er +der haeufigen Annoncen wegen halten _musste_, und das ebenso regelmaessig +kleine gehaessige und schmutzige Artikel gegen Amerika wie ueberhaupt gegen +Alles brachte, was sich frei und selbststaendig bewegte. + +Zehnmal hatte er sich schon vorgenommen den "kleinen erbaermlichen Doctor" +zu pruegeln, und sehr vielen Leuten wuerde er dadurch ein grosses Vergnuegen +bereitet haben; aber er unterliess es doch jedesmal auch wieder, wenn sich +ihm gleich oft genug die Gelegenheit dazu bot; Beide mussten jedenfalls +schon einmal frueher etwas mit einander gehabt haben, vielleicht mehr von +einander wissen als Beiden zutraeglich war, und ein solcher Bruch waere da +nicht raethlich gewesen. + +Sonst lebte Weigel still, und anscheinend als ein vollkommen guter und +achtbarer Buerger, vor sich hin, aber im Stillen wirkte und wuehlte er +seinem Ziel entgegen, und richtete in der That viel Unheil an. Seine +Beschreibungen Amerika's, die er sich selber in kleinen Brochueren aus +anderen Buechern zusammentrug, und um ein Billiges verkaufte, waren ein +langsames Gift, das er in manche friedliche und glueckliche Familie warf, +ein Saatkorn das dort wucherte und Wurzel schlug, und waehrend es die Leser +anreizte nur gleich ohne weiteres ihr Buendel zu schnueren und jenen +herrlichen Laenderstrichen zuzueilen, wo von da an ihr Leben nur einem +murmelnden Bache gleichen wuerde, der zwischen Blumen dahin fliesst, fuellte +er ihre Koepfe mit falschen Ideen und Begriffen von dem Land, das ihre neue +Heimath werden sollte, und machte viele, viele Menschen ungluecklich. In +der neuen Heimath dann angekommen, die ihnen, mit maessigen Anspruechen, +wirklich Manches geboten haben wuerde was ihre Lage, im Vergleich mit dem +alten Vaterland gebessert haben koennte, fanden sie sich jetzt ploetzlich in +all den wilden extravaganten Ideen, die sie durch solche Lectuere +eingesogen, enttaeuscht, fanden die Hoffnungen nicht realisirt, die man +ihnen gemacht, hielten sich fuer schlecht behandelt und ungluecklich, und +verfielen nun oft in das Extrem trostloser und eben so unbegruendeter +Verzweiflung, wobei sie den Mann verwuenschten, der sie hierverlockt, und +sie verleitet hatte, Heimath und eigenen Heerd zu verlassen, einem Phantom +zu folgen. Weigel aber hatte seinen Thaler fuer den richtig abgelieferten +"Kopf" bekommen, und dachte schon gar nicht mehr an die frueher +Befoerderten, die seiner Meinung nach jetzt in einem Meer von Behagen +schwammen und "unter Palmen wandelten." + +Herr Weigel war allein in seinem kleinen Bureau, einem niederen, etwas +dumpfen und nicht ueberhellen Stuebchen, dessen eines breites Fenster mit +durch Zeit und Rauch arg mitgenommenen Gardinen verziert war, waehrend die +Waende durch Karten und statistische Tabellen-Anzeigen von Schiffen und +Gasthaeusern, Plaenen von neuangelegten Staedten oder zu verkaufenden Farmen +fast voellig bedeckt hingen. Er sass an einem hohen, ziemlich breiten Pult, +das einen maechtigen Kamm von Gefachen und Schiebladen trug und las, mit +einer Tasse Kaffee neben sich, eben seinen taeglichen Aerger, das +Tageblatt, als es an die Thuer klopfte, und auf sein lautes "Herein" ein +junger, sehr anstaendig, aber trotzdem etwas aermlich gekleideter Mann das +Zimmer betrat. + +"Herr Weigel?" sagte der Fremde mit einer leichten Verbeugung. + +"Bitte -- ja wohl," sagte Herr Weigel, seine Brille rasch in die Hoehe +schiebend und auf seinem Drehstuhl herumfahrend, seinen Besuch besser in's +Auge zu fassen -- "womit kann ich Ihnen dienen?" + +"Sie befoerdern Passagiere nach Amerika?" + +"Nach Amerika? -- denke so, hehehe," lachte Herr Weigel, sich vergnuegt die +Haend reibend, "habe schon ganze Colonien hinueber geschafft, Maenner und +Frauen, Weiber und Kinder; sitzen jetzt drueben in der Wolle und schreiben +einen Brief ueber den andern an mich, wie gut es ihnen geht -- da nur den +einen hier, den ich vor ein paar Tagen bekommen habe -- der Mann ist blos +mit zwei tausend Dollarn hinuebergegangen und hat schon eine eigene Farm, +achtzig Acker Land, vierundzwanzig Stueck Rindvieh, einige sechzig +Schweine, fuenf Pferde und will jetzt eine Schaeferei anlegen -- schreibt an +mich ich soll ihm einen Schaefer hinueber schicken, aber einen der die Sache +aus dem Grund versteht, kommt ihm auf ein paar Dollar Lohn nicht dabei an +-- bitte lesen Sie einmal den Brief." + +"Sie sind sehr freundlich Herr Weigel," sagte der junge Fremde mit einem +verlegenen wie schmerzhaften Zug um den Mund -- "aber der Brief wuerde +gerade nicht massgebend fuer mich sein, da ich mich gegenwaertig nicht in den +Verhaeltnissen befinde, gleich einen Platz zu _kaufen_. Sind die +Passagierpreise jetzt theuer?" + +"Theuer? spottbillig," lachte Herr Weigel, den Brief offen wieder zurueck +auf sein Pult, und seine Brille darauf legend, ihn zu weiterem Gebrauch +bereit zu haben; "spottbillig sag' ich Ihnen, man koennte wahrhaftig auf +dem festen Land nicht einmal dafuer leben -- _so_ nicht; und unter uns -- ich +weiss wahrhaftig nicht wie die Leute dabei auskommen, aber es muss eben die +rasende _Menge_ von Passagieren machen, die sie jetzt woechentlich, ja fast +taeglich hinueber spediren. Es ist fabelhaft was jetzt fuer Menschen +auswandern; auf einmal werden sie Alle gescheidt, und merken endlich was +sie hier haben, und was sie dort erwartet -- ist doch ein famoses Land, das +Amerika." + +Und wie viel betraegt die Passage nach dem _naechsten_ Hafen der Vereinigten +Staaten, wenn ich fragen darf, fuer -- fuer eine erwachsene Person und ein +Kind?" + +"_Naechsten_ Hafen? -- hehehe, fuerchten sich wohl vor der Seekrankheit? +lieber Gott, daran gewoehnt man sich bald; ist auch gar nicht so arg wie's +eigentlich gemacht wird. Der Mensch, der Doctor Hayde hier im Tageblatt, +hat neulich einen Artikel ueber die Seekrankheit gebracht den er +wahrscheinlich auch selber geschrieben, und wonach Einem gleich ach und +weh zu Muthe werden muesste; der ist aber nur dazu bezweckt den Leuten das +Auswandern zu verleiden. Sie moechten sie gern hier behalten, damit sie sie +nur recht ordentlich plagen und schinden koennen, weiter Nichts; davor +braucht sich kein Mensch zu fuerchten." + +"Sie wollten mir aber den _Preis_ der Passage nennen." + +"Den Preis? -- ja so -- warten Sie einmal" -- sein Blick fiel auf die +Glacehandschuhe und die schneeweisse Waesche des Fremden, dessen etwas +abgetragene Kleider er in dem halbdunklen Raum nicht so leicht erkennen +konnte, oder auch uebersah -- "der Preis -- Dampfschiff oder Segelschiff?" + +"Segelschiff." + +"Segelschiff -- wird -- sein -- Preis in erster Cajuete vier und achtzig +Thaler Gold." + +"Und die -- die billigeren Plaetze?" + +"Billigeren Plaetze -- zweite Cajuete oder Steerage fuenfundsechzig Thaler +Gold -- " + +"Und Zwischendeck?" sagte der Fremde leise und verlegen. + +"Zwischendeck wuerde ich Ihnen nicht rathen," meinte Herr Weigel, seine +Brille jetzt abwischend und wieder aufsetzend; "besonders wenn man eine +Frau und ein Kind bei sich hat und es nur irgend ermachen kann, sollte man +nie Zwischendeck gehn, man ruinirt sich's und den Seinigen an der +Gesundheit herunter, was die paar Thaler mehr kosten." + +"Aber Sie koennen mir wohl den Preis des Zwischendecks sagen?" + +"Ja wohl, mit dem groessten Vergnuegen -- Zwischendeck nach New-York kostet -- +warten Sie einmal, ich habe ja hier die letzten Briefe von meinen Haeusern. +Zwischendeck nach New-York kostet vierundvierzig Thaler Gold." + +"Vierundvierzig Thaler?" + +"Ja es ist seit ein paar Tagen erst wieder um vier Thaler aufgeschlagen, +weil die Leute eben nicht Schiffe genug anschaffen koennen fuer die +Auswanderer. Ist fabelhaft was besonders dieses Jahr fuer Leute +uebersiedeln. Soll ich Sie vielleicht einschreiben? es trifft sich jetzt +gerade gluecklich, denn am 15ten geht ein ganz vortreffliches Schiff ab, +die _Diana_, Dreimaster, gut gekupfert, mit allen nur moeglichen +Bequemlichkeiten versehn und einem Capitain, ich sage Ihnen ein wahrer +Schentelmann, wie er sich gerade nicht immer auf den Schiffen findet." + +"Ich danke Ihnen fuer jetzt noch bestens, lieber Herr Weigel," sagte der +junge Mann -- "ich muss doch nun erst mit meiner Frau Ruecksprache ueber diess +nehmen, denn erst seit gestern ist mir die Idee ueberhaupt gekommen +auszuwandern; aber -- noch eine Bitte haette ich an Sie," und er drehte +dabei den Hut den er in der Hand hielt, fast wie verlegen zwischen den +Fingern -- " + +"Ja? womit koennte ich Ihnen dienen?" frug Herr Weigel. + +"Koennten Sie mir wohl sagen, ob die Capitaine der Segelschiffe -- ich habe +einmal irgendwo gelesen dass das manchmal geschaehe -- auch Leute -- +Passagiere mitnaehmen, die unterwegs ihre Passage -- abarbeiten duerften und +also -- auch keine Ueberfahrt zu bezahlen brauchten?" + +"Keine Passage zahlen?" sagte Herr Weigel, die Lippen vordrueckend und die +Augenbrauen in die Hoehe ziehend, waehrend er langsam und halb laechelnd mit +dem Kopfe schuettelte -- "keine Passage bezahlen? -- ne lieber Herr -- ja so +wie heissen Sie denn gleich -- " + +"Eltrich," sagte der junge Mann etwas zoegernd -- + +"So? -- ne mein lieber Herr Eltrich, davon steht Nichts in unseren +Verzeichnissen und Contracten; im Gegentheil, _da_ kommen wir zusammen; +das ist der Hauptpunkt, der Nervum Rehrum, der die ganze Geschichte +eigentlich zusammenhaelt, Amerika und Europa und die umliegenden +Dorfschaften, heh, heh, heh." + +"Aber wenn nun irgend ein armer Teufel," fuhr der Fremde etwas lauter, +fast wie aengstlich fort -- "irgend ein armer Teufel sein ganzes Hoffen eben +auf eine Reise nach Amerika gesetzt haette, und bestimmt wuesste dass er dort, +wenn auch nicht gerade sein Glueck machen, doch sein Auskommen finden +wuerde? -- " + +"Nun dann soll er gehn -- um Gottes Willen gehn, und am 15ten dieses wird +wieder das neue, kupferfeste -- ja so, aber er muss bezahlen," unterbrach er +sich rasch als ihm einfiel von was sie vor erst wenigen Secunden +gesprochen, "er muss bezahlen, sonst nimmt ihn kein Capitain der Welt mit +ueber See." + +"Und Sie glauben nicht dass da jemals eine Ausnahme stattfinden duerfte?" +sagte Herr Eltrich -- "es werden doch Leute auf See gebraucht zu den +nothwendigsten sowohl, wie den geringeren Arbeiten, und die Capitaine +muessen gewiss dafuer _bezahlen_. Wenn sich also nun Jemand erboete alle diese +Verrichtungen ganz _umsonst_, nur um Passage und die einfachste +Matrosenkost zu machen, sollte das nicht moeglich sein zu erlangen?" + +"Lieber Herr," sagte der Herr Weigel, dem es jetzt so vorkommen mochte als +ob er mit dem Fremden da kein besonders grosses Geschaeft machen wuerde, und +der anfing ungeduldig zu werden, "zu den Arbeiten an Bord eines Schiffes +werden _Matrosen_ gebraucht, und wer kein Matrose ist, kann die auch nicht +verrichten. Das ist keine kleine Kunst, lieber Herr Schelbig, in den Tauen +den ganzen Tag herumzuklettern und zwischen den Segeln, wenn das Schiff +bald so herueberschlenkert und bald so" -- und er begleitete dabei seine +Erklaerung mit einer entsprechenden Bewegung der vor sich gerade +aufgehaltenen Hand -- "da muessen die Leute fest stehen koennen wie die +Mauern, sonst kann man sie nicht gebrauchen." + +"Aber glauben Sie nicht, wenn man einmal an einen Capitain schriebe, ob er +sich doch nicht am Ende bewegen liess; oder" -- setzte er rasch hinzu, wie +von einem ploetzlichen Gedanken ergriffen, "wenn man sich nun verbindlich +machte die Passage nach einer bestimmten Zeit in Amerika nachzuzahlen -- +sie dort abzuverdienen?" + +"Ja da koennte Jeder kommen," sagte Herr Weigel kopfschuettelnd, "wenn die +Leute erst einmal drueben sind, thun sie was sie wollen. Das ist ein freies +Land da drueben, Herr Wellrich, und da koennte man nachher jedem Einzelnen +nachlaufen, und sehen dass man sein Geld wieder kriegte. Ne, damit ist's +faul, und ich nun einmal vor allen Dingen, moechte mich nicht auf solch +eine Quaengelei einlassen; daran hat man keine Freude, und das ist auch +kein rundes Geschaeft." + +"Es ist nur ein armer Verwandter, der sich auf solche Weise gern +forthelfen wuerde," sagte Herr Eltrich erroethend -- "er ist sehr fleissig und +wuerde arbeiten wie ein Sclave, die Zeit ueber." + +"Ja das glaub' ich," meinte Herr Weigel gleichgueltig -- "versprechen thun +die Art Herren gewoehnlich Alles was man von ihnen haben will." + +"Koennten Sie mir denn vielleicht die Adresse irgend eines Schiffes oder +Rheders geben, der bald ein Schiff hinueberschickt," sagte der junge +Fremde, sich schon wieder zum Gehen ruestend -- "wenn ich vielleicht selber +einmal dorthin schriebe, um Sie nicht weiter mit der Sache zu belaestigen." + +"Ja, schreiben koennen Sie," sagte Herr Weigel, "hehehe; aber Sie werden +keine Antwort bekommen; darauf koennen Sie sich verlassen. Die Leute da +haben mehr zu thun, als sich eines Passagiers wegen, fuer den sie noch +umsonst die Kost hergeben muessten, in eine Correspondenz einzulassen; kann +ich ihnen auch gar nicht so sehr verdenken." + +"Und die Adresse?" + +"Die Adresse? -- da, hier liegt die neueste Auswanderer-Zeitung; wenn Sie +wollen, koennen Sie sich da ein oder zwei Adressen herausschreiben. Da +hinten, auf der letzten Seite stehen sie." + +Herr Weigel sah nach der Uhr, drehte sich wieder auf seinem Drehstuhl, der +beim Aufschrauben etwas quietschte, herum, schob das Tageblatt zur Seite +und rueckte sich einen Bogen Papier zurecht, als ob er irgend einen +nothwendigen Brief zu schreiben haette. + +Wieder klopfte es da an die Thuer, und diessmal, ohne ein ermunterndes +"Herein" zu erwarten, oeffnete sie sich, und drei Bauern, denen die grossen +silbernen Knoepfe auf Weste und Rock und das feine Tuch der letzteren, die +jedoch ganz nach ihrem alten baeurischen Schnitt gemacht waren, etwas +ungemein solides gaben, traten, die Huete erst unter der Thuer und schon im +Zimmer abziehend, herein, und gruessten die beiden Leute die sie hier +beisammen fanden, mit einem herzlichen "Guten Morgen miteinander." + +Das waren die Leute die Herr Weigel gern kommen sah, die wussten wesshalb +sie die eine Hand immer in der Tasche trugen, denn sie hatten dort etwas +zu verlieren, und waren nicht selten dabei die Vorboten eines groessern +Trupps, oft einer ganzen "Schiffsladung voll" die aus ein und derselben +Gegend auswandern wollte, und ein paar der Angesehensten indess +vorausgeschickt hatte, Platz fuer sie zu bestellen. Wie der Blitz war er +denn auch von seinem Stuhle herunter, schuettelte ihnen nacheinander die +Hand, und frug sie wie es ihnen ginge und was sie hier zu ihm gefuehrt. + +"Seid Ihr der Mensch der die Leute nach Amerika schickt?" sagte da der +Eine von ihnen, eine breitkraeftige, sonngebraeunte Gestalt mit vollkommen +lichtblonden Haaren und Augenbrauen, aber dabei gutmuethigen vollen und +frischen Zuegen, dem das Ganze uebrigens etwas fremd und unheimlich +vorkommen mochte, denn er warf den Blick waehrend er sprach wie scheu von +einer der Schiffszeichnungen zur anderen, und schien sich ordentlich dazu +zwingen zu muessen das zu sagen, was er eben hier zu sagen hatte. + +"Nun nach Amerika _schicken_ thu' ich sie gerade nicht," laechelte Herr +Weigel, die Anderen dabei ansehend, und etwas verlegen ueber die vielleicht +ein wenig plumpe Anrede. + +"Nicht?" sagte der Bauer rasch und erstaunt -- "aber hier haengen doch all +die vielen Schiffe." + +"Nun ja, ich besorge den Leuten Schiffsgelegenheit die hinueber _wollen_," +sagte Herr Weigel, jetzt geradezu herauslachend, weil er glaubte dass sich +der Mann mit ihm einen Scherz gemacht, auf den er natuerlich einzugehen +wuenschte." + +"Ja aber wir _wollen_ eigentlich noch nicht hinueber," sagte der zweite von +den Bauern, seinen Hut auf seinen langen Stock stellend, und sich dabei +verlegen hinter den Ohren kratzend -- "wir wollten uns nur erst einmal hier +erkundigen ob denn das auch wirklich da drueben so ist, wie es jetzt immer +in den Auswanderungszeitungen steht, und ob man blos hinueberzugehn und +zuzulangen braucht, wenn man eine gut eingerichtete Farm mit ein paar +hundert Morgen Land haben will." + +"Ja wenn man Geld hat," lachte Herr Weigel. + +"I nu -- Geld haetten wir," sagte der Bauer, und sah seine Nachbarn an. + +"Ich bin Ihnen sehr dankbar," unterbrach den Sprecher hier der junge Mann, +der indessen die Zeitung nachgesehn, und sich Einzelnes daraus notirt +hatte. "Bitte," sagte Herr Weigel, und nahm ihm das Blatt, ohne sich +weiter um ihn zu bekuemmern, aus der Hand, und wandte sich wieder zu den +Bauern, als der junge Fremde sich mit einem artigen: + +"Guten Morgen meine Herren" empfahl. + +"Adje Herr -- Herr Schnellig," rief der Agent ziemlich laut hinter ihm her, +ohne sich weiter nach ihm umzudrehen, waehrend die Bauern freundlich den +Gruss in ihrer Art erwiederten. + +"Wer war der junge Herr?" frug der erste Sprecher aber, als er die Thuer +rasch hinter sich in's Schloss gedrueckt. + +"Ach, ein armer Teufel, der gern mit umsonst nach Amerika hinueber moechte," +sagte Herr Weigel -- "er thut zwar als waer' es nur fuer einen armen +Verwandten, aber, hehehe, derlei Ausreden kennen wir schon -- kommen alle +Wochen vor." + +"Umsonst mit nach Amerika?" sagte der erste Sprecher verwundert, "_der_ +sieht doch nicht aus als ob er etwas umsonst haben wollte, der ging ja +_so_ fein gekleidet; Donnerwetter -- mit Handschuhen und allem -- " + +"Ja auswendig sind die Leute in der Stadt meist alle schwarz und sauber +angestrichen," lachte Herr Weigel, "aber inwendig, in den Taschen, da +hapert's nachher. Wer aber ein Bischen Uebung darin hat, kann auch schon +oben auf erkennen, ob der Lack aecht, oder blos nachgemacht ist, hehehe." + +"Bei dem war er wohl nachgemacht?" sagte der zweite Bauer, dem Anschein +nach gerade nicht unzufrieden damit, dass der "glatte Stadtmensch" nicht so +viel galt wie sie, und dass der Auswanderungsmann das sogleich durchschaut +hatte. Herr Weigel nickte, seine Zeit war ihm aber kostbarer, als sie noch +laenger an Jemanden zu verschwenden, bei dem er doch voraussah, dass er von +ihm keinen Nutzen haben wuerde, und er suchte das Gespraech wieder dem mehr +praktischen Anliegen der drei Bauern zuzulenken. + +"Also Sie wollten mitsammen nach Amerika gehn und sich eine ordentliche +Farm, gleich mit Land, Vieh, Haeusern und was dazu gehoert, ankaufen heh? -- +'waer keine so schlechte Idee." + +"Ja erst moechten wir aber einmal wissen wie die Sache steht;" sagte der +Erste wieder, der Menzel hiess, "wenn man ueber einen Zaun springen will, +ist es viel vernuenftiger dass man erst einmal hinueber guckt was drueben ist, +und wenn man das nicht kann, dass man Jemanden fragt der es genau weiss. +Sind denn die Farmen da drueben wirklich so billig? -- ist das wahr, dass man +dort noch gutes frisches Land fuer ein und einen Viertel Thaler kaufen +kann?" + +"Thaler? -- nein," sagte Herr Weigel, "_Dollar_." "Ja nun, das ist aber +auch nicht viel mehr," meinte der Zweite, Mueller. + +"Nun ein Dollar ist ungefaehr ein Speciesthaler," sagte Herr Weigel -- +"lassen Sie mich einmal sehn -- die stehn jetzt -- stehn jetzt 1 Thlr. 121/2 +Silber- oder Neugroschen." + +"Nu ja," sagte Menzel wieder, "das ist aber immer kein Geld -- und fuer +tausend Dollar kauft man da eine fix und fertig eingerichtete Farm, wie +sie's glaub' ich nennen? mit Allem was dazu gehoert?" + +"Ich habe hier gerade," sagte Herr Weigel in seinen Papieren suchend, "ein +paar Anerbietungen von hoechst achtbaren Leuten -- wirklichen Amerikanern -- +die mir Farmen zu hoechst maessigen Bedingungen offeriren. -- Die Leute wissen +da drueben dass hier Viele zu mir kommen und sich nach solchen Plaetzen +erkundigen, und wenn sie dann 'was Gutes haben, schicken sie's mir. -- Wo +hab' ich denn die verwuenschten Plaene jetzt hingelegt -- ah, hier ist der +eine -- sehn Sie, Gebaeude und Alles sind darauf angegeben -- und der andere +kann nun auch nicht weit sein; ich habe sie erst vorgestern meinem Bruder +gezeigt, der gar nicht uebel Lust hatte eine davon fuer sich zu kaufen -- da +ist er." + +Die drei Bauern draengten sich um den kleinen Tisch herum auf dem Herr +Weigel die Plaene jetzt ausbreitete, und suchten sich in den kreuz und quer +laufenden Strichen zu orientiren, wie der Platz eigentlich liege, und was +darauf staende. + +"Ja aber wo ist denn das nun eigentlich, und wie sieht's dort aus?" sagte +Menzel endlich, nach einigen vergeblichen Versuchen deshalb -- "aus der +Geschichte hier wird man nicht klug." + +"Ja sehn Sie," sagte Weigel, mit seinem Finger den Plan erklaerend, und den +angegebenen Zahlen folgend, "das hier, Nr. 1 ist das Wohnhaus, ein +Doppelgebaeude, der Zeichnung nach mit einer offenen Veranda dazwischen, +des warmen Klima's wegen, denn drum herum stehen "Baumwollenbaeume" +angegeben; Nr. 2 da ist ein anderes Gebaeude, bis jetzt zu Negerwohnungen +benutzt, denn der bisherige Besitzer scheint Sclaven gehalten zu haben; +Nr. 3 ist eine Scheune; Nr. 4 ist ein Rauchhaus, die Leute verschicken von +dort aus viel getrocknetes Fleisch; Nr. 5 ist, wie es scheint, ein +Waschhaus, und Nr. 6 ein anderes Wohnhaus, was dem ersten gegenuebersteht, +und wahrscheinlich den ganzen Hofraum, da die Front nach dem Flusse zu +liegt, abschliesst. + +"Und welcher Fluss ist das?" + +"Der Missouri, einer der groessten Stroeme Amerika's, ueber eine englische +Meile breit, und viel hundert Meilen hinauf schiffbar; alle Wetter meine +Herren, von den dortigen Stroemen koennen wir uns hier gar keinen Begriff +machen." + +"Hm -- und wieviel Land gehoert dazu?" + +"Dazu gehoert ein "Died" von 40 Acker, was frueher als Congressland gekauft +und schon bezahlt ist, und natuerlich mit uebernommen wird, und um den Platz +herum kann noch so viel Congressland dazu genommen werden, wie man haben +will -- nur die vierzig Acker, von denen aber ein Theil schon urbar gemacht +ist, muessen natuerlich hoeher bezahlt werden." + +"Und was soll die ganze Geschichte kosten?" frug Mueller. -- Der dritte, +dessen Name Brauhede war, hatte noch kein einziges Wort zu der ganzen +Verhandlung gesagt. + +"Die ganze Geschichte," erwiederte Weigel, sich das Kinn streichend, "wie +ich sie Ihnen hier gleich an Ort und Stelle ueberlassen kann, mit Haeusern +und Grundstueck und dazu noch einem kleinen Viehstand von vielleicht +einigen achtzig Stueck Rindvieh, und fuenfundfunfzig oder sechzig Schweinen, +wuerde -- etwa -- ein tausend und einige sechzig spanische Dollar betragen -- +" + +"Und das waere nach unserem Geld?" sagte Menzel, Mueller dabei heimlich +unter dem Tisch anstossend -- " + +"Nach unserem Geld?" wiederholte Herr Weigel, mit einem Stueck dort +liegender Kreide die Summen rasch auf dem Tisch selber aufaddirend -- +"wuerde es in einer runden Zahl etwa 1000 -- 400 -- eine Kleinigkeit ueber +1400 Thlr. Preuss. Courant betragen." + +"Wieviel Stueck Rindvieh?" sagte Mueller. + +"Einige achtzig Stueck sind angegeben," sagte Weigel, "und muessen auch +ueberliefert werden; aber gewoehnlich sind es noch mehr, denn das Vieh laeuft +draussen im Freien herum und bekommt Kaelber und man weiss es oft nicht +einmal -- die Kaelber werden ueberhaupt nie mitgezaehlt." + +"Und die Passage hinueber kostet?" frug Menzel -- + +"Zwischendeck oder Cajuete?" + +"Zwischendeck -- immer wo's am Billigten ist," lachte Menzel, und strich +sich wohlgefaellig ueber die silbernen Knoepfe. + +"Ja, kann mir's denken," rief Herr Weigel, auf den Scherz eingehend, und +ihn leise gegen den Arm von sich stossend -- "Sie sehn mir auch gerade aus, +als ob's Ihnen auf ein paar Thaler ankaeme." + +"Ja, wo man's kann muss man's zusammennehmen," betheuerte aber auch Mueller +-- "also wieviel kostet's im Zwischendeck a Person?" + +"Vierundvierzig Thaler fuer die Person -- Kinder zahlen die Haelfte." + +"Aber ganz kleine Kinder?" sagte Mueller. + +"Nun Saeuglinge gehen ein," lachte Herr Weigel, "das ist die Beilage, die +doch auch nur vom Schiff aus indirecte Nahrung bekommen." + +"Leichten Zwieback?" frug Menzel. + +"Ja wohl," sagte Herr Weigel, etwas verlegen laechelnd, da er nicht wusste +ob der Bauer das im Spass oder Ernst gemeint -- "wie viel Personen sind Sie +denn aber wohl etwa?" + +"Nu, so eine sechzig moechten wir immer zusammen herausbekommen," meinte +Mueller -- + +"Aber Alle auf ein Schiff muesstet Ihr uns bringen," sagte Menzel. + +"Nun das versteht sich von selbst," rief Herr Weigel, und ein famoses +Schiff geht gerade den funfzehnten ab -- ich glaube das beste, das von +Bremen und Hamburg ueberhaupt laeuft -- die Diana." + +"Ne das waer' uns noch zu frueh -- " + +"Am ersten naechsten Monats geht ein noch besseres," sagte Herr Weigel -- +"wenigstens geraeumiger und ein besserer Segler." + +"Ne das waer' uns auch noch zu frueh," sagte Menzel. + +"Gut, dann traefen Sie es gerade ausgezeichnet mit dem Meteor," versicherte +Herr Weigel, keineswegs ausser Fassung gebracht; "ich wollte Ihnen den im +Anfang nicht anbieten, weil ich fuerchtete dass Sie frueher zu reisen +wuenschten, wenn Sie aber _so_ lange Zeit haben, dann kann ich Ihnen +allerdings die vorzueglichste Reisegelegenheit bieten, die sich nur +ueberhaupt denken laesst." + +"So -- na das passte schon besser -- " sagte Mueller -- "wie hiess das Schiff +gleich?" + +"Meteor." + +"Hm -- werd' es mir merken -- aber nicht wahr, beim _Dutzend_ kriegen wir +die Passage doch auch was billiger." + +"Ne, das geht nicht," lachte aber Herr Weigel da gerade heraus; "es ist ja +nicht so, dass ein Schiff nur eben so viel Menschen an Bord nehmen kann wie +darauf Platz haben, sondern es muss auch genug Raum, und ueber und ueber +genug Essen und Trinken fuer sie dabei sein, wenn einmal die Reise, in +einem ungluecklichen Fall laenger dauerte als gewoehnlich. So ein Schiff hat +deshalb auch nur eine bestimmte Zahl von Auswanderern, die es an Bord +nehmen kann, und nach Amerikanischen Gesetzen nehmen _darf_, und auf die +ist Alles mit Kosten und Preis ausgerechnet, auf's tz. Die kleinen Kinder +werden eingegeben, aber die grossen muessen bezahlen. Und wie war's mit der +Farm?" + +"Wo ist denn der andere Platz -- zu dem da der lange Zettel gehoert?" sagte +Menzel, der sich diesen indessen genau betrachtet, und nach allen Ecken +herum und herumgedreht hatte, ohne, wie er meinte, einen Handgriff dran +bekommen zu koennen. + +"Der hier? der ist in Wisconsin; auch ein guter Platz, aber kein so grosser +Strom dabei," sagte Herr Weigel -- "ist aber auch billiger. Dort kann ich +Ihnen eine Farm, allerdings nur mit einigen vierzig Kuehen, fuer etwa +siebenhundertundfunfzehn Dollar ueberlassen, und dann habe ich noch fuenf +andere von sechs, acht, elf, neun und ich glaube zwoelfhundert Dollar -- die +letztere ist aber eine wirkliche Musterwirthschaft mit importirtem +Schweizervieh, und Backsteingebaeuden, und einer prachtvollen Lage Milch +und Butter in die nicht zu entfernte Stadt zu bringen; wird Ihnen aber +auch freilich wohl zu theuer sein?" + +"Zu theuer? -- warum?" sagte Menzel -- "wenn man sich einmal etwas kauft, +soll man sich auch gleich 'was ordentliches anschaffen. Ich habe mir +uebrigens die Sache immer viel schwieriger vorgestellt mit dem Ankaufen, +und gedacht, dass man da erst lange in der Welt umher fahren und sein Geld +verreisen muesste. Wenn man das gleich hier an Ort und Stelle abmachen kann, +ist das ja weit bequemer." + +"Auf eins moechte ich Sie uebrigens noch aufmerksam machen, meine Herren, +was Sie ja nicht versaeumen duerfen," sagte Herr Weigel -- "naemlich sich hier +gleich Ihre Billets zur Weiterfahrt in's Innere, wohin Sie auch immer +wollen, zu loesen. + +"Von Neu-York aus?" sagte Menzel verwundert. + +"Ja wohl von Neu-York oder Philadelphia oder wohin Ihr Reiseziel liegt." + +"Ja aber kann man denn die _hier_ bekommen?" frug Mueller. + +"Gewiss kann man das," laechelte Herr Weigel, "und das ist gerade der +ungeheure Vortheil unserer jetzigen Verbindung, die den Auswanderer von +der Thuer seiner alten Heimath fort, vor die seiner neuen setzt, ohne dass +er ein einziges Mal in die Tasche zu greifen und mehr zu bezahlen braucht, +als was er gleich von allem Anfang entrichtet hat. Das eben macht auch das +Reisen jetzt so billig, dass man mit _einem_ Blick im Stande ist saemmtliche +Kosten zu uebersehn; die Extra-Ausgaben fallen ganz weg." + +"Das waere freilich ein Glueck," sagte Mueller, von dem erst vor einigen +Monaten ein Bruder "hinueber" gegangen war -- "die Extra-Ausgaben fressen +sonst das meiste Geld." + +"Ob sie's fressen, bester Herr, ob sie's fressen," sagte Herr Weigel, sich +wieder vergnuegt die Haende reibend. + +"Und wo kann man die Billete also bekommen?" frug Menzel. + +"Bei mir hier, versteht sich," sagte Herr Weigel -- "alle bei mir." + +"Und die gelten dann drueben?" + +"Nun versteht sich doch von selbst," lachte der freundliche Agent, "ich +wuerde sie ja Ihnen doch sonst nicht verkaufen. Sehn Sie, wenn die +Deutschen hinueber kommen, dann sprechen sie gewoehnlich noch kein Englisch +-- oder haben Sie das etwa schon gelernt?" + +"Ne -- " + +"Nun sehn Sie, und dann werden sie dort von ihren Landsleuten -- denn der +Amerikaner ist nicht halb so schlimm -- die sich das richtig zu Nutze zu +machen wissen, tuechtig ueber's Ohr gehauen, und muessen gewoehnlich gerade +noch einmal so viel bezahlen, als