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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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-The Project Gutenberg EBook of Die Majoratsherren, by Achim von Arnim
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Die Majoratsherren
-
-Author: Achim von Arnim
-
-Illustrator: Alfred Kubin
-
-Release Date: January 3, 2016 [EBook #50833]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE MAJORATSHERREN ***
-
-
-
-
-Produced by Jens Sadowski
-
-
-
-
-
- Achim von Arnim
- Die Majoratsherren
-
- Achim von Arnim
-
-
-
-
- Die Majoratsherren
-
-
- Mit 24 Federzeichnungen
- von
- Alfred Kubin
-
- Avalun-Verlag · Wien und Leipzig
-
- Alle Rechte vorbehalten
-
-Wir durchblätterten eben einen ältern Kalender, dessen Kupferstiche
-manche Torheiten seiner Zeit abspiegeln. Liegt sie doch jetzt schon wie
-eine Fabelwelt hinter uns! Wie reich erfüllt war damals die Welt, ehe
-die allgemeine Revolution, welche von Frankreich den Namen erhielt, alle
-Formen zusammenstürzte; wie gleichförmig arm ist sie geworden!
-Jahrhunderte scheinen seit jener Zeit vergangen, und nur mit Mühe
-erinnern wir uns, daß unsere früheren Jahre ihr zugehörten. Aus der
-Tiefe dieser Seltsamkeiten, die uns Chodowieckis Meisterhand bewahrt
-hat, läßt sich die damalige Höhe geistiger Klarheit erraten; diese
-ermißt sich sogar am leichtesten an den Schattenbildern derer, die ihr
-im Wege standen, und die sie riesenhaft über die Erde hingezeichnet hat.
-Welche Gliederung und Abstufung, die sich nicht bloß im Äußern der
-Gesellschaft zeigte! Jeder einzelne war wieder auch in seinem Ansehn, in
-seiner Kleidung eine eigene Welt, jeder richtete sich gleichsam für die
-Ewigkeit auf dieser Erde ein, und wie für alle gesorgt war, so
-befriedigten auch Geisterbeschwörer und Geisterseher, geheime
-Gesellschaften und geheimnisvolle Abenteurer, Wundärzte und prophetische
-Kranke die tiefgeheime Sehnsucht des Herzens, aus der verschlossenen
-Brusthöhle hinausblicken zu können. Beachten wir den Reichtum dieser
-Erscheinungen, so drängt sich die Vermutung auf, als ob jenes
-Menschengeschlecht sich zu voreilig einer höheren Welt genahet habe und,
-geblendet vom Glanze der halbentschleierten, zur dämmernden Zukunft in
-frevelnder Selbstvernichtung fortgedrängt, durch die Notdurft an die
-Gegenwart der Erde gebunden werden mußte, die aller Kraft bedarf und uns
-in ruhiger Folge jede Anstrengung belohnt.
-
-Mit wie vielen Jahrhunderten war jene Zeit durch Stiftungen aller Art
-verbunden, die alle ernst und wichtig gegen jede Änderung geschützt
-wurden! So stand in der großen Stadt ... das Majoratshaus der Herren von
-..., obgleich seit dreißig Jahren unbewohnt, doch nach dem Inhalte der
-Stiftung mit Möbeln und Gerät so vollständig erhalten, zu niemands
-Gebrauch und zu jedermanns Anschauen, daß es, trotz seiner
-Altertümlichkeit, noch immer für eine besondere Merkwürdigkeit der Stadt
-gelten konnte. Da wurde jährlich, der Stiftung gemäß, eine bestimmte
-Summe zur Vermehrung des Silbergeschirrs, des Tischzeugs, der Gemälde,
-kurz zu allem dem verwendet, was in der Einrichtung eines Hauses auf
-Dauer Anspruch machen kann, und vor allem hatte sich ein Reichtum der
-kostbarsten, ältesten Weine in den Kellern gesammelt. Der Majoratsherr
-lebte mit seiner Mutter in der Fremde und brauchte bei dem übrigen
-Umfange seiner Einnahme nicht zu vermissen, was er in diesem Hause
-unbenutzt ließ. Der Haushofmeister zog der Stiftung gemäß alle Uhren auf
-und fütterte eine bestimmte Zahl von Katzen, welche die nagenden Mäuse
-wegfangen sollten, und teilte jeden Sonnabend eine gewisse Zahl von
-Pfennigen an die Armen im Hofe aus. Leicht hätten sich unter diesen
-Armen, wenn sie sich dessen nicht geschämt hätten, die Verwandten dieses
-Hauses einfinden können, dessen jüngere Linien bei der Bildung des
-großen Majorats völlig vergessen worden waren. Überhaupt schien das
-Majorat wenig Segen zu bringen, denn die reichen Besitzer waren selten
-ihres Reichtums froh geworden, während die Nichtbesitzer mit Neid zu
-ihnen aufblickten.
-
-So ging täglich vor dem Majoratsgebäude zu bestimmter Stunde ein Vetter
-des jetzigen Besitzers, ihm durch dreißig Jahre überlegen, aber an
-Vermögen ihm sehr untergeordnet, mit ernsten Schritten vorbei und
-schüttelte den Kopf und nahm eine Prise Tabak. Niemand war vielleicht so
-bekannt bei alt und jung in der ganzen Stadt, wie dieser alte, rotnasige
-Herr, der gleich dem eisernen Ritter an der Rathausuhr durch sein
-Heraustreten, noch ehe die Glocke angeschlagen, den Knaben zur
-Erinnerung der Schulstunde diente, den älteren Bürgern aber als
-wandernde Probeuhr, um ihre hölzernen Kuckucksuhren darnach zu stellen.
-Er trug bei den verschiedenartigen Klassen von Leuten verschiedene
-Namen. Bei den Vornehmen hieß er der Vetter, weil seine Verwandtschaft
-mit den ersten Familien des Reiches unleugbar und er diese einzige, ihm
-übrig gebliebene Ehre auch gern mit dieser Anrede geltend machte. Unter
-den gemeinen Leuten hieß er nur der Leutnant, weil er diese Stelle in
-seinen jungen Jahren bekleidet hatte, sowie sie ihn noch jetzt bekleiden
-mußte. Es schien ihm nämlich völlig unbekannt, daß der Kleiderschnitt
-sich in den dreißig Jahren, die seitdem verflossen, gar sehr verändert
-hatte. Etwas stärker mochte das Tuch damals wohl noch gearbeitet werden,
-das zeigten jetzt die mächtigen, wohlgedrehten Fäden, nachdem die Wolle
-abgetragen war. Der rote Kragen war schon mehr verdorben und gleichsam
-lackiert; die Knöpfe aber hatten die Kupferröte seiner Nase angenommen.
-Gleiche Farbe zeigte auch der fuchsrote, dreieckige Militärhut mit der
-wollenen Feder. Das Bedenklichste des ganzen Anzuges war aber das
-Portepee, weil es nur mit einem Faden am Schwerte, wie das Schwert über
-dem Haupte des Tyrannen am Haare, hing. Das Schwert hatte leider das
-Unglück des armen Teufels gemacht und den Lebensfaden eines vom Hofe
-begünstigten Nebenbuhlers in den Bewerbungen bei einer Hofdame
-durchschnitten; und diese unglückliche Ehrensache, bei welcher ihm doch
-niemand mehr Schuld als seinem Gegner zumessen konnte, hatte seine
-militärische Laufbahn versperrt. Wie er sich seitdem durch die Welt
-fortgeholfen, war freilich seltsam, aber es war ihm doch gelungen. Er
-hatte eine höchst vollständige Wappensammlung mit unablässig dreistem
-Fordern und unermüdlichem Briefschreiben zusammengebracht, verstand
-diese in verschiedenen Massen nachzuformen, auch abzumalen, wo jenes
-nicht gelang, sauber aufzukleben, und verkaufte diese Sammlungen durch
-Vermittlung eines Buchhändlers zu hohen Preisen, sowohl zum Bedürfnisse
-der Erwachsenen als der Kinder eingerichtet. Nebenher war es eine
-Liebhaberei von ihm, Truthähne und anderes Federvieh zu mästen und
-Raubtauben über die Stadt auszusenden, die immer mit einigen
-Überfliegenden in die geheime Öffnung seines Daches heimkehrten. Diesen
-Handel besorgte ihm seine Aufwärterin Ursula, eine treue Seele; ihm
-durfte niemand von diesem Handel sprechen, ohne sich Händel zuzuziehen.
-Von dem Erworbenen hatte er sich ein elendes, finsteres Haus im
-schlechtesten Teile der Stadt, neben der Judengasse, und vielerlei alten
-Kram gekauft, womit die Auktionen seine Zimmer geschmückt hatten, die er
-dabei in einer Ordnung erhielt und in einer Einsamkeit, daß niemand
-wußte, wie es eigentlich darin aussehe. Übrigens war er ein fleißiger
-Kirchengänger und setzte sich da einer Wand gegenüber, die mit alten
-Wappen von Erbbegräbnissen geschmückt war, machte aber übrigens alles
-mit wie andere Menschen, welche in die Kirche zum Zuhören gehen. Nach
-der Kirche aber pflegte er jedesmal bei der alten Hofdame anzutreten,
-vor deren Tür er an anderen Tagen mit einer Prise Schneeberger
-Schnupftabak, auf die er wohl funfzig Male niesen mußte, den
-geckenhaften schöntuenden Hahnentritt und Stutzerlauf sich vertrieb, der
-ihn in das Haus hineinzutreiben drohte, während ihm dabei der Degen, den
-er nach alter Art durch die Rocktasche gesteckt hatte, zwischen die
-Beine schlenkerte. Diese alte, hochauf frisierte, schneeweiß
-eingepuderte, feurig geschminkte, mit Schönpflästerchen beklebte Hofdame
-übte auch nach jenem unglücklichen Zweikampfe seit dreißig Jahren
-dieselbe zärtliche Gewalt über ihn aus, ohne daß sie ihm je ein
-entscheidendes Zeichen der Erwiderung gegeben hatte. Er besang sie fast
-täglich in allerlei erdichteten Verhältnissen, in kernhaften Reimen,
-wagte es aber nie, ihr diese Ergießungen seiner Muse vorzulegen, weil er
-vor ihrem Geist besondere Furcht hegte. Ihren großen, schwarzen Pudel
-Sonntags in ihrer Nähe unter hergebrachten Fragen zu kämmen, war der
-ganze Gewinn des heiß erflehten Sonntags; aber ihr Dank dafür, dies
-angenehme Lächeln, war auch ein reicher Lohn, -- wer ihn nur zu schätzen
-wußte. Andern Leuten schien dies starre, in weiß und rot mit blauen
-Adern gemalte Antlitz, das am Fenster unbeweglich auf eine Filetarbeit
-oder in den Spiegel der nahen Toilette blickte, eher wie ein seltsames
-Wirtsschild. Sie lebte übrigens sehr anständig von den Pensionen zweier
-Prinzessinnen, die sie bedient und überlebt hatte, und die Besuche von
-Hofleuten und Diplomaten an ihrer silbernen Toilette, während welcher
-sie vielerlei Brühen zur Erhaltung ihrer Schönheit zu genießen pflegte,
-waren zu einer herkömmlichen Feierlichkeit geworden und zugleich zu
-einer Gelegenheit, die Neuigkeiten des Tages auszutauschen.
-
-Es geschah aber an einem Frühlingssonntage, daß die Hofdame durch ein
-Zusammenlaufen der Leute in der Straße auf eine außerordentliche
-Neuigkeit aufmerksam gemacht wurde. Diese Außerordentlichkeit war aber
-diesmal der Leutnant, oder vielmehr sein vom Frühling verjüngtes Laub.
-Ein neuer, moderner Hut mit einer Feder statt der Wolle, ein glänzendes
-Degengehenk, eine neue Uniform mit geschmälerten Rockschößen, verkürzten
-Taschen an der Weste und neue, schwarze Samthosen verkündeten eine neue
-Periode der Weltgeschichte. Auch trat der Leutnant bald mit frohem
-Gesichte ins Zimmer und mit dem Berichte ihr entgegen: »Liebe Kusine,
-der Majoratsherr kommt in diesen Tagen; seine Mutter ist gestorben, ihm
-ist von einer prophetischen Kranken geraten, hierher zu gehen, wo er
-seine Ruhe finden werde, nachdem ihn ein heftiges Fieber um seine
-Gesundheit gebracht hat. Nun denken Sie sich, der junge Mann hat aus den
-Erzählungen der Mutter einen Abscheu gegen das Majoratshaus; er will
-durchaus bei mir wohnen und hat mich ersucht, ihm bei mir ein Zimmer
-recht bequem einzurichten, wozu er mir ein Kapital übermache. Mein
-Häuschen ist für einen so verwöhnten, reichen Herrn nicht eingerichtet;
-in unsern hohen Familien ist es leider wie bei den Katzen, ein junges
-wird als erstgebornes gut aufgefüttert, und alle jüngern Geschwister
-werden ins Wasser geworfen.« -- »Sie waren einmal schon recht nahe, das
-Majorat zu erhalten?« sagte die Hofdame. -- »Freilich,« antwortete er,
-»ich war dreißig Jahre alt, mein Oheim sechzig und hatte in erster Ehe
-keine Kinder bekommen. Da fällt es ihm ein, noch einmal ein junges
-Fräulein zu heiraten. Umso besser, dachte ich, die Junge ist des Alten
-Tod. Aber umso schlechter gings; sie brachte ihm kurz vor seinem Tode
-einen jungen Sohn, diesen Majoratsherrn, -- und ich hatte nichts!« --
-»Wenn der junge Mann stürbe, würden Sie Majoratsherr,« sagte ruhig die
-Hofdame; »junge Leute können sterben, alte Leute müssen sterben.« --
-»Leider!« antwortete der Leutnant; »der Prediger sprach heute auch davon
-auf der Kanzel.« -- »Was wurde denn gesungen?« fragte die Hofdame; »ich
-wollte es zu meiner Hausandacht wissen.« -- Der Leutnant schlug die
-Lieder auf; sie sang leise, und er kämmte den Pudel nach Gewohnheit,
-indem er ihr mit Bewunderung zuhörte. -- Als er sich empfahl, trug ihm
-die Hofdame auf, den jungen Vetter doch gleich, wenn er angekommen, bei
-ihr einzuführen.