die Sachen eigentlich kosten. + +"Aber es soll doch eine "Deutsche Gesellschaft" drueben in Neu-York sein," +sagte jetzt Brauhede, der zum ersten Mal bei der ganzen Verhandlung den +Mund aufthat -- "die sich eben der Deutschen annimmt und Nichts dafuer +verlangt." + +"Leben wollen wir _Alle_," sagte Herr Weigel achselzuckend -- "umsonst ist +der Tod, und dass die Leute, wenn sie ihre Zeit darauf verwenden fuer die +Deutschen zu sorgen, auch etwas dafuer nehmen werden, laesst sich wohl an den +fuenf Fingern abzaehlen. Neu-York ist aber ein theures Pflaster, die Leute +_brauchen_ dort mehr wie wir hier, und wer es daher _billiger_ thun kann +ist auch wieder leicht einzusehn. Ich will mich auch keineswegs empfehlen; +lieber Gott es giebt noch eine Menge Leute in Deutschland, die sich +demselben schwierigen und undankbaren Geschaeft unterzogen haben wie ich, +und die es sich vielleicht eben so sauer werden lassen gerade und ehrlich +durch die Welt zu kommen; aber Einen der es besser _meint_ dabei, werden +Sie wohl schwerlich finden, und ich ueberrede gewiss Niemanden nach Amerika +auszuwandern. Jeder Mensch muss seinen freien Willen haben, und auch am +Besten selber wissen was ihm gut ist." + +"Ne gewiss," sagte Menzel -- "da habt Ihr ganz recht, das ist auch mein +Grundsatz; aber das mit dem Amerika leuchtet mir auch ein, und umsonst +thut da gewiss Niemand etwas -- das sind verflixte Kerle da, hab' ich mir +sagen lassen, besonders die Deutschen, und wo die nicht wollen gucken sie +nicht 'raus." + +"Also die Billete kann man hier bei Euch kriegen?" sagte Mueller. + +"Wohin Sie wollen, und ich stehe Ihnen dafuer dass sie nicht allein aecht +sind, sondern dass die hier in Deutschland geloesten Plaetze auch noch den +Vorrang haben vor allen in Amerika genommenen, wenn einmal Eisenbahn oder +Dampfboote zu sehr besetzt sein sollten. Es ist ja hier gerade so mit der +Post, wo Die, die sich zuerst, und auf der laengsten Station haben +einschreiben lassen, den Vorrang behalten muessen vor denen die nachher +kommen. + +"Ahem, das ist klar," sagte Menzel; "na also da daecht' ich liessen wir uns +gleich einmal Plaetze belegen und gaeben das D'raufgeld, damit wir die Sache +richtig haetten, und nachher koennen wir ja einmal ueber die Farmen sprechen; +ich habe verwuenschte Lust." + +"Du, das hat noch Zeit," sagte aber jetzt Brauhede wieder, Menzel am Rocke +zupfend; "erst muessen wir es uns doch einmal mit den Anderen zu Hause +ueberlegen." + +"Wenn aber nachher die Plaetze auf dem ganz guten Schiffe fort sind," sagte +Mueller mit einem sehr bedenklichen Gesicht. + +"Ja, _stehen_ kann ich Ihnen _nicht_ dafuer," versicherte Herr Weigel die +Achseln zuckend, dass sie beinah seine Ohrlaeppchen beruehrten. + +"Na mein'twegen," sagte Brauhede, der allerdings auch in der Absicht +hierher gekommen war, ihre Passage fest zu accordiren, jetzt aber, da es +dazu kam Geld zu zahlen, nur ungern damit herausrueckte -- "aber von wegen +der Farm muessen wir noch erst mit den Anderen sprechen, und eine Farm +kriegen wir auch noch immer." + +"Ja aber was fuer eine," sagte Herr Weigel. + +Brauhede blieb uebrigens bei seiner Meinung, und Menzel bestand jetzt nur +wenigstens darauf die beiden Plaene einmal mitzunehmen, damit sie sich zu +Hause ordentlich hinein denken koennten. Wenn auch Herr Weigel sie im +Anfang nicht ausser Haenden geben mochte, ja sogar versicherte er habe nicht +uebel Lust die eine Farm fuer sich selber auf Spekulation zu kaufen, liess er +sich doch zuletzt ueberreden ihnen, aber allerdings nur auf zwei Tage, die +Plaene zu ueberlassen, und dann das Weitere ueber den Ankauf mit einer +zweiten Deputation der Gesellschaft zu besprechen. + +Menzel bezahlte dann das Aufgeld auf ihre Passage im _Meteor_ fuer +siebenundfunfzig Personen und dreizehn Kinder, die saemmtlich aus _einer_ +Ortschaft auswandern wollten, und nahm dann auch noch, nach einer kurzen +Berathung mit den beiden anderen, die noethigen Billete auf der Eisenbahn +von Neu-York aus, oder machte wenigstens eine Anzahlung darauf, dass sie +ihnen der Agent aufbewahrte, da dieser sie versicherte er sei nur noch im +Besitz einer sehr kleinen Anzahl, und wisse nicht, wann er gleich wieder +andere bekommen wuerde, waehrend die Anfrage darnach sehr stark waere. + +Ausserdem kauften sie sich auch noch ein halbes Dutzend kleine Brochueren, +die Herr Weigel, wie er sagte, gerade frisch aus der Druckerei als etwas +_ganz Neues_ bekommen hatte -- ein Datum stand nicht darauf -- und die drei +Maenner verliessen dann wieder, von dem schmunzelnden Agenten bis an die auf +den Markt fuehrende Thuer begleitet, das Haus. + +"Hoere Du," sagte aber Brauhede als sie wieder vor dem Haus und auf der +Strasse waren, und langsam ueber den Markt weggingen, "mit dem Landkaufen +wollen wir uns doch lieber hier noch nicht einlassen, das ist eine +wunderliche Geschichte und will mir nicht recht in den Kopf." + +"Nicht in den Kopf?" rief aber Menzel -- "und warum nicht? -- der Mann +bekommt alle Tage Briefe aus Amerika, warum soll der nicht wissen was dort +zu verkaufen ist?" + +"Wenn's aber so gut und billig waere, brauchten sie's doch nicht hier +herueberzuschicken," meinte Brauhede kopfschuettelnd. + +"Das ist Alles was Du davon verstehst," sagte Mueller, "Amerikaner koennten +sie gewiss genug zu Kaeufern kriegen, aber deutsche Bauern wollen sie, die +ihnen zeigen wie man das Land behandeln muss, und darum schicken sie +herueber -- die sind froh drueben, wenn unsereins hinueber kommt. + +"Nun, mag sein," brummte Brauhede -- "aber sicher ist doch sicher, und wenn +ich mein Geld hier weggegeben habe, und kann das Land was mein sein soll +nachher nicht finden, wie's dem Niklas seinem Bruder gegangen ist, nachher +waere die Geschichte aber faul." + +"Dem Niklas sein Bruder war aber auch ein Esel," sagte der Andere, "der +sich hier Land von einem herumziehenden Vagabunden gekauft; da sollt' er +nachher wohl suchen. Aber _der_ Mann hier ist in der Stadt ansaessig und +hat ein Geschaeft; was der verkauft das muss gut sein, sonst waer' er ja gar +nicht sicher dass man ihn einmal deshalb beim Kragen kriegte." + +"Ja krieg' ihn einmal wenn Du drueben in Amerika bist," sagte Brauhede +ruhig -- "das ist ein verwuenscht weiter und umstaendlicher Weg und -- wenn +man sich einmal hat anfuehren lassen, will man auch nicht gern noch dazu +ausgelacht werden." + +"Papperlapapp!" sagte Menzel -- "dafuer hat Jeder seine Augen dass er sie +offen haelt, und ehe ich ihm mein gutes Geld gebe, werd' ich mich schon +sicher stellen dass er mir Nichts aufbindet." + +Und die Maenner schritten, Jeder von jetzt an mit seinen eigenen Gedanken +ueber die nahe Auswanderung beschaeftigt, langsam die Strasse hinunter, +waehrend in seinem kleinen Bureau, vergnuegt die Haende zusammenreibend, Herr +Weigel auf und ab spazieren ging, und sich im Geist die naechst zu +ziehenden Summen zusammenaddirte, die er in kurzer Zeit, nach eifriger +Aussaat, einzuerndten hoffte. Die Geschaefte gingen vortrefflich; Lust zur +Auswanderung hatte in der That ein Drittel der saemmtlichen Bevoelkerung, +und es bedurfte nur manchmal wirklich einer leisen Anregung, die Leute zu +etwas zu bewegen, zu dem sie schon halb und halb selber entschlossen +gewesen waren. + +Herr Weigel war sehr guter Laune; er legte jetzt die Haende auf den Ruecken +und summte ein leises Lied vor sich hin, seinen Marsch dabei fortsetzend. +Aber er sang falsch; er hatte keine Idee von irgend einer Melodie; doch +das schadete nichts, er _meinte_ wenigstens eine, und da er selber nicht +hoerte was er sang, genuegte es ihm vollkommen. + +Die Thuer ging jetzt auf und der Tischler oder Schreiner kam herein, irgend +etwas an dem Pult auszubessern -- er hatte zweimal angeklopft ohne dass der +vergnuegte Agent darauf geantwortet haette. + +"Guten Morgen Herr Weigel." + +"Ah guten Morgen Meister -- nun kommen Sie endlich? ich hatte schon ein +paar Mal nach Ihnen hinuebergeschickt -- " + +"Ja lieber Gott Herr Weigel, ich war gerade drueben beim Herrn Geheimen +Rath Baerlich beschaeftigt -- die Leute sind so eigen wenn man von der Arbeit +fort geht -- " + +"Sehn Sie, hier das Bein moecht' ich gemacht haben; der Tisch wackelt da +immer, und wenn man etwas darunter legt, verschiebt sich das doch jedesmal +wieder. Koennen Sie es mir wohl bis heute Nachmittag in Ordnung bringen?" + +"Ja gewiss," sagte der Mann, "das ist ja nur eine Kleinigkeit." + +"Und wie ist es mit den Auswandererkisten die ich bestellt habe? -- werden +die bis heute Abend fertig? + +"Ja wohl Herr Weigel; sechs habe ich schon in das Gasthaus "Stadt +Breslau," wie Sie mir sagten, abgeliefert." + +"Nun das ist gut, denn der ganze Zug wird noch heute Vormittag ankommen, +und will morgen frueh wieder fort -- es sind doch noch keine Auswanderer +heute Morgen hier eingetroffen? -- " + +"Nicht dass ich gesehen haette -- aber gestern Abend zogen Viele durch." + +"Ja ich weiss -- von Hessen herueber -- die armen Teufel; denen wird's einmal +wohl drueben werden. Nun wie gehn denn bei Ihnen die Geschaefte jetzt?" + +"Ih nu gut, Herr Weigel, ich kann gerade nicht klagen; das Brod wird +freilich immer theuerer, aber man schlaegt sich so durch -- Kinder haben wir +nicht, und was verdient wird reicht eben ordentlich aus." + +"Ich begreife nicht," sagte Herr Weigel da kopfschuettelnd vor dem Mann, +der seine Muetze eben wieder aufgegriffen hatte und sich zum Fortgehen +anschickte, stehen bleibend -- "wie Ihr Leute Euch hier vom Morgen bis +Abend plagt und schindet, eben nur das liebe Brod zu verdienen, wo Ihr in +ein paar Wochen drueben sein koenntet und so viel Dollare fuer Euere Arbeit +bekaemt, wie hier Groschen. + +"Drueben, wo?" + +"Nun in Amerika -- " + +"Hm, ja," sagte der Mann, sich nachdenkend das Kinn streichend, und einen +leichten Seufzer unterdrueckend -- "gedacht hab' ich auch schon ein paar Mal +daran, aber -- das geht nicht gut und -- es ist auch so eine unsichere Sache +mit da drueben. Hier weiss ich einmal was ich habe und dass ich auskomme, und +wie mir's da drueben geht weiss ich _nicht_." + +"Aber Freund," rief Herr Weigel verwundert -- "ein Mann der fleissig +arbeitet bringt es dort immer zu was. Wetter noch einmal, Meister, Amerika +ist gerade der Platz fuer Euch, wo Ihr Euch ruehren und ausbreiten koenntet -- +wenn Ihr dort waeret, ein geschickter Arbeiter wie Ihr! in fuenf Jahren +haettet Ihr zwanzig Gesellen." + +"Meister Leupold nickte langsam mit dem Kopf, und sah ein paar Secunden +still vor sich nieder, als ob das Bild mit der grossen Werkstaette und dem +regen Treiben sich vor seinem inneren Geist eben auszubreiten beginne, +dann aber sagte er, jetzt herzhaft aufseufzend -- " + +"Und es geht doch nicht, Herr Weigel -- ich habe die alte Mutter zu Hause, +die ich unmoeglich hier allein zurueck lassen koennte -- " + +"Hierlassen? das fehlte auch noch," rief der Agent -- "die nehmt Ihr mit, +Mann -- koennt Ihr der denn eine groessere Freude machen, als wenn sie noch +vor ihrem Ende saehe wie wohl es Euch geht auf der Welt, und wie sich Euer +Zustand mit jeder Woche, mit jedem Tage fast bessert? -- Muss sie hier nicht +in Sorge und Kummer leben dass Ihr einmal krank werdet und Nichts verdienen +koennt, und wie sieht's dann aus?" + +"Wenn ich aber nun dort drueben krank werde?" sagte der Meister leise. + +"Wenn das nur nicht gleich die ersten Monate geschieht und fuer ein Unglueck +kann Niemand" -- warf dagegen Herr Weigel ein, "so koennt Ihr Euch auch +schon so viel gespart haben, das eine Weile mit ruhig anzusehn; und wenn +Ihr nicht krank werdet, seid Ihr in ein paar Jahren ein wohlhabender +Mann." + +"Es ist eine verwuenschte Geschichte mit dem Amerika," seufzte der Mann +wieder, sich hinter dem Ohr kratzend -- "man hoert so viel davon, und sieht +eine solche Masse Menschen hinueberziehen, die alle voller Hoffnung sind +dass es ihnen gut geht -- und moechte am Ende ebenfalls gern mit -- wenn man +nur erst so einmal hinuebergucken koennte wie es eigentlich aussieht." + +"Dazu ist es ein Bischen zu weit," meinte Herr Weigel. + +"Ja nun eben," sagte der Tischler -- "und so auf's gerathewohl -- " + +"Das koennt Ihr aber nicht auf's gerathewohl nennen, wo wir alle Tage +Briefe von drueben herueber bekommen, von denen einer immer besser lautet +als der andere. Da -- hier liegt gleich einer, der letzte den ich bekommen +habe, wo ein Deutscher, den ich selber hinueberbefoerdert, und dem es jetzt +ausgezeichnet gut geht, an mich schreibt, und ein oder zwei gute gelernte +Schaafknechte haben will; lesen Sie einmal den Brief." + +Leupold legte seine Muetze wieder hin, nahm den Brief und las ihn +aufmerksam durch; er nickte dabei mehrmals mit dem Kopf, und sah dann +wieder zu dem Agenten auf, der ihn indessen mit einem triumphirenden +Laecheln betrachtet hatte. + +"Nun?" frug der Letztere, als Jener das Schreiben beendet und wieder +zusammenfaltete -- "wie klingt das?" + +"_Sehr_ gut" sagte Leupold leise, "aber -- es hilft mir doch Nichts. Wenn +ich jetzt mein kleines Haeuschen, das ich mir mit Muehe und Noth +zusammengespart und aufgebaut, auch verkaufen wollte; faende ich erstlich +keinen Kaeufer, und dann bekaem ich auch das nicht dafuer wieder, was es mich +selber gekostet; wie gesagt, der Sperling in der Hand ist doch wohl besser +wie die Taube auf dem Dache." + +"Bah, Taube," sagte Herr Weigel muerrisch -- "wenn die Taube auf dem Dach +eben so fest und sicher sitzen bleibt bis man sie holen kann, wie Amerika +ruhig liegt, und auf die wartet die hinueber kommen, so ist sie mir lieber +wie ein erbaermlicher Sperling, zum Sterben zu viel, und zum Leben zu +wenig; aber -- ueberlegt's Euch -- ah da kommt der Brieftraeger -- 'was fuer +mich?" + +"Nun guten Morgen Herr Weigel," sagte der Tischler und wollte sich eben +entfernen, waehrend der Brieftraeger dem Agenten mehrere fuer ihn gekommene +Briefe ueberreichte. + +"Siebzehn Silbergroschen drei Pfennige" sagte er dabei. + +"_Siebzehn_ Silbergroschen?" rief Herr Weigel verwundert -- "aha da ist ein +Amerikaner dabei -- halt, wartet noch einmal einen Augenblick Leupold" -- da +ist vielleicht gleich noch was fuer uns, und was ganz Neues -- wollen gleich +einmal sehn was die Leute schreiben. Wahrscheinlich wieder von Jemand den +ich hinueber befoerdert habe, und der sich jetzt bedankt -- das kostet aber +viel Geld -- " + +"Apropos Neues," sagte Leupold, waehrend der Agent den Brieftraeger bezahlt +hatte und seine Papierscheere vom Tisch nahm, den Amerikanischen Brief +aufzuschneiden -- "haben Sie schon gehoert dass gestern Nachmittag bei Herrn +Dollinger eingebrochen und fuer sieben tausend Thaler Gold und Juwelen +gestohlen sind?" + +"Alle Wetter," rief Herr Weigel, mit der zum Schnitt ausgehaltenen Scheere +in der Hand -- "gestern Nachmittag?" + +"Am hellen Tage," bestaetigte Leupold. + +"Und weiss man nicht wer der Thaeter ist?" + +"Sie haben den einen Comptoirdiener in Verdacht und auch schon +eingezogen," sagte der Tischler. + +"Gewiss den Lossenwerder," rief Weigel. + +"Ich glaube so heisst er -- er ist ein wenig verwachsen -- " + +"Und schielt -- derselbe, ich habe den Burschen von jeher nicht leiden +koennen; hat mir auch schon ein paar Mal Kunden abspenstig gemacht, aus +reinem Brodneid; ich wuesste wenigstens sonst nicht weshalb, und habe ihn +dabei stark in Verdacht, dass er selber damit umgeht eine Agentur fuer +Auswanderer zu errichten. Da koennte Jeder hergelaufen kommen, ohne Briefe, +ohne Connexionen und ohne Kenntniss vom Land -- schickte nachher die Leute +in's Blaue hinein, dass sie dort saessen und nicht wuessten wo aus noch ein. Na +nun, wird ihm das Handwerk wohl gelegt werden; ich goenne nicht gern einem +Menschen etwas Uebles, aber bei dem freut mich's dass sie's wenigstens +herausbekommen haben, und er seine Schurkerei nicht mehr heimlich +forttreiben darf. Ist denn das Geld schon wieder gefunden?" + +"So viel ich weiss nicht, einige hundert Thaler ausgenommen, von denen aber +der Mann betheuert dass er sie sich gespart haette; es ist uebrigens Manches +dabei zusammengekommen was ihn verdaechtig macht; das Naehere weiss ich +freilich nicht." + +"Hm, hm, hm," sagte Herr Weigel, kopfschuettelnd den Brief, den er noch +immer in der Hand hielt, anschneidend -- "boese Geschichten -- boese +Geschichten, was man nicht Alles hoert auf der Welt. -- Nun wollen wir also +einmal sehen was der Herr da aus Amerika schreibt -- hm -- Washington +County, Tennessee den siebenten Januar 18 -- alle Wetter der Brief ist +lange unterwegs gewesen -- Herrn F. G. Weigel in Heilingen, Hauptagent der +Central-Auswanderungs- und Colonisations-Gesellschaft in Deutschland -- +ahem -- Sie nichtsw -- hm -- Sie haben -- hm -- vor allen Dingen -- hm -- hm -- +hm -- hm" -- Herrn Weigels Gesicht verlaengerte sich immer mehr, je weiter er +in seiner, wie es schien nicht eben angenehmen Lectuere vorrueckte, aber er +brach mit dem Lautlesen des Inhalts, dessen Einleitung unerwarteter Weise +hoechst derber Art war, schon gleich nach den ersten Sylben ab, und +murmelte, das Ganze nur fluechtig ueberfliegend, blos einzelne +unzusammenhaengende Worte, aus denen Leupold Nichts herausfinden konnte, +vor sich hin. + +"Nun, was schreiben sie?" sagte dieser endlich laechelnd; er waere schon +lange gegangen, wenn ihn Weigel nicht eben zurueckgehalten haette -- "gute +Neuigkeiten?" + +"Bah!" sagte Herr Weigel, den Brief zurueck auf seinen Schreibtisch werfend +-- "Jemand der seine Geschwister will hinuebergeschickt haben und mich +ersucht das Geld fuer ihn auszulegen. Da muesst' ich schoene Capitale +herumstehn haben, wenn ich allen Leuten umsonst wollte die Familie +nachschicken. Nachher sitzt der mitten im Land drin, und ich kann ihn dann +suchen." + +"Ne, das ist ein Bischen viel verlangt," sagte der Meister, wieder nach +der Klinke greifend -- und diessmal hielt ihn Herr Weigel nicht zurueck -- +"aber nun leben Sie auch recht wohl, und verlassen Sie sich darauf ich +besorge Ihnen das heute noch." + +"Sein Sie so gut," sagte der Agent -- er war auf einmal ganz einsylbig +geworden, und Meister Leupold verliess mit nochmaligem Gruss das Zimmer, in +dem jetzt Herr Weigel mit in die Tasche geschobenen Haenden, aber +keineswegs mehr so guter Laune als vorher, raschen, heftigen Schrittes auf +und ab ging. + +"Und vierzehn Groschen bezahlt fuer den Wisch -- es ist eine Frechheit +wahrhaftig, die in's Bodenlose geht. Lumpengesindel! glaubt die gebratenen +Tauben sollen ihm da in's Maul fliegen, so bald sie's nur aufsperren." Und +wieder riss er den Brief vom Pult, rueckte sich die Brille zurecht, und las +mit halblauter, aber heftiger Stimme den Inhalt noch einmal, und zwar +aufmerksamer durch als vorher. + +"Sie nichtswuerdiger Hallunke" -- wenn ich Dich nur hier haette mein Bursche, +dafuer solltest Du mir brummen -- "schaendlich betrogen und angefuehrt" -- wozu +hat Dir denn der liebe Gott die grossen Glotzaugen gegeben, wenn Du sie +nicht aufsperren willst -- "Land eine Wueste" -- na versteht sich, ein +Gewaechshaus hab' ich ihm nicht verkauft -- "Haelfte gar nicht zu bekommen" -- +Holzkopf -- "kein Mensch wollte die Billete nehmen" -- bah, geschieht Dir +recht -- "Wohngebaeude zu schlecht fuer einen Hund" -- fuer Dich noch immer +viel zu gut, mein Schatz -- "wenn Sie nur einmal herueber kaemen, Sie +miserabeler" -- bah" -- unterbrach sich Herr Weigel in dieser nichts weniger +als schmeichelhaften Lectuere, indem er den Brief in zwei Haelften riss, und +sich dann ein Streichhoelzchen mit einem Gewaltstrich an der Thuer +entzuendete "so viel fuer den Wisch!" und das Papier anbrennend, warf er das +auflodernde in den Ofen, und schloss die Klappe so heftig er konnte. + +Allerdings wollte er sich nun ueber den Brief hinwegsetzen, aber geaergert +hatte er sich doch, und Rock und Stiefeln anziehend drueckte er sich seinen +Hut in die Stirn, griff seinen Stock aus der Ecke, und verliess sein +Bureau, das er sorgfaeltig hinter sich abschloss, und eine kleine Pappe +mitten an die Thuer hing, auf der die Worte standen. + +"Kommt um elf Uhr wieder." + + + + + + Capitel 6. + + + DIE WEBERFAMILIE. + + +Nicht weit von Heilingen, und in Hoerweite der Domglocke selbst, in +ziemlich bergigem, aber unendlich malerischem Land, lag ein kleines armes +Dorf, dessen Bewohner, da ihre Felder gerade nicht zu den besten gehoerten, +sich kuemmerlich, aber meist ehrlich, mit verschiedenen Handwerken und +Gewerben, mit Holzschnitzen wie auch hie und da mit dem Webstuhl, +ernaehrten. Das Dorf hiess eigentlich "Zur Stelle", welchen Namen aber die +Bewohner im Laufe der Zeit, und mit Huelfe ihres Dialekts, zu dem von +_Zurschtel_ umgearbeitet hatten, und mochte etwa dreissig Haeuser und +Huetten, mit der doppelten Anzahl von Familien, wie der sechsfachen von +Kindern zaehlen. Es ist eine wunderliche Thatsache, dass man in den +aermlichsten Distrikten stets die meisten Kinder findet. + +Mitten im Dorf lag eins der besseren Haeuser; es war weiss getuencht, und +hinter den sauber gehaltenen Fenstern hingen weisse, reinliche Gardinen. +Vor dem Hause, ueber dessen Thuere ein frommer Spruch mit rothen und gruenen +Buchstaben angeschrieben war, stand ein Brunnen- und Roehrtrog, und ein +kleiner Koven an der Seite desselben, zeigte in der nach aussen befestigten +Klappe des Futterkastens dann und wann den schmuzigen Ruessel eines seine +Kartoffelschalen kauenden Schweines. Auch ein ordentlich gehaltenes Staket +umgab das Haus wie den kleinen Hofraum, und die Wohnung stach sehr zu +ihrem Vortheil gegen manche der Nachbarhaeuser ab. + +Im Inneren selber sah es ebenfalls sehr reinlich, aber nichtsdestoweniger +sehr aermlich aus. In der einen Ecke stand ein grosser, viereckiger, sauber +gescheuerter Tisch aus Tannenholz, an zweien der Waende waren Baenke aus dem +naemlichen Material befestigt, und um den grossen viereckigen Kachelofen, +der fast den achten Theil der Stube einnahm, hingen verschiedene +Kochgeraethschaften, waehrend auf darueber angebrachten Regalen die braunen +Kaffeekannen und gebluemten Tassen gewissermassen mit als Zierrath zur Schau +ausstanden. Die dritte Ecke fuellte der Webstuhl des Mannes aus, und dem +gegenueber stand eine riesengrosse, braunangestrichene Kommode, mit +Messinghenkeln und Griffen und fuenf Schiebladen, die, mit wirklich +ruehrender Eitelkeit als eine Art von Nipptisch benutzt, zwei mit bunten +Blumen bemalte Henkelglaeser, eine vergoldete Tasse mit der Aufschrift "der +guten Mutter" -- ein Geschenk aus frueherer Zeit -- und ein gelb irdenes aber +allerdings sehr wenig benutztes Dintenfass trug, waehrend dahinter, in zwei +ordinairen Stangenglaesern, in dem einen Schilfbluethenbueschel, und in dem +anderen grosse stattliche Aehren von Roggen, Waizen, Gerste und Hafer +standen, zur Erinnerung an eine fruehere segensreiche Erndte. + +Die Bewohner der kleinen Stube passten genau in ihre Umgebung; es war eine, +nicht mehr ganz junge aber doch ruestige Frau, in die nicht unschoene +Bauertracht der dortigen Gegend gekleidet, die an ihrem Spinnrad sass und +eifrig das Raedchen schnurren liess, waehrend die rechte Hand manchmal eine +neben ihr stehende Wiege beruehrte, den darin ruhenden kleinen Saeugling, +der immer wieder die grossen dunklen Augen zu ihr aufschlug, endlich in +Schlaf zu bringen. Sie war reinlich, aber in die groebsten Stoffe +gekleidet, ebenso der Bube von etwa vier Jahren, der ihr zu Fuessen mit +einer kleinen Mulde auf dem ueber die Diele gestreuten Sand "Schiff" +spielte. + +Ausserdem war noch eine vierte Person im Zimmer, die alte Mutter der Frau, +eine Greisin von nahe an siebzig Jahren, die auch noch ihr Spinnrad +drehte, sich aber mit dem hinter den noch warmen Ofen gesetzt hatte, weil +ihr das heutige nasskalte, unfreundliche Wetter froestelnd durch die alten +Glieder zog. Es war eine gutmuethige, aber muerrische alte Frau, selten +zufrieden mit dem was sich ihr gerade bot, und unermuedlich darin, sich und +ihren Kindern die Last vorzuwerfen die sie ihnen mache, und den lieben +Gott taeglich zu bitten dass er sie doch bald zu sich naehme. Nur eine +kleine, ganz kurze Frist erbat sie sich immer noch -- dann wollte sie gerne +sterben. Erst; wie das Aelteste geboren war, wollte sie das noch gerne +laufen sehn; dann haette sie gern erlebt wie es zum ersten Mal in die +Schule ging; dann war es Fruehjahr geworden und sie hoffte nur noch einmal +neue Kartoffeln zu essen, zu Jacobi aber wollte sie noch einmal von dem +Pflaumenbaum die Fruechte kosten, den ihr "Seliger" noch gepflanzt. Wie der +Herbst kam wuenschte sie im Fruehjahr begraben zu werden, und die knospenden +Maiblumen weckten den Wunsch nach den Astern, ihrer Lieblingsblume, von +denen sie sich eigenhaendig ein schmales Beet in den kleinen Garten dicht +am Hause gepflanzt. So lebt und webt die Hoffnung in unseren Herzen mit +immer neuer, nie sterbender Kraft, und je aelter wir werden, desto mehr +lernen wir die schoene Erde lieb gewinnen, desto mehr klammern wir uns an +sie, und wollen uns gar nicht mehr von ihr trennen. + +Der Tag neigte sich dem Abend zu; der Mann war in die Stadt gegangen seine +Steuern zu zahlen, und Manches einzukaufen was sie nothwendig im Hause +brauchten -- zum Ersatz dafuer hatte er das zweite Schwein, das sie bis +dahin gehalten, hineingetrieben, und der Erloes sollte seine Ausgaben +bestreiten. + +Der Regen wurde jetzt wieder heftiger, die grossen schweren Tropfen +schlugen gegen das Fenster, und das Kind wurde vollstaendig munter und fing +an zu schreien. Die Mutter schob ihr Spinnrad zurueck, nahm das Kleine aus +der Wiege, und ging damit traellernd im Zimmer auf und ab. Die Alte spann +indess ruhig weiter, und suchte mit zitternder leiser Stimme ein +geistliches Lied zu singen, und mit dem Rad trat sie den Takt dazu. Sonst +sprach keine ein Wort. + +Endlich wurde die Hausthuer geoeffnet, Jemand kam von draussen herein, und +strich sich die Fuesse auf den Steinen und der Strohdecke ab, und sie hoerten +gleich darauf wie der zurueckkehrende Vater und Gatte seinen grossen +rothblauwollenen Schirm auf die Steine stiess, das Wasser so viel wie +moeglich davon abzuschuetteln, und den Mantel auszog und ueber den grossen +Schleifstein hing der draussen im Flur stand, wie er das gewoehnlich that. +Die Frau oeffnete rasch die Thuer den Mann zu begruessen, der den Hut abnahm, +sich die nassen Haare aus der Stirn strich, und das Kind kuesste, das sie +ihm entgegenhielt. + +"Jesus ist das ein Wetter, Gottlieb," sagte sie dabei, als sie ihm den Hut +aus der Hand nahm und neben den Ofen an den Nagel hing, "komm nur herein, +dass Du 'was Trockenes auf den Leib bekommst; wo hast Du denn den Jungen? -- +ist er nicht bei Dir?" setzte sie, fast aengstlich, hinzu. + +"Er ist draussen bei Lehmann's hineingegangen, denen wir ein paar Sachen +aus der Stadt mitgebracht," sagte der Mann -- "wird wohl gleich kommen -- +wie geht's Frau? -- wie geht's Mutter? -- ha, das regnet einmal heute was +vom Himmel herunter will; was nur d'raus werden soll wenn das Wetter so +fort bleibt. Ein paar gute trockene Tage haben wir gehabt, und jetzt +wieder Guss auf Guss -- Guss auf Guss, als ob sie uns unsere paar Stuecken Feld +noch hinunter in die Wiesen waschen wollten. Von dem einen Acker ist die +Saat schon halb fortgespuelt -- wenn dasmal das Korn misraeth, weiss ich nicht +wo der arme Mann das Brod hernehmen soll." + +"Klag nicht, Gottlieb," sagte aber die Frau freundlich -- "es geht noch +Vielen schlechter wie uns, und was sollen da die _ganz_ armen Leute sagen. +Lieber Gott, es ist viel Noth in der Welt, und wer heut zu Tage eben sein +Auskommen und ein Dach ueber dem Kopf hat und gesund ist, sollte sich nicht +versuendigen." + +Sie hatte dabei das Kind auf die Erde gesetzt, holte den Topf aus der +Roehre, in der, trotz der vorgerueckten Jahreszeit, noch ein Feuer brannte, +der alten, froestelnden Mutter wegen, und goss den darin heiss gehaltenen +Kaffee -- sie nannten das braune Getraenk von gebrannten gelben Rueben und +Gerste wenigstens so -- in die eine braune Kanne, damit sich der Mann, der +den ganzen Tag draussen im Regen herumgezogen war, daran erquicken koenne. +Zugleich auch deckte sie ein weisses Tuch ueber den Tisch, auf den sie noch +Butter und Brod stellte, die versaeumte Mittagsmahlzeit wenigstens in etwas +nachzuholen. Der Mann setzte sich an den Tisch, schenkte sich eine Tasse +Kaffee ein, in den ihm die Frau die Milch goss, und schnitt sich ein grosses +Stueck Brod ab, das er mit Butter bestrich und verzehrte. Er sprach kein +Wort dabei, und beendete still seine Mahlzeit, schob dann die Tasse und +den Butterteller zurueck, nahm das Kleinste, das die Mutter zu ihm auf die +Erde gesetzt hatte, herauf auf sein linkes Knie, blieb, den rechten +Ellbogen auf den Tisch gestuetzt, den Kopf gegen die Wand gelehnt, +regungslos sitzen, und schaute still und schweigend nach dem Fenster +hinueber, an das die Regentropfen immer noch, vom Wind draussen gepeitscht, +hohl und heftig anschlugen. + +Die Frau hatte ihn eine ganze Zeit lang mit scheuem Blick betrachtet; es +war irgend etwas vorgefallen, aber sie wagte nicht zu fragen, denn +Gottlieb, so seelensgut er auch sonst sein mochte, hatte doch auch seine +"verdriesslichen Stunden" und