-
-Als der Leutnant zu Hause kam, trat ihm ein großer, bleicher, junger
-Mann entgegen, in einer Kleidung, wie er sie noch nicht gesehen: seine
-Haare waren phantastisch ohne strenge Ordnung emporfrisiert, und
-Figaroslocken in leichten, dünnen Röhren umliefen wie ein Halbkreis die
-Ohren. Hinten vereinigte ein dicker Katillon die Haare, welche in einer
-Locke hinübergekämmt waren. Ein streifiger Rock mit prächtigen
-Stahlknöpfen und große silberne Schuhschnallen verrieten ihm den
-Reichtum des Majoratsherrn. Auch dieser hatte aus den Briefen an die
-Mutter gleich den Vetter erraten und berichtete ihm, daß er Tag und
-Nacht mit Kurierpferden gereist sei und ihm nicht genug sein
-Wohlgefallen über das Haus ausdrücken könne, das ganz nach seinem
-Geschmack sei, nur müsse er ihm erlauben, daß er neben dem für ihn
-bereiteten großen Zimmer auch ein kleines nehme, das nach der engen
-Gasse hinaussehe; denn da er nie oder selten ausgehe, so liebe er vor
-allem diese Beweglichkeit der engen Straßen. -- Der Vetter bewilligte
-ihm gern das schlechte Zimmer an der Judengasse und wollte gleich
-Anstalt machen, die trüben, von der Sonne verbrannten Fenster durch
-andere mit großen Scheiben zu ersetzen. -- »Mein lieber Herr Vetter!«
-rief der Majoratsherr, »diese trüben Scheiben sind meine Wonne; denn
-sehen Sie, durch diese eine helle Stelle seh ich einem Mädchen ins
-Zimmer, das mich in jeder Miene und Bewegung an meine Mutter erinnert,
-ohne daß sie mich bemerken kann.« -- »Ei, das gesteh ich,« sagte der
-Vetter und setzte sich in die Schultern und fing an gegen das Fenster zu
-streichen, mit seinem Liebestritt, daß er in Eil eine Prise nahm, nieste
-und kaltblütig sagte: »Die da ist ein Schickselchen.« -- »Mein
-Schicksal?« fragte der Majoratsherr bestürzt. »Wie Sie es nennen
-wollen,« fuhr der Vetter fort, »ein Schicksalchen also, ein
-Judenmädchen; sie heißt Esther, hat unten in der Gasse ihren Laden, eine
-gebildete Jüdin, hat sonst mit ihrem Vater, der ein großer Roßtäuscher
-war, alle Städte besucht, alle vornehme Herren bei sich gesehen, spricht
-alle Sprachen; das war eine Pracht, wenn sie hier ankam, und die
-Stiefmutter Vasthi mit den jüngern Kindern ging ihnen in Schmutz
-entgegen. Es konnte niemand was dagegen sagen; die Ursach, warum? Weil
-sie mit ihrem Wesen dem Vater gute Käufer anlockte. Aber zuletzt hatte
-der Vater großes Unglück durch einen Handelsgenossen, der ihm mit dem
-Vermögen durchging. Da gings ihm knapp; das konnt er nicht vertragen und
-starb. Dieser Tochter erster Ehe, der Esther, hinterließ er ein kleines
-Kapital, damit sie von der Stiefmutter nicht zu Tode gequält würde; aber
-das läßt sich die alte Vasthi doch nicht nehmen.« -- »Das ist ja
-entsetzlich!« sagte der Majoratsherr, »zwei Leute, die sich hassen, die
-sich totärgern, in einem Hause! Ich habe die alte Vasthi auch schon am
-Fenster gesehen: ein schrecklich Gesicht!« -- »Sie wohnen wohl in einem
-Hause,« antwortete der Vetter, »aber jede hat ihren besonderen Laden und
-Wohnung.« -- »Ich will ihr bald etwas zu verdienen geben,« sagte der
-Majoratsherr. »Es scheinen hier viele Juden zu wohnen.« »Nichts als
-Juden,« rief der Vetter, »das ist die Judengasse, da sind sie
-zusammengedrängt wie die Ameisen; das ist ein ewig Schachern und Zanken
-und Zeremonienmachen, und immer haben sie so viel Plackerei mit ihrem
-bißchen Essen; bald ist es ihnen verboten, bald ist es ihnen befohlen,
-bald sollen sie kein Feuer anmachen; kurz der Teufel ist bei ihnen immer
-los.« -- »Nein, lieber Vetter, Sie irren sich darin,« sagte der
-Majoratsherr und drückte ihm die Hände. »Wenn Sie gesehen hätten, was
-ich in Paris bei meiner Kranken sah, Sie könnten den Teufel nicht für
-den Vater des Glaubens ansehen; nein, ich versichere es Ihnen, er ist
-der Feind allen Glaubens! Aller Glaube, der geglaubt wird, kommt von
-Gott und ist wahr, und ich schwöre Ihnen, selbst die heidnischen Götter,
-die wir jetzt nur als eine lächerliche Verzierung ansehen, leben noch
-jetzt, haben freilich nicht mehr ihre alte Macht, aber sie wirken doch
-immer etwas mehr als gewöhnliche Menschen, und ich möchte von keinem
-schlecht sprechen. Ich habe sie alle mit meinem zweiten Augenpaar
-gesehen, sogar gesprochen.« -- »Ei der Tausend, da erstaune ich,« rief
-der Vetter, »das könnte uns erstaunliches Gewicht bei Hofe geben, wenn
-wir sie den hohen Herrschaften zeigen könnten.« -- »So geht das nicht,
-lieber Vetter,« antwortete jener ernst, »der Mensch, der sie sieht, muß
-noch mehr darauf vorbereitet sein durch jahrelanges Nachdenken, als jene
-Geister, die ihm erscheinen sollen; sonst entsetzen sich beide
-voreinander, und der sterbliche Teil erträgt es nicht. Aber wer auch bis
-zu der innern Welt vorgedrungen, -- wenn auch noch scheinbar lebend wie
-ich -- ist dennoch abgestorben bei ihrem Bestreben, ihrer Tätigkeit. Das
-wußte meine Mutter von mir und war darum so unruhig auf ihrem
-Totenbette, was aus mir werden sollte. Sie hatte bis dahin alle
-Geschäfte mit großer Einsicht und Ordnung betrieben, während ich mich
-den Studien und der Beschauung hingab. Ich habe meine Zeit mit großer
-Anstrengung genutzt, ich habe gerungen wie keiner, ich habe erreicht,
-was wenigen zuteil geworden. Aber verloren war ich, erdrückt, bis zum
-Wahnsinn zerstreut von den Geschäften, die nach dem Tode der Mutter auf
-mich eindrangen, ich wollte mich bezwingen, das Höhere dem Niedern zu
-opfern; die Qual brachte mich um meine Gesundheit. Eine Kranke, deren
-Blick weit reicht, sagte mir zu, daß ich hier Ruhe finden würde bei
-Ihnen, Vetter; Sie hätten ein seltenes Geschick für das praktische
-Leben, mein Vermögen würde sich unter Ihrer Spekulation verdreifachen. O
-Vetter! nehmen Sie mir die Last des Geldes und der Güter ab, genießen
-Sie des Reichtums, ich brauche wenig, und auch auf den Fall, daß ich den
-Luftgeist der Erde wieder binden könnte, daß Kinder mein Haus füllten,
-soll Ihnen die Hälfte meiner Einnahmen für die Besorgung des Ganzen
-bleiben.« -- Bei diesem Vortrage flossen zwei edle Tränen aus den Augen
-des Majoratsherrn, während die großen Augen des Vetters mit
-heraufgezogenen Augenbrauen ihn verwunderlich von der Seite anstierten,
-ohne dem köstlichen Vortrage Glauben beimessen zu können. Dann fuhr der
-Majoratsherr, um das Gespräch zu ändern, fort: »Als ich mit schwellendem
-Gefühl, was mir in der Stadt bevorstehe, in welcher der Kreis meines
-Lebens angefangen, die große Straße herabfuhr, da begegneten mir
-ausgemergelte Leute, die sich kaum zu den Kaffeehäusern hinbewegen
-konnten, denn sie wurden fast gewaltsam an den Röcken von unglücklichen
-Seelen zurückgezogen, die wegen ungeendigter Prozesse nicht zur Ruhe
-kommen konnten und jammervolle Vorstellungen ihnen nachtrugen. Auch
-meinen Vater sah ich dabei wegen des einen Konkursprozesses, dessen Ende
-wohl keiner erleben wird. Schaffen Sie Ruhe seiner Seele, lieber Vetter,
-ich bin zu schwach.« -- »Wahrhaftig,« rief der Vetter, »zu dem Tore
-gehen Sonntags die Räte, Schreiber und Kalkulatoren des großen Gerichts
-gewöhnlich mit ihren Frauen und Kindern zum Kaffeegarten hinaus.« --
-»Der Postillon meinte auch, das wären Kinder, die sich ihnen an die
-Röcke gehangen«, fuhr der Majoratsherr fort, »aber solche jammervolle
-Gesichter haben Kinder nicht, das sind die Plagegeister, die sie wegen
-ihrer Nachlässigkeit umgeben. Lieber Vetter! befriedigen Sie meines
-Vaters, Ihres Oheims, arme Seele.« -- Der Vetter sah sich ängstlich in
-dem trüben Zimmer um, ihm war es zumute, als ob die Geister, wie der
-Schnupfen, in der Luft lägen. »Alles, alles will ich tun, was sie
-wünschen, bester Vetter«, rief er dann, »ich bin nicht glücklich, wenn
-ich nicht so etwas zu betreiben habe. Prozesse sind mir lieber als
-Liebeshistorien, und Ihre Angelegenheiten sollen bald in eine Ordnung
-kommen wie meine Wappensammlung.« Bei diesen Worten führte er ihn in ein
-Vorderzimmer und hoffte, den Majoratsherrn durch den Anblick seiner
-zierlichen, gebohnten Schiebkasten, in welchen die Wappen, zum Teil mit
-Zinnober abgedrückt, die Namen in Frakturschrift beigefügt, glänzten, zu
-zerstreuen und zu befriedigen. Der Majoratsherr schien auch hierin, wie
-in allen Kenntnissen wohlbewandert; der Vetter mußte seine Bemerkungen
-achten. Als er aber den Schrank mit dem französischen Wappen eröffnete,
-da fuhr der Majoratsherr auf: »Gott! welch ein Lärmen! Wie die alten
-Ritter nach ihren Helmen suchen, und sie sind ihnen zu klein, und ihre
-Wappen sind mottenfräßig, ihre Schilde vom Rost durchlöchert; das bricht
-zusammen, ich halte es nicht aus, mir schwindelt, und mein Herz kann den
-Jammer nicht ertragen!« Der Vetter rückte den unglücklichen Schrank fort
-und führte den Majoratsherrn ans Fenster, daß er Luft schöpfen möchte.
-»Und wer fährt dort?« rief er, »der Tod sitzt auf dem Bocke, Hunger und
-Schmerz zwischen den Pferden, einbeinige und einarmige Geister fliegen
-um den Wagen und fordern Arme und Beine von dem Grausamen zurück, der
-sie mit kannibalischer Begierde ansieht. Seine Ankläger laufen mit
-Geschrei hinter ihm drein; es sind die Seelen, die er vorzeitig der Welt
-entriß -- bester Vetter! ist denn hier keine Polizei?« -- »Ich will den
-Mann rufen, lieber Vetter, daß er Ihren Puls fühle,« entgegnete der
-Vetter, »es ist unser bester Arzt und Chirurgus. Sie haben ihn gewiß an
-seinem schmalen, einsitzigen Wagen erkannt; sein Kutscher ist freilich
-mager und seine Pferde abgetrieben, aber die den Wagen umflattern, sind
-Sperlinge, und die ihm nachbellen, Gassenhunde.« -- »Nein,« antwortete
-der Majoratsherr, »um Gotteswillen rufen Sie keinen Arzt! Wenn die
-meinen Puls fühlen, der immer in abwechselnden Takten sich bewegt, dann
-ganz stille steht, so schreien alle, ich sei schon gestorben; und am
-Ende haben sie recht, denn mich erhält nur der Gedanke einer guten
-Seele, die auch krank ist. Übrigens habe ich Sie diesmal ohne Grund
-erschreckt, lieber Vetter, meine Worte drückten nur die Gefahr aus,
-worin sich der französische Adel befindet; ich bildete mir die Unruhe
-ein, die Frankreich in den alten Schlössern von den Geistern erfahren
-muß, Ihre Sammlung ist Geist-los. Ich kann genau unterscheiden, was ich
-mit dem Auge der Wahrheit sehen muß, oder was ich mir gestalte; wirklich
-bin ich ein guter Beobachter meiner selbst, und die Physik der Geister
-war von je mein Lieblingsstudium.«
-
-Der Leutnant, der mit dieser Physik der Geister durchaus nichts zu tun
-haben mochte, brachte die Rede auf häusliche Einrichtungen. Der
-Majoratsherr erklärte, daß er nur wenig Aufwartung bedürfe, nur die
-wenigsten um sich leiden könne und deshalb sich selbst frisiere und
-rasiere, auch alle Dienerschaft entlassen habe. »Die Aufwärterin hier«,
-sagte er, »ist eine herrliche Seele, sie trägt nicht mit Unrecht diesen
-Heiligenschein um ihr Haupt.« -- »Heiligenschein?« brummte der Vetter
-vor sich, »das ist wohl das weiße Tuch, womit sie sich den Kopf
-eingebunden hat!« Dann sprach er laut: »Wenn Gott aus der eine Heil'ge
-schnitzeln wollte, die ginge wohl ganz in die Späne!« Noch berichtete
-der Majoratsherr, daß er gewöhnlich bei Tag schlafe und erst, wenn die
-Sonne im Sinken, aus dem Bette aufzustehen und seine stille Arbeit zu
-betreiben pflege, wogegen der Vetter heimlich brummte: »Davon kommt der
-Geisterspuk im Kopfe; er lebt ja wie die Nachteulen.«
-
-Nachdem das Abendessen eingenommen, hatte sich der Vetter mit einer
-guten Nacht empfohlen. Auch die Aufwärterin war zu Bette gegangen,
-während der Majoratsherr sein großes Zimmer mit Wachskerzen tageshell
-erleuchtet hatte, um seine Bücher und Handschriften, auf- und abgehend,
-mit gleicher Bequemlichkeit zu durchlaufen und die Hauptarbeit seines
-Lebens, sein Tagebuch, fortzuführen. Dieser glänzende Kerzenschein war
-eine neue Erscheinung für die Bewohner der Gegend und die erste Unruhe,
-die er ihnen machte; denn bei der Sparsamkeit des Leutnants mußten sie
-vermuten, daß dort ein Feuer ausgebrochen sei. Als sie sich aber vor dem
-Hause sammelten und die klagenden Töne einer Flöte durch das offene
-Fenster erschallen hörten, beruhigten sie sich wieder und freuten sich
-des neuen Lichtes, das ihnen den Schmutz der Straße deutlich machte. Der
-Flötenspieler war der Majoratsherr, aber seine Töne sollten sich
-eigentlich zu Esther hinrichten, die er am Fenster des dunklen
-Nebenzimmers belauschte, wie sie ihre Kleider abwarf und im zierlichsten
-Nachtkleide vor einem eleganten Spiegeltische ihre Haare flocht. Der
-enge Bau jener Gasse, in welche die Balkenlagen jedes Stockwerkes immer
-weiter hinausragten, um den Zimmern noch etwas Raum zu gewinnen, brachte
-ihm ihr Fenster so nahe, daß er mit einem kühnen Sprunge zu ihr hinüber
-hätte fliegen können. Aber das Springen war nicht seine Sache; dagegen
-übte er die seltene Feinheit seines Ohres, das auf bedeutende Entfernung
-ihm hörbar machte, was jedem andern verhallte. Er hörte zuerst einen
-Schuß oder einen ähnlichen Schlag; da sprang sie auf und las ein
-italienisches Gedicht mit vielem Ausdruck, in welchem der Dienst der
-Liebesgötter bei einem Putztische beschrieben wurde; und gleich sah er
-unzählige dieser zartbeflügelten Gestalten das Zimmer beleben, wie sie
-ihr Kamm und Bänder reichten und ein zierliches Trinkgefäß, wie sie die
-abgeworfenen Kleider ordneten, alles nach dem Winken ihrer Hände, dann
-aber, als sie sich in ihr Bett gestreckt, wie ein gaukelnder Kreis um
-ihr Haupt schwebten, bis sie immer blässer und blässer sich im Dampfe
-der erlöschenden Nachtlampe verloren, in welchem ihm dagegen die Gestalt
-seiner Mutter erschien, die von der Stirn des Mädchens eine kleine
-beflügelte Lichtgestalt aufhob und in ihre Arme nahm, -- wie das Bild
-der Nacht, die das Kindlein Schlaf in ihrem Gewande trägt -- und in dem
-Zimmer bis zur Mitternacht damit auf- und niederschwebte, als wenn sie
-ihm die unruhigen Träume vertreiben wollte, es dann aber über den
-schwindelnden Straßengrund dicht an das Auge des Staunenden trug, der
-Esthers verklärte Züge in der Lichtgestalt deutlich erblickte, sie aber
-mit einem Schrei des Staunens unwiderruflich zerstreute. Denn mit diesem
-Schrei war er aus dem höheren Seelenzustande, aus dem Kern in die Schale
-zurückgesunken, und kein Wunsch führte ihm diesen seligen Anblick
-zurück. Er sah Esther in ihrem Bett nicht mehr liegen, ihr Zimmer war
-dunkel, nichts regte sich in der Gasse als die Ratten, die eine muntere
-Jagd unter den Brücken der Gossen hielten, auch hustete die alte Vasthi
-mit hoher Pelzmütze aus einem Fenster und fing an zu beten, als ein
-Stier in der Nähe ein heftiges Gebrüll erhob. Diesem Gebrüll ging der
-Majoratsherr im Hause nach und erblickte durch ein Hinterfenster beim
-Schein des aufgehenden Mondes auf grüner, mit Leichensteinen besetzten,
-ummauerten Fläche einen Stier von ungeheurer Größe und Dicke, der an
-einem Grabsteine wühlte, während zwei Ziegenböcke mit seltsamen
-Kreuzsprüngen durch die Luft sich über sein Wesen zu verwundern
-schienen. Hier stand dem Majoratsherrn der Verstand still; diese
-schreckliche Wirtschaft auf einem Gottesacker empörte ihn, er klingelte
-der Aufwärterin. Sie erschien bald und fragte ihn, was er befehle?
-»Nichts, gar nichts,« antwortete er, »aber was deutet dieser Spuk?« --
-Die Frau trat ans Fenster und sagte: »Ich sehe nichts als die
-Majoratsherren der Juden, das sind die erstgebornen Tiere, welche sie
-nach dem Befehle ihres Gesetzes dem Herrn weihen, die werden hier
-köstlich gefüttert, sie brauchen nichts zu tun; wenn sie aber ein Christ
-erschlägt, so tut er den Juden einen rechten Gefallen, weil er ihnen die
-Ausgabe spart.« -- »Die unglücklichen Majoratsherren,« seufzte er in
-sich, »und warum haben sie Nachts keine Ruhe?« -- »Die Juden sagen, daß
-einer aus der Sippschaft stirbt, wo sie nachts so wühlen am Grabe,«
-antwortete die Frau; »hier, wo dieser wühlt, ist der Vater der Esther,
-der große Roßtäuscher, begraben.« -- »O Gott nein!« rief er und ging in
-den betrübtesten Gefühlen auf sein Zimmer und suchte sich wieder mit
-heftigem Flötenspiel zu zerstreuen.
-
-Endlich wurde es Tag; die großen Schatten der Häuser lagerten sich unter
-dem hellen Himmel, die Mägde sprangen frisch geschuht, als ob sie sich
-an diesem Tage durchaus nicht beschmutzen wollten, von einem trocknen
-Stein zum andern, die Schwalben dagegen kreuzten hin zu dem köstlichen
-Baumörtel, den ihnen der gestrige Regen bereitet hatte, und füllten
-damit alle Lücken der menschlichen Architektur. Auch an dem Fenster, das
-zu Esther blickte, hatten sich heute zwei von den zwitschernden
-Grauröcken eingefunden und wollten ihr Nest gerade da ankleben, wo er
-durch die einzige helle Scheibe zu Esther hinblickte. Da stand der
-Majoratsherr zweifelnd, ob er sie stören, ob er alles abwarten solle,
-was ihm so bedeutend erschien. Seine Sinnesart überwog für das Abwarten.
-Nun ihm Esther verborgen, konnte er sich an den lieben Geschöpfen, an
-ihrer Lust, an ihrem Fleiße nicht satt sehen, es war ihm zumute, als ob
-er sich selbst da anbaue, als hänge sein Glück davon ab, daß sie fertig
-würden, und ehe er sich zu Bette legte, sang er noch zu seiner
-Mandoline:
-
- Die Sonne scheinet an die Wand,
- Die Schwalbe baut daran;
- O Sonne, halt nur heute Stand,
- Daß sie recht bauen kann.
- Es ward ihr Nest so oft zerstört,
- Noch eh es fertig war,
- Und dennoch baut sie wie betört,
- Die Sonne scheint so klar!
-
- So süß und töricht ist der Sinn,
- Der hier ein Haus sich baut, --
- Im hohen Flug ist kein Gewinn,
- Der fern aus Lüften schaut,
- Und ging er auch zur Ewigkeit,
- Er paßt nicht in die Zeit,
- Er ist von ihrer Freudigkeit
- Verschieden himmelweit.
-
-Den Abend, als er aufwachte, fand er den Vetter schon mit einem guten
-Abendessen in seinem Zimmer, auch sprach er von einer unangenehmen
-Überraschung, die er ihm gemacht. -- Deswegen führte er ihn in das
-Nebenzimmer, von wo er die Gasse beobachten könnte, und der Majoratsherr
-fand es mit Sofa und Stühlen, mit Schränken und Tischen geschmückt, auch
-war das Fenster gewaschen -- aber die Schwalben waren herabgestoßen.
-»Meine guten schützenden Engel sind vertrieben«, dachte der
-Majoratsherr. »Ich soll sie sehen, meinen Todesengel, soll den ganzen
-Traum durchleben, der mich plagte; denn eins ist schon erfüllt, was ich
-im Schlafe sah.« -- »Warum so traurig, Vetter?« fragte der Leutnant. --
-»Ich habe unruhig geschlafen,« antwortete der Majoratsherr, »und mir
-träumte von der Esther, sie sei mein Todesengel. Närrisches Zeug! Ihr
-Kleid hatte unzählige Augen, und sie reichte mir einen Schmerzensbecher,
-einen Todesbecher, und ich trank ihn aus bis zum letzten Tropfen!« --
-»Sie hatten Durst im Schlafe,« sagte der Leutnant. »Setzen Sie sich zum
-Essen, da steht guter Wein, echter Unger, ich habe ihn selbst gemacht,
-aus Rosinen und schwarzem Brote. Apropos, Sie müssen die gute alte
-Hofdame bald einmal besuchen; sie hat mich heute halbtot gequält, daß
-ich Sie zu ihr bringe, sie wäre eine Freundin Ihrer Eltern.« -- »Dazu
-muß ich einen Tag leben, und ich verschlafe meine Tage viel lieber,«
-antwortete der Majoratsherr. »Lassen wir das, nehmen Sie meinen Dank für
-die Ausschmückung des Zimmers! Eins möchte ich mir noch kaufen, seidene
-Vorhänge vor jenes Fenster; Sie haben die Scheiben so hell polieren
-lassen, daß ich nicht mehr versteckt bin, wenn ich in die Gasse schaue.«
--- »Die finden Sie gleich unten bei der schönen Esther,« rief der
-Vetter, »da können Sie ihre Bekanntschaft viel näher machen als durch
-die Fensterscheiben. Alle unsere Majoratsherren waren verliebter
-Komplexion, Sie müssen keine Ausnahme machen, bester Vetter! Ich will
-Sie auch begleiten, damit Sie im Handel nicht betrogen werden, und daß
-Sie sich nicht abschrecken lassen, wenn das Mädchen sehr spröde tut.« So
-gingen beide, der Majoratsherr vom Leutnant fortgezogen, in die Gasse,
-und der letztere konnte sich eines Schauers nicht erwehren; ihm wars,
-als wären die hohen, hölzernen Häuser nur aus Pappdeckeln
-zusammengebaut, und die Menschen hingen wie ein Spielzeug der Kinder an
-Fäden und regten sich, wie es das Umdrehen der großen Sonnenwalze ihnen
-geboten. Jetzt fingen sie an, ihre Läden zu schließen, räumten auf,
-zählten den Gewinn, und der Majoratsherr wagte in dem Lärmen, in dem
-Dufte nicht aufzublicken.
-
-»Hier, hier!« rief der Leutnant, und der Majoratsherr wollte eben in
-einen Laden treten, als er statt der Esther ein grimmig Judenweib, mit
-einer Nase wie ein Adler, mit Augen wie Karfunkel, einer Haut wie
-geräucherte Gänsebrust, einem Bauch wie ein Bürgermeister, darin
-erblickte. Sie hatte sich ihm schon mit ihren Waren empfohlen und
-gefragt, ob sie auf sein Zimmer kommen solle, sie wolle ihm das Schönste
-zeigen, auch wenn er keine Elle kaufen möchte; denn er sei ein schöner
-Herr! -- Schon wollte er eintreten, als der Leutnant ihn am Rock zupfte
-und zuflüsterte: »Hier im andern Laden ist die schöne Esther!« -- Da
-wendete er sich fort und sagte verlegen, er wolle nichts kaufen, er
-hätte sich nur nach einem Komödienzettel an der Ecke umgesehen, und mit
-diesen Worten wandte er sich nach dem Nebenladen, wo er Esther zu sehen
-erwartete. Aber die alte Jüdin ließ ihn noch nicht los. Sie rief eifrig:
-»Junger Herr! hier im Winkel ist auch ein Zettel, ich habe vielleicht
-auch einen im Laden! Treten Sie ein, ich habe auch den Zettel von den
-spanischen Reitern!« Der Majoratsherr ward dadurch gestört und blickte
-sich um, erschrak aber, daß die Jüdin einen schwarzen Raben auf dem
-Kopfe trug, und verweilte. Unterdessen hatte der Leutnant schon ein
-Gespräch mit Esther angeknüpft, welche ihm ohne Zudringlichkeit Bescheid
-gegeben. Dieser zog den Majoratsherrn in den Laden der Esther, und nun
-erschallte hinter ihm ein fürchterliches Rabengekrächze aus dem Munde
-der alten Jüdin. In halb hebräischen Schimpfreden und im verzerrtesten
-Judendialekt zeihte sie die arme Tochter der Unkeuschheit, mit der sie
-Christen in ihren Laden locke, um ihrer eigenen Mutter den Verdienst zu
-rauben, und verfluchte sie dabei zu allen Martern. Endlich ließ der Atem
-des wütenden Weibes nach, der trotz der warmen Luft wie im Winter
-geraucht hatte, und sie hetzte vergeblich ein paar vorübergehende kleine
-Buben auf, daß sie ihr sollten schimpfen helfen, wofür sie ihnen Kuchen
-versprach. Esther glühte von Schamröte, aber sie erwiderte nichts.
-Endlich lief die Alte fort, weil ein Käufer kam. Der Majoratsherr
-fragte, wer die grimmige Alte mit dem Raben auf dem Kopfe gewesen? --
-»Meine Stiefmutter,« antwortete Esther, »haben Sie vielleicht das
-schwarze Tuch mit den langen Zipfeln für einen Raben angesehn?« -- Der
-Klang der Stimme schien dem Majoratsherrn nun erst bekannt, nun er sie
-so nahe hörte; noch deutlicher als aus dem Fenster durchdrang ihn die
-Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Esther war nicht frischer, aber
-jugendlicher; eine schmerzliche Blässe hatte das zarte Antlitz, selbst
-die feingeformten Lippen, wie ein schädlicher Frühlingsnebel überzogen;
-auch ihre Augen schienen dem Lichte zu schwach und verengten sich
-unwillkürlich, wie Blumen gegen Abend die Blätter um ihren Sonnenkelch
-zusammenziehen. Während sie mit Eilfertigkeit seidene Zeuge entrollte,
-suchte sie der Leutnant in ziemlich ungeschickter Art zu trösten, indem
-er ihr die Hoffnung zusicherte, ihre Stiefmutter werde bald sterben. --
-»Ich wünsche ihr langes Leben,« antwortete die Gute, »sie hat noch
-Kinder, für die sie sorgen muß. Wer weiß, wer zuerst den bittern Tropfen
-des Todesengels kosten muß. Ich fühle mich heute in allen Nerven so
-gereizt und schwach.« -- Der Majoratsherr meinte einen Todesengel nicht
-nur fliegen zu sehen, sondern auch sein Flügelsausen zu hören: »Wie
-schrecklich seine Flügel sausen!« -- Aber Esther sprang nach einer
-Hintertür, schlug sie zu und entschuldigte sich wegen des heftigen
-Zuges; ihr kleiner Bruder habe die Tür offen gelassen. Der Majoratsherr
-wählte nun unter den Zeugen, fragte aber nach einer Farbe, die nicht im
-Vorrate war. Gleich sprang Esther zu ihrer Mutter nach dem andern Laden,
-und diese brachte mit fröhlichem Antlitz den verlangten Stoff, als ob
-der Gewittervorhang mit einem Hauche fortgezogen worden wäre. Der
-Leutnant wollte viel abdingen; aber der Majoratsherr warf das Geld hin,
-was verlangt worden. Da gab ihm Esther einige Taler heraus, denn soviel
-betrüge ihr Vorschlag; darüber fing die Mutter wieder an zu wettern,
-aber diesmal ganz hebräisch. Als Esther wieder geduldig die Augen
-niederschlug, antwortete der Leutnant ihr auf Hebräisch, so daß die
-Alte, ganz erstaunt über seine seltene Fertigkeit, das Feld räumte und
-sich in ihr Schneckenhaus verkroch. Esther schien sich darüber noch mehr
-zu kränken als über den Schimpf, den sie erdulden müssen, und der
-Majoratsherr zog aus Schonung den Vetter, der schon Triumph ausrufen
-wollte, mit sich fort, indem er zugleich das seidene Zeug unter dem Arme
-selbst forttrug.
-
-Als sie zu Hause, fragte er den Leutnant, woher er das Hebräische wisse?
--- »Das brauchte ich zu meinem Verkehr mit den Juden,« antwortete er,
-»und was es mir kostet an Büchern und Lehrmeistern, hat es mir reichlich
-wieder eingebracht, denn ich konnte nun alle ihre Heimlichkeiten
-verstehen. Sehen Sie, Vetter, in dem Schranke sind lauter jüdische
-Sagenbücher und Beschreibung ihrer Sitten und Gebräuche. Wissen Sie, was
-die Alte zuletzt sagte? Sie freue sich darauf, wenn Esther stürbe, da
-würde es eine schöne Auktion geben! Wirklich ist sie auch aus dem
-Nachlasse ihres Vaters mit allen eleganten Möbeln versorgt, und die
-Leute erzählen, weil nun die feinen Herren nicht mehr, wie bei ihres
-Vaters Lebzeiten, zu ihr kommen, daß sie sich abends prächtig anputze
-und Tee mache, als ob sie Gesellschaft sehe, und dabei in allen Sprachen
-rede.« -- Aber der Majoratsherr hörte wenig mehr darauf, denn er war mit
-ganzer Seele über die Sagenbücher hergefallen. Der Leutnant wünschte ihm
-gute Nacht, und kaum hatte er ihn verlassen, so sah der Majoratsherr
-beim Lesen der alten Bücher in seinem Zimmer alle Patriarchen und
-Propheten, alle Rabbinen und ihre wunderlichen Geschichten aus den
-Sagenbüchern hervorgehen, daß die Stube zu eng schien für die ungeheure
-Zahl. Aber der Todesengel schlug sie endlich alle mit seinen Flügeln
-hinweg, und er konnte sich nicht satt lesen an seiner Geschichte: »Lilis
-war die Mitgeschaffne Adams im Paradiese; aber er war zu scheu und sie
-zu keusch, und so gestanden sie einander nie ihr Gefühl, und da erschuf
-ihm der Herr im Drange seines Lebens ein Weib aus seiner Rippe, wie er
-es sich im Schlafe träumte. Aus Gram über diese Mitgenossin ihrer Liebe
-floh Lilis den Adam und übernahm nach dem Sündenfalle des ersten
-Menschen das Geschäft eines Todesengels, bedrohte die Kinder Edens schon
-in der Geburt mit Tod und umlauert sie bis zum letzten Augenblicke, wo
-sie den bittern Tropfen von ihrem Schwert ihnen in den Mund fallen
-lassen kann. Tod bringt der Tropfen, und Tod bringt das Wasser, in
-welchem der Todesengel sein Schwert abwäscht.«
-
-Unruhig lief der Majoratsherr bei diesen Worten im Zimmer umher, dann
-sprach er heftig: »Jeder Mensch fängt die Welt an, und jeder endet sie.
-Auch ich liebte scheu und fromm eine keusche Lilis, sie war meine
-Mutter; in ihrer ungeteilten Liebe ruhte das Glück meiner Jugend. Esther
-ist meine Eva, sie entzieht mich ihr und gibt mich dem Tode hin!« -- Er
-hielt es nicht aus bei dem Anblick des Todesengels, den er immer hinter
-sich lauernd zu schauen glaubte; er eilte auf die Straße im Mantel
-verhüllt, um sich an dem Nachhall des Tages zu zerstreuen. Endlich
-setzte er sich ermüdet hinter das Fußgestell einer Bildsäule, die in der
-Nische eines hohen Hauses stand, und sah den eiligen Läufern zu, die mit
-Fackelglanz einem rollenden Wagen vorleuchteten; die Lilis zog hinter
-ihm her. Jubelnde Gesellschaften zogen lärmend aus der Trinkstube nach
-Hause und klapperten noch mit den Nägeln gegen die Saiten, die sie so
-lange hatten schwingen lassen; aber auch ihnen zog der Todesengel nach
-und -- blies sie an aus einem Nachtwächterhorn. Und es wurden der
-Todesengel so viele vor seinen Augen, daß sie zueinander traten und
-paarweis wie Liebende nebeneinander gingen in traulichen Gesprächen. Und
-er horchte ihnen zu, damit er wüßte, wie er zu Esther reden müsse, um
-ihr seine Liebe kund zu tun. Aber die Liebenden wurden von den
-Geschäftigen verdrängt, und er mochte nicht eher zuhören, bis ihm die
-Stimme der Vasthi auffiel, die mit einem alten Rabbiner vorüberging und
-ihm sagte:
-
-»Was soll ich die Esther schonen; ist sie doch nicht das Kind meines
-Mannes, sondern ein angenommenes Christenkind, der er den größten Teil
-seines Geldes zugewendet hat.« -- »Sei Sie still,« sagte der Rabbiner,
-»weiß Sie denn, wieviel der Mann mit dem Kinde bekommen hat?« »Alles. Er
-hatte nichts und konnte damit anlegen großen Handel. Was kann das
-Mädchen dafür, daß ihm sein Geld ist gestohlen worden?« -- Hier kamen
-sie ihm aus dem Bereich seines scharfen Gehörs, er eilte ihnen nach,
-aber sie hatten sich schon in irgend ein Haus begeben. Auch hier war er,
-wie gewöhnlich, zu spät zu einem Entschluß gekommen, doch war ihm der
-Fingerzeig seltsam bedeutend und führte ihn sinnend hin in sein Haus.
-
-Als er sich kaum ein paar Minuten ausgeruht hatte, hörte er einen Schuß,
-er sah zum Fenster hinaus, aber niemand schien es gehört zu haben.