war dann, wenn gestoert, oft rauh und +unfreundlich; aber eine eigene Angst ueberkam sie ploetzlich. Ihr aeltester +Sohn -- der Hans -- war nicht mit zu Hause gekommen -- konnte dem -- heiliger +Gott, wie ein Stich traf es sie in's Herz und sie sprang erschreckt von +ihrem Stuhl auf und auf den Mann zu. + +"Gottlieb -- um aller Heiligen Willen wo ist der Hans? -- es ist -- es ist +ihm doch nicht etwa ein Unglueck geschehn?" + +"Der Hans?" sagte der Mann aber ruhig und sah erstaunt zu ihr auf, "was +faellt Dir denn ein? was soll denn dem Hans zugestossen sein? ich habe Dir +ja gesagt dass er bei Lehmann's etwas abgegeben hat, und dort +wahrscheinlich das Wetter abwarten wird." + +"Ich weiss nicht," sagte die Frau, der dadurch allerdings eine Centnerlast +von der Seele gewaelzt wurde -- "aber Du bist so sonderbar heut Abend, so +still und ernst, und da schlugs mir wie ein Schreck in die Glieder, ueber +den Hans. Ist etwas vorgefallen Gottlieb? -- " + +Gottlieb schuettelte den Kopf langsam und sagte. -- "Nicht dass ich wuesste -- +nichts Besonderes wenigstens, oder nichts Anderes, als was jetzt alle Tage +vorfaellt -- Geld zahlen." + +"War es denn so viel?" sagte die Frau leise und schuechtern. + +Der Mann schwieg einen Augenblick und sah still vor sich nieder; endlich +erwiederte er seufzend: + +"Das Schwein ist d'rauf gegangen, und vier Thaler Siebzehn Groschen sind +immer noch mit Gerichtskosten und der alten Processgeschichte mit der +Brueckenplanke, mit der ich eigentlich gar Nichts mehr zu thun hatte, +stehen geblieben, und ich muss sie bis zum ersten Juli nachzahlen, unter +Androhung von Pfaendung." + +"Nun lieber Gott," sagte die Frau troestend -- "wenn das das Schlimmste ist, +laesst sich's noch ertragen; da verkaufen wir eben das andere Schwein und +behelfen uns so. Wie wenig Leute im Dorf haben ueberhaupt eins zu +schlachten, und leben doch; warum sollen wir nicht eben so gut ohne eins +leben koennen als die." + +"Ja," sagte der Mann leise und still vor sich hin bruetend -- "verkaufen und +immer nur verkaufen, ein Stueck nach dem anderen, und waehrend wo anders die +Leute mit jedem Jahr ihr kleines Besitzthum vergroessern, und fuer ihre +Kinder etwas zuruecklegen koennen, sieht man es hier mehr und mehr +zusammenschmelzen, unter Mueh und Plack das ganze Jahr lang." + +"Aber kannst Du's aendern?" sagte die Frau leise und fuhr, wie der Mann +schwieg und mit der Faust die Stirn stuetzend vor sich nieder starrte, +schuechtern fort -- "arbeitest Du nicht von frueh bis spaet fleissig und +unverdrossen? goennst Du Dir eine Zeit der Ruhe, wo Dich irgend eine +noethige Beschaeftigung ruft, und haben wir uns etwa das Geringste +vorzuwerfen?" + +"Nein," sagte der Mann, waehrend er die Hand auf den Tisch sinken liess und +die Frau voll und fest ansah -- "nein, aber das ist es ja eben, was mir am +Leben frisst. Wir koennen nicht mehr arbeiten, nicht mehr verdienen wie wir +jetzt thun, und jetzt sind wir noch jung und kraeftig, unsere Kinder noch +klein und gesund, und dennoch geht es mit jedem Jahr zurueck, wird es mit +jedem Jahr schlechter und schlimmer. Wie nun soll das werden, wenn uns +erst einmal Krankheit heimsuchte, wenn die Kinder heranwachsen und mehr +brauchen, wenn wir selber aelter werden und nicht mehr so zugreifen koennen +wie jetzt? -- Schon jetzt koennen wir uns nicht mehr in der theueren Zeit +oben halten -- das eine Schwein ist verkauft, das andere wird noch fort +muessen; unser Acker ist kleiner geworden in den letzten zehn Jahren, +unsere Beduerfnisse aber sind gewachsen -- wie soll das enden?" + +"Aber Gottlieb," sagte die Frau freundlich -- "wie kommen Dir jetzt doch +nur solche Grillen? haben Dir die paar Thaler Steuern den Kopf verdreht? +Mann, Mann, Du bist doch sonst so ruhig, und hast immer vertrauungsvoll in +die Zukunft gesehn, wie sind Dir auf einmal solche schwarze Gedanken durch +den Sinn gefahren?" + +Die alte Mutter hatte, schon so lange wie die Beiden mit einander +gesprochen, ihr Spinnrad ruhen lassen, und dem Gespraech aufmerksam +zugehoert; dabei schuettelte sie fortwaehrend mit dem Kopf, und sagte endlich +mit ihrer schrillen, scharf klingenden Stimme: + +"Ja wohl, ja wohl -- das Geld wird rar und das Brod theuer, und mehr Maeuler +kommen -- mehr Maeuler sind da zum Verzehren, wie zum Verdienen. Schlagt +mich todt; schlagt mich todt dass ich weg komme aus dem Weg und Euch Platz +mache -- schlagt mich todt." + +"Mutter," bat die Frau, in Todesangst dass sie dem Manne mit solcher Rede +wehe thun wuerde, denn _er_ gerade hatte sie immer auf das Freundlichste +behandelt, und Alles gethan was in seinen Kraeften stand, ihr jede +Erleichterung, die ihr Alter bedurfte, zu verschaffen -- "wie duerft Ihr nur +so etwas reden; versuendigt Ihr Euch denn nicht?" + +"Wir haben noch genug fuer uns Alle Mutter," sagte aber der Mann +freundlich, der ihre Launen kannte und der alten Frau nicht wehe thun +mochte -- "nur fuer spaetere Zeit ist mir bange; Sie aber waeren die Letzte +die darunter leiden sollte. Wir werden Alle alt, und wenn wir unsere +Schuldigkeit in unserer Jugend gethan, wie Sie, dann ist es nicht mehr wie +Pflicht und Schuldigkeit der Juengeren fuer ihre Eltern zu sorgen -- wenn sie +nicht auch einmal wieder von ihren Kindern wollen verlassen werden." + +Die Alte war wieder still geworden, sah noch eine Zeit lang vor sich +nieder, und begann dann auf's Neue ihre Arbeit, aber die Frau fuhr fort +und sagte, fast mit einem leisen Vorwurf im Ton zu ihrem Mann. + +"Siehst Du Gottlieb, das hast Du nun davon mit Deinen trueben und traurigen +Ideen; Du machst Dir und mir und der Mutter nur das Herz schwer, und +nuetzest und hilfst doch Nichts. Der liebe Herr Gott da oben wird's schon +machen und lenken; Er hat die Welt so viele Jahrhunderte hindurch in ihrer +Bahn gehalten, und die Menschen darauf geschirmt und gepflegt, wie unser +Herr Pastor sagt, Er wird's auch schon weiter thun, und wir duerfen uns +eigentlich gar nicht sorgen und kuemmern um den "naechsten Tag." + +"Doch, doch Frau," sagte aber der Mann, aufstehend und jetzt, die Haende in +den Hosentaschen, in der Stube auf und ab gehend -- "doch Frau, der Mann +_muss_, denn wenn er's _nicht_ thaete, waer er ein schlechter Hausvater, und +ihm allein fielen dann all die schweren Folgen zur Last, die daraus +entstaenden. Ich kann Dir das nicht so mit Worten deutlich machen, wie +mir's neulich der Schulmeister, mit dem ich darueber sprach, erklaerte, aber +der meinte es waere etwa so wie wenn Einer im Wasser waere. Da sei es auch +nicht genug dass man sich oben hielte an der Luft, und im Kreis herum +schwaemme eben nur nicht zu ertrinken, das thaete nicht einmal ein +unvernuenftiges Stueck Vieh; nein des Menschen, des verstaendigen Menschen +Pflicht sei es sich schon im Wasser nach dem festen Lande umzusehn, ob man +das nirgends erreichen koenne, denn zuletzt wuerde man da im Wasser, man +moechte noch so tapfer schwimmen, doch muede, und liessen erst einmal die +Kraefte nach, dann huelfe auch zuletzt das Schwimmen Nichts mehr, und man +saenke eben langsam zu Boden." + +"Ich verstehe nicht recht was Du damit meinst," sagte die Frau, "aber Du +siehst mich so sonderbar dabei an -- hast Du noch 'was anderes dahinter?" + +"Nein und Ja," sagte der Mann nach kleiner Pause, indem er sich mit dem +Ruecken an den Ofen lehnte, und langsam dazu mit dem Kopfe nickte, +"eigentlich nicht, denn Gott da oben weiss dass es wahr ist, und weiss wie, +und ob's einmal enden kann; aber dann -- dann hab' ich allerdings noch was +dahinter, denn ich meine -- ich meine -- " er schwieg und es war +augenscheinlich, er hatte etwas auf dem Herzen, das er sich scheue so mit +blanken klaren Worten heraus zu sagen, die Frau aber, die eben damit +beschaeftigt war das Geschirr hinaus zu raeumen, setzte die Kanne wieder auf +den Tisch, sah den Mann erstaunt an, ging dann langsam zu ihm an den Ofen +und sagte leise, vor ihm stehen bleibend: + +"Geh her, Gottlieb -- Du hast 'was, was Dich drueckt und willst nicht mit +der Sprache heraus -- es ist irgend noch etwas vorgefallen in der Stadt, +was Du nicht sagen magst. Du darfst doch nicht _sitzen_?" + +"_Sitzen_? -- weshalb?" laechelte der Mann kopfschuettelnd -- "ich habe nie +etwas Boeses gethan." + +"Nun was ist's denn, so sprich doch nur, denn Du aengstigst mich ja mehr +mit Deinem Schweigen, als wenn Du mir das Schlimmste gleich vornheraus +erzaehlst -- dem Hans fehlt doch Nichts?" + +"Was soll dem Hans fehlen, naerrische Frau -- wenn's aufhoert zu giessen wird +er schon kommen." + +"Und was ist's denn? -- gelt, Du sagst mir's?" + +"Ich muss Dir's wohl sagen;" seufzte der Mann, "nun sieh Hanne, ich meine -- +ich habe so darueber nachgedacht, dass es jetzt hier in Deutschland immer +schlechter wird mit uns -- und dass wir's zu Nichts mehr bringen koennen, +trotz aller Arbeit, trotz allem Fleiss, und dass jetzt -- dass jetzt doch so +viele Menschen hinueber ziehen -- " + +"Hinueber ziehen?" frug die Frau erstaunt, fast erschreckt, und legte die +Hand fest auf's Herz, als ob sie die aufsteigende Angst und Ahnung ueber +etwas Grosses, Schreckliches da hinunter und zurueckdruecken wolle, eh sie zu +Tage kaeme -- "wo hinueber Gottlieb?" + +"Nach Amerika;" sagte der Mann leise -- so leise dass sie das Wort wohl +nicht einmal verstand, und nur an der Bewegung der Lippen es sah und +errieth. Wie ein Schlag aber traf sie die Wirklichkeit ihres Verdachts, +und ohne ein Wort zu erwiedern, ohne eine Sylbe weiter zu sagen, setzte +sie sich auf den, dicht am Ofen stehenden Stuhl, deckte ihr Gesicht mit +der Schuerze zu und sass eine lange, lange Weile still und regungslos. Auch +der Mann wagte nicht zu sprechen -- er hatte den Gedanken wohl schon eine +Zeit lang mit sich herumgetragen, aber sich immer davor gefuerchtet ihm +Worte zu geben, sogar gegen sich selbst, wie viel weniger denn gegen die +Frau. Jetzt war es heraus, und er betrachtete nur scheu die Wirkung die er +hervorgebracht. + +Auch die alte Mutter sass, mit der Hand auf dem Rad das sie im Drehen +aufgehalten, und horchte nach den Beiden hinueber, was sie mitsammen +hatten, und wie die so still waren und kein Wort mehr sprachen, mochte es +ihr auch unheimlich vorkommen und sie sagte laut und muerrisch: + +"Nun Gottlieb was giebt's -- was hast wieder Du mit der Hanne -- was habt +Ihr denn dass Ihr so still und heimlich thut -- macht Einem nicht auch noch +Angst unnuetzer Weise -- was ist nun wieder los?" + +"Ja Mutter," sagte der Mann jetzt, der sich gewaltsam Muth fasste ueber das, +was nun doch nicht laenger mehr verschwiegen bleiben konnte und besprochen +werden _musste_, auch laut zu reden, dass er's vom Herzen herunter bekam -- +"es geht mit uns hier den Krebsgang, und ich habe eben zu Hannen gesagt +dass uns zuletzt nichts anderes uebrig bleiben wuerde als -- als es eben auch +wie andere zu machen, und -- " + +"Und? -- und was zu machen?" frug die alte Frau gespannt -- + +"Als _auszuwandern_," sagte der Mann mit einem ploetzlichen Ruck und +seufzte dann tief auf, als ob er selber froh waere es los zu sein. + +"Herr Du meine Guete!" rief die alte Frau, liess die Haende erschreckt in den +Schooss sinken und lehnte sich in ihren Stuhl zurueck, waehrend ihr alle +Glieder am Leibe flogen -- "Herr Du meine Guete!" wiederholte sie noch +einmal, und die Finger falteten sich unwillkuerlich zusammen, so hatte sie +der Schreck getroffen. + +"Auswandern," sagte aber auch jetzt Gottliebs Frau mit tonloser Stimme, +und liess die Schuerze vom Gesicht herunterfallen -- "auswandern, das ist ein +schweres -- schweres Wort Gottlieb -- hast Du Dir das auch recht -- recht +reiflich ueberlegt?" + +"Tag und Nacht die ganze letzte Woche hindurch," rief aber der Mann, der +jetzt, da das Eis einmal gebrochen war, wieder Leben und Waerme gewann. +"Wie ein Muehlstein hat's mir auf der Seele gelegen, und ich habe lange und +tapfer dagegen angekaempft, aber es waere das Beste fuer uns, was wir auf der +weiten Gotteswelt thun koennten; und wenn auch nicht einmal fuer uns, wenn +wir selber auch schwere und bittere Zeiten durchzumachen haetten, doch fuer +die Kinder, die einmal den Segen erndten, den wir mit unserem Schweiss, +unseren Thraenen gesaeet." + +"Auswandern? ja," sagte aber jetzt die Grossmutter, mit dem Kopfe nickend +und schuettelnd, als ob sie den schrecklichen Gedanken wieder von sich +abwerfen wollte -- "ja wohin es euch luestet, aber erst wenn ich todt bin. +Die paar Tage muesst Ihr noch hier bleiben die ich noch zu leben habe, oder +sonst schlagt mich todt, werft mich in's Wasser, oder schlagt mich mit dem +Beil auf den Kopf dass ich fortkomme, und hier auf dem Kirchhof unter der +alten Linde liegen kann, wo der Leberecht liegt. In der Welt koennt Ihr +mich doch nicht mehr umherschleppen, und nutz bin ich auch Nichts mehr, +wie das mit zu verzehren was andere verdienen. Wenn Ihr jetzt fort wollt +schlagt mich vorher todt." + +"Ach Mutter wenn Sie nur nicht gar so haesslich reden wollten," sagte die +Frau traurig, waehrend der Mann wieder zum Tisch ging, sich dort auf den +Stuhl setzte, und den Kopf in die Hand stuetzte -- "Sie sind noch wohl und +ruestig und werden, will's Gott, noch manches Jahr leben und sich Ihrer +Kinder freuen. Wo die dann hin ziehen und sich ihr Brod suchen muessen, da +gehoeren Sie auch hin, und was die verdienen, das haben Sie auch verdient +mit Muehe und Noth und banger Sorge schon vor langen Jahren, wie wir noch +klein und unbehuelflich waren, wie unsere Kinder jetzt." + +"Wozu mich mitnehmen," sagte aber die Frau, stoerrisch dabei mit dem +Oberkoerper herueber und hinueber schwankend, "unterwegs muesstet Ihr mich doch +aus dem grossen Schiff hinaus in's Wasser werfen, die Fische zu fuettern. +Bleibe im Lande und naehre Dich redlich, das ist _mein_ Spruch und meines +Leberecht Spruch von alter Zeit her gewesen, und wir haben uns wohl dabei +befunden, aber das junge Volk jetzt will immer alles anders haben, will +oben zur Decke 'naus und fliegen und schwimmen, anstatt huebsch auf der +Erde und im alten Gleis zu bleiben. Warum ist's denn frueher gegangen? -- +nein Gott bewahre, jetzt soll Alles mit Eisenbahnen und Dampf gehen und +keine Geduld, keine Ausdauer mehr; nur fort, immer gleich fort, in die +Welt hinein und mit dem Kopf gegen die Wand -- schlagt mich todt, dann seid +Ihr mich los und koennt hingehn wohin Ihr wollt." + +Und die alte Mutter stand auf, rueckte ihr Spinnrad bei Seite, und +humpelte, noch immer vor sich hin murmelnd und grollend, aus der Stube +hinaus. + +"Sie meint es nicht so boes, Gottlieb," sagte die Frau zu dem Mann tretend +und ihre Hand auf seine Schulter legend, "es ist eine alte Frau die an +ihrer Heimath mit ganzem Herzen haengt und sich vor der Reise fuerchtet." + +"Und Du nicht, Hanne?" rief der Mann sich rasch nach ihr umdrehend, und +ihre Hand ergreifend -- "Du nicht? Du wuerdest Dich dazu entschliessen koennen +unsere Heimath hier, unser Haeuschen, unser Feld zu verlassen, und mit mir +und den Kindern ueber das weite Meer zu fahren, in eine fremde Welt?" + +Die Frau schwieg und ihre Hand zitterte in der des Mannes -- endlich sagte +sie leise -- "So weit fort? -- und muss es denn sein, ist es denn gar nicht +moeglich mehr, dass wir hier gut und ehrlich durchkommen durch die Welt, +wenn wir uns auch ein Bischen knapper einrichten wie bisher? Ach Gottlieb, +es ist gar hart so von zu Hause fortzugehn, die Thuer zuzuschliessen und zu +denken dass man nun nie und nimmer wieder dahin zurueckkommt -- " + +Der Mann nickte traurig mit dem Kopf und sagte endlich: + +"Du hast recht Hanne; es ist ein schwerer, recht schwerer Schritt, und man +sollte ihn sich wohl vorher ueberlegen ehe man ihn thut, denn zurueck kann +man nicht wieder, wenn man nicht wenigstens Alles opfern will, was Einem +bis dahin noch zu eigen gehoert hat. Thun wir aber recht nur allein an uns +zu denken? -- Sieh, wir schleppen uns vielleicht noch wenn auch kuemmerlich, +doch ehrlich, durch, bis wir einmal sterben, und wenn es auch hart ist, +dass es Einem nachher im Alter schlechter gehn soll wie in der Jugend, +brauchten wir doch gerade keine Furcht zu haben dass wir verhungerten; aber +die Kinder -- die Kinder -- was wird aus denen? Unser kleines Grundstueck ist +die Jahre ueber kleiner und kleiner geworden; mit dem Geschaeft geht's auch +kuemmerlicher wie bisher -- neue, geschicktere Arbeiter, junge Burschen die +noch keine Familie haben und weniger brauchen, sitzen in den Doerfern +herum, und die Fabriken und Maschinen geben uns ohnedies den Todesstoss. +Stahl und Holz braucht Nichts zu essen und arbeitet unermuedet Tag und +Nacht durch, und die Raeder und Walzen und Haemmer klopfen und drehen und +schwingen ununterbrochen fort gegen den Schweiss des armen Arbeiters der +darueber zu Grunde geht. Ich murre auch nicht darueber, es muss wohl schon so +recht sein, denn Gott hat's den Menschen selber gelehrt und die Welt muss +vorwaerts gehn -- wir aelteren Leute koennen uns aber eben nicht mehr darein +schicken, koennen nichts Anderes mehr ergreifen, und wieder von vorne +anfangen, wenigstens hier im Lande nicht wo Einem die Haende nach allen +Seiten hin gebunden sind, und darum ist mir der Gedanke gekommen +auszuwandern. Da drueben ueber dem Weltmeere hat der liebe Herr Gott noch +einen grossen gewaltigen Fleck Erde liegen, fuer uns arme Leute bestimmt, +den Maschinen und Raederwerken zu entgehn; dort haben wir Platz uns zu +bewegen, und wer nur da ordentlich arbeiten will hat nicht allein zu +leben, sondern kann auch vielleicht fuer sich und die Kinder was vorwaerts +bringen und braucht sich nicht mehr vor der Zukunft zu fuerchten und vor +Hunger und Noth. Wenn wir nicht auswandern, was bleibt unsern Kindern da +einmal anders uebrig, als in Dienst zu gehn und sich bei fremden Leuten +doch herumzuschlagen ihr Lebelang." + +"Und die Mutter?" sagte die Frau, sich aengstlich nach der Thuere umsehend -- +"was wuerde aus der alten Frau auf dem Meere?" + +"Was aus so vielen alten Frauen da wird, liebes Herz," sagte aber der +Mann, augenscheinlich mit froherem, freudigeren Herzen, als er bei dem +eigenen Weib nicht den Widerstand fand, den er vielleicht gefuerchtet -- +"sie gewoehnen sich an das neue Leben, sobald sie das alte nicht mehr um +sich sehen, und die Seeluft soll kraeftigen und staerken." + +"Aber sie wird nicht mit uns wollen." + +"Sie wird ihre Kinder nicht verlassen," troestete sie der Mann, "und ohne +sie duerften wir ja auch gar nicht fort." + +Die Frau reichte ihm schweigend die Hand, die er herzlich drueckte, und +wandte sich dann, und wollte eben das Zimmer verlassen, als draussen Jemand +die Thuer aufriss und in das Haus trat. Das Unwetter hatte jetzt seinen +hoechsten Grad erreicht, und der Regen schlug in ordentlichen Guessen gegen +die Fenster an, waehrend der Wind die Wipfel der Baeume herueber und hinueber +schuettelte und die Bluethen von den Zweigen riss mit rauher Hand. + + [Capitel 6] + +"Schoenen Gruss mit einander," sagte dabei eine rauhe Stimme, waehrend die +Stubenthuer halb geoeffnet wurde -- "darf man hinein kommen?" + +"Gott gruess Euch," sagte die Frau -- "kommt nur herein, bei dem Wetter ist's +boes draussen sein -- es tobt ja, als ob der letzte Tag hereinbrechen +sollte." + +Der Fremde hing seinen Hut und Mantel draussen ab und trat mit nochmaligem +Gruss in die Stube. + +"Gott gruess Euch," sagte auch Gottlieb -- "da, nehmt Euch einen Stuhl und +setzt Euch zum Ofen; es ist heut unfreundlich draussen, und man kann ein +Bischen Feuer brauchen." + +"Sauwetter verdammtes," fluchte der Mann, als er der Einladung Folge +geleitet und sich die nassen Haare aus der Stirne strich -- "ich wollte +erst sehen dass ich die Schenke erreichte; hier um die Ecke herum kam der +Wind aber so gepfiffen dass er mich bald von den Fuessen hob, und es war +gerade als ob sie Einem von da oben einen Eimer voll Wasser nach dem +andern entgegen gossen. Schoenes Wetter fuer Enten, aber fuer keine +Menschen." + +Es war eine rauhe, kraeftige Gestalt, der Mann, mit krausem dicken +schwarzen Bart und ein paar tiefliegenden unstaeten Augen, in einen groben +braunen Tuchrock gekleidet, wie ihn die Fleischer nicht selten auf dem +Lande tragen. Die ebenfalls braunen Hosen hatte er dabei heraufgekrempelt, +bis fast unter das Knie, mit seinen derben Wasserstiefeln besser durch +alle Pfuetzen und Schlammwege hindurch zu koennen; die aus ungeborenem +Kalbfell gemachte Weste war ihm bis an den Hals hinauf zugeknoepft, und +eine lange silberne Kette, an der die in der Westentasche steckende Uhr +befindlich war, hing ihm darueber hin. + +"Ihr seid wohl weit von hier zu Haus?" frug Gottlieb nach einer laengeren +Pause, in der er den Mann und dessen Aeusseres fluechtig nur betrachtet +hatte -- "hab' Euch wenigstens noch nicht hier bei uns gesehen." + +"Zehn Stunden etwa," sagte der Fremde, seine Pfeife jetzt aus der +Brusttasche seines Rockes nehmend und mit Stahl und Schwamm, den er bei +sich fuehrte, entzuendend -- "wie weit ist's noch bis Heilingen." + +"Eine tuechtige Stunde -- wenn der Weg jetzt nicht so schrecklich waere, +koennte man's recht bequem in kuerzerer Zeit gehn." + +"Hm -- ist noch verdammt weit, puh wie das draussen stuermt; und die +Pflaumenbluethen pflueckt's beim Armvoll herunter -- Pflaumenmuss wird theuer +werden naechsten Herbst." + +"Das weiss Gott," sagte Gottlieb -- "es wird Alles theuer, immer mehr jedes +Jahr, langsam aber Sicher." + +"Bah, es geschieht denen recht die hier bleiben, wenn sie nicht hier +bleiben muessen; 's giebt Plaetze die besser sind." + +"Wollt Ihr auch auswandern?" sagte Gottlieb rasch. + +"Auswandern? -- nach Amerika? -- hm -- ich weiss noch nicht," brummte der +Fremde, sich den Bart streichend -- "es waere aber moeglich dass sie Einen +noch dazu trieben. Sind das Euere Kinder?" + +"Ja. -- " + +"Habt Ihr noch mehr?" + +"Noch einen Jungen von elf und ein halb Jahr." + +"Und Ihr seid ein Weber?" sagte der Fremde mit einem Blick auf den +Webstuhl -- "auch schwere Zeiten fuer derlei Arbeit, mit einer Familie +durchzukommen." + +"Ja wohl, schwere Zeiten," seufzte Gottlieb, als in diesem Augenblick die +Thuer draussen wieder aufging und die Mutter laut ausrief: -- + +"Der Hans, lieber Himmel kommt der in dem Wetter." + +Es war Hans, der aelteste Sohn des Webers, durch und durch nass, aber mit +frischem gesunden Gesicht und rothen Backen, auf denen das Regenwasser in +grossen Perlen stand. + +"Guten Tag mit einander," sagte er, als er in's Zimmer trat und die +triefende Muetze vom Kopf riss -- "guten Tag Mutter." + +"Guten Tag Hans, aber wo um Gottes Willen kommst Du in dem Regen her; +warum hast Du das Wetter nicht bei Lehmann's abgewartet?" + +"Es wurde mir zu spaet Mutter und ich war hungrig geworden; habe auch noch +heute Abend dem Vater etwas zu helfen." + +"Ein derber Junge," sagte der Fremde, der sich den Knaben indess mit +finsterem Blick betrachtet hatte -- "kann wohl schon ordentlich mit +arbeiten." + +"Ach ja, er packt tuechtig mit zu," sagte der Vater -- "lieber Gott in +jetziger Zeit muss Alles mit Brod verdienen helfen." + +"Die Kinder fressen Einen arm," sagte der Fremde. + +"Habt Ihr Kinder?" frug Gottlieb. + +"Ich? -- hm, ja," sagte der Fremde nach einer Pause -- "koennte noch Jemandem +abgeben davon." + +"Ich moechte keins hergeben," sagte die Frau rasch, und kuesste das Juengste, +das sie eben wieder aufgenommen hatte um es zu fuettern, "Kinder sind ein +Segen Gottes." + +"Ja -- so sprechen die Leute wenigstens," sagte der Fremde trocken, "aber +ich glaube es laesst nach mit Regnen; ich werde die Schenke wohl jetzt +erreichen koennen." + +"Wollt Ihr nicht vielleicht erst eine heisse Tasse Kaffee trinken?" frug +die Frau, das Kind auf dem linken Arm, zum Ofen gehend, die dort +warmgestellte Kanne wieder vorzuholen. + +"Danke, danke," sagte aber der Fremde abwehrend -- "kann das warme Zeug +nicht vertragen; ein Glas Branntwein ist mir lieber." + +"Das thut mir leid," sagte der Mann, "den kann ich Euch nicht anbieten; +ich habe keinen im Hause." + +"Thut auch Nichts," lachte der Fremde; "so lange halt ich's schon noch +aus. Sind doch huelflose Dinger so junge Menschen, ehe sie die Kinderschuh +ausgetreten haben," setzte er dann hinzu, als das Juengste das Maeulchen +nach dem schon einmal gereichten Loeffel vorstreckte -- "was machte nun so +ein jung Ding, wenn man es hinsetzte und sich selber ueberliesse." + +"Ach Du lieber Gott," sagte die Frau bedauernd -- "so ein armer Wurm muesste +ja elendiglich umkommen." + +"Bis den Nachbarn das Geschrei zu arg wuerde und sie kaemen und es +fuetterten," lachte der Andere. + +"Dafuer haben die Kinder Eltern," sagte die Frau, das kleine, die Aermchen +zu ihr ausstreckende Maedchen liebkosend und kuessend, "die sorgen schon +dafuer dass kein Nachbar danach zu sehen braucht." + +"Wenn die aber einmal ploetzlich stuerben, wie dann?" frug der Fremde, mit +einem Seitenblick auf die Frau, indem er seinen Rock wieder zuknoepfte und +sich zum Gehen ruestete. + +"Dann ist Gott im Himmel," sagte Hanne, mit einem frommen +vertrauungsvollen Blick nach oben. + +"Ja, das ist wahr;" sagte der Fremde mit einem leichtfertigen Laecheln, +"der hat allerdings die grosse Kinderbewahranstalt. Aber es hat wirklich +aufgehoert mit Giessen," unterbrach er sich rasch, "den Augenblick will ich +doch lieber benutzen. So schoen Dank fuer gegebenes Quartier Ihr Leute, und +gut Glueck." + +"Bitte, Ihr habt fuer Nichts zu danken, behuet' Euch Gott," sagte Gottlieb +freundlich. + +"Behuet' Euch Gott;" sagte auch die Frau, und der Mann, ihnen noch einmal +zunickend, nahm draussen wieder den nassen Mantel um, drueckte sich den +breitraendigen Hut in die Stirn, griff einen derben Knotenstock, der +daneben in der Ecke lehnte, auf, und verliess rasch das Haus, die Richtung +nach der Schenke einschlagend. + +"Mich freut's dass er fort ist," sagte die Frau, die dem Knaben gerade das +Essen auf den Tisch setzte und den Kaffee einschenkte -- "bewahr uns Gott, +was hatte der Mann fuer ein finstres Gesicht und ein barsches Wesen; nicht +schlafen koennt' ich die Nacht, wenn ich den unter einem Dach mit mir +wuesste. In dem Gesicht liegt auch nichts Gutes -- und wie er fluchte und +ueber die Kinder sprach -- ob er nur wirklich selber welche hat." + +"Er sagt's ja," bestaetigte Gottlieb -- "aber mir schien's ein Fleischer zu +sein, seinem Gewerbe nach, und die sind immer rauh und derb, meinen's aber +nicht immer so boes." + +"So bess're ihn Gott," sagte die Frau mit einem Seufzer, "und je seltener +er unseren Weg kreuzt, desto besser." + + + + + + Capitel 7. + + + NACH AMERIKA. + + +"Nach Amerika!" -- Leser, erinnerst Du Dich noch der Maerchen in "Tausend +und eine Nacht", wo das kleine Woertchen "Sesam" dem, der es weiss, die +Thore zu ungezaehlten Schaetzen oeffnet? hast Du von den Zauberspruechen +gehoert, die vor alten Zeiten weise Maenner gekannt, Geister heraufzurufen +aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu +machen? -- Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe schlugen, wie sich die +Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner +zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkuehne Menschenkind das sie +gesprochen, bebte zurueck vor der furchtbaren Gewalt die es +heraufbeschworen. + +Die Zeiten sind vorueber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht +gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das +rechte Wort vergessen sie zu rufen -- aber ein anderes dafuer gefunden, das +kaum minder stark mit _einem_ Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, +den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhaeltnissen und +Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reisst, in dem es bis dahin mit +seinen staerksten, innigsten Fasern treulich festgehalten. + +"Nach Amerika," leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten +schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft pruefen sollte, seinen +Muth staehlen -- "nach Amerika," fluestert der Verzweifelte der hier am Rand +des Verderbens dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde -- +"nach Amerika," sagt still und entschlossen der Arme, der mit maennlicher +Kraft und doch immer und immer wieder vergebens, gegen die Macht der +Verhaeltnisse angekaempft, der um sein "taegliches Brod" mit blutigem Schweiss +gebeten -- und es nicht erhalten, der keine Huelfe fuer sich und die Seinen +hier im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln _will_, nicht stehlen +_kann_ -- "nach Amerika" lacht der Verbrecher nach gluecklich veruebtem Raub, +frohlockend der fernen Kueste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt +vor dem Arm des beleidigten Rechts -- "nach Amerika," jubelt der Idealist, +der wirklichen Welt zuernend, weil sie eben wirklich ist, und ueber den +Ocean drueben ein Bild erhoffend, das dem, in seinem eigenen tollen Hirn +erzeugten, gleicht -- "nach Amerika" und mit dem einen Wort liegt hinter +ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes frueheres Leben, Wirken, Schaffen -- liegen +die Bande die Blut oder Freundschaft hier geknuepft, liegen die Hoffnungen +die sie fuer hier gehegt, die Sorgen die sie gedrueckt -- _"nach Amerika!"