-Beruhigt rückte er auf seine Warte am Fenster und wagte es, einen
-Fensterflügel zu öffnen, so daß er noch genauer, als die Nacht vorher,
-das Zimmer der, schönen Esther übersehen konnte. -- Da hatte sich vieles
-verändert, die Kappen der Stühle waren abgenommen, und sie glänzten in
-weißem Atlas um einen prachtvollen Teetisch, auf welchem eine silberne
-Teemaschine dampfte. Esther schüttete wohlriechendes Wasser auf eine
-glühende Schippe, dann sprach sie in die Luft: »Nanni, es ist höchste
-Zeit, daß ich meine Locken mache, meine Gäste müssen bald kommen.«
-Esther antwortete darauf mit veränderter Stimme: »Gnädiges Fräulein, es
-ist alles bereit.« -- Im Augenblicke des Worts stand eine zierliche
-Kammerjungfer vor Esther und half ihr die Locken ausziehen und ordnen.
-Dann reichte sie Esther den Spiegel, und diese klagte: »Gott, wie bin
-ich bleich! Hat es denn nicht Zeit mit dem Erbleichen, bis ich tot bin?
-Du sagst, ich soll mich schminken. Nein, dann gefalle ich dem
-Majoratsherrn nicht, denn er ist auch blaß wie ich, gut wie ich,
-unglücklich wie ich; wenn er nur heut käme, die Gesellschaft macht mir
-ohne ihn keine Freude.« Nun war alles im Zimmer geordnet, und Esther,
-sehr elegant angezogen, legte einige schön gebundene englische Bücher
-aufs Sofa und begrüßte auch englisch das erste Nichts, dem sie in ihrer
-Gesellschaftskomödie die Tür öffnete. Kaum antwortete sie englisch in
-seinem Namen, so stand da ein langer, finsterer Engländer vor ihr, mit
-der Art Freiheit und Anstand, die sie damals vor allen Nationen in
-Europa auszeichnete. Mit solchen Luftbildern von Franzosen, Polen,
-Italienern, endlich auch mit einem kantischen Philosophen, einem
-deutschen Fürsten, der Roßhändler geworden, einem jungen aufgeklärten
-Theologen und einigen Edelleuten auf Reisen belebte sich der Teetisch.
-Sie war in einer unerschöpflichen Bewegung durch alle Sprachen. Es
-entspann sich ein Streit über die Angelegenheiten Frankreichs. Der
-Kantianer demonstrierte, aber der Franzose wütete. Sie suchte sehr
-gewandt die Streitenden auseinander zu halten und schüttete endlich, als
-ob sie angestoßen wäre, eine Tasse heißen Tee dem Kantianer auf die
-Unterkleider, um eine Diversion zu machen. Das gelang auch; es wurde
-entschuldigt, abgewischt, und sie versicherte, den Tritt des
-Majoratsherrn zu hören, eine neue Bekanntschaft, die sie erst jetzt
-gemacht, ein ausgezeichneter junger Mann, der Frankreich erst kürzlich
-verlassen habe und jene streitigen Fragen am besten beantworten könne.
--- Bei diesen Worten durchgriff eine kalte Hand den Majoratsherrn. Er
-fürchtete, sich selbst eintreten zu sehen; es war ihm, als ob er wie ein
-Handschuh im Herabziehen von sich selbst umgekehrt würde. Zu seiner
-Beruhigung sah er gar nichts auf dem Stuhle, den Esther ihm hinrückte,
-aber den andern Mitgliedern der eleganten Gesellschaft mußte sein
-Ansehen etwas Unheimliches haben, und während Esther zu ihm flüsterte,
-empfahlen sich diese, aber einer nach dem andern. Als alle sich entfernt
-hatten, sprach Esther lauter zu dem leeren Stuhle: »Sie haben mir in
-aller Kürze gesagt, ich sei nicht, was ich zu sein -- scheine, und ich
-entgegne darauf, daß auch Sie nicht sind, was Sie scheinen.« Darauf
-antwortete Esther, indem sie zum Staunen des aufhorchenden Majoratsherrn
-seine Stimme täuschend nachahmte: »Ich will mich erklären: Sie sind
-nicht die Tochter dessen, den die Welt Ihren Vater nennt, Sie sind ein
-geraubtes Christenkind, Ihren wahren Eltern, Ihrem wahren Glauben
-geraubt, und mein Entschluß, Sie dahin zurückzuführen, hat mich
-bestimmt, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Erklären Sie sich mir jetzt
-auch deutlicher.« -- Esther: »Es sei. Ich bin Sie und Sie sind ich;
-sollte aber die Sache wieder in Ordnung gebracht werden, so zweifle ich,
-daß ich dabei gewinnen kann, Sie aber verlören unglaublich viel, und nur
-der schreckliche, rotnasige Vetter würde zu einer schwindelnden Höhe
-erhoben.«
-
-Sie schwieg und flehte sich selbst mit der Stimme des Majoratsherrn an,
-weiter zu reden, denn eine Ähnlichkeit mit der geliebten Mutter
-enthüllte ihm nun halb das Geheimnis. -- Dann fuhr sie fort: »Ist Ihnen
-denn der Eigensinn eines alten Majoratsherrn, der von seinem Vetter, dem
-Leutnant, mehrmals gekränkt worden, einem eignen Sohne die geliebten
-Reichtümer überlassen möchte, so geheimnisvoll? Nehmen Sie an, daß die
-Erfüllung dieser Hoffnung ihm nahe bevorstand, daß seine Frau in Wochen
-kommen sollte, daß ihn aber die Furcht quälte, die Geburt eines Mädchens
-könne alles vereiteln. Wenn diese oft geäußerte Furcht eine listige
-Hofdame benutzt, um ihm einen Knaben aufzuschwatzen, den sie eine Woche
-früher insgeheim geboren: bedarf es da mehr als einer oft bestochenen
-Hebamme, wenn nun die Furcht erfüllt wird, und ich statt eines Knaben
-geboren werde? Ich werde einem dienstbaren Juden überliefert, der, außer
-dem Vorteil, auch seiner Religion dadurch etwas zuzuwenden hofft. Haben
-Sie Nathan den Weisen gelesen?« -- Majoratsherr: »Nein!« -- Esther: »Nun
-gut, Sie werden der Mutter an die Brust gegeben, wie die Nachtigall auch
-Kuckuckseier ausbrütet, doch es versteht sich, ohne etwas Böses damit
-sagen zu wollen. Und daß ich dies alles weiß, danke ich der Sterbestunde
-meines Pflegevaters; er versicherte mir noch dabei, daß jenes Kapital,
-was er mir zurücklasse, mehr betrage, als was ich nach der Stiftung des
-Majorats fordern könne; er habe aber wohl das Dreifache vom alten
-Majoratsherrn empfangen, um das Geheimnis zu bewahren, es sei die
-Grundlage seines großen Handelsverkehrs geworden. Sie verstummen, Sie
-zweifeln, was zu tun sei? Sie verfluchen die Eitelkeit des männlichen
-Geschlechts, seinen Namen allein in Ansehen erhalten zu wollen? Aber was
-ist zu tun? Lassen Sie denn den alten, lächerlichen Vetter Ihres
-Reichtums mit froh werden, wie Sie schon jetzt getan; meine Bahn ist
-bald durchlaufen, und ich ertrage keinen großen Wechsel der Witterung.
-Aber Sie lieben mich, sagen Sie. Ach ich habe Ihre Augen beim ersten
-Anblick verstanden, aber unsre Liebe ist nicht von dieser Welt; diese
-Welt hat mich mit aller ihrer Torheit zerstört. Freund, nicht alle
-Männer meinten es mit mir so ehrlich wie Sie, und sie umstrickten mich
-mit jeder Eitelkeit des kindischen Verstandes. Scheiden wir für heute,
-denn es kostet mir viel Zeit, Ihnen zu sagen, daß ich Ihnen kein ganzes
-Herz mehr schenken kann; es brach, es ging in Stücken, und nur dort
-heilt sich der Riß.« -- Bei diesen Worten verfinsterte eine Tränenflut
-die Augen des Majoratsherrn. Als er aufblickte, lag Esther, nachdem sie
-das Nachtlicht ausgelöscht, in ihrem Hemdchen im Fenster und atmete
-heftig die kalte Nachtluft ein; dann ging sie zu Bette, und er setzte
-sich zu seinem Tagebuche, um alles Wunderbare, so treu er vermochte,
-aufzuzeichnen.
-
-Gegen Mittag kam der Vetter, wie gewöhnlich, vor sein Bette und fragte
-ihn, ob er nicht endlich Lust habe, die Hofdame zu besuchen. Der
-Majoratsherr überraschte ihn mit einem vernehmlichen Ja, hätte aber gern
-hinzugefügt, daß er lieber allein den Besuch gemacht hätte. Er kleidete
-sich schnell an und machte sich mit dem Vetter auf den Weg, der sich
-darüber freute, daß sie jetzt gewiß noch allein sei. Wie sie sich dem
-Hause näherten, pochte dem Majoratsherrn das Herz. »Was ist das für ein
-schrecklich großer Menschenkasten dort,« fragte er, »mit den
-Spiegelscheiben? In dieser Nische habe ich einmal nachts hinter der
-Statue in der Nische gesessen!« -- »Kennen Sie noch nicht Ihr eigenes
-Majoratshaus?« fragte der Vetter, »da ließe es sich besser wohnen als in
-meinem kleinen Neste!« -- »Bewahre der Himmel,« antwortete der
-Majoratsherr, »ich wollte, daß ich es nie gesehen hätte; die großen
-Steine scheinen mit Hunger und Kummer zusammengemauert.« -- »Freilich,
-der es baute, hat sich kaum satt zu essen gewagt, und Ihr Vater war
-nicht auf sonderliche Ausgaben eingerichtet, hat mir einmal, als ich
-knapp von einem Tage zum andern lebte, einen Prozeß gemacht, weil ich
-eine Schneiderrechnung, die er für mich ausgelegt, am festgesetzten Tage
-ihm nicht wieder gezahlt hatte.« -- »Gott, das ist hart,« sagte der
-Majoratsherr, »das kann den Erben keinen Segen bringen!«
-
-Unter solchen Gesprächen waren sie in das Vorzimmer der Hofdame
-getreten, die darum bitten ließ, daß die Herren eine halbe Stunde warten
-möchten, sie hätte noch einige Worte zu schreiben. Der Vetter sah an
-seiner Uhr, daß er nicht so lange warten könne, wegen seines
-regelmäßigen Spazierganges, und ließ den Majoratsherrn allein. Diesem
-ward sehr unheimlich in dem Zimmer. Der schreiende Laubfrosch auf der
-kleinen Leiter schien von einem fatalen Geiste beseelt; auch die Blumen
-in den Töpfen hatten kein recht unschuldiges Ansehen; aus dem Potpourri
-glaubte er ein Dutzend abgelebte Diplomaten heraufhorchen zu sehen. Aber
-mehr als alles quälte ihn der schwarze Pudel, obgleich sich dieser vor
-ihm zu fürchten schien; er hielt ihn für eine Inkarnation des Teufels.
-Als nun endlich die Hofdame wie ein chinesisches Feuerwerk mit dem
-steifen Wechsel ihrer Farben aus dem andern Zimmer hervortrat, da
-vergingen ihm fast die Sinne, denn ihm stand's vor der Seele, daß die
-Abscheuliche seine Mutter sei. »Mutter,« sagte er, und sah sie scharf
-an, »deinem Sohn ist sehr wehe!« Er dachte, sie würde erschrecken, ihn
-für einen Toren erklären; aber sie setzte sich ruhig zu ihm und sagte:
-»Sohn, deiner Mutter ist sehr wohl.« Sie wollte ihm ein emailliertes,
-großes Riechfläschchen reichen, aber er scheute sich davor und sagte:
-»Da sehe ich eine Seele eingesperrt!« Sie legte es leise beiseite und
-sagte: »Wenn darin eine Seele, so ist es die Seele deines Vaters, des
-Schönen; ich reichte es ihm, als er vom Leutnant, dem Vetter,
-durchstochen ward, im unerwarteten Zweikampf vor meiner Türe.« -- »Ich
-lebe mit dem Mörder meines Vaters unter einem Dache, und du bist seine
-geliebte Freundin?« -- »Du weißt zuviel, mein Sohn,« fuhr sie fort, »als
-daß du nicht alles wissen solltest, wieviel du mir zu danken, was ich
-für dich getan habe. Dein Vater hieß der schöne ... in der ganzen Stadt;
-dieser Ruf machte, daß ich gegen ihn alle Vorsicht vergaß. Unser
-Liebeshandel blieb zwar heimlich; aber bei den Folgen, die ich trug,
-mußte ich auf Verbannung vom Hofe gefaßt sein, wenn ich diese Folgen
-nicht verheimlichen könnte, nachdem dein Vater erstochen war, ehe er
-sein Versprechen, mich zu heiraten, erfüllen können. Das gelang mir.« --
-»Ich weiß es.« -- »Und zugleich rächte ich deinen Vater an seinem
-Mörder, indem ich dir das Vermögen zuwandte, was jenem mit allem Rechte
-zugefallen wäre. Ich tat noch mehr. Durch meinen Einfluß am Hofe hemmte
-ich jeden seiner Versuche, sich in Ehren fortzuarbeiten, und erhielt ihn
-dabei in den Netzen meiner Reize. Weder seinem Verstande noch seinem
-Mute wurde gerechte Anerkennung; so veraltete er in sinnlosem Treiben
-und quälenden Nahrungsspekulationen, ein lächerliches Spottgesicht aller
-Welt, während die ältern Leute noch mit Entzücken von der Schönheit
-deines Vaters reden, ihn noch als Sprichwort brauchen, um Schönheit zu
-bezeichnen. Wenn ich dich in deinem Reichtum edel, sorgenfrei
-aufgewachsen sehe, allem Höheren zugewendet, und den Vetter denke, wie
-er da täglich unter schielenden Seitenblicken der Alten und mit
-Hohnlachen der Gassenbuben in lächerlichen Hahnentritten vor meinem
-Fenster vorübertrippelt, oder Sonntags meinen Hund kämmen muß, dann
-fühle ich, daß ich deinen Vater gerächt, ihm ein rechtes Totenopfer
-gebracht habe. Oder soll ich noch mehr tun, um den Vetter zu kränken,
-soll ich ihn heiraten, ihn in seinem Stundenlauf durch die Stadt stören,
-seine Wappensammlung zusammenwerfen?« -- Der Majoratsherr hatte auf das
-alles nicht gehört, sonst möchte sein Widerspruch sie früher
-unterbrochen haben. Er sprach halbträumend in sich hinein: »Also ward
-ich der Edlen nur als ein Dieb an die Mutterbrust gelegt. Und wo ist das
-unglückliche Kind, das meinetwegen verstoßen wurde? Ich weiß es, Esther
-ist es, die unglückliche, geistreiche, von der Gemeinheit der Ihren, von
-dem Fluch ihres Glaubens niedergebeugte Esther!« -- »Darüber kann ich
-dir keine Antwort geben,« sagte die Hofdame, »der alte Majoratsherr
-allein führte die Sache aus; ich war beruhigt, als ich dich aus der
-Schande unehelicher Geburt zu dem glänzendsten Schicksale erhoben sah.
-Du dankst mir nicht dafür?« -- Er saß in sich versunken und hörte nicht,
-sondern sprach halblaut: »Ich sollte reich sein auf Unkosten einer
-Armen? Habe ich nicht manches gelernt, was mir einen Unterhalt
-verschaffen kann? Ich spiele mehrere Instrumente so fertig wie
-irgendeiner; ich male, ich kann in mancher Sprache Unterricht geben.
-Fort mit der Sündenlast des Reichtums, sie hat mich nie beglückt!« --
-Die Hofdame hörte ihm aufmerksam zu und sprach mit ihrem Pudel, der
-seine Vorderpfoten auf ihre Knie stützte und ihr ans Ohr den Kopf
-ausstreckte, dann nahm sie die Hand des Majoratsherrn und sagte: »Du
-bist deiner Mutter wenigstens Gehorsam schuldig, und was ich fordere,
-ist nicht unbillig; nur vierundzwanzig Stunden bewahre das Geheimnis
-deiner Geburt und schiebe jeden Entschluß auf, den es in dir erregen
-könnte; darauf gib mir Hand und Wort!« -- Der Majoratsherr war froh, daß
-er in vierundzwanzig Stunden zu keinem Entschluß zu kommen brauchte,
-schlug ein, küßte die Hand, empfahl sich ihr und eilte nach Hause, um zu
-einer ruhigen Fassung zu gelangen.