_ + +So gaehrt und keimt der Saame um uns her -- hier noch als leiser, kaum +verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft +und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und +Kasten. Der Bauer draussen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain der +ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so schwer +geaergert, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit +ueber dem Meer drueben, in dem fetten, herrlichen Land; -- der Handwerker in +seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt +mit Neuerungen und grossen, marktschreierischen Firmen, die wenigen Kunden +die ihm bis dahin noch geblieben in _seine_ Thuer zu locken; der Kuenstler +in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, der ueber einer freieren +Entwickelung bruetet, und von einem Lande schwaermt wo Nahrungssorgen ihm +nicht Geist und Haende binden; -- der Kaufmann hinter seinem Pult, der +Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Buechern zieht und, das +sorgenschwere Haupt in die Hand gestuetzt, von einem neuen, andern Leben, +von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefuellten Waarenhaeusern traeumt; +in Tausenden von ihnen draengt's und treibt's und quaelt's, und wenn sie +auch noch vielleicht Jahre lang nach aussen die alte fruehere Ruhe wahren, +in ihren Herzen glueht und glimmt der Funke schon -- ein stiller aber ein +gefaehrlicher Brand. Jeder Bericht ueber das ferne Land wird gelesen und +ueberdacht, neue Arzenei, neues Gift bringend fuer den Kranken. Vorsichtig +und aengstlich, und weit herum um ihr Ziel, dass man die Absicht nicht +errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding -- nach Leuten +die vordem "hinueber" gezogen und denen es gut gegangen -- nach Land- und +Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk -- fuer Andere natuerlich, nicht fuer sich +etwa -- sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinueber, ein +entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wuenschen dass es dem wohl +geht, und haeufen mehr und mehr Zunder fuer sich selber auf. + +So ringt und draengt und wuehlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem +nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den _salto mortale_ gethan, +und Alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und theuer war -- aus +dem, aus jenem Grund -- und taeglich, stuendlich noch hoeren wir von anderen, +von denen wir im Leben nie geglaubt dass _sie_ je an Amerika gedacht, wie +sie mit Weib und Kind, mit Hab' und Gut hinueberziehn. Und _dort_? -- noch +liegt ein dichter Schleier ueber ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne +scheint ja ueberall -- Dir aber lieber Leser, greif ich aus dem Leben noch +hie und da ein paar Freunde heraus, die wir begleiten wollen auf dem +weiten Weg. + + * * * * * + +Oben in der Brandstrasse -- nicht weit vom Brandthor entfernt, und dem +Gasthaus zum Loewen schraeg gegenueber, wohnte Professor Lobenstein mit +seiner Familie, in der ersten Etage eines, zwar sehr alten, aber auch sehr +wohnlich eingerichteten Hauses, das ihm eigen gehoerte. + +Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen Seite der "besseren +Jahre", etwa einundfuenfzig alt, aber ruestig und gesund, nur erst mit +einzelnen grauen Haaren zwischen den rabenschwarzen Locken, die ihm ueber +die bleiche, aber hohe und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast +jugendlichem, elastischem Gang und Wesen. Ein tuechtiger Kopf dabei, hatte +er _jura_ und _cameralia_ studirt, und einen grossen Schatz von Kenntnissen +aufgehaeuft; auch in manchem, mit schweren muehsamen Nachtwachen erkauften +Werk der Welt, der undankbaren Welt das Resultat seiner Studien und +Forschungen gebracht und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg, und +der kalten Aufnahme die es gefunden, wandte er sich spaeter wieder von den +bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz ab und allein +seinem Lieblingsstudium den Cameralien zu, in denen er besonders der +Gewerbskunde seine Thaetigkeit widmete, auch mit einem Buchhaendler in +Heilingen eine Gewerbszeitung gruendete und herausgab. + +Hierin hatte er Unglueck; der Buchhaendler machte bankerott und er uebernahm +die Zeitung, mit ziemlich grossen Verlusten schon, allein. + +So vortrefflich aber Professor Lobenstein in der Theorie seiner +Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest war er es in der +Praxis, und seine Zeitung wollte und wollte keinen Boden gewinnen. Mit +fabelhaftem Fleiss suchte er dem zu begegnen, umsonst -- umsonst auch dass er +Capital nach Capital in das, zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene +Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypothek und mit einer +hoechst unguenstigen politischen Periode, in der ihm eine grosse Anzahl +Abonnenten absprang, trafen ihn auch so bedeutende pecuniaere Verluste, dass +er sich endlich genoethigt sah sein Blatt vollstaendig aufzugeben. Es war +das das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht. + +Professor Lobenstein hatte eine ziemlich starke Familie, eine Frau, zwei +erwachsene Toechter von siebzehn und zwanzig Jahren, einen Sohn von +achtzehn, und zwei kleinere Kinder, einen Knaben von acht und ein Maedchen +von sieben Jahren. Wenn auch nicht in Reichthum doch in einem gewissen +Wohlstand erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort +"_Nahrungssorgen_" fremd geblieben; der Professor hatte immer, was man so +nennt, ein Haus gemacht, und sich in einem Umgangskreis bewegt, der ihnen +schon an und fuer sich eine gewisse Verpflichtung auferlegte Manches +mitzumachen, was seinen, sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht +Beduerfniss schien. Das Alles sollte, ja _musste_ sich jetzt aendern, denn +wenn er auch aus den Truemmern seines Vermoegens, nach allen erlittenen +Verlusten, einen kleinen Theil zu retten vermochte, genuegte der nicht, das +bisherige Leben fortzufuehren. Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem +eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen, und sich und den Seinen +schwere und ungewohnte Entbehrungen an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn +Alles und Jedes an fruehere und bessere Zeiten erinnerte oder -- es war eine +schwere Stunde in der ihm das Bild zum ersten Mal vor die Seele stieg -- in +einem anderen Welttheil, ungekannt, aber auch nicht bemitleidet oder +verspottet, ein vollkommen neues _Leben_ zu beginnen. + +Aber die Frauen? -- wuerden sie den Muehseligkeiten einer so langen Reise, +einer Ansiedlung drueben in einem noch wilden Lande gewachsen sein? -- Dass +er selber die Beschwerden eines solchen Lebens leicht ertragen wuerde, +daran zweifelte er keinen Augenblick; er hatte so viel ueber Amerika +gelesen, sich mit den dortigen Verhaeltnissen aus allen erschienenen +Schriften so vertraut gemacht, dass er Alles kannte was ihn dort erwartete, +und einem derartigen Wirken eher mit Freude und Lust, als Bangen +entgegenging; aber durfte er seine Frau all den sie erwartenden +Unbequemlichkeiten und Strapatzen aussetzen? durfte er seine Toechter aus +ihrem geselligen gluecklichen Leben reissen, und ihnen mit einem Schlage +alle jene Vergnuegungen entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, +die ihnen fast Beduerfniss geworden? + +Einen langen und schweren Kampf kaempfte er mit sich selber, Monate lang, +und er wurde alt in der Zeit; die Augen lagen tief in ihren Hoehlen und +seine Zuege bekamen etwas Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner +schwersten Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder dabei sich +leicht mit einem vorgeschuetzten Unwohlsein beruhigen liessen, dem scharfen +Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die an seinem Herzen heimlich, +aber desto gewaltiger nagte, und ihren dringenden, aengstlichen Bitten +konnte er zuletzt nicht laenger widerstehen. Was sie doch zuletzt haette +erfahren _muessen_, vertraute er ihr an und wenn es die arme Frau auch wie +ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das Ganze doch viel ruhiger +auf als er erwartet, gefuerchtet, und damit eine schwere Last von _seinem_ +Herzen -- auf das ihre. Aber leichter traegt sich die getheilte, und bereden +konnten sie jetzt zusammen was zu thun, welchen Weg zu gehen, die +Moeglichkeit besprechen die sich hier ihrem Leben bot, die Moeglichkeit +errwaegen, die ihnen dort eine andere freiere Zukunft oeffnete. Und die +Kinder? wohin Muetter und Vater gingen folgten die ja gern; nur die Scene +wechselte fuer sie, anderen, vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu +geben, und Kummer und Sorge kannten die ja nicht. + +An demselben Abend waren die beiden aeltesten Toechter zu einem kleinen +Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen und hatten schon den +ganzen Tag mit rastlosen Fingern an dem bunten blitzenden Ballstaat +genaeht. Der Vater begleitete sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, +Kopfschmerz vorschuetzend, und die Sorge um das juengste Kind, das mit einem +leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn Uhr +schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager ein, und daneben, das +sorgenschwere Haupt in die Hand gestuetzt, sass die Mutter und weinte -- +weinte als ob sie mit dieser Thraenenfluth all den Gram und Kummer +fortwaschen wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizonte ihres +Gluecks erschien, und wild und drohend hoeher und hoeher stieg. + +Lachend und plaudernd kehrten die Toechter, mit dem Vater spaet in der Nacht +zurueck; den leichten, sorglosen Herzen lag die Welt noch, ein weiter +Garten offen da, und was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, +mischte noch sein fastgruenes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, mit +Blum' und Bluethenpracht. + +Aber der Moment naeherte sich auch, wo mit der vorgerueckten Jahreszeit all' +die noethigen und mannichfaltigen Vorbereitungen zu einer so langen Reise, +zu einer gaenzlichen Umgestaltung aller ihrer Verhaeltnisse, getroffen +werden _mussten_; auch schien die Zeit eine passende fuer den Sohn, der, von +der Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturienten-Examen gluecklich +bestanden hatte. Der Vater wuenschte allerdings dass er hier erst studiren, +und ihnen dann spaeter, wenn er etwas Tuechtiges gelernt, vielleicht folgen +sollte, dachte ihm aber doch die freie Wahl zu lassen, und seinem Herzen +keinen Zwang aufzuerlegen. + +Am naechsten Morgen nach dem Balle nun -- es war spaet mit Aufstehn geworden +nach der durchschwaermten Nacht und die zweite Tochter Marie eben erst zum +Kaffee heruebergekommen, waehrend der Sohn das Haus schon, irgend eines +notwendigen Ganges wegen verlassen hatte -- sass der Vater, ungewohnter +Weise nicht in seiner Studirstube an der Arbeit, sondern im Sopha, aus der +langen Pfeife den Dampf in weissen Kraeusselwolken von sich blasend, und die +Mutter am Naehtisch, Kleider ausbessernd fuer das Juengste, das in seinem +heruebergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe +schaukelte. + +"Schon ausgeschlafen, Vaeterchen?" sagte Marie als sie, etwas beschaemt, die +Letzte am Kaffeetische Platz genommen, "ich habe wohl recht lange heut +geschlafen, aber -- was ist Dir denn? -- und der Mutter auch?" -- rief sie +vom Stuhl wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der +Eltern gewahrte -- "bist Du boese auf mich, Muetterchen?" + +"Nein mein Kind," sagte diese und zwang ein Laecheln auf die Lippen, "aber +der Vater hat Euch etwas recht Ernstes heute zu sagen, etwas von dem wir +noch nicht wissen, ob es Euch betrueben wird oder nicht." + +"Der Vater?" rief Marie erschreckt, und auch Anna, die aelteste Tochter, +sah aengstlich zu ihm auf; Professor Lobenstein aber, so in die Enge und +zum Aeussersten getrieben, hustete, paffte den Dampf ein paar Mal scharf +vor sich hin, die Pfeife ordentlich in Gluth zu bringen, und sagte: + +"Ja Kinder, Ihr wisst -- wir -- wir haben doch in den letzten Tagen viel ueber +Nord-Amerika gesprochen, und auch Manches gelesen -- " + +"Ja, die herrlichen Romane von Cooper," rief Marie rasch. + +"Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt," laechelte Anna. + +"Der Doctor Haide ist ein Esel," sagte der Professor, den Rauch wieder ein +paar Mal rasch ausstossend -- "wenn der haette in Amerika ordentlich arbeiten +wollen, brauchte er sich jetzt nicht von einer Winkeladvocatur und vom +Schimpfen auf freisinnige Leute zu ernaehren; ueber dessen Berichte wollen +wir uns keine Sorgen machen, aber -- " er schwieg wieder einen Augenblick +und sah, wie furchtsam, nach der Frau hinueber. Die jedoch arbeitete um so +emsiger weiter, und selber mit dem Beduerfniss dem, was ihn schon so lange +gedrueckt, endlich einmal Worte zu geben, fuhr er rasch fort -- "ich habe +eine Frage an Euch zu thun, Kinder -- Haettet Ihr -- haettet Ihr wohl selber +Lust hinueber nach -- nach Amerika zu gehn?" + +"Nach Amerika?" rief Anna rasch und auch wohl erschreckt. Marie aber +sprang auf, schlug in die Haende und rief jubelnd: + +"Nach Amerika? oh das waere ja praechtig -- das waere herrlich -- nicht wahr da +sind auch Baelle, Vaeterchen?" + +Die Mutter seufzte tief auf und der Vater zog wieder, etwas verlegen an +der Bernsteinspitze. + +"Hm -- ich weiss nicht," sagte er langsam mit dem Kopf schuettelnd -- "wo wir +im Anfang hinwollten, werden wohl keine sein. Haengst Du so an Baellen, +Marie?" + +"Ich tanze gern," laechelte das junge froehliche Maedchen etwas verlegen und +schuechtern. + +"Nun tanzen wirst Du dort hoffentlich auch koennen, mein Kind," sagte der +Vater freundlich -- "wenn auch nicht gerade gleich auf solchen Baellen wie +wir sie hier gewohnt sind -- das Leben ist dort einfacher." + +"Oh, und bis zum naechsten Fasching sind wir gewiss auch wieder zurueck," +rief Marie. + +Der Vater schwieg erst eine kleine Weile, und sagte dann leise aber +entschlossen. + +"Wir wollen _ganz_ hinueberziehn, mein Kind." + +"Auswandern?" rief die aeltere Schwester fast erschreckt -- das Wort, dessen +Bedeutung sie noch gar nicht vollkommen verstand, traf sie mit einem +unbekannten ahnenden Gefuehl von Schmerz und Leid -- "und die Mutter?" + +"Ihr werdet mich doch nicht wollen allein zuruecklassen?" laechelte die +Frau, sich gewaltsam zwingend ueber den Schmerz dieser Stunde. + +"Mutter!" sagte Anna, warf die Arme um ihren Nacken und kuesste sie. + +"Und Eduard?" frug Marie. + +"Bleibt, wenn er meinem Rathe folgt, noch hier bis er ausstudirt und etwas +ordentliches gelernt hat," sagte der Vater -- "wo nicht, hat er seinen +freien Willen und mag uns begleiten; sowie er zu Hause kommt werde ich mit +ihm sprechen." + +"Aber -- " rief Marie -- "wer verwaltet unterdessen unser Haus?" + +"Wenn wir einmal fort sind von hier," sagte der Professor ausweichend, +"kann uns auch das Haus nichts mehr nuetzen, und ich werde es verkaufen." + +"_Verkaufen_? -- unser Haus und den Garten?" riefen Maria und Anna fast wie +aus einem Munde erschreckt und rasch -- + +"Unser freundliches Stuebchen, wo wir als Kinder gespielt," setzte Marie +traurig hinzu. + +"Und die Baeume die Vater alle gepflanzt -- die Laube, die wir uns selbst +gebaut, und die so schoen geworden ist in diesem Jahr," sagte Anna leise -- +"verlassen wollt' ich es ja gern, wenn wir Alle gehn, aber dass fremde +Menschen jetzt darin hausen sollen, die vielleicht gar nicht wissen wie +wir das Alles gehegt und gepflegt und -- " ihr Blick fiel in diesem +Augenblick auf der Mutter, halb von ihr abgewandte bleiche Zuege, und fasste +das Blitzen einer heimlich fallenden Thraene. Anna erschrak und wurde +todtenbleich -- hier lag mehr verborgen als man ihnen gesagt, und +heimlicher Gram, heimliche Sorge nagte an der Eltern Herzen, durfte sie +die vermehren? Sie schwieg einen Augenblick und sah sinnend vor sich +nieder, dann aber Mariens Hand ergreifend sagte sie mit leichterem +vielleicht gezwungen froehlicherem Ton: + +"Aber wir wollen nicht klagen; Vater und Mutter wissen am Besten was sie +zu thun haben, und was uns gut ist, und dort baut uns Vater dann ein +anderes Haus, und wir selber pflanzen uns ein neues Gaertchen, schoener als +das unsere hier." + +"Aber ich bliebe hier, wenn ich an Vaters Stelle waere," schmollte Marie, +"und was wird Herr Kellmann dazu sagen, wenn er es erfaehrt? der ist so +immer gegen Amerika, und hat sich schon oft mit Vater darueber gezankt." + +"Ach der macht mir die geringste Sorge," sagte Anna in ihrem Schmerz +laechelnd -- "wenn man _fuer_ Amerika spricht, schimpft er aus Leibeskraeften, +und citirt Gott weiss was fuer Stellen aus Briefen und Zeitungen, alles +Guenstige zu widerlegen, oder wenigstens stark zu bezweifeln, und kommt +Jemand der das Land ordentlich angreift, dann hab' ich auch schon gesehn, +dass er den Handschuh wacker dafuer aufnimmt, und man wirklich glauben +sollte er bekaeme so und so viel fuer den Kopf, Leute zu bereden +hinueberzuziehn. Das ist ein wunderlicher Kauz, der die meiste Zeit selber +nicht weiss was er will, und ich glaube, wenn es Jemand recht ordentlich +bei ihm darauf anlegte, koennte man ihn selber, nur durch Widersprechen, +dahin bringen, dass er in eigener Person hinueberginge." + +"Herr Kellmann?" lachte Marie -- "nun _den_ moecht' ich in Amerika sehn." + +"Und wer weiss, ob Dir das nicht noch passirt," bestaetigte der Vater, mit +dem Kopfe nickend. + +"Und darf ich mein neues seidenes Kleid mitnehmen, Mama?" frug das junge +lebenslustige Maedchen jetzt die Mutter -- "hier lassen moecht' ich es doch +nicht gern, und drueben im Wald -- " + +"Liebes Kind, wir werden auch nicht mitten in den Wald gehn," sagte die +Mutter, die indessen heimlich die verraetherische Thraene aus dem Auge +geschuettelt, freundlich dabei der zu ihr getretenen Tochter die Stirn +streichend und kuessend, "denkt es Euch nicht so schlimm. Der Vater wird +uns schon einen Platz aussuchen, wo wir wenigstens unter Menschen und der +Cultur nicht ganz verschlossen sind -- er hielte es ja dort sonst selber +nicht aus." + +"Aber warum gehst Du nur, Vaeterchen?" bat Marie -- "es ist doch hier so +wunderhuebsch in Heilingen, und was wir da drueben haben, wissen wir noch +nicht." + +Der Professor, zu dem Anna aengstlich aufsah, hatte seinen Sitz verlassen +und ging, langsam dabei mit dem Kopf nickend, im Zimmer auf und ab; er +fuehlte dass er, auch den Toechtern gegenueber, diesen eine Erklaerung seines +Handelns schuldig sei, denn er riss sie aus einem liebgewonnenen Leben +heraus, und fuehrte sie vielen, vielen Entbehrungen -- er durfte sich das +nicht leugnen -- entgegen. Von ihrer spaeteren Haltung dabei hing auch viel +ihrer Aller Glueck, ihrer Aller Zufriedenheit ab, und sie waren alt genug +ihrem Urtheil zu vertrauen. Aber es kostete ihm der Entschluss einen +schweren Kampf, und wo ihm die Frau war auf halbem Weg entgegen gekommen, +fuerchtete er hier gerade, nicht Widerstand zu finden, denn dafuer hatten +sie ihn zu lieb, aber Schmerz und Sorge zu wecken in den jungen Herzen, +denen er die ungebetenen Gaeste gern noch fern gehalten haette so lang als +moeglich. Sie standen jedoch an einem wichtigen, bedeutungsvollen Abschnitt +ihres Lebens, und mussten _sehen_, wohin der Weg sie fuehrte. + +In kurzen, einfachen Worten, frei vom Herzen weg, und zu den Herzen +sprechend, weil sie aus dem Herzen kamen, schilderte er ihnen jetzt die +veraenderte Lage in die er, durch das gezwungene Aufgeben seiner +Zeitschrift sowohl, wie durch manche schwere, ihn betroffene Verluste +gekommen. Er verheimlichte ihnen nicht laenger dass er einen Theil -- einen +grossen Theil seines Vermoegens eingebuesst, und das ihm selber liebe Haus +nicht verkaufen wuerde, wenn ihn eben nicht -- die Verhaeltnisse dazu +_zwaengen_. Aber noch blieb ihnen genug nach einem fernen Welttheil +ueberzusiedeln und dort, mit bescheideneren Beduerfnissen, von Neuem zu +beginnen; Amerika mit seiner ungeheuren Lebenskraft bot ihnen nach allen +Seiten hin die Moeglichkeit der Existenz, und das gut und zweckmaessig +angelegte kleine Capital konnte dort gute Zinsen tragen fuer spaetere Zeit. +Hatten sie sich dann etwas verdient, waren die Hoffnungen, mit denen sie +hinueber gingen, Wahrheit geworden, und sehnte sich ihr Herz noch nach dem +Vaterland, wer hinderte sie dann zurueckzukehren zu den theueren Plaetzen, +die ihnen ewig lieb bleiben wuerden in der Erinnerung? + +Dem Professor war es leichter um die Brust geworden, wie er das Eis nur +erst gebrochen. Selbst ueberzeugt von dem was er sprach, wurde er warm, +indem er den Gedanken weiter dachte, und seine Phantasie verlor sich +zuletzt sogar, Luftschloesser aufbauend, zauberschnell in weiter Ferne. Der +Professor ging mit dem Menschen durch, und die leicht geroetheten Wangen +belebte ein eigenes, inneres Feuer. Und die Mutter sass dabei, still und +schweigend, und aengstlich bemueht, in der wiederaufgenommenen Arbeit die +eigene Bewegung zu verbergen. Marie und Anna aber, die des Vaters Haende +erfasst und in den ihren hielten, schmiegten ihre Haeupter an seine +Schultern und fluesterten; die grossen, zu ihm aufgeschlagenen Augen voll +von Thraenen. + +"Genug, genug, Vaeterchen; mal' uns das Alles nicht so praechtig aus -- wohin +Du und Mutter gehn, gehn auch wir, und waer' es mitten hinein in den +wildesten Wald. Kein unzufriedenes Wort sollst Du dabei von uns hoeren, +keine Klage, kein boeses Gesicht weiter -- keine Thraene -- nur die hier sind +uns so ganz von selber ueber die Backen gelaufen, weil wir die Mutter +weinen sahen. Mit Lieb und Lust wollen wir das Leben dort beginnen -- " + +"Und Kuehe und Huehner schaffen wir uns an!" rief Marie, "und die Kuehe +melken wir selber und machen Butter und Kaese." + +"Wie gut," sagte Anna, dass wir im vorigen Jahr auf dem Land bei der Tante +waren, und dort das Alles zum Spass gelernt haben; jetzt wird es uns +nuetzen." + +"Aber nicht wahr, Muetterchen, nun weinst Du auch nicht mehr," rief Marie, +zur Mutter hinuebergleitend, ihren Arm um deren Nacken legend und sie +kuessend -- "drueben wird schon Alles huebsch werden. Und ein paar von den +grossen Holzschuhen nehm' ich mir mit, wie sie die Bauern tragen, fuer +draussen bei nassem Wetter; hei wie wir da herumpatschen wollen und +schaffen und arbeiten; und plaetten thun wir auch selbst, dafuer nimmst Du +kein Maedchen mehr." + +Den frohen, leichten Herzen schwammen schon die gewaltigen Umrisse ihrer +ganzen fernen, so ungewissen Zukunft, in den einzelnen bunten +Kleinigkeiten zusammen, die ihrem Geist, von dem Reiz der Neuheit mit +frischem Duft ueberhaucht, entstiegen. Nur die Lichtpunkte erspaehte der, in +die Ferne arglos hinausschauende Blick, und die goss er sich lustig +zusammen zu einem Ganzen: was dahinter lag, der duestere Hintergrund, den +das erfahrenere Mutterauge wohl erkannt, diente ihnen nur dazu die +einzelnen Lichter staerker hervorzuheben, deutlicher erkennen zu koennen, +und der Himmel spannte sich blau und rein ueber ihren gluecklichen Haeuptern. + + + + + + Capitel 8. + + + DER TANZ IM ROTHEN DRACHEN. + + +Drei volle Monat waren nach den, in den vorigen Capiteln betriebenen +Scenen verflossen, und der Diebstahl im Dollingerschen Hause zu Heilingen, +der eine ganze Woche lang fast das alleinige Stadtgespraech gebildet, wurde +kaum noch erwaehnt. Der vermuthete Dieb (gegen den aber allerdings +nachtraeglich keine weiteren Beweise aufgefunden worden), war zwei Tage +nach dem Sturz von der Bruecke an seiner Kopfwunde gestorben; er hatte die +beiden Tage vollkommen bewusstlos gelegen, und kein Wort mehr gesprochen. +Das uebrige Geld aber -- ausser den zweihundert und einigen Thalern -- wie die +vermissten Pretiosen, konnten, trotz den genausten Nachforschungen nirgends +aufgefunden werden, und hatte er es wirklich gestohlen, so liess sich jetzt +gar nichts Anderes vermuthen, als dass er es irgendwo an einer heimlichen +Stelle vergraben, und ausser Sicht gebracht habe. + +Actuar Ledermann hatte dabei ganze Actenstoesse ueber den Fall geschrieben -- +man wusste wirklich nicht wo er nur den Stoff dazu herbekommen; aber mit +dem ueblichen Canzleistyl wurde die Sache, der jede gruendliche Vorlage +mangelte, nach Moeglichkeit gereckt und ausgedehnt und dann, als sich +Nichts weiter darueber ergab, mit starkem Bindfaden umschnuert und +etiquettirt, um spaeter vielleicht, mit Jahreszahl und Nummer versehn, in +irgend ein staubiges Gefach geschoben zu werden, dort ein Jahrhundert +fortzutraeumen, -- wie der Verstorbene unter dem Rasen, dicht an der +Kirchhofsmauer, an die er, ohne Sang und Klang damals, noch vor Tag, still +und heimlich hinausgeschafft worden. + +Die Geistlichkeit von Heilingen hatte dem Ungluecklichen allerdings sogar +dies "ehrliche Begraebniss" versagen und den Koerper der Anatomie +ueberantworten wollen, da er unter dem Verdacht eines schweren Diebstahls +und gewissermassen als Selbstmoerder seinen Tod gefunden -- was kuemmerte die +stolzen Geistlichen die duldende Liebe die Christus gelehrt, wo _ihre_ +Autoritaet Gefahr leiden konnte gekraenkt zu werden, und sie hatten einmal +verordnet, dass solchen Suendern ein "christliches Begraebniss" versagt werden +solle; aber die Polizei war milder und verstaendiger als die "Diener des +Hoechsten" und erklaerte den Tod des Armen fuer keinen Selbstmord, indem er +nur "auf der Flucht" umgekommen, waehrend wahrscheinlich der ihm +beigegebene Waechter die allerdings unschuldige, und nicht zur +Verantwortung zu ziehende direkte Ursache, seines Todes gewesen sei. + +Aber fort -- fort mit den traurigen Bildern; das menschliche Leben hat der +dunklen Seiten so viele, und sie draengen sich uns doch auf, wohin wir +gehen -- nur der Augenblick gehoeret uns, und nicht muthwillig wollen wir +den Schmerz suchen. So mag mir der Leser denn noch einmal zum rothen +Drachen hinaus folgen -- es dauert vielleicht lange, ehe wir den Platz +wieder zu sehn bekommen -- und dort toent heut froehliche Musik aus dem +hellerleuchteten Saal des grossen Hauses, der mit Guirlanden und Blumen und +jungen Birkenreisern festlich geschmueckt ist, indess ihn eine muntere, laut +und lustig durcheinander wogende Schaar belebt. + +Kaum eine Viertelstunde -- oder eine "halbe Pfeife Tabak", wie die Bauern +sagten -- vom rothen Drachen entfernt, lag Schloss Hohleck an der anderen +Seite des naemlichen Huegelrueckens, das gegenueber liegende Thal +ueberschauend, und der Besitzer desselben, Graf von Hohleck, feierte heute +die Vermaehlung seines aeltesten Sohnes, der dabei das Gut selber uebernahm, +und nun seinen Leuten dem Tag zu Ehren ein Fest "in der Schenke" gab. Bier +und Branntwein waren dabei zu freier Verfuegung gestellt, und ein starkes +Musikchor aus der Stadt engagirt worden, den Leuten die ganze Nacht +hindurch zum Tanze aufzuspielen -- und sie machten Gebrauch davon. + +Aber auch aus Heilingen selber hatten sich eine Menge Gaeste eingefunden, +dem muntern Leben und Treiben der froehlichen Menschen zuzuschauen, und +waehrend der untere Gartensaal einzig und allein den Dienstleuten des +Rittergutes eingeraeumt war, zu dem den Stadtleuten jedoch gastlich der +Zutritt gestattet wurde, hatten sich die letzteren noch besonders in einem +paar der kleineren Stuben festgesetzt, wo sie ihren Wein oder ihr Bier +tranken oder auch eine Parthie spielten, die Zeit auszufuellen. + +Zu den Gaesten aus der Stadt gehoerten auch mehre unserer alten Bekannten, +unter ihnen Kellmann und Schollfeld, zwei Stammgaeste des rothen Drachen. +Ledermann war ebenfalls, wenn auch spaeter, herausgekommen und ihnen hatte +sich noch der Auswanderungsagent Weigel -- sehr zum Aerger Schollfeld's, +der ihn nicht ausstehen konnte -- zugesellt. Weigel blieb aber nicht ruhig +an ihrem Tisch sitzen, sondern ging ab und zu, und hatte sein Glas nur mit +bei ihnen stehn, gewissermassen seinen Platz zu belegen. + +Ledermann war uebrigens heute sehr still und niedergeschlagen, er hatte +sein einziges Kind vor etwa vierzehn Tagen verloren, und schien sich das +sehr zu Herzen zu nehmen, erklaerte auch nur herausgekommen zu sein, sich +ein wenig zu zerstreuen und die Gedanken los zu werden, die ihn in der +Stadt drin peinigten. + +Uebrigens war ihm in den letzten Tagen hoechst unerwarteter Weise eine +kleine Erbschaft von 600 Thalern zugefallen und Schollfeld, der heute +Abend aussergewoehnlich gut aufgeraeumt schien, versuchte jetzt sein Bestes +des Freundes Grillen oder truebe Gedanken ebenfalls zu verscheuchen. + +"Hoeren Sie einmal Ledermann," begann er, mit dem Deckel seines Kruges +klappend und mehr Bier verlangend -- "wie ist denn die Geschichte nun mit +den 600 Thalern? -- beilaeufig gesagt schneiden Sie ein Gesicht dabei, als +ob Sie Schwefelsaeure verschluckt haetten." + +"Er hoert nicht einmal," sagte Kellmann, als der Actuar kein Wort darauf +erwiederte, und die Anrede in der That gar nicht verstanden zu haben +schien -- "Ledermann, Mensch, wo sind Sie jetzt mit Ihren Gedanken, im +rothen Drachen bei Heilingen, im Monde, oder in Amerika?" + +"Wo?" sagte der Actuar, rasch und fast verstoert aufschauend, als aber die +Anderen laut lachten, schuettelte er mit dem Kopf und seinen Krug nehmend +und trinkend sagte er ruhig und