-
-Aber eine neue Veranlassung zur tiefsten Beunruhigung seines Gemüts
-mußte er dort vorfinden. Er sah vor dem Hause der Esther eine große
-Versammlung von Juden und Jüdinnen, die heftig miteinander redeten. Weil
-er sich nicht darunter mischen wollte, so ging er in sein Haus und
-befragte die alte Aufwärterin. Sie berichtete ihm, daß der Verlobte der
-schönen Esther vor einer Stunde ganz zerlumpt von einer Reise nach
-England zurückgekommen sei; er habe alles das Seine verloren. Die alte
-Vasthi habe ihm darauf erklärt, daß er ihre Schwelle nie betreten, an
-ihre Stieftochter nicht denken solle; aber Esther habe laut versichert,
-daß sie gerade jetzt ihre Zusage erfüllen wolle, den Unglücklichen zu
-heiraten, weil er ihrer bedürfe, sonst hätte sie wegen ihrer
-Kränklichkeit das Verlöbnis aufgelöst. Darüber sei eine schreckliche Wut
-der Mutter Vasthi ausgebrochen, die kaum durch das Zwischentreten der
-ältesten Nachbarn beschwichtigt worden sei. Jedermann gebe ihr laut
-schuld, daß sie nicht aus Vorsorge für die Stieftochter, sondern aus
-Verlangen, sie zu beerben, weil sie sehr kränklich, die Heirat zu
-hindern suche.
-
-So war nun ein Mittel der Ausgleichung, wenn er selbst, der
-Majoratsherr, die verstoßene Esther geheiratet hätte, fast verloren, und
-seine Neigung schien ihm jetzt sträflich. Er sah Esther, die bleich und
-erstarrt wie eine Tote auf ihrem Sofa lag, während der Verlobte, ein
-jammervoller Mensch, ihr seine unglücklichen Begebenheiten erzählte. Es
-wurde Licht angezündet; sie schien sich zu erholen, tröstete ihn,
-versprach ihm ihren Handel zu überlassen, wenn sie verheiratet wären,
-aber er dürfe dann nie ihr Zimmer betreten. Er beschwor alle
-Bedingungen, die sie ihm machen wolle, wenn sie ihn aus dem Elend reißen
-und vor dem Zorn der grausamen Vasthi bewahren wolle. »Sie ist der
-Würgengel, der Todesengel,« sagte er, »ich weiß es gewiß; sie wird
-abends gerufen, daß die toten Leute nicht über Nacht im Hause bleiben
-müssen, und saugt ihnen den Atem aus, daß sie sich nicht lange quälen
-und den Ihren zur Last fallen. Ich hab's gesehen, als sie von meiner
-Mutter fortschlich, und als ich ans Bette kam, war sie tot; ich hab es
-gehört von meinem Schwager, es darf nur keiner davon reden. Es ist eine
-Sache der Milde, aber ich scheue mich davor.« Esther suchte es ihm
-auszureden, endlich sagte sie: »Bedenk Er sich wohl! Wenn Er sich
-allzusehr vor ihr fürchtet, so heirate Er mich nicht. Mir ist es
-einerlei, ich tue es nur, um Ihn aus dem Elend zu retten; das bedenk Er
-sich und geh Er und laß Er mich allein.« Der Verlobte ging. Kaum war er
-fort, so stand Esther mit Mühe auf, erschrak, als sie sich im Spiegel
-erblickte, und rang die Hände.
-
-Der Majoratsherr beschaute den schmalen Raum, der sie trennte; er
-glaubte sie trösten zu müssen. Aber ehe er entschlossen, ob er sich
-einem kühnen Sprunge hingeben oder durch ein Brett beide Fenster in
-aller Sicherheit vereinigen könnte, hörte er, wie alle Abende, einen
-Schuß, und es überfiel der gesellige Wahnsinn die schöne Esther schon
-wieder. Sie schlüpfte mit Eile in ein kurzes Ballkleid und warf darüber
-einen feuerfarbenen Maskenmantel, nahm auch eine Maske vor, und so
-erwartete sie die übrigen Masken zu dem Balle. Es ging wie am vorigen
-Tage, nur viel wilder. Groteske Verkleidungen, Teufel, Schornsteinfeger,
-Ritter, große Hähne schnarrten und schrien in allen Sprachen, er sah die
-Gestalten, sowie ihre Stimme sie belebte. Sie war schlagend witzig gegen
-alle Angriffe, die sie sich selbst machte, und scheute in diesen
-Spottreden keine ihrer Schwächen, die sie je gehabt hatte; aber sie
-wußte auch von allem die beste Seite zu zeigen. Nur einer Maske wußte
-sie nichts zu antworten, die ihr vorwarf, so nahe ihrer Hochzeit solchen
-Leichtsinn zu treiben. »Nennen Sie dieses Almosen, das ich dem armen
-Jungen reiche, keine Hochzeit. Ich bin verlassen; der Majoratsherr wird
-sich immerdar zu lange in Unschlüssigkeit bedenken, ehe er etwas für
-mich tut, meine Pulse schlagen bald die letzte Stunde, kurz David tanzte
-vor der Bundeslade, und ich tanze dem höheren Bunde entgegen.« Bei
-diesen Worten ergriff sie die Maske und raste einen schnellen Walzer,
-welchem Beispiel die anderen Masken folgten, während ihr Mund mit
-seltener Fertigkeit Violinen, Bässe, Hoboen und Waldhörner tanzend
-nachzuahmen wußte. Kaum war dieser allgemeine Tanz beendet, so wurde sie
-angefleht, die Fandango zu tanzen. Sie warf die Maske und auch das
-Ballkleid von sich, ergriff die Kastagnetten und tanzte mit einer
-Zierlichkeit den zierlichsten Tanz, daß dem Majoratsherrn alle anderen
-Gedanken in Wonne des Anschauens untergingen. Als ihr nun alle für diese
-Kunst ihren Dank zollten und sie nur mit Mühe wieder zu Atem kam, sah
-sie mit Schrecken einen kleinen Mann eintreten, den auch der
-Majoratsherr, sobald sie ihn genannt, in einer sehr abgetragenen Maske
-die Herren begrüßen sah. »Gott, das ist mein armer Bräutigam,« sagte
-sie, »der will mit seinen Kunststücken Geld verdienen.« Diese armselige
-Maske trug einen kleinen Tisch und Stuhl auf dem Rücken, empfahl seine
-Kunststücke, ließ einen Teller umhergehen, um für sich einzusammeln, und
-eröffnete den Schauplatz mit sehr geschickten Kartenkünsten; dann
-brachte er Becher, Ringe, Beutel, Leuchter und ähnliche
-Schnurrpfeifereien vor, mit denen er das größte Entzücken in der ganzen
-Gesellschaft erregte. Zuletzt sprang er in einem leichten, weißen
-Anzuge, doch wieder maskiert, wie eine Seele aus dem schmutzigen
-Maskenmantel heraus und versicherte, mit seinem Körper seltsame
-Kunststücke machen zu wollen, legte sich auf den Bauch und drehte sich
-wie ein angestochener Käfer umher. Aber Esther faßte einen so gräßlichen
-Widerwillen gegen ihn in dieser Verzerrung, daß sie mit zugehaltenen
-Augen in Krämpfen auf ihr Bett stürzte. Im Augenblicke waren dem
-Majoratsherrn alle Gestalten verschwunden; er sah die Geliebte, die
-Unterdrückte im schrecklichsten Leiden verlassen; er beschloß, zu ihr zu
-eilen. Er sprang die Treppe hinunter; aber er fehlte die Tür und trat in
-ein Zimmer, das er nie betreten. Und ihm und seiner Laterne entgegen
-drängten sich ungeheure gefiederte Gestalten, denen rote Nasen wie
-Nachtmützen über die Schnäbel hingen. Er flieht zurück und steigt zum
-Dache empor, indem er sein Zimmer sucht. Er blickt umher in dem Raume,
-und still umsitzen ihn heilige Gestalten, fromme Symbole, weiße Tauben;
-und das Gefühl, wie er zwischen Himmel und Hölle wohne, und die
-Sehnsucht nach dem himmlischen Frieden, dessen Sinnbilder ihn umgaben,
-stillte wie Öl die Sturmeswellen, die ihn durchbebten, und eine Ahnung,
-daß er ihm nahe, daß es seiner auf Erden nicht mehr bedürfe, drängte
-seine aufglimmende Tätigkeit für Esther wieder zurück.
-
-Doch diesem höheren Traum stellte sich die Wirklichkeit mit spitzer
-Nachtmütze, einem bunten Band darum gebunden, eine Brille auf der roten
-Nase, einen japanischen, bunten Schlafrock am Leibe, mit bloßem Schwerte
-entgegen; natürlich der Vetter, der, von dem Geräusch im Hause erwacht,
-den Majoratsherrn mit den Worten begrüßte: »Sind Sie es, lieber Vetter,
-oder Ihr Geist?« -- »Mein Geist,« antwortete der Majoratsherr verlegen,
-»denn kaum weiß ich, wie ich hier unter die Engel versetzt bin.« --
-»Kommen Sie in Ihr Zimmer zurück,« entgegnete der Vetter, »sonst
-verlassen die Tauben ihre Eier; meine Puthähne unten wollen sich ohnehin
-nicht zufrieden geben, Sie waren gewiß auch dort, ich konnte mir dieses
-Treppensteigen, den Lärm bei den Tieren nicht anders erklären, als daß
-ein Dieb von der Judengasse eingestiegen sei. Nun ist es mir nur lieb,
-daß Sie es sind. Vielleicht etwas mondsüchtig, lieber Vetter? Das weiß
-ich zu kurieren.« -- Unter solchen Gesprächen führte er den
-Majoratsherrn in sein Zimmer zurück. Dieser aber faßte den Entschluß,
-dem Vetter zu erzählen, daß er Esther in Krämpfen ganz verlassen aus
-seinem Fenster gesehen habe, und daß er in der Eil', ihr zu Hilfe zu
-kommen, die Türen verfehlt habe. -- »Welch ein Glück,« rief der Vetter,
-»denn wenn die Türe der Gasse offen gewesen, Sie wären nicht ohne
-Unglück oder Schimpf hinausgekommen.« -- Der Majoratsherr war an das
-Fenster gegangen und sagte: »Sie scheint jetzt zu schlummern, der
-schreckliche Anfall ist vorüber.« Der Leutnant erzählte aber weiter:
-»Vor einem Jahre hätten Sie die Esther sehen sollen, da war sie schön;
-da kam der Sohn eines Regimentskameraden vom Lande hieher unter die
-Dragoner. Er war das einzige Gut der Mutter, seitdem der Vater in einem
-Scharmützel geblieben; denn die sind oft gefährlicher als die großen
-Schlachten. Ich sah es, wie sie ihm das letzte Hemde zu seiner
-Equipierung nähte; sie dachte nicht, daß es sein Sterbehemde werden
-sollte. Aber der Mensch war unbesonnen, ich sah es ihm gleich beim
-Reiten an: er wollte immer Kunststücke auf den Straßen machen und dachte
-nicht daran, daß da Leute neben ihm gingen. Genug, der verliebt sich in
-die schöne Esther, und sie in ihn, und mein junger Herr will abends zu
-ihr schleichen, und wie die armen Juden außer ihrer Gasse mißhandelt
-werden, so meinen sie die Christen drinnen auch mißhandeln zu können,
-und fallen über ihn her, -- besonders die alte Vasthi, die hätte ihn
-fast erwürgt. Die Sache ward laut, die Offiziere wollten nicht mit dem
-jungen Fähndrich weiter dienen. Er kam zu mir: was er tun sollte? Ich
-sagte ihm: schießt Euch tot, weiter ist nichts zu tun. Und der Mensch
-nimmt das Wort buchstäblich und schießt sich tot. Da hatte ich Mühe, es
-der Mutter auf gute Art beizubringen. Die Esther aber bekommt seitdem
-abends um die Zeit, wo er sich erschossen, einen Eindruck, als ob ein
-Pistolenschuß in der Nähe fiele, -- andre hören es nicht, -- und dann
-ein Anfall von Reden, Tanzen, daß kein Mensch aus ihr klug wird; und die
-andern im Hause lassen sie allein und scheuen sich vor ihr!« -- Entsetzt
-von dem kaltblütigen Vortrage rief der Majoratsherr: »Welche Klüfte
-trennen die arme Menschheit, die sich immer nach Vereinigung liebend
-sehnt! Wie hoch muß ihre Bestimmung sein, daß sie solcher Fundamente
-bedarf, daß solche Opfer von der ewigen Liebe gefordert werden, solche
-Zeichen, -- die, mehr als Wunder, die Wahrheit der heiligen Geschichte
-bewähren? O, sie sind alle wahr, die heiligen Geschichten aller Völker!«
--- Nach einer Pause fragte er: »Ist denn die Vasthi wirklich der
-Würgengel? Die Leute sagen, daß sie den Sterbenden den Todesdruck gebe.«
--- »Wenn das der Fall ist,« sagte der Vetter, »so ist es Milde, daß sie
-nicht lebend begraben werden, weil ein törichtes Gesetz gebietet, die
-Toten nach dreien Stunden aus dem Hause zu schaffen.« Es habe ihm ein
-Arzt versichert, daß er deswegen einem, der an Krämpfen gelitten,
-schwören mußte, bei ihm zu bleiben, daß er nicht erstickt würde, wenn
-man ihn für tot hielte. Und da sah er, wie die Verwandten ihn verlegen
-bereden wollten, fortzugehen, der Tote sei tot; aber er blieb und
-rettete das Leben des Erstarrten, der ihm noch lange dankte. Da sollte
-die Obrigkeit ein Einsehen haben und das frühe Beerdigen verbieten.
-»Aber lassen Sie uns von angenehmeren Dingen reden,« fuhr der Vetter
-fort. »Ich habe Ihnen vielen Dank zu sagen, Sie haben mein Glück
-gemacht. Meine vortreffliche Herzens- und Hofdame fühlt eine so gütige,
-mütterliche Zärtlichkeit gegen Sie, daß sie mir die seit dreißig Jahren
-versagte Hand reichen will, insofern ich Sie verpflichten kann, als ein
-geliebter Sohn in ihrer Nähe zu bleiben und unser nahendes Alter zu
-unterstützen. Da Sie nun, lieber Vetter, Ihr ganzes äußeres Dasein mit
-der Verwaltung des Majorats mir übertragen haben, ich auch aus der
-näheren Kenntnis der Verhandlungen ersehe, daß Sie viel zu abstrakt in
-Ihren Studien sind, um Ihrem Vermögen selbst vorstehen zu können, so
-habe ich, gleichsam als Ihr natürlicher Vormund, Ihr Wort dazu gegeben.«
-
-Der Majoratsherr fühlte sich in den Willen des Vetters ebenso
-hingegeben, wie Esther in den Willen der Vasthi; er kam ihm auch vor wie
-ein Würgengel, und er konnte sich denken, daß er ihm ebenso gleichgültig
-wie dem jungen Dragoner die Pistole reichen würde, wenn er das Geheimnis
-des Majorats erführe. Der Majoratsherr liebte aber sein Leben wie alle
-Kranke und Leidende, und es schien ihm ein milder Ausweg, den die
-Hofdame ersonnen, ihn durch diese Heirat als Sohn dem Hause dergestalt
-zu verknüpfen, daß bei der Unwahrscheinlichkeit, in ihrem Alter noch
-andre Kinder zu bekommen, er allein die Aussicht und der Mittelpunkt
-aller Hoffnungen beider werden müßte. So fand er sich gezwungen, dem
-Vetter zur Heirat Glück zu wünschen und ihm seine kindliche Ergebenheit
-gegen die Hofdame zu versichern; auch versprach er ihm, künftig mit ihm
-im Majoratshause zu wohnen, Gesellschaften zu sehen und am Hofe sein
-Glück zu suchen. Dann las ihm der Vetter einige wohlgereimte Gedichte
-vor, in denen er dieses Glück besungen hatte, und empfahl sich erst spät
-dem schlaftrunkenen Majoratsherrn, der heimlich allen Versen
-abgeschworen, seitdem er die edle Reimkunst mit so fataler nichtiger
-Fertigkeit hatte handhaben hören. Und doch konnte er es nicht lassen,
-einige Reime bis zum Verzweifeln sich zu wiederholen, und wußte auch
-nicht, wo er sie gehört hatte, doch meinte er damals, als er die alte
-Vasthi hinter der Bildsäule belauerte.
-
- Es war eine alte Jüdin,
- Ein grimmig gelbes Weib;
- Sie hat eine schöne Tochter
- Ihr Haar war schön geflochten
- Mit Perlen, soviel sie mochte,
- Zu ihrem Hochzeitskleid.
-
- »Ach liebste, liebste Mutter,
- Wie tut mirs Herz so weh; --
- In meinem geblümten Kleide
- Ach laß mich eine Weile
- Spazieren auf grüner Heide,
- Bis an die blaue See.