ernst: + +"Ach lasst mich zufrieden Kinder -- ich habe den Kopf voll, und bin +wahrhaftig heute Abend nicht zum Spassen aufgelegt." + +"Nicht zum Spassen aufgelegt?" rief aber Schollfeld, Kellmann unter dem +Tisch anstossend -- "ist auch gar nicht noethig mein lieber Actuar -- wir +spassen auch hier gar nicht; Jemand aber, der eine Erbschaft macht und +irgendwo Stammgast ist, ueberkommt dabei die moralische Verpflichtung +irgend etwas zum Besten zu geben, und es bleibt ein Skandal, dass man einen +solchen Glueckspilz auch nur noch daran erinnern muss. Hat der Henker da +wieder den Schleicher, den Weigel," unterbrach er sich aber ploetzlich mit +etwas leiserer Stimme, als er sah wie dieser das Zimmer wieder betrat, und +sich ihrem Tische zuwandte -- "ich hatte schon gehofft wir wuerden ihn heute +Abend los sein; jetzt ist _mein_ Vergnuegen beim Teufel." + +"Nun meine Herren, noch so froehlich beisammen?" sagte Weigel jetzt, indem +er zum Tisch trat -- "ah, da sind ja der Herr Actuar auch noch dazu +gekommen -- bitte behalten Sie ja Platz, ich ruecke ein klein wenig hier +herueber -- so -- das geht vortrefflich. Nun, der Herr Actuar haben in diesen +Tagen ein grosses Glueck gehabt -- da darf man ja wohl gratuliren." + +"Danke herzlich," sagte Ledermann ruhig; "es wird uebrigens so viel von den +paar hundert Thalern gesprochen, als ob's eben so viel Tausende waeren." + +"Ih nun, das lassen Sie gut sein," sagte aber Weigel, mit dem Kopf +schuettelnd -- "sechshundert Thaler richtig angewandt koennten in der That in +kurzer Zeit zu so viel Tausenden werden." + +"Wenn man sich Saechsische Loebau-Zittauer Eisenbahnactien dafuer kaufte, +nicht wahr?" sagte Schollfeld, das Gesicht halb in den ebengebrachten Krug +versteckt, und einen grimmigen Blick ueber den Rand desselben hin, nach dem +Auswanderungsagenten schiessend. + +"Nun das gerade nicht," schmunzelte Herr Weigel, sein Glas ein wenig +weiter auf den Tisch schiebend, und sich die Haende reibend, "da wuesste ich +doch noch eine bessere Speculation." + +"Und die waere," sagte der Actuar, seitwaerts zu ihm aufschauend. + +"Wenn Sie sich eine kleine Farm in Amerika kauften." + +"Puh!" rief Schollfeld, veraechtlich den Kopf abwendend, "jetzt sein Sie so +gut, kommen Sie uns hier nicht mit Ihrer alten Leier von dem verdammten +Amerika, und verderben Sie uns das Bier nicht -- hier ist auch Nichts zu +verdienen, denn von uns geht doch keiner hinueber." + +"Lieber Herr Schollfeld," sagte aber Weigel mit grosser Ruhe, "von _uns_ +weiss noch Niemand was er naechstes Jahr thun wird, und verschwoeren laesst +sich so eine Sache nun einmal gar nicht -- Amerika ist immer noch ein +Zufluchtsort." + +"Ja fuer die Spitzbuben und Hallunken, _da_ haben Sie recht!" rief der +Apotheker. + +"Ne lieber Herr Weigel!" rief aber auch Kellmann jetzt -- "mit sechshundert +Thalern kann ich da drueben auch Nichts anfangen, und bin dann noch +obendrein bei jedem Schritt und Tritt der Gefahr ausgesetzt, dass ich +betrogen und hintergangen werde. Man kann dort ja nicht einmal seinem +eigenen Bruder trauen." + +"Aber mein bester Herr Kellmann, das sind die unglueckseligen Ideen, die +von -- na, ich will keinen Namen nennen -- ausgesprengt werden, um die Leute +blind zu machen, rein blind. Sie sollen eben nicht sehen was fuer +Vortheile, fuer fabelhafte Vortheile dort gerade fuer sie zu Tage liegen, +und die Geruechte von dort veruebten Betruegereien haengen eben als +Vogelscheuche ueber den Erbsen. Wir haben _hier_ eben so viele schlechte +Charaktere wie in Amerika." + +"Ob eben so _viel_, will ich dahingestellt sein lassen," sagte Schollfeld +mit einem nichts weniger als freundlichen Seitenblick auf den Agenten -- +"aber eben so schlechte gewiss." + +"Nun also," erwiederte Weigel freundlich, ohne auf den Hieb einzugehn, ja +im Gegentheil die Waffe laechelnd umdrehend -- "sehn Sie, selber Herr +Schollfeld stimmt mir darin bei." + +"Ja aber nicht wie _Sie_ es meinen!" rief da Schollfeld entruestet, +keineswegs gesonnen sich die Worte so im Munde verdrehen zu lassen. + +"Von den Betruegereien will ich noch gar Nichts sagen," unterbrach ihn aber +Kellmann, ziemlich in Eifer -- "was ich dagegen sehr guten Grund habe zu +bezweifeln, sind die billigen Landkaeufe, sind dabei die Erleichterungen, +welche diese republikanische Regierung allen moeglichen Gewerken und +Unternehmungen bietet, die geringen Taxen, der freie Verkehr und Umsatz im +Innern. Das wird Alles ausgemalt mit Gold und Silber und Himmelblau, und +kommt man am Ende hinueber, so hat man die ganze naemliche Geschichte wie +bei uns. Dass all das nichtsnutzige Gesindel dort ohne _Pass_ herumlaufen +darf, mag wahr sein, das halte _ich_ aber eben fuer keinen Fortschritt." + +"Verehrtester Herr Kellmann!" rief aber Weigel in Eifer -- "gegen +_Thatsachen_ koennen wir doch nicht anstreiten; wir wollen doch nicht blind +und taub mit dem Kopf gegen die naechste, und womoeglich haerteste Wand +rennen? wir sind doch vernuenftige Menschen, aber haben Sie nicht alle die +neueren Schriften jetzt gelesen, die -- " + +"Ach gehn Sie mit Ihren Schmierereien," rief aber Schollfeld, dem das +Gespraech jetzt zur Last wurde, "fuer einen Thaler den Bogen malen ihnen die +lumpigen Literaten selbst die Hoelle himmelblau an, und kleben von oben bis +unten Sterne drueber. Lasst mir jetzt Euer Geschwaetz von Amerika hier, oder +ich stehe, Gott straf mich, auf, und setze mich wo anders hin." + +"Nun, jeder darf sich hinsetzen wo es ihn gerade freut," sagte Weigel, +wirklich etwas beleidigt, obgleich er sonst einen ziemlichen Theil +vertragen konnte. + +"Ja leider," sagte aber Schollfeld, mit wieder einem Seitenblick auf den +Agenten, der diesen doch jetzt vermochte aufzustehn und sein Bier +auszutrinken. + +"Herr Schollfeld," sagte er dabei, "Sie sind in der Stadt als ein +Antiamerikaner bekannt, und ich glaube Sie wuerden den Leuten eher zu einer +Auswanderung nach Sibirien wie nach Nordamerika rathen." + +"Wuerde ich auch," sagte Herr Schollfeld trotzig, sich den Hut noch fester +in die Stirn drueckend. + +"Nun ja, der Geschmack ist verschieden -- Jeder weiss am Besten wohin er +gehoert, und dahin treibt ihn der Instinkt," sagte Herr Weigel +achselzuckend, indem er den Tisch verliess, und Kellmann erwischte eben +noch zur rechten Zeit Schollfeld hinten am Frackzipfel, der aufspringen +und dem sich rasch entfernenden Weigel nach wollte. + +"Aber so fangen Sie hier doch um Gottes Willen keinen Skandal mit dem +Menschen an!" rief Kellmann leise und bittend. + +"Instinkt treibt?" rief aber Schollfeld jetzt, da er sich hinten, +vielleicht gern, gehalten fuehlte -- laut hinter dem Davoneilenden her -- +"Sie wird bald 'was anders treiben Sie -- Sie _Seelenverkaeufer_ Sie!" + +"Pst!" rief aber auch der Actuar jetzt, ihn rasch zu sich niederziehend -- +"Sind Sie denn ganz vom Boesen besessen Apotheker? auf das Wort koennte er +Ihnen, wenn er's noch gehoert haette, die schoenste Injurienklage an den Hals +haengen." + +"S'ist aber wahr -- der Lump!" rief Schollfeld aergerlich, den leeren Krug +zum hastigen Trunk aufhebend, und denselben dann laut auf den Tisch +aufstossend -- "es ist ein Seelenverkaeufer, der Kerl, und um einen Thaler +beschwatzt er das Kind, dass es die Eltern, den Mann, dass er die Frau +verlaesst -- hier Kellner, noch ein Glas Bier. -- Sprecht mir von Raubmoerdern +und Strassenraeubern, gegen die das Gericht einschreitet und ihnen das +Handwerk legt -- allen Respect vor einem Mann, der es den Leuten geradezu +in's Gesicht wirft, "ich _bin_ ein schlechter Kerl -- ich stehle wo ich's +bekommen kann, und wo ich's nicht gutwillig kriege mord' ich auch; aber +solche heimliche Hallunken sind die Upasbaeume der menschlichen +Gesellschaft -- sie vergiften was sie erreichen koennen, und von aussen geben +sie sich das Ansehen eines ehrlichen Baumes und haben gruene Blaetter und +glatte Rinde. Gegen _die_ Schufte sollte eingeschritten werden, nicht mit +Geldstrafen oder Gefaengniss, nein mit Knute und Strang -- +Himmeldonnerwetter, wenn ich da 'was in der Regierung zu befehlen haette." + +"Sie wuerden schoene Geschichten anrichten, kann ich mir etwa denken," sagte +der Actuar trocken, "s'ist so schon manchmal wie's ist. Lassen Sie doch +jeden seinen Weg gehn in der Welt; der liebe Gott weiss wohl wozu's gut +ist. Blutigel sind auch unangenehme Geschoepfe in der Naturgeschichte, und +doch verwendet sie die Natur wieder zu hoechst nuetzlichen und nothwendigen +Zwecken; denken Sie sich so ein Individuum waere ein menschlicher +Blutigel." + +"Dann trink' ich aber nicht mein Bier an einem Tisch mit ihm," rief der +Apotheker. + +"Bah, das ist wieder zu weit gegangen," sagte Kellmann, "viel zu weit +gegangen. 'Was Schlechtes koennen Sie dem Mann ueberhaupt nicht nachsagen, +denn dass er fuer Amerika wirbt, ist einesteils sein Geschaeft, anderntheils +seine Ansicht, und er koennte Ihnen von _seinem_ Standpunkt aus dann +ebensogut wieder vorwerfen, dass Sie eine Menge Menschen absichtlich +ungluecklich machten, die sie von einer Auswanderung nach jenem Lande +abhielten." + +"Unsinn -- baarer Unsinn!" rief aber Schollfeld, unwillig den Kopf herueber +und hinueber werfend -- "Jemand ungluecklich machen, dass man ihm von einer +Auswanderung nach Amerika abraeth, waere gerade so, als ob ich als eines +Menschen Moerder betrachtet wuerde, den ich abhalte aus dem dritten Stock +auf die Strasse zu springen. Aber hol den Lump der Henker," brach er kurz +und aergerlich ab, "ich war so guter Laune und jetzt hat er mir den ganzen +Abend verdorben. -- Nach Sibirien auswandern -- " brummte er dabei, +waehrend er eine neue Cigarre aus der Tasche nahm und sie an dem, auf dem +Tisch stehenden Licht entzuendete -- "Holzkopf der -- nach Sibirien +auswandern -- ich will nur einmal in den Saal gehn und sehn wie sie's da +treiben, dass man auf andere Gedanken koemmt -- ich bin bald wieder da." Und +von seinem Stuhl aufstehend verliess er langsam, und immer noch vor sich +hin murmelnd, das Zimmer. + +Der Actuar stand ebenfalls auf und nahm seinen Hut. + +"Na nu?" sagte aber Kellmann erstaunt -- "was ist das fuer eine Wirthschaft +heut Abend? Schollfeld laeuft fort, Lobsich hat sich gar nicht sehen +lassen, und Sie wollen jetzt auch Fersengeld geben? wo bleibt denn da +heute Abend unser Solo? -- wir koennen doch nicht wie die Pferde zu Bette +gehn, ohne unsere Parthie gespielt zu haben?" + +"Mir ist heute nicht wie spielen," sagte der Actuar, langsam mit dem Kopfe +schuettelnd, "ich habe auch Kopfschmerzen, und an der frischen Luft wird +mir wohl besser werden." + +"Fort duerfen Sie aber noch nicht," sagte Kellmann, indem er sein Bier +austrank, und ebenfalls aufstand, "da wollen wir lieber einmal unten im +Garten auf und ab gehn." + +Der Actuar zoegerte einen Augenblick, dann aber legte er schweigend seinen +Arm in den Kellmann's und beide Freunde gingen mitsammen die Treppe +hinunter. + +Es war indessen vollkommen dunkel geworden, und die Leute hatten sich, des +feuchten Abends, wie des im Saal wogenden Tanzes wegen, meist alle aus dem +Garten hinaus, und in die mehr geschuetzten Raeume der Gebaeude gezogen. Nur +hie und da sass noch irgend ein kosendes Paerchen in einer Laube, oder +schwaermte auch wohl auf dem Vorbau des Gartens nach dem, gerade ueber dem +nebelgefuellten Thal jetzt aufzeigenden Vollmond hinueber, dessen grosse +rothe Scheibe sich gluehend aus den Bergen hob, und das weite, +thaublitzende Thal ueberschaute. + +Kellmann ging ruhig neben dem still vor sich nieder schauenden Freund her, +bis sie den breiten Fussweg der schoenen ebenen Chaussee erreichten, und +eine kleine Strecke derselben hinauf gewandert waren; dann aber blieb er, +diesen zurueck haltend, ploetzlich stehen, und sagte mit freundlichem, +herzlichen Ton: + +"Aber lieber Ledermann, Sie duerfen sich Ihrem Schmerz um das Kind nicht so +ganz und ruecksichtslos hingeben; lieber Gott ich begreife dass es ein +schwerer, recht schwerer Verlust ist, aber Gott hat's gegeben und Gott +hat's genommen, und wer weiss ob dem kleinen lieben Wesen dadurch nicht +vielleicht ein recht truebes und schmerzliches Dasein erspart wurde." + +"Es ist nicht das Kind, Kellmann," sagte aber der Actuar, leise mit dem +Kopf schuettelnd, "nicht der Tod meiner kleinen Adele nagt mir jetzt am +Herzen, obgleich der da oben weiss wie weh er mir gethan -- nein, ich halte +ihn sogar unter den jetzigen Verhaeltnissen, in denen ich lebe, fuer ein +_Glueck_, und es ist _furchtbar_, dass ich gezwungen bin so etwas von dem +Tod meines eigenen, einzigen Kindes zu sagen." + +"Aber was, um Gottes Willen, haben Sie _denn_?" rief Kellmann, verwundert +vor ihm stehen bleibend und ihn anschauend. "Irgend etwas _ist_ +vorgefallen, aber was? -- etwa wieder zu Hause der alte wunde Fleck?" + +Ledermann nickte finster und schweigend mit dem Kopf. + +"Aber was _will_ sie denn eigentlich," rief Kellmann finster die Brauen +zusammen und seinen Arm aus dem des Freundes ziehend, um besser +gesticuliren zu koennen -- "Wetter noch einmal, Ledermann, Sie haetten da +schon lange ernst und entschieden auftreten sollen, die Sache ist jetzt +schon viel zu weit eingerissen, und die Frau bringt sie, wenn das so fort +geht, wahrhaftig noch unter die Erde." + +"Ernst und entschieden auftreten? -- lieber Gott," stoehnte der Actuar +kopfschuettelnd -- "soll ich mir denn die letzte leiseste Hoffnung auf +einen, nur moeglichen Hausfrieden selber muthwillig vernichten? -- _Sie_ +haben gut reden; _Ihr_ Geschaeft ist in Ihrer eignen Wohnung, und Ihre +Erholung gestattet Ihnen, _die_ ausserhalb desselben zu suchen, ich aber +sitze und schwitze den ganzen lieben ausgeschlagenen Tag auf dem +verwuenschten Bureau, und komme ich dann Abends zu Hause, und sehne mich +nach einer halbstuendigen gemuethlichen Ruhe, so beginnt die Frau, und wenn +sie eine Ursache aus der Luft greifen sollte, mir das Leben zu einer Hoelle +zu machen. Lieber Gott, es fiele mir ja gar nicht ein Abends in ein +Wirthshaus zu gehn, wenn ich Frieden daheim haette; es giebt vielleicht +wenig Menschen in der Welt, die sich so nach einem stillen, haeuslichen +Leben sehnen, wie gerade ich, und keinen, Kellmann, keinen weiter, dem es +_so_ verbittert, so gaenzlich aus dem Fenster geworfen wird, jeden Abend +wieder von Frischem, wie gerade mir." + +"Aber was ist denn nur vorgefallen?" + +"Das Ganze ist mit wenig Worten erzaehlt," sagte der Actuar nach kurzer +Ueberlegung entschlossen, "und Sie sollen mir rathen, wie ich im Stande +bin mich einem Zustand zu entziehn, der mir unertraeglich wird. Sie haben +gehoert dass ich von einem entfernten Verwandten sechshundert Thaler geerbt, +die ich in den naechsten Wochen ausgezahlt bekomme. Das Vernuenftigste nun +waere das Geld in irgend einem _sichern_ Staatspapier, oder in guten Actien +anzulegen, und mit den wenigen, aber gewissen Zinsen meinen, ueberdies +aermlichen Gehalt zu erhoehen -- ich habe fuenfhundert Thaler jaehrlich und +weiss bei Gott oft nicht wie ich auskommen soll." + +"Nun gut, das ist ja Alles so schoen und glatt wie es nur sein kann." + +"Jawohl, aber meine Frau besteht darauf das Capital ihrem Bruder geben zu +wollen, der ein Geschaeft hat und mir _fuenf_ Procent verspricht." + +"Ih nun, wenn es da sicher angelegt ist -- fuenf Procent waere aller Ehren +werth." + +"Aber es _ist_ nicht sicher angelegt; der Bursche ist ein liederlicher +leichtsinniger Mensch, der schon einmal Bankerott gemacht hat und -- wie +ich ziemlich guten Grund habe zu vermuthen -- an der Grenze eines zweiten +steht." + +"Ahem," sagte Kellmann nachdenkend. + +"Geb ich _ihm_ das Geld," fuhr der Actuar fort, "so ist es ueber Jahr und +Tag, so sicher wie dort drueben der Mond aufgeht, verloren, und geb' ich es +ihm _nicht_, so weiss ich dass mir die Frau zu Hause den eignen Heerd zur +Hoelle macht." + +"Aber Donnerwetter, Ledermann, nehmen Sie mir das nicht uebel," sagte +Kellmann stehen bleibend, "da wuerde ich denn doch einmal einen Trumpf +darauf setzen und mein Recht als Mann und Herr im Hause wahren; nur durch +Ihr ewiges Nachgeben haben Sie die Geschichte schon so, in Grund hinein +verdorben." + +"Aber was _soll_ ich thun?" rief der Actuar verzweifelnd -- "mit Worten +_kann_ ich nicht gegen sie anstreiten, nicht sechs Maenner koennten das; in +Ruhe und Guete ist Nichts anzufangen mit ihr, und schlagen darf und will +ich sie ebenfalls nicht." + +"So lassen Sie sich scheiden, zum Wetter noch einmal;" rief Kellmann, +"lieber doch eine trockne Brodrinde kauen, als mit solchem Drachen das +ganze Leben, eine ganze Existenz, muehselig und qualvoll hinzuschleppen." + +"Heute Abend zum ersten Mal," sagte der Actuar seufzend, "habe ich ihr +selber damit gedroht; ich habe ihr vorgehalten, dass sie sich mit mir nicht +gluecklich fuehlen _koenne_, weil sie fortwaehrend, und ohne auch nur einen +einzigen Tag Frieden zu gestatten, zanke, und das Beste sein wuerde, wir +liessen uns, einem Leben zu entgehen das auf die Laenge der Zeit doch nicht +durchgefuehrt werden koenne, gerichtlich scheiden." + +"Nun? -- und was hat sie darauf erwiedert?" + +"Ich bin fortgelaufen," sagte der Actuar, seufzend den Kopf von dem Freund +abwendend, "denn sie wurde -- sie wurde so heftig, und betrug sich -- betrug +sich so unvernuenftig, dass ich mich vor den Nachbarn schaemte, und lieber +Hut und Stock nahm, den Frieden wieder, wie schon so oft, auswaerts zu +suchen." + +"Also sie weigert eine Scheidung?" + +"Sie schwur sie wolle mir die Augen auskratzen, wenn ich noch einmal ein +derartiges Wort erwaehne, zerbrach dann in ihrer Wuth Gott weiss was Alles, +und -- ich glaube sie bekam nachher Kraempfe -- ihr altes Leiden. Erst hatte +ich gehofft der Tod des Kindes wuerde sie milder stimmen, aber nein, und +wenn mich etwas ueber den Verlust des kleinen lieben Wesens troesten koennte, +so ist es gerade der Gedanke, es dem boesen Beispiel, das ihm die eigene +Mutter taeglich gab, entrissen zu sehn -- was haette zuletzt aus ihr werden +sollen, als eben eine solche Frau." + +"Und so ist gar keine Hoffnung, mit Guete durchzukommen? -- " + +Der Actuar schuettelte schweigend mit dem Kopf. + +"Hm, das ist eine verfluchte Geschichte," sagte Kellmann, "da -- da weiss +ich wahrhaftig auch nicht was ich rathen soll. Das Geld vertraute ich aber +-- wenn die Sache _so_ steht -- meinem Schwager auch nicht an, soviel ist +sicher -- Sie sind das sich selber und Ihrer eigenen Existenz schuldig." + +Der Actuar seufzte tief auf und die beiden Maenner gingen wieder eine +Zeitlang, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschaeftigt, nebeneinander +hin. Sie waren indess die Strasse ein Stueck hinauf- und wieder +zurueckgegangen, und blieben jetzt mehre Minuten nicht weit von dem Eingang +des Gartens stehn, den Ruecken diesem, und ihr Gesicht dem sich gerade ueber +die Berge hebenden Monde zugewandt, als ein junges Maedchen, noch ein Kind +fast und augenscheinlich auf der Wanderung, ganz allein mit einem kleinen +Buendel in der linken Hand, und einem grossen dunklen Tuch ueber dem rechten +Arm, die Strasse herunter kam und ziemlich dicht an ihnen vorueberging. So +viel sie im Mondenlicht erkennen konnten, war sie nur aermlich gekleidet, +und auch wohl ermuedet von einem vielleicht langen Marsch, denn sie blieb +zweimal stehen und trocknete sich dabei den Schweiss von der Stirn. + +Das zweite Mal als sie Halt machte geschah das fast dicht vor den beiden, +hier im Schatten eines Hollunderbusches stehenden Maennern, die sie im +Anfang gar nicht bemerkte, und sie schien den Toenen zu lauschen die aus +dem etwa zweihundert Schritt davon gelegenen hellerleuchteten Gartenhaus +wild und lustig heraustoenten. + +"Froehliche Menschen," fluesterte sie dabei -- "_Glueckliche_;" wie sie aber +den Kopf dem Lichte zuwandte, fiel ihr Blick auch auf die beiden dunklen +Schatten unter der Mauer, und wie unwillkuerlich fuhr sie zurueck; dabei +glitt ihr das Buendel aus der Hand und fiel zu Boden. + +"Wir thun Dir Nichts, Kind," sagte Kellmann, der die Bewegung gesehen +hatte, gutmuethig; "wo willst Du denn noch so spaet hin?" + +"Nach Heilingen," antwortete das fremde Maedchen, ihr Buendel wieder +aufnehmend -- "ist es noch weit bis dorthin?" + +"Eine halbe Stunde etwa, wenn Du ruestig zugingst; aber Du scheinst muede zu +sein und wirst wohl laenger brauchen." + +"Ich komme weit her," sagte die Fremde, aber sie zoegerte dabei und es war +als ob sie noch nach irgend etwas fragen oder um etwas bitten wolle, und +sich auch wieder scheue es zu thun. + +"Du bist wohl hungrig, Kind?" frug sie da Kellmann, dessen gutes Herz ihn +zu helfen draengte, wo das in seinen Kraeften stand -- "sag's gerad' heraus; +und wenn Du kein Geld hast macht das nichts, ich schaffe Dir was." + +Das Maedchen schwieg und drehte seufzend den Kopf ab und Kellmann, dem +richtigen Princip der Gastlichkeit und Menschenliebe treu, nicht viel zu +fragen erst, wo man gern giebt, sagte ihr sich einen Augenblick auf die +kleine Bank am Thor zu setzen, und er werde ihr einen Imbiss holen -- sie +koenne dann Heilingen bald erreichen. Ohne erst eine Antwort abzuwarten +ging er darauf rasch in's Haus, und das Maedchen zoegerte noch einen +Augenblick und folgte dann, augenscheinlich zum Tod ermuedet, der +freundlichen Einladung. + +"Du kommst weit her?" sagte der Actuar endlich, der neben ihr stehn +geblieben, im Anfang aber noch zu sehr mit seinen eigenen Gedanken +beschaeftigt war, viel auf die Fremde zu achten. + +"Von Erfurt." + +"Von Erfurt? hm -- das ist eine lange Strecke; zu Fuss den ganzen Weg?" + +"Ja." + +"Und willst in Heilingen bleiben?" + +"Ich weiss es noch nicht." + +"Hast Du Verwandte dort?" + +"Einen Bruder." + +"Hast Du denn einen Pass bei Dir?" + +"Ja," sagte das Maedchen und holte, mit einem scheuen Blick auf den Frager, +ihr kleines Buendel vor, das sie Miene machte aufzuknuepfen, der Actuar +aber, der die Bewegung verstehen mochte, sagte rasch: + +"Nein nein -- lass nur sein -- ich will ihn nicht sehen -- ich frug nur +Deinethalben, damit Du hier in der Stadt in keine Verlegenheit kaemest. Da +ist auch Freund Kellmann schon mit dem Essen -- nun lass Dir's schmecken." + +"Da," sagte der kleine Kuerschner, der schnellen Schrittes mit einem grossen +gestrichenen Weissbrod und einem hohen Glas Milch herankam und es der +Fremden reichte -- "das wird Dir gut thun." + +Das junge Maedchen nahm das Glas mit schuechternem Danke an und trank -- erst +ein wenig, dann aber herzhafter -- sie mochte wohl recht durstig gewesen +sein. Wie sie fertig war setzte sie das Glas auf die Bank zurueck und nahm +ihr Buendel wieder auf. + +"Ich danke Ihnen auch noch viel tausend Mal," sagte sie dabei mit weicher, +ergriffener Stimme -- "ich hatte seit heute Morgen Nichts gegessen und war +recht matt geworden." + +"Armes Kind," sagte Kellmann mitleidig -- "aber hast Du denn schon einen +Platz in der Stadt wo Du uebernachtest?" + +"Ja," sagte die Kleine -- "ich denke so -- koennen Sie mir aber wohl noch +sagen ob das Haus des reichen Herrn Dollinger nahe am Thore ist, oder weit +in der Stadt drin?" + +"Dollinger's Haus? oh nicht so weit in der Stadt drin -- aber was willst +Du dort?" + +"Mein Bruder ist in Herrn Dollinger's Geschaeft -- wohnen auch die Leute bei +ihm im Hause?" + +"Nicht dass ich wuesste," sagte Kellmann. + +"Aber man kann es doch dort erfahren wo sie wohnen?" + +"Gewiss -- gleich unten im Haus bei dem Hausmann; frage nur nach der +Poststrasse, wenn Du in's Thor kommst." + +"Gute Nacht Ihr Herren, und nochmals schoensten Dank -- Gott mag es Ihnen +vergelten." + +"Gute Nacht Kind, guten Weg," sagte Kellmann, "aber -- wie heisst denn Dein +Bruder?" + +"Franz Lossenwerder," sagte das Maedchen und ging langsam die Strasse hinab. + +"Oh Du mein Gott," rief der Actuar leise und erschreckt vor sich hin, wie +er den Namen hoerte -- "das ist ja schrecklich." + +"Du lieber Gott, das arme Ding muss von dem Schicksal des Bruders gar +Nichts wissen," seufzte auch Kellmann -- "und wenn sie das jetzt heute +Abend erfaehrt -- o wo wird sie nur die Nacht bleiben?" + +"Armes, armes Kind," sagte der Actuar, "und selbst ohne Geld in der +fremden Stadt." + +"Ich geb' ihr etwas," rief Kellmann, rasch entschlossen, und eilte "heh! -- +pst!" rufend die Strasse hinab dem Maedchen nach, das stehen blieb und nach +Buendel und Tuch fuehlte als sie den Ruf hoerte, weil sie glaubte dass sie +vielleicht etwas vergessen haette. + +"Liebes Kind," stotterte aber Kellmann verlegen, als er sie eingeholt, +denn er konnte es nicht ueber's Herz bringen ihr die Wahrheit zu sagen -- +"ich -- ich kenne Deinen Bruder, aber -- er ist jetzt nicht in Heilingen -- +Du -- Du wirst es morgen schon hoeren, und im Dollingerschen Hause koennen +sie Dir auch heute nichts weiter sagen, es ist sogar sehr die Frage ob der +Mann unten im Haus noch auf ist. Gleich wenn Du in's Thor hineinkommst, +das dritte Haus an der rechten Seite, vor dem die beiden Laternen stecken, +ist ein Gasthaus -- ein gutes anstaendiges Haus, wo sie Dir Quartier geben +werden -- da gieb ihnen diese Karte, der Wirth kennt mich, und sage ihm nur +ich haette Dich hingeschickt." + +"Aber bester Herr," sagte das Maedchen bestuerzt, als ihr der gutmuethige +Kuerschnermeister mit der Karte zwei grosse Stuecken Geld -- es waren zwei +Thaler -- in die Hand drueckte -- "ich weiss gar nicht -- " + +Kellmann liess sie aber gar nicht zu Worte kommen. + +"Schon gut -- schon gut," rief er, drehte sich um, und kehrte, das Maedchen +allein auf der Strasse zuruecklassend, eben so rasch nach dem Platz zurueck, +wo der Actuar noch seiner harrend stand. + +"Haben Sie es ihr gesagt?" frug dieser ihn. + +"Nein -- um Gottes Willen nein; das moegen Andere thun, _ich_ koennte es +nicht." + +"Aber was soll jetzt aus ihr werden?" + +"Ich werde mich im Loewen schon nach ihr erkundigen," sagte Kellmann nach +kurzer Ueberlegung -- "und wenn es ein ordentliches Maedchen ist, hab ich +Bekannte genug hier in der Stadt, ihr einen Dienst zu verschaffen. Aber +wie ist es denn mit der Lossenwerderschen oder Dollingerschen Geschichte +geworden? ist denn noch etwas von dem gestohlenen Gut zu Tage gekommen? -- +man hoert ja keine Sterbenssylbe mehr darueber." + +"Nichts -- gar nichts weiter," sagte der Actuar; "im Gegentheil hat der +arme Teufel von Lossenwerder ein kleines Tagebuch gefuehrt gehabt, was sich +unter den confiscirten oder mit Beschlag belegten Sachen fand, und worin +er jeden bis dahin eingenommenen Groschen sorgfaeltig und ordentlich, mit +seinen hoechst bescheidenen Ausgaben, aufnotirt. Das aber als gueltig +angenommen -- und wir haben nicht die mindeste Ursache es zu bezweifeln da +es fast zwoelf Jahre zurueckfuehrt -- waere im Gegentheil der Beweis geliefert +dass die aufgefundenen zweihundert Thaler muehsam und redlich gespartes Geld +gewesen waeren." + +"Und _kein_ anderer Beweis hat sich gegen ihn herausgestellt?" + +"Keiner, als dass er im Hause war und sich auffaellig heimlich daraus +entfernt hat; aber auch selbst das findet nach den Acten eine +wahrscheinliche, wenn auch etwas wunderliche Erklaerung. Nach einer Zahl +vieler hoechst mittelmaessiger, oft aber auch ziemlich guter Gedichte, in +denen sich besonders viel Gemueth ausspricht, scheint der arme verwachsene +und huelflose Mensch eine Art von -- Liebe -- ich kann es nicht anders +nennen, gegen Dollinger's juengste Tochter und Henkel's Braut in seinem +unschoenen Koerper mit herumgetragen, und nur, seinen Standpunkt gar wohl +erkennend, den einzelnen, in seinem Pult verschlossenen Blaettern +anvertraut zu haben -- doch das unter uns. Diese unglueckselige und +hoffnungslose Neigung _kann_ ihn moeglicher Weise dazu getrieben haben, dem +jungen Maedchen zu ihrem Geburtstag einen Blumenstock zu schenken -- er hat +sogar ein Gedicht geschrieben was den Punkt beruehrt, und worin er sich +gluecklich fuehlt dass sie eine Blume pflegen koennte die er gezogen, wenn sie +auch nicht wuesste von wem sie kaeme. Dass er unter solchen Umstaenden nicht +wollte im Hause gesehen sein laesst sich denken, und ein Diebstahl in ihrem +eigenen Zimmer verliert, diesen Thatsachen gegenueber, an +Wahrscheinlichkeit, wenn er auch nicht eben zu einer Unmoeglichkeit +gehoerte. Das Menschenherz ist schwach, und Mancher schon ist geringerer +Verfuehrung erlegen." + +"Hm, hm, hm," sagte Kellmann vor sich hin -- "das ist ja eine rechte, +rechte boese Geschichte, und der arme Teufel da am Ende ganz und gar +unschuldig in sein Verderben gesprungen." + +"Ja, und eine Sache die mir selber schon manche schlaflose Nacht gemacht +hat," sagte der Actuar, "denn ich _kann_ den Gedanken nicht los werden, +welchen Antheil ich selber daran gehabt, den Ungluecklichen dahin zu +treiben -- obgleich ich eben nicht mehr als meine Pflicht gethan, und an +einen solchen verzweifelten Schritt nicht denken konnte; war er +unschuldig, haette sich das ja bald in der Untersuchung herausgestellt." + +"Ja, und die Untersuchung rechnet Ihr Herrn vom Gericht eben fuer Nichts," +sagte Kellmann finster -- "aber wenn das sein erspartes, und Gott weiss dann +_wie_ muehsam erspartes Geld war, wird es doch auch seinen Erben nicht +koennen vorenthalten werden." + +"Die Untersuchung ist noch nicht ganz geschlossen," sagte der Actuar, +"aber ich glaube auch nicht dass irgend Jemand anders einen Anspruch darauf +wird geltend machen koennen. Diese Schwester erwaehnte er ueberhaupt mehrmals +in seinen Notizen, und hat sie auch dann und wann unterstuetzt, das Geld +wird ihr spaeter allerdings zugesprochen werden." + +"Und keine Spur ist sonst aufgefunden von dem moeglichen, von dem +wirklichen Dieb?" + +"Keine -- die Dienstboten sind Alle mehrmals scharf inquirirt und auf das +Genauste die ganze Zeit beobachtet, zu sehen ob eins von ihnen vielleicht +groessere Ausgaben als gewoehnlich mache, oder sich durch irgend etwas +anderes verrathen wuerde; ja die Leute haben untereinander fast eben so +scharfe Wacht gehalten, den Verdacht von sich abzuwaelzen und den +Schuldigen aufzufinden, aber es hat sich bis jetzt nicht das Mindeste +herausstellen wollen. Mit Geld ist das eine boese Sache, und wenn der Dieb +die Juwelen nur vorsichtig ein paar Jahr an sich haelt, und dann vielleicht +noch gar ausser Landes schafft, wer soll ihn da aufspueren? allwissend sind +wir auch nicht." + +"Das weiss Gott," sagte Kellmann -- "wie damals mit der Pelzdecke, die mir +Jemand von der Ladenthuer weggestohlen, und die ich zwei Jahr spaeter ganz +gemuethlich im Polizeibureau, beim Polizeidirector selber in der Stube +wiederfand; da hoert denn doch Alles auf. Aber mir ist wahrhaftig jetzt +nicht wie spassen zu Muth; der Anblick des armen Maedchens hat einen +wehmuethigen Eindruck auf mich gemacht; lieber Himmel, was es doch fuer +Elend auf der Welt giebt, und still und bewusstlos gehen wir meist daran +vorueber." + +"Und die Musik da drinnen, waehrend das arme Kind dort allein und freundlos +seine Strasse geht, und trotzdem jetzt noch gluecklich ist gegen den +Augenblick, wo es das Furchtbare doch erfahren _muss_. Mich leidet's heute +nicht laenger hier draussen, Kellmann," brach er kurz ab -- "ich mag die +Tanzmusik nicht hoeren -- wollen wir zurueck in die Stadt gehn? es ist +ueberdies schon spaet." + +"Ich habe Nichts dagegen," sagte Kellmann, tief aufseufzend -- "mir ist +der Abend heute auch verdorben, aber wir wollen Schollfeld erst abrufen." + +"Da drin ist wohl Pruegelei?" sagte da Ledermann, als aus dem Hause wilder +Laerm zu ihnen heraus toente. + +"Das waere frueh," meinte Kellmann -- "die kommt gewoehnlich sonst erst +spaeter, oder ganz zum Schluss. Es ist doch sonderbar, dass ein deutscher +"Tanz" nie ohne eine Schlaegerei enden kann; es scheint auch ungefaehr +dasselbe, wie der Cotillon bei einem Ball, nur dass sich die jungen Maedchen +nicht dabei betheiligen -- hoechstens verheirathete Frauen, ihre Eheherren +zu schuetzen, und die Verwirrung womoeglich noch groesser zu machen -- hallo +aber das kommt hier heraus." + +"Sie werden Jemanden hinauswerfen," sagte der Actuar ruhig -- "lassen Sie +uns an die Seite treten dass wir nicht in das Gewirr gerathen." + +Der Actuar hatte allerdings recht, denn unter dem Lachen, Schreien und +Jubeln der Menge, durch das einzelne wilde Flueche einer, ihnen keineswegs +unbekannten Stimme toenten, waelzte sich ein Haufen Menschen aus dem Saal +heraus, in der Mitte einen Mann schleppend, der sich mit Haenden und Fuessen, +wenn auch umsonst, gegen solche unwuerdige Behandlung straeubte, und in dem +die beiden Freunde sehr zu ihrem Erstaunen den Auswanderungsagenten Weigel +erkannten. + +"Lasst mich los!" schrie dieser dabei, mit den wildesten, ungemessensten +Fluechen und Schimpfreden -- "lasst mich los oder ich rufe die Polizei -- +Huelfe! -- Moerder! Feuer!" + +"Bruell nur mein Herzchen!" sagte aber der Verwalter von Hohleck, eine +riesige breitschultrige Gestalt, der den machtlos dagegen Ankaempfenden wie +in einer eisernen Klammer am Kragen gepackt hielt -- "Dich koennten wir hier +brauchen, die Leute heimlich beschwatzen dass sie Hof und Dienst verlassen +und nach Amerika liefen -- ei Du Hallunke, Du kommst mir einmal wieder vor +die Faeuste." + +"Halt da -- Hohmeier! lasst ihn los!" rief aber in diesem Augenblick eine +andere, etwas schwer klingende Stimme, die dem also Gefaehrdeten zu Huelfe +zu eilen schien -- "der hier -- Homeier -- der hier ist mein Freund -- mein +ganz intimer Freund und den lass ich mir -- Homeier, den lass ich mir nicht +aus dem Hause werfen." + +Es war Niemand anderes als der Wirth, Lobsich, selber, aber, wie es die +Seeleute nennen, "halb im Wind", mit schwerer Zunge und schon etwas +taumelndem Gang, dass sich der Zustand in dem er sich befand, nicht gut +verkennen liess. Er versuchte dabei den Agenten zu halten und aus den +Haenden derer die ihn gefasst hatten fortzuziehn; Hohmeier, der Verwalter +schob ihn aber mit seinem linken Arm bei Seite, als ob es ein Kind gewesen +waere, und sagte ruhig: + +"Geht zu Bett Lobsich, das waer' Euch viel besser heut Abend, aber mischt +Euch nicht in Sachen die Euch Nichts kuemmern." + +"Nichts kuemmern?" rief aber der Wirth gereizt, indem er den Verwalter mit +grossen stieren Augen ansah -- "nichts kuemmern _Hoh_meier? -- oh _Hoh_meier +wem gehoert denn dies Haus, heh? -- nichts _kuemmern_? wem gehoert denn der +rothe Drache, heh, _Hoh_meier." + +Die Schaar war indessen bis grade dorthin gekommen, wo Kellmann und der +Actuar standen, und wo sie den Agenten zwischen zwei ziemlich nah zusammen +wachsenden Akazienbaeumen durchtragen wollten als dieser, solche letzte +Gelegenheit vielleicht, benutzend, Arm und Beine auseinanderspreitzte, dass +sie ihn nicht hindurchbringen konnten, waehrend er von Neuem sein "Huelfe! +Moerder! Feuer!" aus voller Kehle schrie. + +"Wenn ihm nur Jemand die Beine ausheben wollte!" sagte Herr Schollfeld, +der ein hoechst vergnuegter Zeuge der Scene war, ohne jedoch seines +schwaechlichen Koerpers wegen selber Theil daran zu nehmen, jetzt +wohlmeinend. Ein paar Knechte vom Hof, die ihren Verwalter in seinem +Richteramt unterstuetzten, liessen sich das auch nicht zweimal sagen, und +der wuethend, aber vergebens dagegen Antretende fand sich bald in der +vollkommnen Gewalt der Leute, ohne im Stande zu sein auch nur den +geringsten erfolgreichen Widerstand zu leisten. + +"Heh _Hoh_meier!" schrie aber Lobsich, der sich indess durch die im Garten +stehenden Stuehle und Tische wieder nach vorn gedraengt hatte den Mann frei +zu machen, von dem er sich ploetzlich einbildete dass er sein Freund sei, +"lasst mir den Menschen los, sag ich Euch _Hoh_meier -- Donnerwetter ich +will doch einmal sehn wer hier in meinem eigenen Hause zu befehlen hat. +Ihr oder ich -- _Hoh_meier. Es ist mir doch was Unbedeutendes!" Er schien +sich auch in der That den Leuten entgegenwerfen zu wollen; im Vorspringen, +und das viele Getraenk im Kopf, blieb er aber mit dem einen Fuss in einer +dort stehenden Fussbank haengen, und schlug der Laenge lang in den Garten, +waehrend die Knechte den jetzt wuethend um sich schlagenden Agenten rasch +aufgriffen und, lachend ueber des Wirthes Unfall, aus der Gartenthuer auf +die Strasse warfen. + +Ein furchtbarer Laerm entstand jetzt, die Leute jubelten und lachten, und +erzaehlten sich untereinander wie der "Auswanderungsmann" einen +Schaafknecht vom Gut haette bereden wollen als "Schaafmeister" nach Amerika +auszuwandern, und vom Verwalter dabei erwischt waere, und der +"Auswanderungsmann" stand vor dem Gartenthor und schimpfte und wuethete, +bis einer der Knechte das Schloss wieder aufdrueckte und hinaus und ihm nach +wollte, und dann auf der Chaussee stehen blieb und hinter dem davon +Laufenden herfluchte, und Steine hinter ihm drein warf. + +Drinnen im Saal toente die Musik aber wieder rauschender als vorher, und +die jungen Burschen durften die Zeit hier nicht laenger im Garten +versaeumen. Waehrend die aber wieder in den Saal draengten, Taenzerinnen zu +bekommen, und Schollfeld von Kellmann angerufen war, mit ihnen zurueck nach +der Stadt zu gehn, blieb Lobsich noch im Garten, an dessen Thuere er trat, +und nach der Strasse hinaus mit lauter und immer aergerlicher werdender +Stimme Weigel's Namen schrie. Lobsich war jedenfalls stark angetrunken und +wollte sehr wahrscheinlich den Mann zurueck holen, um ihm jetzt ernstlich +beizustehn und den Skandal noch einmal von Neuem zu beginnen. + +Die drei Freunde hielten sich dabei im Schatten eines dichten +Fliederbusches, von dem aufgeregten und jetzt doch nicht +zurechnungsfaehigen Menschen nicht bemerkt zu werden, und dann unbelaestigt +den Garten zu verlassen, als Lobsich's Frau, die das Toben ihres Mannes +wohl im Haus gehoert, von dort her und den Mittelweg herunter eilte. Ohne +dass er sie bemerkte kam sie auch bis dicht an ihn hinan, und hier seinen +Arm ergreifend sagte sie mit leiser, bittender Stimme. + +"Lobsich -- Vater -- komm sei vernuenftig, lass das Schreien und Toben hier +auf der Landstrasse und geh zu Bette -- thu _mir's_ zu Liebe Lobsich, wenn +ich Dich darum bitte." + +"Lassmchfrieden," stammelte aber der Betrunkene mit schwerer Zunge und +suchte sie von sich abzuschuetteln -- "lass mchfrieden sag ich -- Dnrrwttrrr -- +ich weiss -- ich weiss was ich ss -- se thun habe -- " + +"Aber Lobsich, ich bitte Dich um Gottes Willen," fluesterte die Frau in +Todesangst -- "Du machst Dich und mich ungluecklich wenn Du Dich nicht +aenderst -- was soll daraus werden?" -- + +"Lassmch -- frieden," stammelte aber der Mann, sie unwillig von sich +abschuettelnd, aber er verliess den Thorweg wenigstens und taumelte durch +den Garten fort, seitwaerts vom Hause ab -- "Weibervolk," murmelte und +fluchte er dabei -- Himmelsakkrments Weibervolk -- Unsinn -- violettblaues -- +ist mir doch -- ist mir doch was Unbe -- Unbedeutendes -- " und er +verschwand damit hinter den Bueschen. Die Frau aber blieb, den Ellbogen auf +das Thuerschloss gestuetzt und das Gesicht in den Haenden bergend, allein +zurueck, richtete sich aber rasch wieder auf, als sie Schritte auf sich +zukommen hoerte, und wollte nach dem Haus zurueck. + +"Frau Lobsich," sagte Kellmann, der es war, gutmuethig, ja fast herzlich -- +"macht denn das Lobsich jetzt oefter dass er so ueber die Schnur haut?" + +"Ach Sie sind es Herr Kellmann," sagte die arme Frau beruhigt. "Lieber +Gott, ich weiss meinem Herzen keinen Rath mehr, wenn er's so fort treibt; +wie soll das enden?" + +"Aber ich habe Ihren Mann so doch noch in meinem Leben nicht gesehn," +sagte Kellmann verwundert. + +"Ach ja," seufzte die Frau -- "es ist nicht das erste Mal, aber ich habe +immer gesucht es so viel als moeglich zu verheimlichen, es giebt gar solch +ein boeses Beispiel fuer die Leute. Es sind auch eigentlich nur einige +Wochen erst dass er so scharf zu trinken anfaengt. Lieber Gott, im Kopf hat +er frueher schon manchmal eins gehabt, aber er artete doch nie aus, jetzt +jedoch geht der Spiritus mit ihm durch, und er wird zum Thier. Ach guter +Herr Kellmann, wenn Sie einmal ein recht ernstes aber doch freundliches +Wort mit ihm sprechen wollten; auf Sie haelt er etwas. Mir verspricht er's +wohl auch," setzte sie leiser hinzu, "aber -- er vergisst es immer nur zu +rasch wieder." + +"Ich will mein Moeglichstes mit ihm versuchen, Frau Lobsich," sagte +Kellmann freundlich -- "aber," setzte er rascher und leiser hinzu -- "dort +glaub' ich kommt er schon wieder zurueck, es wird besser sein wenn Sie +versuchen ihn heute Abend zu Bett zu bringen; mit einem betrunkenen +Menschen laesst sich Nichts anfangen." + +"Na? -- Donnrrwttrrr," stammelte aber in diesem Augenblick der Wirth, der +auf seinem Zickzack Cours wieder nach der Thuer zurueckkam, und die Arme +einstemmend einen, wenn auch vergebenen Versuch machte, mit gespreitzten +Beinen vor seiner Frau stehen zu bleiben -- "Dnnrrrwttrrr," wiederholte er, +herueber und hinueber schwankend -- "was's das vor Wirthschaft heh? wo gehoert +die -- gehoert die Frau hin, heh? -- in die Hofthuer mit fremden Kerlen +schwatzen heh? -- ist mir doch -- ist mir doch was Unbe -- Unbedeutendes." + +"Aber lieber Lobsich," nahm hier der jetzt auch hinzugetretene Schollfeld +das Wort, "sein Sie doch vernuenftig und gehn Sie -- " + +"Hallo?" rief aber der Wirth, sich halb nach dem Redner herumdrehend, in +dessen hell vom Mond beschienenen Zuegen er den Apotheker erkannte -- "sin' +wir auch hier? heh? -- haben auch mit g'holfen mein' besten Freund -- mein' +besten Freund mit hinaus zu werfen -- heh? Sie -- Sie Giftmischer Sie -- Sie +-- " + +"Herr Lobsich!" rief Schollfeld aergerlich, "Sie sind heute nicht +zurechnungsfaehig, sonst -- " + +"Was? -- Pillendreher will noch -- will noch raiss -- raiss'niren -- heh?" +rief aber der gereizte Wirth und that einen Schritt gegen den Mann an. + +"Aber Lobsich so bedenke doch um Gottes Willen was Du sprichst," bat ihn +die Frau, seinen Arm ergreifend -- "komm mit mir in's Haus -- wir haben +noch so viel zu thun." + +"Viel zu thun? -- heh? -- habe keine Zeit mehr heut Abend -- hickup" -- +stammelte aber der Mann gegen den Schlucken ankaempfend -- "muss noch -- muss +noch -- hickup -- muss noch Wein abziehn und -- und Bier trinken -- hickup -- +und -- und hahahahaha -- da ist -- da ist ja die ganze Gesellschaft -- ja wohl +-- hickup -- ja wohl, komme schon -- komme schon meine Herrn -- Lobsich ist +immer da -- ein verfluchter Kerl, der -- der -- hickup -- der Lobsich -- ist +mir doch -- ist mir doch was Unbedeutendes;" -- und in einer unbestimmten +Idee dass ihn vom Haus aus Jemand gerufen haette, wobei er seine Umgebung +ganz vergass, taumelte er dem Saal wieder zu, wohin ihm die Frau aengstlich +folgte. Sie musste ihn ja zurueckhalten, dass er so seinen Gaesten und Leuten +nicht wieder unter die Augen kam. + + + + + + Capitel 9. + + + RUeSTUNGEN. + + +"Nach New-Orleans!" + +"Das ausgezeichnet schoene, 360 Last grosse, schnellsegelnde, kupferfeste +und gekupferte dreimastige Bremer Schiff erster Klasse: + +_Die Haidschnucke_, Capitain _E. Siebelt_, mit vorzueglicher Gelegenheit +fuer Cajuets- und Zwischendecks-Passagiere -- wird am 30. August expedirt. + +Agent dafuer, I. G. Weigel, + +Hauptagent des Central-Bureau's fuer Norddeutsche Auswanderung in +Heilingen, am Markt Nr. 17." + +Diese Anzeige stand am Morgen nach den, im letzten Capitel beschriebenen +Vorfaellen im Heilinger Tageblatt, und Dr. Haide, der Redacteur desselben, +hatte die Gelegenheit nicht unbenutzt wollen voruebergehen lassen, einige +entsetzliche Mordgeschichten und falsche Bankerotte aus den Vereinigten +Staaten, wie zur Entmuthigung aller Auswanderungslustigen, in der +naemlichen Nummer seines Blattes abzudrucken. + +Weigel war wuethend darueber, und schrieb augenblicklich einen anderen +Artikel dagegen; den nahm Doctor Haide aber nicht auf, weil er, wie er +ganz naiv erklaerte, "sich dadurch selber blamiren wuerde." Uebrigens sei +die Sache auch schon erledigt, indem die Schiffsanzeige _fuer_, sein +Artikel aber _gegen_ Amerika und die Auswanderung waere, und er es sich zum +Grundsatz gemacht haette, jeden Artikel nach beiden Seiten hin zu +beleuchten -- wenn Herr Weigel etwas gegen ihn wolle einruecken lassen, sei +er keineswegs verpflichtet es aufzunehmen, und er moege ihn deshalb, wenn +er damit durchzukommen glaube, nur ganz einfach darauf verklagen. + +Die Abfahrt dieses Schiffes war aber fuer Heilingen in so fern von nicht +unbedeutender Wichtigkeit, als sich mehre Familien dieser Stadt ernstlich +dahin entschlossen hatten, mit demselben nach Amerika auszuwandern. So +unter Anderen Professor Lobenstein, der sein Haus jetzt verkauft, und der +Stadt ueberhaupt durch seine beabsichtigte Auswanderung hoechst willkommenen +Stoff zu den mannichfaltigsten Vermuthungen und Eroerterungen geliefert +hatte. Ja mehrere Kaffeegesellschaften der naeheren Bekannten Lobenstein's +waren wirklich nur einzig und allein zu dem Zweck gegeben worden, sich +einmal ordentlich ueber die Sache "aussprechen" zu koennen. + +Auch in dem Dollinger'schen Haus hatten die letzten Wochen bedeutende +Veraenderungen hervorgebracht, indem der junge Henkel Briefe von Amerika +erhielt, nach denen seine Anwesenheit dort, dringend nothwendig geworden. +Zwei Wechsel trafen zugleich fuer ihn ein, wie ziemlich starke Auftraege zu +Ankaeufen in Tuchen und Seidenwaaren von seinem Haus, welches Geschaeft er +mit Herrn Dollinger in Gemeinschaft auszufuehren gedachte. + +Der alte Herr Dollinger, so schwer es ihm auch wurde, und so lange er sich +dagegen gestraeubt, musste da wohl endlich seine Einwilligung zu der +Verbindung Clara's mit dem jungen Amerikanischen Kaufmann, ueber dessen +Familie und Geschaeft in New-Orleans er von einem dortigen Geschaeftsfreund +das Beste erfahren hatte, geben. Nur wunderte man sich dort, dass der junge +Henkel in Nord-Deutschland sei, waehrend man ihn auf einer groessern Tour +durch Italien und Griechenland vermuthet. Die Leute dort konnten nicht +wissen dass der junge Mann auf dem Rhein andere Plaene fuer seine Zukunft +geschaffen, als er sie frueher vielleicht ausgesonnen. + +Am letzten Sonntag war also, ganz in der Stille, die Trauung vollzogen und +Clara, das liebe holde Maedchen, die Frau des jungen reichen Amerikaners -- +wie man ihn ueberall in der Stadt nannte, geworden. Jetzt galt es nun +freilich noch, in der kurzen Zeit all die noethigen und so mannichfachen +Vorbereitungen zu einer Reise nach Amerika fuer die junge Frau zu treffen. +Es sollte aber wirklich auch nicht viel mehr als eine Reise werden, denn +Henkel hatte sich schon selber fest erklaert, seinen kuenftigen Wohnsitz +keineswegs in Amerika, sondern in Havre nehmen zu wollen, wo ueberdies, der +bedeutenden Geschaeftsverbindung wegen mit diesem Hafen, ein Associe des +Hauses sich aufhalten musste. Ein oder zwei Monate gedachten die jungen +Eheleute dann jedes Jahr in dem reizend gelegenen Heilingen zuzubringen, +was ihnen, wie den Eltern, die jetzige Trennung sehr erleichterte, und +spaetestens im Maerz oder April schon wieder nach Europa zurueckkehren zu +koennen. Die ganze Reise war dadurch wirklich fast nur zu einer etwas +laengeren Vergnuegungsfahrt geworden. + +Auch fuer Clara's Mutter war das Bewusstsein, ihr Kind nicht fuer immer zu +verlieren und bald wieder in die Arme schliessen zu koennen, eine unendliche +Beruhigung, und selbst hierzu hatte es ihr einen grossen Kampf gekostet, +ihre Einwilligung zu geben. Clara selbst aber hing mit ganzem Herzen an +dem theuren Mann, und fuehlte sich vollkommen gluecklich in einer +Verbindung, die seit sie den Fremden kennen und lieben gelernt, ihr das +Ziel ihrer irdischen Wuensche geschienen. + +Was war ihr die Reise, was die Gefahr und Muehseligkeit derselben? sie waere +ihm in eine Wildniss gefolgt, und haette sich doch gluecklich an seiner Seite +gefuehlt. + +Der junge Henkel wuenschte nun die Ueberfahrt in einem Englischen Dampfer +nach New-York, und von da mit einem Amerikanischen Dampfschiff nach +New-Orleans zu bewerkstelligen, Clara fuerchtete sich aber an Bord eines +Dampfers zu gehn, theils der doppelten Gefahr, theils der unangenehmen +Bewegung derselben in schwerem Wetter wegen, von der sie viel gehoert, und +da es sich jetzt gerade so traf dass eine ihr befreundete Familie, +Professor Lobenstein's, ebenfalls nach New-Orleans, und in einem +Segelschiff von Bremen ab auswanderte, bat sie mit diesen reisen zu +duerfen. Henkel selber schien nicht recht damit einverstanden, fuegte sich +aber doch endlich den Bitten seiner jungen Frau. + +Wenn aber bei Dollinger's im Haus wenig mehr als Waesche und Kleider +herzurichten waren, nur zu einer Reise nicht zu einer Uebersiedlung nach +Amerika, und man diese schon grossenteils gepackt und vorausgeschickt +hatte, die letzten Stunden in der Heimath durch kein Aussuchen und Packen +gestoert zu haben, so schien dagegen bei Professor Lobenstein das ganze +Haus von innen nach aussen gekehrt zu sein. + +Der Professor naemlich hatte auf keinerlei Weise bewogen werden koennen mit +seinen Sachen eine Auction anzustellen, und nur das Nothwendigste +mitzunehmen, da Fracht und Spesen unterwegs ein wirkliches Capital +auffressen wuerden, fuer das er sich Alles was er dort brauchte auch an Ort +und Stelle neu anschaffen koennte. Allen die ihm dies riethen zeigte er aus +verschiedenen Schriften die statistisch aufgestellten Arbeitsloehne der +verschiedenen Handwerker, wie die Preise der Provisionen, und bewiess ihnen +auf das Klarste und Unumstoesslichste was jedes einzelne Stueck Meublen und +Hausgeraeth in notwendiger Folgerung in Amerika kosten muesse. Eben so hatte +er sich mit unendlicher Ausdauer einen Ueberschlag der verschiedenen +Frachtpreise nach New-Orleans, und von da in's Innere gemacht, bis er +endlich zu dem obigen Resultat gekommen, und nun auch augenblicklich eine +Anzahl Tischler in Arbeit setzte, lauter neue Kisten fuer seine Sachen +anzufertigen. + +Eine grosse Anzahl von diesen war nun schon, gepackt und mit eisernen +Reifen beschlagen, als Fracht vorausgeschickt, eine andere Sendung sollte +heute abgehn, und die letzten dann in den naechsten Tagen befoerdert werden, +noch zur rechten Zeit an Ort und Stelle zu sein. Kellmann selbst, dem +Hause eng befreundet, hatte dahin mehrere Auftraege uebernommen, und kam +heute Morgen, Bericht ueber die Ausfuehrung derselben abzustatten. + +Er selber war natuerlich mit der ganzen Uebersiedlung gar nicht +einverstanden, hatte aber doch, als er alle Gruende des Professors dafuer +gehoert, weit weniger dagegen gesagt, als die Familie im Anfang vermuthet +und auch wohl gefuerchtet haben mochte. Der Professor sei eben ein +Professor, meinte er nur, und wo der einmal seinen Kopf aufgesetzt habe, +liess sich auch Nichts mehr abstreiten oder gar dagegen beweisen, man muesse +ihn eben sich selber ueberlassen, und -- es thue ihm nur um die Familie +leid. Nichtsdestoweniger gab er sich jede erdenkliche Muehe ihnen, wo er es +nur irgend vermochte, beizustehn, wobei er den Professor doch von manchem +unueberlegten oder unpraktischen Schritt zurueckhielt. So kaempfte er, und +zwar gluecklicher Weise mit Erfolg, gegen die unglueckselige Idee des +Professors an, sich hier, trotz Allem was er darueber schon gelesen, von +dem Auswanderungsagenten Land und eine Farm zu kaufen. Er wollte drueben +nicht "in Gefahr kommen" von Amerikanischen und betruegerischen +Landspeculanten hintergangen zu werden, und seine Berechnung saemmtlicher +Kosten gleich hier an Ort und Stelle machen koennen, was ihm nicht moeglich +sei, wenn er die Contracte nicht in der Tasche habe. + +Kellmann, auf dessen praktisches und gesundes Urtheil er sonst ueberhaupt +viel gab, machte ihn mit seinen ernstlichen Vorstellungen aber doch +stutzig, und noch eine authentische Person ueber die dortigen Verhaeltnis zu +hoeren, wandte er sich zuletzt an den jungen Henkel, und bat diesen um +Meinung und Rath ueber die, ihm allerdings sehr am Herzen liegende Sache. +Dieser rieth ihm aber ebenfalls auf das Entschiedenste ab, sein Geld hier +an eine solche Speculation wegzuwerfen, denn dieser Weigel scheine ihm, +was er bis jetzt von ihm gesehn, eine keineswegs volles Vertrauen +verdienende Persoenlichkeit. Er solle warten bis sie drueben waeren, dort +habe er Zeit genug (Kellmann hatte ihm dasselbe gesagt), und finde er in +New-Orleans oder Missouri nichts Besseres, so sei er selber vielleicht im +Stande ihm ein kleines reizendes Gut abzutreten, das er einmal auf einem +Jagdzug in's innere Land gekauft, und jetzt noch verpachtet haette. + +"Und der Preis?" + +"Er wuerde zufrieden sein." Damit war die Sache fuer jetzt abgemacht; +freilich zu Weigels Verdruss, der die Farm, wie er sich ausdrueckte, nun +noch "zur Verfuegung" behielt. + +Es mochte etwa Morgens um elf sein, als Kellmann Professor Lobensteins +besuchte. Das Haus war am vorigen Tag oeffentlich verauctionirt und von +einem reichen Weinhaendler in Heilingen erstanden worden, die Familie aber +jetzt in angestrengter Arbeit eifrig bemueht das unangenehme Gefuehl nicht +allein zu verscheuchen, sondern auch eines vor dem anderen zu verbergen, +"zum _ersten_ Male in der _eigenen_ Heimath _fremd_ zu sein;" zum ersten +Mal fremd in den Raeumen, die ihrer Kindheit Spiele gesehn, und Zeuge +gewesen waren ihrer keimenden Hoffnungen und Traeume. + +Der erste schwere Schritt zu einem neuen Leben und Wirken war aber damit +geschehn; freilich auch zu gleicher Zeit die Bruecke abgebrochen, die noch +zurueck haette fuehren koennen in das Vaterland. Das Band war damit zerrissen, +das sie noch an dieses knuepfte, und wunderbarer Weise hatte sich jetzt, +wie sie sich gestern noch fast Alle gefuerchtet vor dem Gedanken die lieben +theueren Raeume zu verlassen, ein fremdes unheimliches Gefuehl zwischen sie +und das Haus geworfen, und sie _ersehnten_ den Augenblick wo sie hinaus +konnten, fort, nur fort von hier -- aus den Erinnerungen fort. Und doch +sprachen sie das nicht aus gegen einander; Jedes hielt sich nur allein fuer +so thoericht und kindisch, mit den quaelenden Gedanken; keines wusste dass das +Gefuehl in ihrer Aller inneres Leben verwoben sei, und in des Herzens +feinsten Fasern Wurzel schlug. + +Die Stimmung Aller, so sehr sie sich auch hueteten dem was sie dachten +Worte zu geben, war denn auch an dem ganzen Morgen schon eine stille, +gedrueckte gewesen, und Kellmann's Erscheinen befreite Alle wie von einer +Last. Unten auf der Treppe wurde der aber schon laut. + +"Na, ist das ein Vergnuegen zu so einer Auswanderungsfamilie in's Haus zu +kommen," rief er, als er sich mit zusammengehaltenen Schoessen zwischen +einer Reihe Kistendeckel hindurchdrueckte, die, mit den Naegeln nach aussen, +an der Wand lehnten, und dabei noch ueber eine Unzahl Koerbe und Schachteln +wegsteigen musste, nur in die Stube zu kommen. + +"Nehmen Sie sich in Acht, lieber Kellmann," rief ihm der Professor, der +seine Stimme gehoert hatte, aus der halbgeoeffneten Thuere entgegen (er +konnte diese nicht ganz aufmachen da ebenfalls eine Kiste dahinter stand). +"Sie moechten sich da draussen die Kleider zerreissen." + +"Ist schon bereits geschehen," brummte Kellmann, indem er versuchte einen +Blick nach seinem, allerdings beschaedigten Ruecktheil zu gewinnen, "meine +Guete, wie sieht das bei Ihnen aus -- ah guten Morgen meine Damen -- und +schon so fleissig? -- was um Gottes Willen naehen Sie denn da? -- +Getraidesaecke fuer die naechste Erndte?" + +"Fehlgeschossen Herr Kellmann," rief ihm aber Marie, die sich gern mit dem +freundlichen Mann neckte, entgegen -- "Jacken sind das fuer uns, in den +Busch, zwischen den Dornen und Schlingpflanzen, die uns sonst das leichte +Zeug von den Schultern rissen. Warten Sie einen Augenblick, da koennen Sie +uns gleich Ihre Meinung sagen; die meinige ist gerade fertig, und ich will +sie eben anprobiren. Lassen Sie nur, ich werde schon allein fertig, dort +drueben muessen wir ueberdies Alles allein machen -- So -- nun, wie gefalle ich +Ihnen darin?" + +"Gar nicht," sagte Kellmann muerrisch, "ich saehe Sie weit lieber in einem +leichten Ballkleid und mit Ihrem gewoehnlichen heiteren Gesicht, als in der +Sackleinwand und -- hm -- das verdammte Amerika. Geht denn Eduard jetzt +noch mit, oder bleibt er da? wo steckt er denn wieder? -- der ist immer +fort wenn ich komme." + +"Der geht mit, lieber Kellmann," rief der Professor, "er konnte sich nicht +dazu entschliessen, seine Eltern und Geschwister allein in die Welt ziehn +zu lassen, wo er ihnen vielleicht, zum ersten Mal in seinem Leben, +nuetzlich sein wuerde, und ist jetzt noch in der Geschwindigkeit zu einem +Tischler gegangen, die paar Wochen wenigstens zu benutzen, und doch eine +Idee von dem Handwerk zu gewinnen; wer weiss was wir da Alles zu thun +bekommen." + +"Wird auch was recht's davon in den paar Tagen profitiren," brummte +Kellmann -- "bei wem ist er denn, bei Leupold?" + +"Leupold?" rief der Professor, "der geht ja mit unserem Schiff nach +New-Orleans." + +"Der Tischlermeister Leupold wandert auch aus?" rief Kellmann laut und +verwundert. + +"Hat sein Haeuschen und seine Werkstaette verkauft, und ist jetzt +wahrscheinlich schon unterwegs nach Bremen," betaetigte ihm der Professor. + +"Na nu ist mir's aber doch ueber den Spass," rief Kellmann -- "da laeuft ja +halb Heilingen fort; jetzt freut mich mein Leben; naechstens werden wir uns +unsere Schraenke und Schuhe und Roecke selber machen koennen wenn wir 'was +haben wollen; ich darf nur gleich den meinigen zum Schneider schicken dass +er ihn mir noch ausbessert, ehe er auch durchbrennt. S'ist wirklich zum +Verzweifeln." + +"Lieber Gott," sagte der Professor -- "die Leute verlangen nur Ellbogenraum +sich zu ruehren; sie wollen einen Platz haben, der ihren Beduerfnissen +Befriedigung verspricht." + +"Da haben Sie gleich den faulen Fleck," rief Kellmann, "_Beduerfnisse +befriedigen_, wenn die Leute lebten wie ihre Voreltern gelebt haben, und +nicht mit jedem Jahre auch neue Beduerfnisse kennen lernten und befriedigt +haben wollten, so haetten wir alle Platz, und das verwuenschte Amerika +koennte sehen wo es Haende und Faeuste bekaem zuzupacken und ihm den Boden zu +bestellen. Aber ich will mich nicht laenger aergern -- lasst sie laufen, +nachher wird's hier erst recht gemuethlich -- apropos -- Ihren Freund Weigel +haben sie gestern Abend im rothen Drachen hinausgeworfen -- er wollte +Dienstleute, ich glaube einen Schaefer, verlocken nach seinem geruehmten +Amerika auszuwandern." + +"Meinen _Freund_?" sagte der Professor