-
- Gut Nacht! Gut Nacht, Herzmutter,
- Du siehst mich nimmermehr;
- Zum Meere will ich laufen,
- Und sollt ich auch ersaufen,
- Es muß mich heute taufen;
- Es stürmet gar zu sehr!«
-
-Spät entschlafen unter diesen wiederkehrenden Reimen, wurde er erst
-gegen Abend durch den Pistolenschuß erweckt, der sich zur gewohnten
-Stunde hören ließ. Fast zugleich trat die alte, gute Aufwärterin leise
-ein, und als sie ihn wachend fand, fragte sie: ob er nicht der
-Judenhochzeit aus dem Hinterfenster zusehen wolle. -- »Wer wird
-verheiratet?« fuhr er auf. -- »Die schöne Esther, mit dem armen Lump,
-der gestern zurückgekehrt ist.« -- Zum Glück war der Majoratsherr
-unausgekleidet auf seinem Sofa eingeschlafen, denn Zeit konnte er nicht
-verlieren, mit solcher Heftigkeit sprang er nach den hinteren Fenstern
-des Hauses, aus denen er den Begräbnisort mit den wilden Tieren gesehen
-hatte. Lange Häuserschatten und zwischendurch strahlende Abendlichter
-streiften über den grünen Platz neben dem Begräbnisort, der mit einem
-schrecklichen Gewirre schmutziger Kinder eingehegt war. Die Art der
-Musik, welche jetzt anhub, erinnerte an das Morgenland, auch der
-reichgestickte Baldachin, der von vier Knaben vorausgetragen wurde.
-Ebenso fremdartig waren alle Zeichen der Lustigkeit unter den
-Zuschauern, welche Nachtigallen und Wachteln künstlich nachahmten,
-einander zwickten und Gesichter schnitten, und endlich, zum Teil mit
-künstlichen Sprüngen, den Bräutigam begrüßten, der wie ein
-Schornsteinfeger ein schwarzes Tuch um den Kopf trug und mit einer Zahl
-befreundeter Männer eintrat. Und welche Ungeduld, wie viele seltsame
-Einfälle unter den Leuten, als die Braut länger als erlaubt auf sich
-warten ließ. Aber endlich kam händeringend ein Weib und schrie
-unbarmherzig: »Esther ist tot!«
-
-Die Musik der Zimbeln und kleinen Pauken schwieg, die Knaben ließen den
-Thronhimmel fallen, der wilde Stier brüllte schrecklich oder wurde jetzt
-erst gehört. Der Majoratsherr allein, während alles lief zu schauen,
-blieb erstarrt in seiner Fensterecke liegen, bis die Tauben heimkehrend
-es mit lautem Flügel umflogen, und die Aufwärterin sagte: »Ach Gott! da
-haben sie wieder eine mitgebracht; wer weiß, welchem armen Menschen sie
-gehört hat, und wieviele sich darum grämen!« -- »Sie ists,« rief der
-Majoratsherr, »die himmlische Taube, und ich werde nicht lange um sie
-weinen!« Er ging auf sein Zimmer zurück und wagte es nach ihrem Fenster
-hinzublicken. Schon waren alle aus ihrem Zimmer entflohen, aus Furcht
-der Einwirkung eines Toten. Der Verlobte zerriß sein Kleid vor dem Hause
-und überließ sich allen Rasereien des Schmerzes, während die Ältesten
-von der Beerdigung redeten. Sie lag auf ihrem Bette. Der Kopf hing
-herab, und die Haarflechten rollten aufgelöst zum Boden. Ein Topf mit
-blühenden Zweigen aller Art stand neben ihr und ein Becher mit Wasser,
-aus dem sie wohl die letzte Kühlung im heißen Lebenskampfe mochte
-empfangen haben. -- »Wohin seid ihr nun entrückt,« rief er nun zum
-Himmel, »ihr himmlischen Gestalten, die ahnend sie umgaben? Wo bist du,
-schöner Todesengel, Abbild meiner Mutter! So ist der Glaube nur ein
-zweifelhaft Schauen zwischen Schlaf und Wachen, ein Morgennebel, der das
-schmerzliche Licht zerstreut! Wo ist die geflügelte Seele, der ich mich
-einst in reinster Umgebung zu nahen hoffte? Und wenn ich mir alles
-abstreite, wer legt Zeugnis ab für jene höhere Welt? Die Männer vor dem
-Hause reden vom Begräbnis, und dann ist alles abgetan. Immer dunkler
-wird ihr Zimmer, die geliebten Züge verschwinden darin.«
-
-Während er in tränenlosem Wahnsinn so vor sich hinredete, trat die alte
-Vasthi mit einer Diebeslaterne in das Zimmer, öffnete einen Schrank und
-nahm einige Beutel heraus, die sie in ihre lange Seitentasche steckte.
-Dann nahm sie den Brautschmuck der Erstarrten vom Kopfe und maß mit
-einem Bande ihre Länge, wohl nicht zu einem Kleide, sondern zur Auswahl
-des Sarges. Und nun setzte sie sich auf das Bett, und es schien, als ob
-sie bete. Und der Majoratsherr vergab ihr den Diebstahl für dies Gebet
-und betete mit ihr. Und wie sie gebetet hatte, zogen sich alle Züge
-ihres Antlitzes in lauter Schatten zusammen, wie die ausgeschnittenen
-Kartengesichter, welche, einem Lichte entgegengestellt, mit dem
-durchscheinenden Lichte ein menschliches Bild darstellen, das sie doch
-selbst nicht zu erkennen geben: sie erschien nicht wie ein menschliches
-Wesen, sondern wie ein Geier, der, lange von Gottes Sonne gnädig
-beschienen, mit der gesammelten Glut auf eine Taube niederstößt. So
-setzte sie sich wie ein Alpdruck auf die Brust der armen Esther und
-legte ihre Hände an ihren Hals. Der Majoratsherr meinte einige
-Bewegungen am Kopf, an Händen und Füßen der schönen Esther zu sehen;
-aber Wille und Entschluß lagen ihm wie immer fern, der Anblick ergriff
-ihn, daß er es nicht meinte überleben zu können. »Der grimmige Geier,
-die arme Taube!« -- Und wie Esther das Ringen aufgab und ihre Arme über
-den Kopf ausstreckte, da erlosch das Licht, und aus der Tiefe des
-Zimmers erschienen mit mildem Gruße die Gestalten der ersten reinen
-Schöpfung, Adam und Eva, unter dem verhängnisvollen Baume und blickten
-tröstend zu der Sterbenden aus dem Frühlingshimmel des wiedergewonnenen
-Paradieses, während der Todesengel zu ihrem Haupte mit traurigem Antlitz
-in einem Kleide voll Augen mit glänzendem, gesenktem Flammenschwerte
-lauerte, den letzten, bittern Tropfen ihren Lippen einzuflößen. So saß
-der Engel wartend, tiefsinnig, wie ein Erfinder am Schlusse seiner
-mühevollen Arbeit. Aber Esther sprach mit gebrochener Stimme zu Adam und
-Eva: »Euretwegen muß ich so viel leiden!« -- Und jene erwiderten: »Wir
-taten nur eine Sünde, und hast du auch nur eine getan?« -- Da seufzte
-Esther, und wie sich ihr Mund öffnete, fiel der bittre Tropfen von dem
-Schwerte des Todesengels in ihren Mund, und mit Unruhe lief ihr Geist
-durch alle Glieder getrieben und nahm Abschied von dem schmerzlich
-geliebten Aufenthaltsorte. Der Todesengel wusch aber die Spitze seines
-Schwertes in dem offenen Wasserbecher vor dem Bette ab und steckte es in
-die Scheide und empfing dann die geflügelte, lauschende Seele von den
-Lippen der schönen Esther, ihr feines Ebenbild. Und die Seele stellte
-sich auf die Zehen in seine Hand und faltete die Hände zum Himmel, und
-so entschwanden beide, als ob das Haus ihrem Fluge kein Hindernis sei,
-und es erschien überall durch den Bau dieser Welt eine höhere, welche
-den Sinnen nur in der Phantasie erkenntlich wird: in der Phantasie, die
-zwischen beiden Welten als Vermittlerin steht und immer neu den toten
-Stoff der Umhüllung zu lebender Gestaltung vergeistigt, indem sie das
-Höhere verkörpert. Die alte Vasthi schien aber von all der Herrlichkeit
-nichts zu erkennen und zu sehen; ihre Augen waren abgewandt, und als
-sich der Todeskampf gestillt hatte, nahm sie noch einigen Schmuck zu
-sich und hob das Bild von Adam und Eva von der Wand und schleppte es
-auch mit fort.
-
-Erst jetzt fiel dem Majoratsherrn ein, daß etwas Wirkliches auch für
-diese Welt an allem dem sein könne, was er gesehen, und mit dem Schrei:
-»Um Gottes Gnade willen, die Alte hat sie erwürgt,« sprang er, seiner
-selbst unbewußt, auf das Fenster und glücklich hinüber in das offene
-Fenster der Esther. Sein Schrei hatte die Totengräber und den Verlobten
-ins Haus gerufen. Sie kamen in das Zimmer, wo sie den Majoratsherrn, den
-keiner kannte, beschäftigt fanden, der armen Esther Leben einzuhauchen.
-Aber vergebens. Mit Mühe sagte er ihnen, was er gesehen, wie Vasthi sie
-erwürgt habe. Der Verlobte rief: »Es ist gewißlich wahr, ich sah sie
-hinaufschleichen und sah sie herunterschleichen, aber ich fürchtete mich
-vor ihr!« Die Totenbegleiter verwiesen ihm aber solche frevelhafte
-Gedanken, der Fremde sei ein Rasender, vielleicht ein Dieb, der solche
-Lügen ersonnen, um sich der Strafe zu entziehen. Da ergriff der
-Majoratsherr den Becher mit Wasser und sprach: »So gewiß der Tod in
-diesem Wasser sein Schwert gewaschen und es tödlich vergiftet hat, so
-gewiß hat Vasthi die arme Esther vor meinen Augen erwürgt!« -- Bei
-diesen Worten trank er den Becher aus und sank am Bette nieder. -- Alle
-sahen an dem Glanze seiner Augen, an der Bleichheit seiner Lippen, daß
-ihm sehr wehe sei, und sie hörten seinen gebrochenen Reden zu. »Sie
-würgte an ihr schon manches Jahr,« sagte er, »und Esther starb in einem
-Abbilde ihres Lebens, das mit seinem eiteln Schmuck noch in dem Tode die
-Raubgier der Alten und vergebliche Liebe in mir regte. Sie ist dem
-Himmel ihres Glaubens nicht entzogen, sie hat ihn gefunden, und auch ich
-werde meinen Himmel, die Ruhe und Unbeweglichkeit des ewigen Blaus
-finden, das mich aufnimmt in seiner Unendlichkeit, sein jüngstes Kind,
-wie seine Erstgeborenen, alle in gleicher Seligkeit!«
-
-Bald wurden seine Worte undeutlicher, und er bewegte kaum noch die
-Lippen. Und die Juden alle sagten, daß das Wasser in einem Sterbezimmer
-gefährlich und selbst öfter als tödlich erfunden sei bei gewaltsamen
-Todesfällen. Sie trugen ihn in das Haus des Leutnants und erzählten, was
-er ihnen von den Ereignissen berichtet hätte. Dieser versicherte ihnen,
-der Sterbende sei schon lange sehr kränklich gewesen, und rief eben den
-Arzt in das Haus, den der Majoratsherr zuerst erblickt hatte, wie der
-Tod auf seinem Wagen gesessen und die beiden Rosse, Hunger und Schmerz,
-gelenkt habe. Dieser zuckte die Achseln, machte Versuche mit Stechen und
-Brennen und einigen heftigen Mitteln; aber er konnte die Ruhe des
-Unglücklichen nicht mehr stören, sondern beschleunigte nur seinen Tod.
-
-Noch am Abend nahm der Leutnant Besitz von dem Majoratshause und schlief
-seine erste selige Nacht in dem Prachtbette des Hauses. Seine glänzende
-Bedienung, sein Geschmack in der Pracht zeigte sich zur allgemeinen
-Bewunderung bei dem Leichenbegängnisse des Majoratsherrn. Er gab mehrere
-große Mittagessen, und es verging keine Woche und jedermann war
-erstaunt, wie dem Manne Unrecht geschehen. Viele rühmten seinen echt
-praktischen Verstand, wie er sich durch alle Not des Lebens
-durchgearbeitet habe; andre erinnerten sich jetzt, wie viele Proben
-seines Mutes er im Kriege gegeben; einige verehrten sogar seine Gedichte
-und erboten sich, sie herauszugeben. Bald trat er nach seinem
-Dienstalter in die Armee ein und reichte als General der alten Hofdame
-seine Hand, nachdem er durch die glückliche Erfindungsgabe jenes Arztes
-von seiner roten Nase kuriert war.
-
-Dem Hochzeitstage zu Ehren wurde alles Geflügel geschlachtet, das er im
-kleinen Hause so lange verpflegt hatte. Die hohen Herrschaften beehrten
-ihn selbst mit ihrer Gegenwart, und jedermann rühmte die Fröhlichkeit
-und die Pracht dieses Festes. Um so unruhiger war die Nacht. Die Ärzte
-behaupteten, der Vetter habe sich im Weine übernommen; die Leute im
-Hause aber berichteten, die Hofdame habe im zu Bette gehen ein
-emailliertes Riechfläschchen zerbrochen, worin der Geist ihres
-erstochenen Freundes eingeschlossen gewesen. Dieser Geist habe ihr Bett
-gegen ihn mit dem Degen verteidigt, und beide hätten die ganze Nacht
-gefochten, bis endlich der Herr ermüdet sich vor ihm zurückgezogen. Die
-Hofdame verhöhnte ihn am Morgen als einen törichten Geisterseher, und
-als er ihr im Zorne antwortete, drohte sie die Geschichte zu seinem
-Schimpfe am Hofe bekannt zu machen. Zu ihren Füßen flehte er, daß sie
-schweigen möchte, und sie versprach es unter der Bedingung, daß er sie
-in keiner ihrer Launen stören wolle. So mußte er es ruhig dulden, daß
-die Hunde der Frau, als diese die Wappensammlung besehen und offen
-stehen lassen, mit den kostbarsten Wappen spielten und sie im Spiel
-zerbissen. Auch mit der Ordnung seiner Zeit hatte es ein Ende, denn die
-Frau verstellte und verdrehte ihm alle Uhren, wenn die Hunde zum
-Mittagessen früher eine Lust bezeigten. Auch hatte er zum Spazierengehen
-nun so wenig Zeit übrig, seit ihm die Frau eine gewisse Anzahl junger
-Hühnerhunde und Hetzhunde zum Abrichten übergeben hatte. Die gute alte
-Ursula wagte es, zuzureden, ihn zum Widerstand aufzumuntern; aber er
-fürchtete schon bei dem bloßen Gedanken, daß sie in der nächsten Nacht
-den Geist aus dem emaillierten Riechfläschchen loslassen möchte, und
-jagte sie aus seinem Dienste; er trug die physische Angst in seinem
-Herzen, wie ein gebissener Hahn, der einmal vor seinem Gegner flüchtig
-geworden ist.
-
-Die Frau kannte diese schwache Seite und trieb ihn mit dieser Furcht aus
-allen guten Zimmern des großen Hauses auf ein Bodenzimmer, um ihre neuen
-Kolonien von Hunderassen aller Art in den Prachtzimmern wohl
-unterzubringen. Ungeachtet seiner Ehrenstellen wagte er sich unter
-solchen beschämenden Umständen nicht in die Welt, die sich der Frau
-wegen der allmählich verbreiteten Geschichte ihrer heimlichen
-Niederkunft und des Kindertausches ohnehin verschloß. Um so ungestörter
-gab sie sich ihrer Liebhaberei zu Tieren aller Art und gestattete
-niemand den Eintritt in das Innere ihres Hauses. Neugierige Leute
-lauerten wohl abends vor dem Fenster, wenn sie durch die Ritzen der
-Fensterladen die Kronleuchter hell brennen sahen, und kletterten auch
-wohl hinan, um etwas von diesem seltsamen Feste zu ersehen. Sie
-erzählten dann, daß sie unzählige Hunde und Katzen an großen
-wohlbedeckten Tischen hätten tafeln sehen, und wie der Herr General
-hinter dem Stuhle des Lieblingshundes mit einem Teller unter dem Arme
-aufgewartet habe, während sie alle mit den artigsten französischen
-Worten zum Essen überredet habe. Sie erzählten, wie sie als einen
-artigen Einfall belacht habe, als ein paar Hunde die schmutzigen Pfoten
-an dem großen Wappen des Majoratsdamastgedeckes abgewischt hätten,
-während der Teller des Eheherrn hinter dem Stuhle des Hundes vom Zittern
-des unterdrückten Zornes an den Uniformknöpfen den hellsten Triller
-geschlagen habe. »Wir sind jetzt alle bei recht guter Laune«, hatte sie
-da befragt gesagt, »lesen Sie uns Ihr Gedicht auf den Namenstag meines
-Kartusch vor!« Als der Horcher bei diesen Worten laut auflachte, brachte
-dies dem ganzen Feste eine Störung. Die Frau schalt, die Hunde bellten,
-der General schickte seine Leute hinaus. Alle Zuschauer flüchteten, und
-am anderen Tage wurde das Haus mit einem hohen, eisernen Gitter umgeben,
-so daß niemand mehr diesen Heimlichkeiten zusehen konnte.