achselzuckend, "ich habe mit Herrn +Weigel nie in einer solchen Beziehung gestanden, aber ich achte ihn als +einen Mann der ein gutes Herz mit einer tuechtigen Portion gesundem +Menschenverstand verbindet, und besonders schaetzenswerthe statistische +Kenntnisse Amerika's besitzt." + +"Bah!" sagte Kellmann, den Kopf auf die Seite werfend, und mit den Fingern +schnalzend, "so viel fuer seine statistischen Kenntnisse; _unverschaemt_ ist +er, das halt' ich fuer seine Hauptforce, und er wirft Ihnen da mit der +groessten Kaltbluetigkeit eine Masse Zahlen in den Bart, denen man nicht +gleich widersprechen kann, weil sich der Gegenbeweis eben nicht fuehren +laesst. Wenn das Alles wahr ist was er ueber Amerika sagt, waere _er_ der +groesste Esel wenn er nicht selber hinueberginge." + +"Seine Verhaeltnisse gestatten es ihm nicht, wie er mich oft versichert +hat," vertheidigte ihn aber der Professor. + +"Ja, das kennen wir schon," sagte Kellmann, "und wenn mich irgend etwas +glauben machen koennte dass _er_ wirklich Amerika kennt, so waere es der +Umstand dass er selber nicht hinuebergeht." + +"Im rothen Drachen war ja wohl gestern ein kleines Fest?" frug die Frau +Professorin dazwischen, die das unerquickliche Gespraech abzubrechen +wuenschte. + +"Ja, fuer die Dienstleute von Hohleck," sagte Kellmann, "und Schollfeld und +ich waren ebenfalls hinausgegangen um den Spass mit anzusehn." + +"Und ihr Freund, der lange Actuar war nicht dabei?" lachte Marie. + +"Er kam spaeter nach," sagte Kellmann -- "der arme Teufel ist jetzt auch +immer verdriesslich und niederschlagen." + +"Er hat sein Kind verloren," sagte Anna mitleidig. + +"Ja, und zu Hause fuehlt er sich auch wohl nicht so recht wohl und +behaglich." + +"Wir haben davon gehoert," sagte die Professorin -- "seine Frau soll +eigenwillig und heftig sein, und ihm oft gar unangenehme Scenen bereiten." + +"Seine Frau ist -- " fuhr Kellmann auf, aber er unterbrach sich selber +wieder, und trommelte eine Weile mit den Fingern auf dem vor ihm stehenden +Tisch. + +"Was ist Ihnen denn nur heute, Herr Kellmann?" sagte aber Marie, jetzt zu +ihm tretend und seinen Arm beruehrend -- "Sie schneiden ja heut Morgen ein +so bitterboeses Gesicht, wie ich noch fast in meinem Leben nicht an Ihnen +gesehn. Ist Ihnen irgend etwas Aergerliches begegnet? -- oder -- Sie sind +doch nicht boese mit uns?" + +"Boese mit Ihnen? lieber Gott Mariechen," sagte Kellmann herzlich ihre Hand +ergreifend -- "ich muesste boese mit Ihnen sein dass Sie fortgehn und mich hier +allein zuruecklassen; sonst wuesst' ich wahrhaftig nicht weshalb." + +"So kommen Sie mit," lachte Marie, indem sie neckisch zu ihm aufsah. + +Kellmann seufzte tief auf, sagte dann aber kopfschuettelnd, und mit der +Hand ueber seine Stirn streichend, als ob er sich daraus all' die trueben +Gedanken verscheuchen wollte -- + +"Nach Amerika? -- ja, weiter fehlte mir gar Nichts; aber heute sind es +wirklich andere Sachen die mir im Kopf herumgehn." + +"Ist etwas vorgefallen, und koennen wir Ihnen helfen, lieber Herr +Kellmann?" sagte Anna freundlich. + +"Ach Gott nein," sagte der kleine Mann seufzend -- "es ist ein Stueck von +dem allgemeinen Elend, das ueber den ganzen Erdball hinspielt, und das uns +gewoehnlich mit einem unheimlichen Gefuehl, auch nicht ausser dem Bereich +desselben zu liegen, durchschauert, wenn wir ihm einmal auf unserem +Lebenspfad begegnen. Sie sahen mich als ich vor dritthalb Stunden etwa +drueben aus dem Loewen kam?" + +"Ja, Sie gruessten ja herauf," sagte die Professorin -- + +"Nun gut; ich war dort, einem armen Maedchen nachzufragen, das wir gestern +Abend spaet auf der Strasse trafen, und das ich dorthin schickte +Nachtquartier zu suchen" -- Und nun erzaehlte ihnen Kellmann mit kurzen +Worten das gestrige Zusammentreffen mit des ungluecklichen Lossenwerder +Schwester, und ebenfalls dass sich schon jetzt herauszustellen scheine, wie +der arme Teufel von Lossenwerder unschuldig in Verdacht gerathen sei. Nur +in reiner Verzweiflung mochte er sich den Tod gegeben haben, als man ihm +das letzte, einzige das er auf der Welt hatte -- seinen ehrlichen Namen -- +nehmen wollte -- oder eigentlich schon von Gerichts wegen genommen hatte. +Unsere wackeren Polizeigesetze halten ja nun einmal jeden Menschen fuer +einen Spitzbuben, bis er nicht durch Atteste genuegend dargethan hat dass -- +"gegen ihn noch nichts Gravirendes bekannt geworden." + +"Und was geschieht jetzt mit dem armen, armen Maedchen?" frugen fast +gleichzeitig Marie und Anna -- "lieber Gott, hier in der fremden Stadt, +allein, ohne Mittel, ohne Freunde, wie entsetzlich muesste es da sein, wenn +sie vielleicht aus rohem Munde zuerst die furchtbare Nachricht vernaehme." + +"Gestern Abend," sagte Herr Kellmann etwas verlegen, "kam uns das Ganze +wirklich so schnell und ueberraschend, dass wir nicht die geringste Zeit zum +Ueberlegen behielten; wir -- wir gaben ihr nur ein paar Groschen und +schickten sie in den Loewen, hier gegenueber, um da zu uebernachten, damit +sie nicht in der Stadt nach ihrem Bruder fruege, und die entsetzliche +Geschichte gleich in der ersten Viertelstunde erfuehre; heute Morgen wollte +ich dann selber herkommen und sehn was sich thun liess -- " + +"Und jetzt? -- weiss sie was geschehen ist? frug die Professorin mitleidig +die Haende faltend -- Herr Kellmann zuckte mit den Achseln und sagte: + +"Sie ist fort -- " + +"Fort? -- wohin?" riefen die Frauen. + +"Kein Mensch konnte mir darueber Auskunft geben, gestern Abend war sie +richtig dort angekommen, und ihres duerftigen Aussehns wegen in die +Gesindestube gewiesen, und dort muss sie unglueckseliger Weise ihren Namen +genannt, vielleicht nach ihrem Bruder gefragt und das Schrecklichste +gleich erfahren haben, denn sie war, selbst ihr Buendel im Stich lassend, +hinausgelaufen in Nacht und Nebel und -- und nicht wieder zurueckgekehrt." + +"Du lieber Gott," sagte Anna, "wenn sie sich nur kein Leides gethan." + +"Ich bin gleich zu Ledermann und dann auf die Polizei gegangen, diese +aufmerksam zu machen," sagte Kellmann etwas kleinlaut, "werde auch selber +noch mein moeglichstes thun das arme Ding wieder aufzufinden, aber -- ich +weiss wahrhaftig nicht wo man die eigentlich suchen soll, denn sie kennt ja +keinen einzigen Menschen in der Stadt." + +"Und in ihres Bruders frueherem Logis? -- " + +"Hat sie Niemand gesehn -- ich war dort." + +"Waren Sie auch schon -- auf dem Kirchhof?" frug ihn Marie jetzt leise und +schuechtern." + +"Wahrhaftig, daran hatte ich gar nicht gedacht," sagte Kellmann rasch +seinen Stuhl zurueckschiebend, "die Moeglichkeit ist da, und ich will keinen +Augenblick mehr versaeumen -- vielleicht ist es jetzt noch nicht zu spaet." + +"Und Sie sagen uns Antwort?" + +"Sowie ich etwas Bestimmtes ueber sie weiss -- aber -- aber was dann mit ihr +anfangen? -- hier in der Stadt _kann_ sie nicht bleiben," sagte Kellmann, +die Thuerklinke schon in der Hand, "und ueberhaupt scheint mir ihr +schwaechlicher Koerper zu grober Handarbeit gar nicht geeignet." + +"Vielleicht bietet sich da fuer die Schwester in demselben Haus ein +Ausweg," rief Anna ploetzlich, "das fuer den Bruder ja so viel gut zu +machen, wenn er wirklich unschuldig gelitten. Gestern Nachmittag noch +klagte mir Clara ihr Leid, dass ihre Kammerjungfer, mit der sie sehr +zufrieden ist, und die ihr bis dahin fest versprochen mitzugehn, ploetzlich +anderes Sinnes geworden waere, und sich jetzt weigerte Heilingen zu +verlassen. Clara ist so seelensgut, sie wuerde gewiss Alles thun was nur in +ihren Kraeften steht, das arme Kind den herben Verlust vergessen zu machen. + +"Aber wird sich das Maedchen selber dazu eignen?" sagte Kellmann. + +"Weshalb nicht," rief aber auch jetzt Marie -- "bringen Sie die Arme nur +hierher, sobald Sie sie finden, und nehmen sie Henkel's nicht mit, findet +Papa gewiss einen Ausweg." + +"Ja, Papa einen Ausweg," sagte aber der Professor -- "ich kann _Niemanden_ +mehr mitnehmen Kinder, so viel solltet Ihr eigentlich jetzt schon wissen, +denn wir sind Leute genug." + +"Ach wenn sie ueberhaupt gehen will," rief Kellmann, "die Passage bringen +wir hier schon zusammen, und wenn sich Fraeulein Anna bei Frau Henkel fuer +sie verwenden will, waer' es ein Glueck fuer das arme Maedchen, den hiesigen +fuer sie so trueben Verhaeltnissen so rasch wieder entrissen zu werden. Doch +jetzt leben Sie wohl -- ich habe da nicht lange Zeit mehr zu verlieren, und +hoffe Ihnen bald guenstige Nachrichten bringen zu koennen." + + * * * * * + +Actuar Ledermann hatte die Nacht einen heftigen Fieberanfall bekommen, und +sich am anderen Morgen auf seinem Bureau entschuldigen lassen. Erst um +zehn Uhr etwa fuehlte er sich etwas besser, und beschloss ein wenig an die +frische Luft zu gehn, in dem sonnigen Morgen draussen die trueben quaelenden +Gedanken zu verscheuchen. + +Er ging auf den Kirchhof, das Grab seines kleinen Lieblings zu besuchen, +und nahm einen Monatsrosenstock mit hinaus, ihn darauf zu pflanzen. + +Der Weg der zu dem Grab, zwischen den andern Huegeln hin, fuehrte, lief eine +kurze Strecke die Mauer entlang, die bis jetzt leer gelassen und von +Unkraut ueberwuchert lag. Nur ein einziger, unter Gras und Unkraut fast +versteckter flacher Huegel war dort aufgeworfen, ueber dem kein Kreuz den +Namen des Hingeschiedenen kuendete, keine Blume ein sorgendes Herz +verrieth, das dem Entschlafenen die stille Thraene nachgeweint. Und dort? -- +in das hohe, feuchte Gras geschmiegt, lag eine schlanke Maedchengestalt, +Stirn und Antlitz in dem wuchernden Unkraut verborgen, auf dem die vollen +aufgeloesten Locken ruhten. + +"Lieber Gott," sagte der Actuar, mit dem Blumenstock im Arm neben ihr +stehen bleibend, leise vor sich hin -- "es ist doch noch viel, viel Elend +in der Welt, und wenn Einem recht traurig und weh um's Herz ist, sollte +man eigentlich immer hinaus auf den Kirchhof gehn. Da haben die Leute +nicht ihre glatten unbewegten Alltagsgesichter vor, sondern geben sich wie +sie sind, und wenn es auch eben kein Trost sein sollte andere Menschen +ungluecklich zu sehn, ist es doch jedenfalls einer, zu wissen dass man es +nicht allein ist." Und sich langsam abwendend schritt er dem Grabe seines +Kindes zu, setzte den Blumentopf auf den kleinen Huegel, und sich selber +dann auf eine dicht daneben liegende Marmorplatte, die das Grab eines +anderen Menschen deckte. + +Dort blieb er lange, das Gesicht mit den Haenden bedeckt, und regungslos in +seiner Stellung verharrend, seinen schmerzlichen Gedanken ueberlassen, bis +die Sonne hoeher und hoeher stieg, und ein stechender Kopfschmerz ihn mahnte +den, den heissen Strahlen vollkommen ausgesetzten Platz zu verlassen, wenn +er sich nicht noch kraenker machen wollte als er schon war. Er stand auf, +und sah sich nach dem Todtengraeber um, diesen zu bitten den Blumenstock +fuer ihn einzusetzen, und fand ihn auch, nicht weit von dort entfernt, mit +einem neuen Grabe beschaeftigt. Langsam seinen Spaten schulternd ging er +mit ihm zu dem verlangten Platz, und dort sein Handwerksgeraeth neben sich +in den Boden stossend und sich den Schweiss von der gluehenden Stirne +trocknend, sagte er freundlich: + +"Warmer Tag heute, Herr Actuar -- sehn Sie einmal was fuer ein schoenes +Stoeckchen; das muessen wir aber ordentlich angiessen, sonst vertrocknet es +gleich in der lockeren Erde -- werde Ihnen das schon besorgen." + +"Bitte sein Sie so gut," sagte Ledermann, und der Mann nahm den Stock auf, +drehte ihn um und schlug mit der flachen Hand unter den Topf, diesen +locker und los zu bekommen. + +"Kennen Sie das junge Maedchen was da auf dem Grabe an der Mauer liegt?" +frug der Actuar jetzt, als sein Blick wieder zufaellig dort hinueber +streifte -- "dort drueben meine ich." + +"Ja ich weiss schon," sagte der Mann, ohne den Kopf zu wenden und mit +seiner Arbeit beschaeftigt -- "nein -- sie sass vor dem Kirchhofsgitter schon +heut' Morgen wie ich oeffnete, um drei Uhr frueh, und muss die ganze Nacht da +zugebracht haben. Wie ich das Thor aufmachte frug sie mich nur nach dem +Grabe eines armen Teufels, den wir hier vor kurzer Zeit zu Ruh gebracht, +und ist seit der Zeit nicht von dort weggegangen. Das kommt manchmal vor." + +"Und wer liegt da begraben?" frug Ledermann schnell, dem ein ploetzlicher +Gedanke an das Maedchen von gestern Abend aufstieg. + + [Capitel 9] + +"Dort an der Mauer?" sagte der Todtengraeber, "ih Sie wissen ja, der kleine +bucklige Bursche, der von der Bruecke gesprungen war, und sich den Kopf +aufgeschlagen hatte." + +Dem Actuar fuhr es mit einem eisigen Stich durchs Herz, aber er erwiederte +Nichts, gab dem Mann eine Kleinigkeit fuer seine Dienstleistung, und ging +dann langsam, als ihn dieser wieder verlassen und seine fruehere Arbeit +aufgenommen hatte, zu Lossenwerder's Grab, wo die Trauernde noch still und +regungslos in ihrem Jammer lag. Nur das krampfhafte Zittern des Koerpers +verrieth das darin wohnende Leben. + +"Liebes Kind," sagte Ledermann leise -- das Maedchen bewegte sich nicht -- +"mein liebes Kind," sagte er lauter, und beruehrte ihre Schulter mit seinem +Finger. Langsam hob sie das bleiche, Thraenen ueberstroemte Gesicht zu ihm +empor, und als sie den fremden Mann neben sich sah, richtete sie sich +verwirrt, beschaemt aus ihrer Stellung auf. + +"Aber wie koennen Sie sich hier so Stunden lang in das feuchte Gras +werfen," sagte der Actuar mit freundlichem Vorwurf -- "Sie _muessen_ ja +krank werden -- nicht wahr, Sie kennen mich nicht mehr?" + +Das Maedchen sah ihn gross und verwundert an, und schuettelte dann langsam +mit dem Kopf. + +"Ich sprach gestern Abend mit Ihnen, draussen vor dem Thor, wo die Musik in +dem Hause war," sagte Ledermann -- "hatten Sie gar keine Ahnung von dem +Schicksal des Bruders?" + +"Keine," sagte die Arme leise, das Koepfchen wieder senkend. + +"Und wo erfuhren Sie seinen Tod?" + +Das Maedchen schauderte zusammen als sie des Augenblicks gedachte, und +sagte endlich, wie mit angstgepresster Stimme: + +"Gestern Abend in dem Haus -- die Leute in der Gesindestube frugen mich wo +ich herkaeme und um meinen Namen, und dann -- + +"Und dann?" frug der Actuar mitleidig, als das Maedchen schwieg und ihr +Antlitz wieder zitternd in den Haenden barg -- + +"Dann sagten sie" -- setzte das Maedchen, am ganzen Koerper bebend hinzu -- +"dass Einer der so hiess -- und sie spotteten dabei ueber sein Gebrechen -- dass +Einer -- hier -- " sie vermochte nicht auszureden und warf sich, +ruecksichtslos um den neben ihr stehenden Fremden, und in krampfhafter +Verzweiflung, wieder auf das Grab nieder, das sie laut schluchzend mit +ihren Armen umschlang, und den Bruder rief, sie zu sich zu nehmen in sein +stilles, kuehles Bett. + +Nur mit Muehe, und herzlichen troestenden Worten die er zu ihr sprach, +brachte sie Ledermann, als sich ihr Schmerz in etwas ausgetobt, endlich +dahin sich etwas zu fassen und zu beruhigen, und ihm mehr ueber ihr +Schicksal und sich selber zu sagen. Sie hiess Hedwig, war funfzehn Jahr alt +und hatte bis zu ihrem elften Jahr bei einer entfernten armen Verwandten +zugebracht, nach deren Tode sie, ein Kind noch, bei fremden Leuten in +Dienst gehen musste. Ihre Elteren schienen in besseren Verhaeltnissen gelebt +zu haben, waren aber frueh gestorben, und die Waisen sich selber ueberlassen +gewesen. Ihr um zehn Jahr aelterer Bruder Franz hatte sie dabei noch immer +dann und wann von dem Wenigen was er selber verdiente, unterstuetzt, auch +ihr vor einigen Monaten -- und das musste etwa grade vor seinem Tode gewesen +sein, geschrieben, dass er recht sparsam lebe, und bald so viel zusammen zu +haben hoffe mit ihr, der Schwester, nach Amerika auszuwandern, dort +vielleicht ein kleines Geschaeft oder irgend etwas Anderes anzufangen, +ehrlich durch die Welt zu kommen. Hedwigs Aussage nach musste er ihr auch +die genaue Summe geschrieben haben, die er besass, und als sie der Actuar +dringend bat ihm den Brief zu verschaffen, wenn es irgend moeglich sei, da +der vielleicht vollstaendig des Bruders Unschuld beweisen konnte, zog sie +aus ihrer Brust das zusammengefaltete und dort bis jetzt sorgfaeltig +bewahrte Papier. Es war das letzte was sie von ihm bekommen, und als Monat +nach Monat verstrich und keine neue Nachricht kam, wurde sie zuletzt +unruhig und schrieb nach Heilingen. Aber auch hierauf erhielt sie keine +Antwort und nicht mehr im Stande die Ungewissheit zu ertragen, verliess sie +ihren Dienst und machte sich, mit wenigen Groschen in der Tasche auf, den +weiten Weg zu Fuss zurueckzulegen. Und ihr Empfang? grosser Gott mit Spott +und Hohn wurde ihr Bruder -- das einzige noch auf der Welt ihr gehoerende +Wesen, das sie mehr als sich selber liebte -- eines furchtbaren Verbrechens +beschuldigt, in Folge dessen er sich selber das Leben genommen, und +schlimmer, gewaltiger noch als die Nachricht seines Todes, erschuetterte +das reine, vertrauensvolle Herz des armen Kindes der erste _Zweifel_ an +den Hingeschiedenen, der doch heimlich und quaelend in ihr aufsteigen +wollte, wie sie sich auch dagegen straeubte; und doch _wusste_ sie dass er +keiner schlechten Handlung faehig gewesen sei. + +Waehrend dieser Erzaehlung flossen ihre Thraenen staerker; wenn aber der +Schmerz auch nur mehr aufgeruettelt wurde durch das Wiederdurchleben +vergangener Scenen, fand sie doch auch einen Trost in dem Aussprechen ueber +ihren Verlust. Der Actuar ueberlas indess fluechtig den Brief, und den Datum +mit dem veruebten Raub vergleichend sah er, ob Lossenwerder nun schuldig +oder unschuldig sei, dass jenes, bei ihm gefundene Geld sein Eigenthum +gewesen sein muesse, schon vor dem Tag, und nicht mehr als Beweis gegen ihn +gelten konnte. + +So traf sie Kellmann, der von Lobensteins direct auf den Gottesacker +gegangen war, das arme Maedchen aufzusuchen. Mit wenigen Worten sagte ihm +der Actuar was er von ihr erfahren, und der gutmuethige kleine Kuerschner +setzte sich neben sie auf das Grab des Bruders, nahm ihre Hand in die +seine, und diese streichelnd sprach er ihr Muth und Hoffnung in das arme +gequaelte Herz. Sie sollte nicht mehr allein stehn auf der Welt; er wollte +Freunde fuer sie finden, die sich ihrer annaehmen, und sie Beide, Ledermann +und er, wollten nicht ruhen noch rasten bis ihres Bruders Name wieder +ehrlich gemacht sei vor der ganzen Stadt; lieber Gott, sie konnten ja +nichts mehr fuer den Armen thun. + +Hedwig weinte, waehrend er sprach; aber die Thraenen loesten ihren Schmerz -- +die freundlichen Worte; oh die ersten wieder seit so langer, langer Zeit +die sie gehoert, thaten ihr wohl und bannten die Verzweiflung aus ihrem +Herzen, der sie ja sonst wohl rettungslos verfallen waere. Wieviel Segen +hat schon ein herzliches Wort gebracht, dem Ungluecklichen gespendet -- wie +viele Thraenen getrocknet, wie manches Weh, wenn es nicht heilen konnte, +doch gelindert. + +Kellmann erbot sich dann auch, sie zu seiner Mutter zu fuehren, wo sie +wenigstens bleiben konnte bis sich etwas Weiteres entschieden. Von Amerika +sagte er ihr noch Nichts, die naechsten Tage mochten sie erst mit dem +Gedanken vertrauter machen, wenn sie hoerte wie viel Leute die auch ihren +Bruder gekannt und liebe Freunde von ihm selber seien, gerade jetzt nach +dort hinuebergingen. + +Hedwig zoegerte noch schuechtern das guetige Erbieten anzunehmen, aber die +Worte klangen so herzlich, so gut gemeint, sie stand so huelflos, so allein +in der weiten Welt, der fremde Mann erschien ihr wie ein Engel des Himmels +in ihrem Schmerz, und unter Thraenen nahm sie seine Hand und dankte ihm, +und sagte dass sie ihm folgen wuerde, wohin er sie fuehre. + + + + + + Capitel 10. + + + DIE BEIDEN FAMILIEN. + + +Der Leser muss mir noch, ehe wir unsere weitere Wanderung zusammen +antreten, zu zwei Stellen folgen, in Lage und Art freilich gar sehr +verschieden. Den Characteren, die wir dort finden, begegnen wir spaeter +wieder, theils auf der Reise, theils in ihrem neugewaehlten Vaterland. + +An der Hannoeverschen Grenze lag ein kleines Dorf, Waldenhayn mit Namen, +und fast versteckt zwischen maechtigen Linden und Fruchtbaeumen, die es von +allen Seiten dicht umgaben. + +Mitten im Dorf auf einem flachen, aber die ganze Ortschaft ueberschauenden +Huegel stand die Kirche, und daneben das kleine freundliche Pfarrhaus, das +sein Dach ueber gute und glueckliche Menschen gespannt hatte, Jahrzehnte +lang -- und heute? -- Guter Gott welche Veraenderung in dem Haus -- der Vater, +Pastor Donner, still und ernst in seinem Sorgenstuhl, und, ganz gegen +seine sonstige Gewohnheit, ordentlich eingehuellt in eine dichte +Tabakswolke, die Mutter mit verweinten Augen, und doch immer geschaeftig +herueber- und hinuebergehend, bald aus der in jene Stube, Kleinigkeiten zu +besorgen die sie immer wieder vergass, ehe sie nur das andere Zimmer +betreten. + +Der aelteste Sohn Georg ging zu Schiff -- ging nach Amerika ueber das weite, +wilde Weltmeer nach einem anderen Vaterland, dort fuer den unruhigen Geist +das Glueck zu suchen, das er hier nicht fand, und "wann wuerden sie ihn -- ja +wuerden sie ihn je wieder sehen?" Oh es ist ein grosser Schmerz fuer ein +Elternherz ein Kind in der Bluethe der Jahre zu verlieren -- wie viel Sorge, +wie viel schlaflose Naechte hat es gemacht, bis es wuchs und gedieh; welche +Hoffnungen knuepften sich an das junge Wesen, und bluehten und reisten mit +ihm; wie treulich wurde da nicht jeder Schritt bewacht, den noch +unsicheren Fuss vor Stoss und Fall zu schuetzen, wie aengstlich jedem boesen +Eindruck gewehrt, der Herz oder Geist haette vergiften koennen. Und nun das +Alles preiszugeben der Welt, ihren Verfuehrungen, ihren Gefahren fuer Geist +und Koerper, das Alles preiszugeben und hinausgeworfen zu sehn auf die +stuermischen Wogen des Lebens -- sich selbst ueberlassen, und der eigenen, +vielleicht doch noch zu schwachen Kraft. Wie viele heimliche Thraenen +werden da geweint, wie trueb und traurig liegt da oft des Kindes Zukunft +vor dem ahnenden Blick des Vaters und der Mutter -- Krankheit wird es +erfassen und halten, und keine liebende Hand in der Naehe sein, es zu +pflegen und ihm den Schweiss von der heissen, gluehenden Stirn zu trocknen, +die Verfuehrung ihre falschen, goldblinkenden Netze nach ihm auswerfen, und +keine treu warnende Stimme ihm zur Seite stehn -- Noth und Mangel +vielleicht in bitterem Weh auf ihm lasten, und Niemand da sein, der ihm +Huelfe bringt, und den Ungluecklichen troestet und unterstuetzt -- Mutter und +Vater sind fern, fern von dem Geliebten, seine Klage dringt nicht herueber +zu ihnen -- ihr Trost und Huelfswort nicht zurueck zu ihm. + +Und ein solcher Abschied dann -- der Tod pocht nicht viel haerter an des +Glueckes Thor, und das Bewusstsein den Geschiedenen still und geschuetzt in +kuehler Erde zu wissen, auf der die treu gepflegten Blumen keimen, ist oft +noch weniger bitter als dieser _freiwillige_ Tod -- der Fortgang ueber's +Meer, in eine fremde, ungekannte Welt -- vielleicht so ohne Wiederkehr wie +jener, und ohne jedes beruhigende Gefuehl der Sicherheit. Der Scheidende +ist da noch immer besser, weit besser daran als die Zurueckbleibenden; ihm +liegt die Welt jetzt frei und offen da, jede Stunde draussen, jede Meile +Wegs bringt ihm Neues, Unbekanntes, und wehrt dem Blick nur an dem einen +Schmerz zu haften. Er hat auch zu sorgen, fuer sich und sein Gepaeck, seine +ganze Zukunft ist ihm in der einen Stunde in die eigene Hand gegeben -- ein +ungewohnt Geschaeft bis jetzt -- und fremde Landschaft, fremde Scenen +wechseln so rasch an ihm vorueber, dass jedes Bild einen Theil des alten +Schmerzes fortfuehrt mit sich. Selbst der Gedanke an die Verlassenen hat +nicht das Herbe, Bittere fuer ihn, als es fuer diese hat, wenn sie sein +gedenken, und sich mit Vermuthungen quaelen muessen wie es jetzt ihm geht, +was er thut, was er treibt, wo er jetzt gerade weilt. _Er weiss_ in welchem +Kreis die Seinen sich bewegen, kennt in jeder Tageszeit ihre kleinen, +haeuslichen Beschaeftigungen, ihr gleichmaessiges Wirken und Schaffen, und +sein Herz, das immer noch daheim bei ihnen weilt, wahrt seinen festen +Anhaltspunkt an sie sich unverkuemmert fort, bis das Bild, von anderen +dicht umdraengt in weiter immer weiterer Ferne langsam erbleicht, und nur +noch auf dem Hintergrund des Herzens wie schlummernd liegt, in seinen +Traeumen ihn zu segnen, oder dereinst, wenn die Welt ihn kalt und rauh von +sich stoesst, und er allein und freundlos sich da fuehlt, wieder aufzugluehen +in aller Frische und Waerme, ein Trost und Hoffnungsziel, dem armen, +einsamen Wanderer. + +Georg war ein junger lebenskraeftiger Mann von dreiundzwanzig Jahren, mit +dunkelbraunen, vollen, ihm frei und ungescheitelt ueber die offene +sonngebraeunte Stirn fallenden Locken, schwarzen klaren Augen und freien, +gutmuethigen Zuegen, die selbst eine breite dunkle Narbe ueber den rechten +Backen, der Autograph eines Commilitonen, nicht entstellen konnte. Er +hatte Medicin studirt, und sich das Doctordiplom mit eifrigem Fleiss +verdient, aber die Aussichten fuer einen jungen Arzt waren trueb und +unversprechend in seiner Heimath, und jene fremde Welt, von der er schon +so viel gelesen und gehoert, zog ihn maechtig an. Sein Vater konnte und +wollte dieses Streben nicht bei ihm unterdruecken; auch er erkannte die +Banden, die hier einen kraeftigen Geist so leicht in Fesseln legen, und +ehrte den Wunsch und Drang der jungen, nach Thaten duerstenden Brust, einen +Schauplatz zu finden fuer ihr Sehnen und Wirken, wenn er sich auch wohl +selber dann wieder mit einem schweren Seufzer gestehen musste, wie manche +Hoffnung der Sohn zertruemmert, wie manche Erwartung er getaeuscht sehn +wuerde in dem neuen Leben, das jetzt ihm freilich im vollen Glanz einer +aufsteigenden Sonne, von warmem Lichte uebergossen winkte. Und wie wuerde +sich sein Herz dann bewaehren, das jetzt jubelnd zu den blinkenden, +Flaggen- und Blumengeschmueckten Waellen seiner eigenen Luftschloesser +aufschaute, wenn es an deren Truemmern stand? oh dass er dann haette an +seiner Seite stehen und ihn leiten duerfen den dunklen, schmalen Pfad zum +wahren Glueck -- retten ihn dann vor sich selbst und seinem bittern Weh. + +Aber die Zeit lag noch fern, und weshalb sich selbst den Augenblick +vergiften, wo sich der Himmel noch blau und rein ueber seiner Zukunft +spannte. Georg selbst sah auch Nichts von solchen trueben Bildern, die das +Herz des Vaters oft mit banger Trauer fuellten; ihm war das Thor jetzt weit +und frei geoeffnet, das hinaus in's Leben fuehrte und an dessen Schwelle er +stand, und nur die Trennung noch vom Vaterhaus lag schwer auf seiner +Seele. + +Am schwersten freilich trug gerade diese Stunde, weil ganz und ungetheilt, +das Mutterherz. Nicht dachte _sie_ in diesem Augenblick an die Hoffnungen +die dem Sohne in der Welt draussen bluehen, an die Gefahren die ihm drohen +koennten; sie sah und fuehlte Nichts, als die Trennung von dem _Kind_, den +Abschied von dem Heissgeliebten, und wie im Traum hatte sie schon den +ganzen Tag ihren gewoehnlichen Beschaeftigungen obgelegen, wie im Traum noch +einmal seine Lieblingsgerichte bereitet fuer den Abend, den letzten Abend, +den er im Vaterhause zubringen wuerde. + +Lieber Gott, die Speisen kamen Abends auf den Tisch und wurden gegessen, +aber Keiner von allen, die juengsten Geschwister ausgenommen, schmeckten +was sie assen; man sprach dabei ueber das an dem Nachmittag fortgesandte +Gepaeck, ueber das Wetter, ueber die Uhr die zehn Minuten vorging -- Georg +trug Gruesse auf an alle seine Bekannte, die sich noch seiner erinnerten. Er +hatte an dem Tag noch selber ein paar Briefe schreiben wollen, war aber +nicht dazu gekommen -- Vieles Andere war ihm ebenfalls entfallen; so wollte +er einen Absenker von dem Rosenstock mitnehmen der vor der Mutter Fenster +bluehte, und jetzt blieb ihm doch keine Zeit mehr; aber waehrend dem Essen +stand die Schwester -- unvermisst -- vom Tische auf, ging hinaus, grub einen +Absenker aus, und brachte ihn in einem kleinen Topf dem Bruder, dem sich +die Thraenen in die Augen zwangen -- er mochte kaempfen dagegen wie er wollte +als er die Gabe sah. Die Mutter stand vom Tisch auf und ging hinaus -- +nicht ein Wort wurde gesprochen so lange sie fort war. Die Speisen +verschwanden dabei von den Tellern und der Wein wurde getrunken, und die +Mutter kam zurueck und nahm ihren Platz wieder ein, lautlos wie vorher; man +konnte den langsamen Gang der Uhr hoeren, an der Wand. + +Da endlich fuellte der Vater sein Glas bis zum Rand, hob es mit der Linken +und ergriff mit der anderen Georgs Hand. Er hatte etwas zum Herzen des +Sohnes, zum Trost vielleicht der Mutter sprechen wollen, aber die Worte +schwollen ihm im Mund -- er brachte eine volle Minute keine Sylbe ueber die +Lippen, und sich gewaltsam fassend und zusammennehmend sagte er endlich. + +"Auf ein frohes Wiedersehn Georg!" + +Georg presste des Vaters Hand und trank ihm und der Mutter und den +Geschwistern zu -- und die Mutter hob ihr Glas und stiess mit dem Sohne an, +aber mehr vermochte das Mutterherz nicht -- zu lange hatte sie jetzt +gewaltsam gegen ihr eigenes Gefuehl an- und den Schmerz niedergekaempft, den +Anderen zu Liebe; laenger war sie es nicht im Stande, und das Glas mit +zitternder Hand niedersetzend, dass der Wein ueber und auf das Tischtuch +floss, stand sie auf, warf die Arme krampfhaft um den Hals des Sohnes und +schluchzte laut. + +"Mutter, liebe -- liebe Mutter -- " + +"Mein Kind -- mein Kind," jammerte die Frau und der Schmerz wuchs an +Heftigkeit, wie der maechtig aber still dahinwaelzende Strom schaeumend +hinausdonnert in's Freie, wo er sich erst einmal Bahn gebrochen aus seinem +Bett -- "mein liebes -- liebes Kind." + +"Aber Mutter," bat der Pastor, "fasse Dich; es ist ja doch nur vielleicht +auf kurze Zeit, bis sich der Junge draussen die Hoerner abgelaufen, und ihm +die Heimath anders aussieht wie jetzt; dann kommt er wieder." + +"Liebe -- liebe Mutter," fluesterte Georg, sie innig an sich schliessend, und +auch ihm erstickten unaufhaltsam fliessende Thraenen die Stimme. + +Die Geschwister weinten auch, und der Vater war aufgestanden und ein paar +Mal mit raschen Schritten, wie um den Anderen Zeit zu geben, eigentlich +aber nur seine eigene Fassung wiederzugewinnen, im Zimmer auf- und +abgegangen. Jetzt blieb er neben der Gattin und dem Sohne stehn, und sie +langsam trennend sagte er mit sanfter, bittender Stimme: + +"Kommt Kinder, kommt -- macht Euch selber nicht das Herz zum Brechen +schwer; das ist unrecht. Ueberdies quaelt Ihr Euch zweimal, und habt morgen +frueh noch dasselbe Leid. Es ist eine lange Trennung, aber keine Trennung +fuer's Leben -- wir sind Alle noch ruestig und gesund, und werden uns, will +es Gott, hoffentlich Alle einmal froh und freudig in die Arme schliessen +koennen." + +"Aber Du schreibst bald, Georg," fluesterte die Mutter sich mit aller Kraft +zusammennehmend -- "Du laesst uns nie lange ohne Nachricht, nicht wahr Du +versprichst mir das?" + +"Gewiss Mutter, gewiss -- so oft ich kann -- aber aengstigt Euch nur auch +nicht, wenn einmal ein Brief laenger ausbleibt als gewoehnlich; der Weg ist +weit, und ein Brief kann leicht verloren gehn." + +"So, und jetzt zu Bett Kinder," mahnte der Vater -- "es ist spaet geworden, +sehr spaet, und Du musst frueh wieder heraus Georg, die Post nicht zu +versaeumen; sind Deine Koffer hinuebergeschafft?" + +"Es ist Alles drueben," sagte die Mutter, sich aus den Armen des Sohnes +windend und ihre Thraenen trocknend, "nur sein Ueberrock ist noch hier, den +er anzieht, und die kleine Tasche in die er morgen frueh sein Nacht- und +Waschzeug steckt -- doch das besorg' ich schon selber und werd' es nicht +vergessen. Ich bin frueh auf, Georg, Du musst ja doch auch noch Deinen +Kaffee haben bevor Du gehst." + +"Gute Nacht Mutter!" rief Georg, umschlang sie noch einmal und kuesste ihr +Lippen, Augen und Stirn, "gute Nacht meine gute, gute Mutter -- gute +Nacht!" + +"Gute Nacht mein Georg, mein Kind," sagte die arme Frau unter Thraenen -- +"schlaf nur jetzt recht aus -- zum letzten Mal unter unserem Dach -- fuer die +naechste Zeit wenigstens," setzte sie rasch hinzu -- "denn mit Gottes +Beistand hoff' ich soll es nicht das letzte Mal gewesen sein -- und -- und +meinen Segen nimm mit Dir, wohin Du gehst -- wo Du weilst -- was Du thust -- +-- er ruhe auf Dir, mein gutes, gutes Kind!" + +Georg beugte sich unwillkuerlich dem ernsten heiligen Wort -- seine ganze +Gestalt zitterte dabei, und die Mutter musste sich endlich mit freundlicher +Gewalt aus seinen Armen winden; dann aber floh sie auch hastigen Schrittes +aus dem Zimmer, sich in dem eigenen Kaemmerlein recht, recht herzlich +auszuweinen. + +Die Geschwister sagten dem Bruder jetzt gute Nacht -- die aelteste Schwester +Louise hing lange an seinem Hals, aber riss sich los, den Schmerz der +Eltern nicht zu vermehren. Die Juengeren kuessten ihn auf die Wangen und +sagten. "Gute Nacht Georg -- weck' uns nicht zu spaet morgen frueh, dass wir +Dir auch noch koennen glueckliche Reise wuenschen." + +Georg kuesste sie herzlich und bat sie brav und gut zu sein, und Vater und +Mutter Freude -- viel Freude zu machen, denn er selber ginge nun fort, und +die Eltern wuerden deshalb recht traurig sein. + +"Gute Nacht Georg," sagte der Vater, als die Kinder zu Bett gegangen +waren, und Alle, ausser ihm, das Zimmer verlassen hatten, "habe keine Angst +dass Du die Post morgen verschlaefst, ich wache schon auf zur rechten Zeit -- +gute Nacht mein Sohn. Komm komm, fange nicht selber wieder an, und mach' +mir das Herz nicht schwer vor der Zeit -- aber Georg, um Gottes Willen was +ist Dir? -- sei ein Mann -- Nun ja -- so lange die Frauen da waren hat es mir +auch das Herz fast abgedrueckt -- man darf es sie ja nicht so merken lassen, +sonst zerfliessen sie ganz -- " + +"Mein lieber -- lieber Vater," schluchzte Georg an seinem Halse." + +"Mein guter, guter Sohn!" fluesterte der Pastor, des Kindes Stirne kuessend, +und jetzt selber im Innersten ergriffen und bewegt -- "bleibe brav -- bleibe +so brav wie Du bist -- ich kann Dir nichts Besseres wuenschen -- trage Gott +im Herzen und Dich selbst, und -- Deiner alten Eltern Bild, deren Segen Dir +folgt auf allen Deinen Wegen." + +"Mein Vater!" + +"So mein Sohn -- jetzt gute Nacht und bete zu Deinem Schoepfer dass er uns +morgen in der schweren Abschiedsstunde staerkt -- gute Nacht mein Georg -- +gute Nacht." + +Leise machte er sich los aus des Sohnes Arm, kuesste ihn noch einmal, und +verliess dann rasch das Zimmer. Georg aber blieb lange, lange Minuten auf +dem Stuhle sitzen wo ihn der Vater verlassen, das Gesicht in seinen Haenden +bergend. + +"Gute Nacht," fluesterte er endlich leise und kaum hoerbar, als Alles schon +im Hause still war, und zu Ruhe gegangen -- "gute Nacht Ihr Lieben und Gott +schuetze Euch und mich; aber nicht moeglich waere es mir, die furchtbare +Trennungsstunde noch einmal durchzuleben, nicht moecht' ich Dir Vater, Dir +Mutter den Schmerz, das bittere Weh zum zweiten Mal bereiten. Es ist +vorbei -- Alles vorbei, und wenig Stunden noch und die Heimath selber +liegt, ein schoener Traum nur, in der Erinnerung Tiefe. So denn an's Werk" +setzte er fest und entschlossen hinzu, "und ob das Herz darueber brechen +will, "durch" ist mein Wahlspruch jetzt, durch Nacht zum Licht -- _durch_." + +Und mit den, fest zwischen den zusammengebissenen Zaehnen gemurmelten +Worten stand er auf, und sein Schlafzimmer oeffnend warf er den Rock ab, +und badete Gesicht und Nacken in kuehlem Wasser. Dann, als er die Glut die +ihn durchtobte, in etwas geloescht, packte er den kleinen Nachtsack mit +den, sorglich fuer ihn auf dem Waschtisch ausgebreiteten Gegenstaenden, zog +sich wieder an, knoepfte den Ueberrock bis an den Hals zu, denn die Nacht +war kalt, und nach der gehabten Aufregung froestelten ihn die Glieder, und +im Zimmer umherschauend fiel sein Blick auf den, unter dem Spiegel +stehenden, fuer ihn eingeschlagenen Rosenstock. Rasch barg er ihn in der +weiten Tasche seines Ueberrocks, oeffnete dann das Fenster, das in den +Garten hinaus und von da ueber den Kirchhof fuehrte, der Landstrasse zu, und +schwang sich auf das Fensterbret. + +"Ade!" fluesterte er, "ade Du trautes, liebes Haus, ade -- Gott halte seine +Hand ueber Dir, und schuetze die lieben Menschen -- ade, ade." Und von dem +Bret hinunterspringend in den Garten, durcheilte er diesen, schwang sich +leicht ueber die Kirchhofmauer, die er als Kind unzaehlige Male +ueberklettert, und schritt dann langsam und traurig seinen einsam dunklen +Weg entlang. + + * * * * * + +Noch hob sich die Sonne nicht ueber den oestlichen Fichtenhang, und der +daemmernde Tag gruesste eben die schlummernde Erde, als sich die Mutter von +ihrem Lager hob, das Maedchen weckte dass es Feuer in der Kueche mache, den +Kaffee bereit zu halten, und dann den Mann rief, dem Sohn ade zu sagen. +Pastor Donner hatte aber auch nur in unruhigem Schlaf gelegen -- die +Gedanken und Sorgen liessen ihn nicht ruhen, und wie aus boesem Traum fuhr +er oft empor, mit einem wehen Stich durch's Herz zurueckzusinken, _dass_ es +eben kein Traum sei, der ihn bedruecke und quaele. + +Er stand auf, zog sich an, und waehrend die Mutter draussen in der Kueche +sorgte, dem Sohn ein rasches Fruehstueck zu bereiten, ging der Vater hin ihn +zu wecken. + +"Georg!" sagte er, als er die Thuer oeffnete, die in des Sohnes Kammer +fuehrte -- "Georg -- es wird Zeit -- heiliger Gott!" unterbrach er sich aber +rasch und erschreckt als er das Gemach leer, das Bett unberuehrt und keine +Spur mehr von dem Kinde fand -- "heiliger, erbarmender Gott -- er ist fort." +Und wie er sich auch vorgenommen sich zu fassen, und der Frau, dem Kind, +die letzten Augenblicke nicht mehr zu erschweren, durch seine eigene +Schwaeche, traf ihn _der_ Schlag doch zu hart -- zu unerwartet. In diesem +Augenblick betrat die Mutter das Zimmer, und sah wie der Vater sich +erschuettert von der Thuer abwandte und das Antlitz in den Haenden barg. + +"Mein Sohn -- mein Kind!" stammelte sie, in der sie durchzuckenden Ahnung +des Geschehenen, der sie wie ein jaeher Schlag in's Herz traf -- "wo ist -- +wo ist Georg?" Aber der Vater zog sie an die Brust, und ihre Stirn, auf +die seine heissen Thraenen fielen, kuessend, fluesterte er leise: + +"Er hat uns den Schmerz des Abschiedes sparen wollen, Louise -- er ist +fort." + +"_Fort!_" hauchte die Frau -- kaum noch den Sinn der Worte fassend, und +brach bewusstlos in den Armen des Gatten zusammen. + + * * * * * + +Ausserhalb Waldenhayn, wenn auch noch zu demselben Kirchspiel gehoerend, und +dicht an der Grenze des bis hier herniederlaufenden Holzes, stand ein +kleines, schon halb verfallenes Haus, das frueher einmal von einem +Forstgehuelfen des herrschaftlichen Waldes bewohnt, dann aber nicht mehr +benutzt, und um ein Billiges, eigentlich auf Abbruch, verkauft worden war. +Der Mann der es kaufte aber, hatte frueher ebenfalls in herrschaftlichen +Diensten gestanden, und dann das Metzger-Handwerk getrieben; sein wildes, +liederliches Leben jedoch liess sein Geschaeft nicht foerdern, noch vorwaerts +gehn. Er schien auch keine rechte Lust an einer regelmaessigen Arbeit zu +haben, heirathete dann, als er Alles was er sein nannte, durchgebracht, +ein Maedchen vom herrschaftlichen Gut, das den Dienst dort verlassen musste +und von dem Herrn selber eine Abstandssumme bekam, und kaufte mit dem +Gelde eben das kleine unwohnliche Gebaeude, das er nichtsdestoweniger +bezog, und sich jetzt angeblich vom Viehhandel ernaehrte. Er zog im Lande +herueber und hinueber, und kaufte und verkaufte Vieh, mehr aber noch trieb +er sich in den Wirthshaeusern herum, wo er trank und spielte, und den +schlimmsten Ruf im Lande hatte, den ein Mensch haben kann, ohne dass jedoch +die Polizei den mindesten Halt an ihn bekommen konnte. Aber die +ordentlichen Leute zogen sich von ihm zurueck; Niemand mochte Umgang mit +ihm oder seinem Weibe haben, und auf dem Weg zu seinem Hause wuchs Gras; +wen dort nicht ein besonderes Geschaeft hinfuehrte, betrat ihn nimmer. + +So hatte der "schwarze Steffen," wie er im Lande seines dunklen Haares und +Aussehns wegen hiess, sechs Jahre in dem kleinen Haus gewohnt, und sein +Weib ihm, ausser dem Kind das sie in die Ehe gebracht, noch drei andere +geboren. In der letzten Zeit tauchte dabei ein anderer Verdacht gegen ihn +auf, dass er sich naemlich unter der Hand mit Wilddieben einlasse, und -- +wenn auch vielleicht nicht selber wildere, doch das Gestohlene kaufe und +unterbringe. + +Sicher ist, dass nicht alles Fleisch was er zu Markte fuehrte, im Stall +gemaestet worden, und als nun auch gar einmal, und vor nicht so sehr langer +Zeit, ein Forstgehuelfe, in Ausuebung seiner Pflicht, erschossen worden, +wurde die Aufsicht ueber den schwarzen Steffen, dem man aber doch nicht zu +Kragen konnte, so scharf gefuehrt, und diesem zuletzt so unertraeglich, dass +er schon ein paar Mal mit den Forstbeamten im Wirthshaus Streit gesucht +und gefunden, und ihm zuletzt von der Herrschaft, nach lange geuebter +Nachsicht, der Befehl zugestellt wurde, das auf den Abbruch damals +erstandene Haus, von dem uebrigens kein Ziegel mehr sein gehoerte, zu raeumen +und abzutragen oder stehen zu lassen, wie es ihm gefalle, seinen Wohnsitz +aber, wider ihn eingelaufener Klagen wegen, wo anders zu nehmen, vom +ersten des naechsten Monats an. + +Steffen war heute einmal ausnahmsweise den ganzen Tag zu Haus geblieben, +und hatte manche von seinen Sachen, wobei ihm die Frau half, +zusammengetragen und in einen Ranzen gepackt. Die Kinder aber achteten +wenig darauf; sie waren gewohnt dass der Vater oft fortging, und dann immer +mehre, manchmal sogar acht Tage fortblieb, ehe sie ihn wieder zu sehen +bekamen, oder auch nur von ihm hoerten. Fragen, wohin er ging, durften sie +nie. + +Der Vater war uebrigens muerrischer heute als je -- er sprach fast kein Wort, +trank aber oft aus der Flasche, die zum ersten Mal offen in der Stube +stand, und woraus sich auch die Mutter zweimal einschenkte, und sich dann +zu dem juengsten Kinde setzte, und es auf den Schoos nahm und kuesste. + +"Weshalb weinst Du, Mama?" sagte das zweite Kind, ein Junge von etwas ueber +fuenf Jahren -- "hat Dir Jemand 'was zu Leid gethan?" + +"Weil sie eine Naerrin ist," brummte der Vater, der die Frage gehoert hatte, +und jetzt einen aergerlichen Blick nach der Frau schoss -- "ich daechte wir +haetten nun genug darueber geschwatzt und die Sache waer' abgemacht." + +"Nun ja -- ich sage ja auch kein Wort mehr dagegen," erwiederte die Frau -- +"es -- es ueberkommt Einen nur noch manchmal so -- nachher wird's besser und +-- es geht ja doch nun einmal nicht anders," setzte sie still und schwer +vor sich hinseufzend, hinzu. + +Steffen entgegnete nichts weiter darauf, schickte aber bald darauf, unter +irgend einem Vorwand, die Kinder mitsammen hinaus in den Garten, und sagte +dann, als er sich mit der Frau allein sah, muerrisch und finster. + +"Du flennst und flennst, und wirst die Baelge noch zuletzt aufmerksam und +aengstlich machen mit Deiner Heulerei -- kannst Du sie hier ernaehren, so +bleib da, ich habe Nichts dagegen; kannst Du's aber nicht, dann sei auch +vernuenftig und mach' jetzt keine dummen Streiche -- es waer' ein Spass, wenn +sie uns abfassten, und Du weisst am Besten was uns nachher bevorstuende." + +Die Frau war schlank und voll gewachsen, mit besonders kleinen Haenden und +Fuessen, musste auch einmal in frueheren Jahren wirklich schoen gewesen sein, +und mehr noch als nur die Spuren war ihr davon geblieben, haette sie eben +etwas gethan sich das zu erhalten. Aber in ihrem ganzen Aeusseren ging sie, +wenn nicht geradezu unreinlich, doch vernachlaessigt; die ungeordneten +Haare wurden durch einen zerbrochenen, aechten Schildpatkamm, und durch ein +schwarzes abgescheuertes Sammetband, in dem vorn eine grosse bronzene +Broche mit einem unaechten Turquis sass, gehalten; in den Ohren hingen ihr +ebenfalls lange emaillirte unaechte Ohrringe, die mit dazu beigetragen +hatten ihr bei ihren bescheidenen und einfachen Nachbarn den Namen der +"stolzen Jule" zu geben, und das Kleid von gutem Stoff und nach neuem +Schnitt gemacht, zeigte unausgebesserte Risse, und Spuren von Fett, in +Streifen und Flecken, die schlecht zu dem blitzenden falschen Schmucke +passten. + +Auch in den Augen selber lag etwas Keckes, Unweibliches, das aber doch +jetzt einem maechtigeren Gefuehl gewichen war, denn nur manchmal, bei den +rauhen Worten, blitzte es an gegen den Mann, und um die Lippen zog sich +dann ein eigener fester Zug von Trotz und Zorn. + +"Ich hab' Dir genug zu Willen gethan, dass ich mit Dir gehe und die Kinder +zuruecklasse," sagte sie dann nach kleiner Weile -- "wenn's mir das Herz +dabei zusammenzieht, waerst Du schlimmer wie ein Thier, wolltest Du's mir +wehren. Der Wolf laesst seine Brut nicht im Stich, und wir wollen fort -- " + +"Der Wolf hat auch draussen zu leben, und fuer die Jungen Milch -- wer +giebt's uns?" zischte der Mann zwischen den zusammgebissenen Zaehnen durch +-- "wir koennten krepiren hier im Nest, keine Katze miaute deshalb im ganzen +Kreis." + +"Ich weiss es, ich weiss es," sagte die Frau, "und das ist das Einzige was +mich freut, dass wir ihnen jetzt einen Streich spielen -- den Lumpen. Und +wie sie schreien und schimpfen werden -- aber ernaehren muessen sie sie doch, +davon hilft ihnen kein Gott. Leid thut's Einem freilich immer, die armen +Dinger, die noch Nichts von der Welt wissen und begreifen, so allein +zurueckzulassen -- wenn ich das Juengste nur mitnehmen duerfte -- " setzte sie +leise hinzu. + +"Komm mir nur jetzt nicht wieder mit dem alten Gewaesch," rief aber der +Mann finster und aergerlich -- "ich daechte das haetten wir ueber und genug +besprochen und ueberlegt, und waeren einig darueber." + +"Ueberlegt gar nicht," sagte aber die Frau, die Brauen fest +zusammenziehend -- "wenn ich davon anfing hast Du mich immer grob +angefahren und ausgezankt, und Deinen Willen gehabt dabei, wie bei allem +Anderen. Ich weiss dass ich nicht zu den Weichen gehoere, aber -- Mutter +bleibt doch Mutter, und -- 's ist immer ein haesslich unnatuerlich Ding." + +"Papperlapapp!" sagte der Mann den Kopf herueber und hinueber werfend -- +"unnatuerlich -- natuerlich ist's allerdings nicht dass die Scheunen +ringsherum voll liegen, und das reiche Lumpenpack das Geld mit vollen +Fausten zum Fenster hinauswirft, waehrend wir hier trocken Brod nagen +sollen, und das nicht einmal immer kriegen -- schoene Natuerlichkeit das." + +"Wenn Du nur nicht den dummen Streich mit dem -- " + +"Halt's Maul!" brummte aber der Mann muerrisch -- "ich sollte mich wohl +erwischen und anzeigen lassen, dass ich jetzt im Zuchthaus saess und spaenn -- +Gott verdamm mich, ich schoesse eher die ganze Bande ueber den Haufen, einen +nach dem anderen -- bist Du nun fertig mit Deinen Sachen?" + +"Ja!" sagte die Frau leise und unwillkuerlich zusammenschaudernd -- "es kann +fort gehn." + +"Wir wollen aber doch warten bis es dunkel ist," sagte Steffen nach +kleiner Pause; "besser ist besser, und der Maertens unten an der Strasse +braucht nicht gleich zu wissen dass wir fortgefahren sind, beide zusammen, +seine Nase hineinzustecken vor der Zeit; er ist mir so schon ein paar Mal +hier oben herumgekrochen, wo er Nichts zu suchen hatte." + +"Aber wenn sie uns nun doch vor der Zeit vermissen?" sagte die Frau, "und +unserer Spur nachgehn; wenn's jetzt schlimm ist, nachher wird's erst boes, +und wir duerften dann nur gleich mit Sack und Pack abziehn." + +"In's Arbeitshaus, eh? -- nein, eine Weile halt' ich sie uns schon von den +Hacken, und Gefahr dass sie uns finden, hat es auch nicht. Wo wir zur +Eisenbahn kommen bin ich bekannt, und habe schon manchmal Vieh da gekauft, +wenn sie auch eben meinen Namen nicht wissen, und wenn wir fortgehn, lasse +ich einen alten Hut von mir und das gelbe Tuch von Dir unten an dem tiefen +Wasserloch unter den Erlen. Sobald Jemand hier in der Gegend vermisst wird, +suchen sie dort immer zuerst, und der Schulze im Dorf hat das Pulver nicht +erfunden, dem ist leicht was aufgehaengt. Bis sie eine Weile stromab +geangelt haben, sind wir hoffentlich unterwegs, und wenn nicht unter, doch +ueber dem Wasser. Aber ich will jetzt noch einmal hinunter zum Maertens gehn +und Mehl holen; es ist auch heute der gewoehnliche Tag, und hierher kommt +nachher keiner so leicht, nimm Du indess die Kinder vor, und instruire sie +wie sie sich zu verhalten haben." + +Und seine Muetze aufgreifend steckte Steffen die Haende in die Taschen, und +schlenderte langsam den Hang hinunter dem naechsten, eine gute +Viertelstunde entfernten Hause zu, waehrend die Frau die Kinder zu sich +hereinrief, das Juengste, ein kleines liebes Maedchen von anderthalb Jahren, +auf den Schoos nahm, und sich damit still und lautlos in die Ecke setzte. + +Die Sonne neigte sich indessen ihrem Untergang, und der Vater kam nach +etwa einer Stunde, als es schon voellig dunkel geworden war zurueck -- die +Mutter sass noch immer mit dem Kind auf dem Schoos, das bei ihr +eingeschlafen war, und hielt es fest an sich gedrueckt. + +"So Jule, es ist Zeit," sagte der Mann, seine Arbeitsjacke abwerfend und +den Rock anziehend, "weiss die Albertine was sie zu thun hat?" + +Die Frau zitterte am ganzen Leib, aber sie erwiederte kein Wort, stand +auf, kuesste das Kind das sie auf dem Arm trug, und legte es in sein +Bettchen -- einen Kasten, der in der Ecke der Stube stand. + +"Albertine," sagte sie dann zu der Aeltesten, und wandte sich von der +duester brennenden Oellampe, die Steffen auf den Ofen gestellt hatte, ab, +dass die Tochter ihr nicht in die jetzt wirklich todtenbleichen Zuege +schauen sollte -- "ich gehe mit dem Vater heute Abend eine Weile fort -- den +Karl bring ich erst noch zu Bett -- sollten wir morgen frueh nicht bei +Zeiten da sein, so -- so zieh die Kinder an und gieb ihnen zu essen -- der +Brodschrank ist offen, und Milch steht unter der Diele in der Schuessel -- +Du passt mir auf dass den Kleinen Nichts passirt -- Du -- Du bist ja schon ein +grosses Maedchen." + +"Und geht mir nicht vor die Thuer morgen, bis wir nicht wieder da sind," +sagte Steffen, "wie ich heut Abend drunten gehoert habe, ist hier ein +toller Hund herumgelaufen. Das Beste wird sein Ihr haltet die Hausthuer zu, +dass er nicht etwa gar herein kommt." + +Die Frau hatte dabei das etwa dreijaehrige Maedchen das indess gar schlaefrig +geworden war, ausgezogen und in sein Bettchen gelegt -- und der Junge, +Carl, sass auf der Bank am Fenster, noch auf sein Abendbrod wartend. Aber +er sah auch erstaunt dabei die Eltern an, die noch nie so spaet Abends +fortgegangen waren, und auch wohl noch nie, oder doch nur selten gar so +freundlich mit ihnen gesprochen hatten. + +"Was fuer ein Hund ist es, Vater?" frug er jetzt, da der Gedanke an den +tollgewordenen Hund ihn besonders interessiren mochte -- "Maertens' Bello? +der kennt mich, und beisst mich nicht." + +"Nein, der grosse Tuerk aus dem Dorfe unten," sagte Steffen -- "der den +Mueller auch schon einmal gebissen hat." + +"Oh der ist schlimm!" rief der Knabe erschreckt -- "da geh' ich gewiss nicht +hinaus." + +"Geh' nun zu Bett Carl, es ist spaet," sagte der Vater. + +"Ich habe mein Abendbrod noch nicht," brummte der arme kleine Bursch. + +"So? -- dann wird Dir's Albertine geben -- und -- seid brav und folgt ihr -- +" + +Er gab dem Knaben und aeltesten Maedchen die Hand, und ging zu den Bettchen +der Kleinen die er kuesste; dann aber als ob er sich einer solchen Regung +schaeme, richtete er sich rasch wieder auf, drueckte den Hut in die Stirn, +und sagte, das Zimmer verlassend, und noch in der Thuer sich umdrehend: + +"Ich warte auf Dich unten am Wasser -- mach schnell!" + +"Sei ein gut Kind Albertine, und hab mir gut auf die Kleinen Acht," +fluesterte die Frau jetzt dem Maedchen zu, das eben dem Bruder ein Stueck +Brod und Salz gegeben hatte, an dem der ass und verwundert dabei hinter den +Vater her aus der Thuer, und nach der Mutter schaute, die lange -- o lange +Zeit nicht so freundlich mit ihnen gesprochen hatte. + +"Aber Mutter wo geht Ihr nur hin?" -- frug das Maedchen, der das Benehmen +der Eltern ebenfalls auffiel, verwundert. + +"Auf's Amt," sagte die Frau, auf die Frage schon vorbereitet -- "wir muessen +morgen frueh mit Tagesanbruch in der Stadt sein, und wollen gehn so lang's +kuehl ist." + +"Und wann kommst Du wieder?" + +"Hoffentlich morgen gegen Abend -- wenn wir fertig werden; auf dem Amt sind +sie aber gar weitlaeufig -- manchmal dauert's laenger als man denkt. Geht mir +aber nicht vor die Thuer, Ihr habt zu essen genug -- jedenfalls sind wir +morgen Abend um die Zeit wieder da -- und acht' mir auf die Kleinen, Tine -- +sei ein vernuenftig gutes Maedchen -- Du bist gross genug. Und -- wenn Jemand +nach uns fragen sollte, so sag nur wir waeren in den Wald gegangen, und +kaemen gleich wieder -- es wird aber wohl Niemand fragen," -- setzte sie +leise, und wie zu ihrer eigenen Beruhigung hinzu. + +Sie sah sich im Zimmer um, ob sie Nichts vergessen habe -- ihr Buendel lag +aber versteckt draussen vor der Thuer, wie der Mann seine gepackte +Jagdtasche ebenfalls draussen verborgen gehabt und jetzt mitgenommen hatte. +Ihr Blick ueberflog auch nur fluechtig den kleinen Raum, und haftete dann +auf dem Bettchen des juengsten Kindes -- sie konnte nicht widerstehn, und +trat noch einmal zu dem schlummernden Kind. + +"Geh doch hinaus Tine, und hole ein paar Stuecken Holz herein, so lang ich +noch hier bin, dass Du morgen frueh Kaffee kochen kannst -- ich bleibe so +lang bei den Kindern," setzte sie langsam und ohne das aelteste Maedchen +dabei anzusehn, hinzu. Dieses ging, und in wilder, fast aengstlicher Hast +kuesste die Frau jetzt die kleine, schon sanft schlummernde Line, und hob +dann das Juengste aus seinem Kasten, auf dessen rosige Lippen sie den +eigenen Mund in wilder Heftigkeit presste, bis es schrie. Die Thraenen -- die +Mutter _konnte_ sich nicht ganz verleugnen in dem Augenblick -- liefen ihr +dabei voll und schwer die Wangen hinunter, und erst als sie das Aelteste +mit dem Holz zurueckkehren hoerte, legte sie das leicht beruhigte Kind +wieder auf sein Lager, und kuesste den Jungen, dem die Thraenen auch anfingen +in die Augen zu steigen. Er wusste freilich nicht recht weshalb, und nur +vielleicht weil er die Mutter weinen sah, wurd' es ihm auch so weh und +weich um's Herz. + +"Aber Mutter, was ist Dir nur heute Abend?" sagte das Maedchen, dem die +aussergewoehnliche Bewegung derselben unmoeglich entgehen konnte -- "was habt +Ihr nur, Du und der Vater?" + +"Bah -- der Vater war garstig mit mir, und wir haben uns gezankt," sagte +die Mutter, das Gesicht abwendend von dem Kind. + +Ein scharfer Pfiff von draussen her schlug an ihr Ohr, und sie fuhr +erschreckt in die Hoehe. + +"Ja -- ich komme schon!" murmelte sie, kaum hoerbar, vor sich hin, "so adieu +Albertine -- hab auf die Kinder Acht, und -- _behuet Euch Gott_!" und mit +dem, wie scheu gefluesterten und vielleicht seit langer, langer Zeit nicht +ausgesprochenen Segen, verliess sie rasch das Zimmer und das Haus. + +"Was zum Teufel troedelst Du denn da drin, und laesst mich eine Stunde hier +warten?" rief der Mann muerrisch, als sie ihn endlich an der verabredeten +Stelle traf -- aber die Frau erwiederte kein Wort, und die fieberheisse +Stirn in die Hand pressend, folgte sie dem, jetzt ebenfalls finster und +schweigend Voranschreitenden, durch die Nacht. + + + + + + +***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACH AMERIKA! ERSTER BAND*** + + + +CREDITS + + +May 2006 + + Project Gutenberg Edition + richyfortytwo + Joshua Hutchinson + Online Distributed Proofreading Team + + + +A WORD FROM PROJECT GUTENBERG + + +This file should be named 18475-0.txt or 18475-0.zip. + +This and all associated files of various formats will be found in: + + + http://www.gutenberg.org/dirs/1/8/4/7/18475/ + + +Updated editions will replace the previous one -- the old editions will be +renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no one +owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and +you!) can copy and distribute it in the United States without permission +and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the +General Terms of Use part of this license, apply to copying and +distributing Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works to protect the Project +Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} concept and trademark. 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Its business office is located at 809 North +1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information +can be found at the Foundation's web site and official page at +http://www.pglaf.org + +For additional contact information: + + + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + + +Section 4. + + + Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive + Foundation + + +Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} depends upon and cannot survive without wide spread +public support and donations to carry out its mission of increasing the +number of public domain and licensed works that can be freely distributed +in machine readable form accessible by the widest array of equipment +including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are +particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United States. +Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable +effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these +requirements. We do not solicit donations in locations where we have not +received written confirmation of compliance. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} +concept of a library of electronic works that could be freely shared with +anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} +eBooks with only a loose network of volunteer support. + +Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} eBooks are often created from several printed editions, +all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright +notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance +with any particular paper edition. + +Each eBook is in a subdirectory of the same number as the eBook's eBook +number, often in several formats including plain vanilla ASCII, compressed +(zipped), HTML and others. + +Corrected _editions_ of our eBooks replace the old file and take over the +old filename and etext number. 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