-
-Mit diesem Gitter schließen sich auch, zufällig oder historisch, je
-nachdem man es ansehen will, die Nachrichten von den Majoratsherren. Die
-Stadt hatte während des Revolutionskrieges sehr bald Gelegenheit, andere
-Leutnants und Generale zu beobachten. Es war eine so unruhige Zeit, daß
-die alten Leute gar nicht mehr mitkommen konnten und deswegen unbemerkt
-abstarben. So erging es wenigstens dem Majoratsherrn, seiner Frau und
-ihren Hunden nach einigen heftigen Auftritten, in denen einer der
-fremden Offiziere, der eine bessere Hausordnung zu stiften sich berufen
-glaubte, die Hunde auf gewaltsame Weise aus dem Staatszimmer hetzte und
-den alten Majoratsherrn in seine Rechte auf die Hausherrschaft wieder
-einzusetzen strebte. Bald darauf kam die Stadt unter die Herrschaft der
-Fremden; die Lehnsmajorate wurden aufgehoben, die Juden aus der engen
-Gasse befreit, der Kontinent aber wie ein überwiesener Verbrecher
-eingesperrt. Da gab es viel heimlichen Handelsverkehr auf Schleichwegen,
-und Vasthi soll ihre Zeit so wohl benutzt haben, daß sie das
-ausgestorbene Majoratshaus durch Gunst der neuen Regierung zur Anlegung
-einer Salmiakfabrik für eine Kleinigkeit erkaufte, welche durch den
-Verkauf einiger darin übernommenen Bilder völlig wiedererstattet war. So
-erhielt das Majoratshaus eine den Nachbarn zwar unangenehme, aber doch
-sehr nützliche Bestimmung, und es trat der Kredit an die Stelle des
-Lehnrechtes.
-
- Achim von Arnim's »Die Majoratsherren«
- mit den Zeichnungen von Alfred Kubin
- wurde im Auftrage des Avalun-Verlages,
- Wien, neunzehnhundertzweiundzwanzig
- bei Jakob Hegner in Hellerau bei Dresden
- in Jean-Paul-Fraktur auf Bütten gedruckt.
-
-
-
-
-Anmerkungen zur Transkription
-
-
-Die folgenden Fehler wurden wie hier aufgeführt korrigiert
-(vorher/nachher):
-
- [S. 15]:
- ... in ununsern ...
- ... in unsern ...
-
- [S. 22]:
- ... von den Grausamen zurück, der sie mit kannibalischer Begierde
- ansieht. ...
- ... von dem Grausamen zurück, der sie mit kannibalischer Begierde
- ansieht. ...
-
- [S. 46]:
- ... beschwichtigt worden sei. Jederman gebe ihr laut schuld, daß ...
- ... beschwichtigt worden sei. Jedermann gebe ihr laut schuld, daß ...
-
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die Majoratsherren, by Achim von Arnim
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE MAJORATSHERREN ***
-
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-limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
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-<title>The Project Gutenberg eBook of Die Majoratsherren, by Achim von Arnim</title>
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- <!-- TITLE="Die Majoratsherren" -->
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-<body>
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-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Die Majoratsherren, by Achim von Arnim
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Die Majoratsherren
-
-Author: Achim von Arnim
-
-Illustrator: Alfred Kubin
-
-Release Date: January 3, 2016 [EBook #50833]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE MAJORATSHERREN ***
-
-
-
-
-Produced by Jens Sadowski
-
-
-
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-</pre>
-
-
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-<div class="titlematter">
-<p class="half">
-Achim von Arnim<br />
-Die Majoratsherren
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="titlematter">
-<p class="aut">
-Achim von Arnim
-</p>
-
-<h1 class="title">
-Die Majoratsherren
-</h1>
-
-<p class="ill">
-<span class="line1">Mit 24 Federzeichnungen</span><br />
-<span class="line2">von</span><br />
-<span class="line3">Alfred Kubin</span>
-</p>
-
-<p class="pub">
-Avalun-Verlag · Wien und Leipzig
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="titlematter">
-<p class="cop">
-Alle Rechte vorbehalten
-</p>
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-<div class="boxl box007l"></div>
-</div>
-
-<p class="drop_w">
-<span class="drop">W</span>ir durchblätterten eben einen ältern Kalender,
-dessen Kupferstiche manche Torheiten
-seiner Zeit abspiegeln. Liegt sie
-doch jetzt schon wie eine Fabelwelt hinter
-uns! Wie reich erfüllt war damals
-die Welt, ehe die allgemeine Revolution,
-welche von Frankreich den Namen
-erhielt, alle Formen zusammenstürzte;
-wie gleichförmig arm ist sie geworden!
-Jahrhunderte scheinen
-seit jener Zeit vergangen, und
-nur mit Mühe erinnern wir uns,
-daß unsere früheren Jahre ihr
-zugehörten. Aus der Tiefe dieser
-Seltsamkeiten, die uns Chodowieckis
-Meisterhand bewahrt hat, läßt sich die damalige Höhe geistiger
-Klarheit erraten; diese ermißt sich sogar am leichtesten an
-den Schattenbildern derer, die ihr im Wege standen, und die sie
-riesenhaft über die Erde hingezeichnet hat. Welche Gliederung und
-Abstufung, die sich nicht bloß im Äußern der Gesellschaft zeigte!
-Jeder einzelne war wieder auch in seinem Ansehn, in seiner Kleidung
-eine eigene Welt, jeder richtete sich gleichsam für die Ewigkeit
-auf dieser Erde ein, und wie für alle gesorgt war, so befriedigten
-auch Geisterbeschwörer und Geisterseher, geheime Gesellschaften
-und geheimnisvolle Abenteurer, Wundärzte und prophetische
-Kranke die tiefgeheime Sehnsucht des Herzens, aus der verschlossenen
-Brusthöhle hinausblicken zu können. Beachten wir den Reichtum
-dieser Erscheinungen, so drängt sich die Vermutung auf, als
-ob jenes Menschengeschlecht sich zu voreilig einer höheren Welt
-genahet habe und, geblendet vom Glanze der halbentschleierten,
-<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
-zur dämmernden Zukunft in frevelnder Selbstvernichtung fortgedrängt,
-durch die Notdurft an die Gegenwart der Erde gebunden
-werden mußte, die aller Kraft bedarf und uns in ruhiger Folge
-jede Anstrengung belohnt.
-</p>
-
-<p>
-Mit wie vielen Jahrhunderten war jene Zeit durch Stiftungen aller
-Art verbunden, die alle ernst und wichtig gegen jede Änderung geschützt
-wurden! So stand in der großen Stadt ... das Majoratshaus
-der Herren von ..., obgleich seit dreißig Jahren unbewohnt,
-doch nach dem Inhalte der Stiftung mit Möbeln und Gerät so vollständig
-erhalten, zu niemands Gebrauch und zu jedermanns Anschauen,
-daß es, trotz seiner Altertümlichkeit, noch immer für eine
-besondere Merkwürdigkeit der Stadt gelten konnte. Da wurde jährlich,
-der Stiftung gemäß, eine bestimmte Summe zur Vermehrung
-des Silbergeschirrs, des Tischzeugs, der Gemälde, kurz zu allem
-dem verwendet, was in der Einrichtung eines Hauses auf Dauer
-Anspruch machen kann, und vor allem hatte sich ein Reichtum der
-kostbarsten, ältesten Weine in den Kellern gesammelt. Der Majoratsherr
-lebte mit seiner Mutter in der Fremde und brauchte bei
-dem übrigen Umfange seiner Einnahme nicht zu vermissen, was
-er in diesem Hause unbenutzt ließ. Der Haushofmeister zog der
-Stiftung gemäß alle Uhren auf und fütterte eine bestimmte Zahl
-von Katzen, welche die nagenden Mäuse wegfangen sollten, und
-teilte jeden Sonnabend eine gewisse Zahl von Pfennigen an die Armen
-im Hofe aus. Leicht hätten sich unter diesen Armen, wenn sie
-sich dessen nicht geschämt hätten, die Verwandten dieses Hauses einfinden
-können, dessen jüngere Linien bei der Bildung des großen
-Majorats völlig vergessen worden waren. Überhaupt schien das
-Majorat wenig Segen zu bringen, denn die reichen Besitzer waren
-selten ihres Reichtums froh geworden, während die Nichtbesitzer
-mit Neid zu ihnen aufblickten.
-</p>
-
-<div class="centerpic" id="img-009">
-<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a><img src="images/009.jpg" alt="" /></div>
-
-<p class="noindent">
-So ging täglich vor dem Majoratsgebäude zu bestimmter Stunde
-ein Vetter des jetzigen Besitzers, ihm durch dreißig Jahre überlegen,
-aber an Vermögen ihm sehr untergeordnet, mit ernsten Schritten
-vorbei und schüttelte den Kopf und nahm eine Prise Tabak. Niemand
-war vielleicht so bekannt bei alt und jung in der ganzen
-Stadt, wie dieser alte, rotnasige Herr, der gleich dem eisernen Ritter
-<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
-an der Rathausuhr durch sein Heraustreten, noch ehe die Glocke
-angeschlagen, den Knaben zur Erinnerung der Schulstunde diente,
-den älteren Bürgern aber als wandernde Probeuhr, um ihre hölzernen
-Kuckucksuhren darnach zu stellen. Er trug bei den verschiedenartigen
-Klassen von Leuten verschiedene Namen. Bei den Vornehmen
-hieß er der Vetter, weil seine Verwandtschaft mit den ersten
-Familien des Reiches unleugbar und er diese einzige, ihm übrig
-gebliebene Ehre auch gern mit dieser Anrede geltend machte. Unter
-den gemeinen Leuten hieß er nur der Leutnant, weil er diese Stelle
-in seinen jungen Jahren bekleidet hatte, sowie sie ihn noch jetzt
-bekleiden mußte. Es schien ihm nämlich völlig unbekannt, daß
-der Kleiderschnitt sich in den dreißig Jahren, die seitdem verflossen,
-gar sehr verändert hatte. Etwas stärker mochte das Tuch damals
-wohl noch gearbeitet werden, das zeigten jetzt die mächtigen, wohlgedrehten
-Fäden, nachdem die Wolle abgetragen war. Der rote
-Kragen war schon mehr verdorben und gleichsam lackiert; die
-Knöpfe aber hatten die Kupferröte seiner Nase angenommen.
-Gleiche Farbe zeigte auch der fuchsrote, dreieckige Militärhut mit
-der wollenen Feder. Das Bedenklichste des ganzen Anzuges war
-aber das Portepee, weil es nur mit einem Faden am Schwerte, wie
-das Schwert über dem Haupte des Tyrannen am Haare, hing. Das
-Schwert hatte leider das Unglück des armen Teufels gemacht und
-den Lebensfaden eines vom Hofe begünstigten Nebenbuhlers in
-den Bewerbungen bei einer Hofdame durchschnitten; und diese unglückliche
-Ehrensache, bei welcher ihm doch niemand mehr Schuld
-als seinem Gegner zumessen konnte, hatte seine militärische Laufbahn
-versperrt. Wie er sich seitdem durch die Welt fortgeholfen,
-war freilich seltsam, aber es war ihm doch gelungen. Er hatte eine
-höchst vollständige Wappensammlung mit unablässig dreistem
-Fordern und unermüdlichem Briefschreiben zusammengebracht,
-<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
-verstand diese in verschiedenen Massen nachzuformen, auch abzumalen,
-wo jenes nicht gelang, sauber aufzukleben, und verkaufte
-diese Sammlungen durch Vermittlung eines Buchhändlers
-zu hohen Preisen, sowohl zum Bedürfnisse der Erwachsenen als
-der Kinder eingerichtet.
-<span class="centerpic"><img src="images/011.jpg" alt="" /></span>
-Nebenher war es eine Liebhaberei von
-ihm, Truthähne und anderes Federvieh zu mästen und Raubtauben
-über die Stadt auszusenden, die immer mit einigen Überfliegenden
-in die geheime Öffnung seines Daches heimkehrten. Diesen
-Handel besorgte ihm seine Aufwärterin Ursula, eine treue Seele;
-ihm durfte niemand von diesem Handel sprechen, ohne sich Händel
-zuzuziehen. Von dem Erworbenen hatte er sich ein elendes, finsteres
-Haus im schlechtesten Teile der Stadt, neben der Judengasse, und
-vielerlei alten Kram gekauft, womit die Auktionen seine Zimmer
-geschmückt hatten, die er dabei in einer Ordnung erhielt und in
-einer Einsamkeit, daß niemand wußte, wie es eigentlich darin aussehe.
-Übrigens war er ein fleißiger Kirchengänger und setzte sich
-da einer Wand gegenüber, die mit alten Wappen von Erbbegräbnissen
-geschmückt war, machte aber übrigens alles mit wie andere
-Menschen, welche in die Kirche zum Zuhören gehen. Nach der
-Kirche aber pflegte er jedesmal bei der alten Hofdame anzutreten,
-vor deren Tür er an anderen Tagen mit einer Prise Schneeberger
-Schnupftabak, auf die er wohl funfzig Male niesen mußte,
-den geckenhaften schöntuenden Hahnentritt und Stutzerlauf sich
-vertrieb, der ihn in das Haus hineinzutreiben drohte, während
-ihm dabei der Degen, den er nach alter Art durch die Rocktasche
-gesteckt hatte, zwischen die Beine schlenkerte. Diese alte, hochauf
-frisierte, schneeweiß eingepuderte, feurig geschminkte, mit Schönpflästerchen
-beklebte Hofdame übte auch nach jenem unglücklichen
-Zweikampfe seit dreißig Jahren dieselbe zärtliche Gewalt
-über ihn aus, ohne daß sie ihm je ein entscheidendes Zeichen der
-<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
-Erwiderung gegeben hatte.
-<span class="centerpic"><img src="images/013.jpg" alt="" /></span>
-Er besang sie fast täglich in allerlei
-erdichteten Verhältnissen, in kernhaften Reimen, wagte es aber nie,
-ihr diese Ergießungen seiner Muse vorzulegen, weil er vor ihrem
-Geist besondere Furcht hegte. Ihren großen, schwarzen Pudel
-Sonntags in ihrer Nähe unter hergebrachten Fragen zu kämmen,
-war der ganze Gewinn des heiß erflehten Sonntags; aber ihr
-Dank dafür, dies angenehme Lächeln, war auch ein reicher Lohn, &mdash;
-wer ihn nur zu schätzen wußte. Andern Leuten schien dies starre,
-in weiß und rot mit blauen Adern gemalte Antlitz, das am Fenster
-unbeweglich auf eine Filetarbeit oder in den Spiegel der nahen
-Toilette blickte, eher wie ein seltsames Wirtsschild. Sie lebte übrigens
-sehr anständig von den Pensionen zweier Prinzessinnen, die
-sie bedient und überlebt hatte, und die Besuche von Hofleuten und
-Diplomaten an ihrer silbernen Toilette, während welcher sie vielerlei
-Brühen zur Erhaltung ihrer Schönheit zu genießen pflegte,
-waren zu einer herkömmlichen Feierlichkeit geworden und zugleich
-zu einer Gelegenheit, die Neuigkeiten des Tages auszutauschen.
-</p>
-
-<div class="ulshapepic" id="img-015">
-<div class="boxu box015u">
-<img src="images/015.jpg" alt="" />
-</div>
-<div class="boxl box015l"></div>
-</div>
-
-<p>
-Es geschah aber an einem Frühlingssonntage, daß die Hofdame
-durch ein Zusammenlaufen der Leute in der Straße auf eine außerordentliche
-Neuigkeit aufmerksam gemacht wurde. Diese Außerordentlichkeit
-war aber diesmal der Leutnant, oder vielmehr sein vom
-Frühling verjüngtes Laub. Ein neuer, moderner Hut mit einer Feder
-statt der Wolle, ein glänzendes Degengehenk, eine neue Uniform
-mit geschmälerten Rockschößen, verkürzten Taschen an der
-Weste und neue, schwarze Samthosen verkündeten eine neue Periode
-der Weltgeschichte. Auch trat der Leutnant bald mit frohem
-Gesichte ins Zimmer und mit dem Berichte ihr entgegen: &bdquo;Liebe
-Kusine, der Majoratsherr kommt in diesen Tagen; seine Mutter
-ist gestorben, ihm ist von einer prophetischen Kranken geraten, hierher
-zu gehen, wo er seine Ruhe finden werde, nachdem ihn ein
-<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
-heftiges Fieber um seine
-Gesundheit gebracht hat.
-Nun denken Sie sich, der
-junge Mann hat aus den
-Erzählungen der Mutter
-einen Abscheu gegen das
-Majoratshaus; er will
-durchaus bei mir wohnen
-und hat mich ersucht, ihm
-bei mir ein Zimmer recht
-bequem einzurichten,
-wozu er
-mir ein Kapital
-übermache.
-Mein Häuschen
-ist für
-einen so verwöhnten,
-reichen
-Herrn
-nicht eingerichtet;
-in <a id="corr-0"></a>unsern
-hohen Familien ist es leider wie bei den Katzen, ein junges
-wird als erstgebornes gut aufgefüttert, und alle jüngern Geschwister
-werden ins Wasser geworfen.&ldquo; &mdash; &bdquo;Sie waren einmal schon recht
-nahe, das Majorat zu erhalten?&ldquo; sagte die Hofdame. &mdash; &bdquo;Freilich,&ldquo;
-antwortete er, &bdquo;ich war dreißig Jahre alt, mein Oheim sechzig und
-hatte in erster Ehe keine Kinder bekommen. Da fällt es ihm ein,
-noch einmal ein junges Fräulein zu heiraten. Umso besser, dachte
-ich, die Junge ist des Alten Tod. Aber umso schlechter gings; sie
-brachte ihm kurz vor seinem Tode einen jungen Sohn, diesen Majoratsherrn,
-<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
-&mdash; und ich hatte nichts!&ldquo; &mdash; &bdquo;Wenn der junge Mann
-stürbe, würden Sie Majoratsherr,&ldquo; sagte ruhig die Hofdame;
-&bdquo;junge Leute können sterben, alte Leute müssen sterben.&ldquo; &mdash; &bdquo;Leider!&ldquo;
-antwortete der Leutnant; &bdquo;der Prediger sprach heute auch davon
-auf der Kanzel.&ldquo; &mdash; &bdquo;Was wurde denn gesungen?&ldquo; fragte die Hofdame;
-&bdquo;ich wollte es zu meiner Hausandacht wissen.&ldquo; &mdash; Der Leutnant
-schlug die Lieder auf; sie sang leise, und er kämmte den Pudel
-nach Gewohnheit, indem er ihr mit Bewunderung zuhörte. &mdash; Als
-er sich empfahl, trug ihm die Hofdame auf, den jungen Vetter doch
-gleich, wenn er angekommen, bei ihr einzuführen.
-</p>
-
-<p>
-Als der Leutnant zu Hause kam, trat ihm ein großer, bleicher,
-junger Mann entgegen, in einer Kleidung, wie er sie noch nicht
-gesehen: seine Haare waren phantastisch ohne strenge Ordnung
-emporfrisiert, und Figaroslocken in leichten, dünnen Röhren umliefen
-wie ein Halbkreis die Ohren. Hinten vereinigte ein dicker
-Katillon die Haare, welche in einer Locke hinübergekämmt waren.
-Ein streifiger Rock mit prächtigen Stahlknöpfen und große silberne
-Schuhschnallen verrieten ihm den Reichtum des Majoratsherrn.
-Auch dieser hatte aus den Briefen an die Mutter gleich den Vetter
-erraten und berichtete ihm, daß er Tag und Nacht mit Kurierpferden
-gereist sei und ihm nicht genug sein Wohlgefallen über das
-Haus ausdrücken könne, das ganz nach seinem Geschmack sei, nur
-müsse er ihm erlauben, daß er neben dem für ihn bereiteten großen
-Zimmer auch ein kleines nehme, das nach der engen Gasse
-hinaussehe; denn da er nie oder selten ausgehe, so liebe er vor
-allem diese Beweglichkeit der engen Straßen. &mdash; Der Vetter bewilligte
-ihm gern das schlechte Zimmer an der Judengasse und wollte
-gleich Anstalt machen, die trüben, von der Sonne verbrannten
-Fenster durch andere mit großen Scheiben zu ersetzen. &mdash;
-<span class="centerpic"><img src="images/017.jpg" alt="" /></span>
-&bdquo;Mein
-lieber Herr Vetter!&ldquo; rief der Majoratsherr, &bdquo;diese trüben Scheiben
-<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
-sind meine Wonne; denn sehen Sie, durch diese eine helle Stelle
-seh ich einem Mädchen ins Zimmer, das mich in jeder Miene und
-Bewegung an meine Mutter erinnert, ohne daß sie mich bemerken
-kann.&ldquo; &mdash; &bdquo;Ei, das gesteh ich,&ldquo; sagte der Vetter und setzte sich in die
-Schultern und fing an gegen das Fenster zu streichen, mit seinem
-Liebestritt, daß er in Eil eine Prise nahm, nieste und kaltblütig
-<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
-sagte: &bdquo;Die da ist ein Schickselchen.&ldquo; &mdash; &bdquo;Mein Schicksal?&ldquo; fragte der
-Majoratsherr bestürzt. &bdquo;Wie Sie es nennen wollen,&ldquo; fuhr der Vetter
-fort, &bdquo;ein Schicksalchen also, ein Judenmädchen; sie heißt Esther,
-hat unten in der Gasse ihren Laden, eine gebildete Jüdin, hat sonst
-mit ihrem Vater, der ein großer Roßtäuscher war, alle Städte besucht,
-alle vornehme Herren bei sich gesehen, spricht alle Sprachen;
-das war eine Pracht, wenn sie hier ankam, und die Stiefmutter Vasthi
-mit den jüngern Kindern ging ihnen in Schmutz entgegen. Es
-konnte niemand was dagegen sagen; die Ursach, warum? Weil
-sie mit ihrem Wesen dem Vater gute Käufer anlockte. Aber zuletzt
-hatte der Vater großes Unglück durch einen Handelsgenossen, der
-ihm mit dem Vermögen durchging. Da gings ihm knapp; das
-konnt er nicht vertragen und starb. Dieser Tochter erster Ehe, der
-Esther, hinterließ er ein kleines Kapital, damit sie von der Stiefmutter
-nicht zu Tode gequält würde; aber das läßt sich die alte
-Vasthi doch nicht nehmen.&ldquo; &mdash; &bdquo;Das ist ja entsetzlich!&ldquo; sagte der Majoratsherr,
-&bdquo;zwei Leute, die sich hassen, die sich totärgern, in einem
-Hause! Ich habe die alte Vasthi auch schon am Fenster gesehen:
-ein schrecklich Gesicht!&ldquo; &mdash; &bdquo;Sie wohnen wohl in einem Hause,&ldquo; antwortete
-der Vetter, &bdquo;aber jede hat ihren besonderen Laden und Wohnung.&ldquo;
-&mdash; &bdquo;Ich will ihr bald etwas zu verdienen geben,&ldquo; sagte der
-Majoratsherr. &bdquo;Es scheinen hier viele Juden zu wohnen.&ldquo; &bdquo;Nichts
-als Juden,&ldquo; rief der Vetter, &bdquo;das ist die Judengasse, da sind sie zusammengedrängt
-wie die Ameisen; das ist ein ewig Schachern und
-Zanken und Zeremonienmachen, und immer haben sie so viel Plackerei
-mit ihrem bißchen Essen; bald ist es ihnen verboten, bald ist
-es ihnen befohlen, bald sollen sie kein Feuer anmachen; kurz der
-Teufel ist bei ihnen immer los.&ldquo; &mdash; &bdquo;Nein, lieber Vetter, Sie irren sich
-darin,&ldquo; sagte der Majoratsherr und drückte ihm die Hände. &bdquo;Wenn
-Sie gesehen hätten, was ich in Paris bei meiner Kranken sah, Sie
-<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
-könnten den Teufel nicht für den Vater des Glaubens ansehen;
-nein, ich versichere es Ihnen, er ist der Feind allen Glaubens! Aller
-Glaube, der geglaubt wird, kommt von Gott und ist wahr, und ich
-schwöre Ihnen, selbst die heidnischen Götter, die wir jetzt nur als
-eine lächerliche Verzierung ansehen, leben noch jetzt, haben freilich
-nicht mehr ihre alte Macht, aber sie wirken doch immer etwas mehr
-als gewöhnliche Menschen, und ich möchte von keinem schlecht
-sprechen. Ich habe sie alle mit meinem zweiten Augenpaar gesehen,
-sogar gesprochen.&ldquo; &mdash; &bdquo;Ei der Tausend, da erstaune ich,&ldquo; rief der
-Vetter, &bdquo;das könnte uns erstaunliches Gewicht bei Hofe geben,
-wenn wir sie den hohen Herrschaften zeigen könnten.&ldquo; &mdash; &bdquo;So geht
-das nicht, lieber Vetter,&ldquo; antwortete jener ernst, &bdquo;der Mensch, der
-sie sieht, muß noch mehr darauf vorbereitet sein durch jahrelanges
-Nachdenken, als jene Geister, die ihm erscheinen sollen; sonst entsetzen
-sich beide voreinander, und der sterbliche Teil erträgt es nicht.
-Aber wer auch bis zu der innern Welt vorgedrungen, &mdash; wenn auch
-noch scheinbar lebend wie ich &mdash; ist dennoch abgestorben bei ihrem
-Bestreben, ihrer Tätigkeit. Das wußte meine Mutter von mir und
-war darum so unruhig auf ihrem Totenbette, was aus mir
-werden sollte. Sie hatte bis dahin alle Geschäfte mit großer Einsicht
-und Ordnung betrieben, während ich mich den Studien und
-der Beschauung hingab. Ich habe meine Zeit mit großer Anstrengung
-genutzt, ich habe gerungen wie keiner, ich habe erreicht, was
-wenigen zuteil geworden. Aber verloren war ich, erdrückt, bis zum
-Wahnsinn zerstreut von den Geschäften, die nach dem Tode der
-Mutter auf mich eindrangen, ich wollte mich bezwingen, das Höhere
-dem Niedern zu opfern; die Qual brachte mich um meine Gesundheit.
-Eine Kranke, deren Blick weit reicht, sagte mir zu, daß ich
-hier Ruhe finden würde bei Ihnen, Vetter; Sie hätten ein seltenes
-Geschick für das praktische Leben, mein Vermögen würde sich unter
-<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
-Ihrer Spekulation verdreifachen. O Vetter! nehmen Sie mir die
-Last des Geldes und der Güter ab, genießen Sie des Reichtums,
-ich brauche wenig, und auch auf den Fall, daß ich den Luftgeist
-der Erde wieder binden könnte, daß Kinder mein Haus füllten, soll
-Ihnen die Hälfte meiner Einnahmen für die Besorgung des Ganzen
-bleiben.&ldquo; &mdash; Bei diesem Vortrage flossen zwei edle Tränen aus
-den Augen des Majoratsherrn, während die großen Augen des
-Vetters mit heraufgezogenen Augenbrauen ihn verwunderlich von
-der Seite anstierten, ohne dem köstlichen Vortrage Glauben beimessen
-zu können. Dann fuhr der Majoratsherr, um das Gespräch
-zu ändern, fort: &bdquo;Als ich mit schwellendem Gefühl, was mir in der
-Stadt bevorstehe, in welcher der Kreis meines Lebens angefangen,
-die große Straße herabfuhr, da begegneten mir ausgemergelte
-Leute, die sich kaum zu den Kaffeehäusern hinbewegen konnten,
-denn sie wurden fast gewaltsam an den Röcken von unglücklichen
-Seelen zurückgezogen, die wegen ungeendigter Prozesse nicht zur
-Ruhe kommen konnten und jammervolle Vorstellungen ihnen
-nachtrugen. Auch meinen Vater sah ich dabei wegen des einen
-Konkursprozesses, dessen Ende wohl keiner erleben wird. Schaffen
-Sie Ruhe seiner Seele, lieber Vetter, ich bin zu schwach.&ldquo; &mdash; &bdquo;Wahrhaftig,&ldquo;
-rief der Vetter, &bdquo;zu dem Tore gehen Sonntags die Räte,
-Schreiber und Kalkulatoren des großen Gerichts gewöhnlich mit
-ihren Frauen und Kindern zum Kaffeegarten hinaus.&ldquo; &mdash; &bdquo;Der Postillon
-meinte auch, das wären Kinder, die sich ihnen an die Röcke
-gehangen&ldquo;, fuhr der Majoratsherr fort, &bdquo;aber solche jammervolle
-Gesichter haben Kinder nicht, das sind die Plagegeister, die sie wegen
-ihrer Nachlässigkeit umgeben. Lieber Vetter! befriedigen Sie
-meines Vaters, Ihres Oheims, arme Seele.&ldquo; &mdash; Der Vetter sah sich
-ängstlich in dem trüben Zimmer um, ihm war es zumute, als ob
-die Geister, wie der Schnupfen, in der Luft lägen. &bdquo;Alles, alles will
-<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
-ich tun, was sie wünschen, bester Vetter&ldquo;, rief er dann, &bdquo;ich bin
-nicht glücklich, wenn ich nicht so etwas zu betreiben habe.
-Prozesse sind mir lieber als Liebeshistorien, und Ihre Angelegenheiten sollen
-bald in eine Ordnung kommen wie meine Wappensammlung.&ldquo;
-<span class="centerpic"><img src="images/021.jpg" alt="" /></span>
-Bei diesen Worten führte er ihn in ein Vorderzimmer und hoffte,
-den Majoratsherrn durch den Anblick seiner zierlichen, gebohnten
-Schiebkasten, in welchen die Wappen, zum Teil mit Zinnober abgedrückt,
-die Namen in Frakturschrift beigefügt, glänzten, zu zerstreuen
-<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
-und zu befriedigen. Der Majoratsherr schien auch hierin,
-wie in allen Kenntnissen wohlbewandert; der Vetter mußte seine
-Bemerkungen achten. Als er aber den Schrank mit dem französischen
-Wappen eröffnete, da fuhr der Majoratsherr auf: &bdquo;Gott!
-welch ein Lärmen! Wie die alten Ritter nach ihren Helmen suchen,
-und sie sind ihnen zu klein, und ihre Wappen sind mottenfräßig,
-ihre Schilde vom Rost durchlöchert; das bricht zusammen, ich halte
-es nicht aus, mir schwindelt, und mein Herz kann den Jammer
-nicht ertragen!&ldquo; Der Vetter rückte den unglücklichen Schrank fort
-und führte den Majoratsherrn ans Fenster, daß er Luft schöpfen
-möchte. &bdquo;Und wer fährt dort?&ldquo; rief er, &bdquo;der Tod sitzt auf dem Bocke,
-Hunger und Schmerz zwischen den Pferden, einbeinige und einarmige
-Geister fliegen um den Wagen und fordern Arme und Beine
-von <a id="corr-2"></a>dem Grausamen zurück, der sie mit kannibalischer Begierde ansieht.
-Seine Ankläger laufen mit Geschrei hinter ihm drein; es sind
-die Seelen, die er vorzeitig der Welt entriß &mdash; bester Vetter! ist denn
-hier keine Polizei?&ldquo; &mdash; &bdquo;Ich will den Mann rufen, lieber Vetter, daß
-er Ihren Puls fühle,&ldquo; entgegnete der Vetter, &bdquo;es ist unser bester Arzt
-und Chirurgus. Sie haben ihn gewiß an seinem schmalen, einsitzigen
-Wagen erkannt; sein Kutscher ist freilich mager und seine
-Pferde abgetrieben, aber die den Wagen umflattern, sind Sperlinge,
-und die ihm nachbellen, Gassenhunde.&ldquo; &mdash; &bdquo;Nein,&ldquo; antwortete der
-Majoratsherr, &bdquo;um Gotteswillen rufen Sie keinen Arzt! Wenn die
-meinen Puls fühlen, der immer in abwechselnden Takten sich bewegt,
-dann ganz stille steht, so schreien alle, ich sei schon gestorben;
-und am Ende haben sie recht, denn mich erhält nur der Gedanke
-einer guten Seele, die auch krank ist. Übrigens habe ich Sie diesmal
-ohne Grund erschreckt, lieber Vetter, meine Worte drückten nur
-die Gefahr aus, worin sich der französische Adel befindet; ich bildete
-mir die Unruhe ein, die Frankreich in den alten Schlössern von
-<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
-den Geistern erfahren muß, Ihre Sammlung ist Geist-los. Ich kann
-genau unterscheiden, was ich mit dem Auge der Wahrheit sehen
-muß, oder was ich mir gestalte; wirklich bin ich ein guter Beobachter
-meiner selbst, und die Physik der Geister war von je mein Lieblingsstudium.&ldquo;
-</p>
-
-<div class="centerpic" id="img-023">
-<img src="images/023.jpg" alt="" /></div>
-
-<p class="noindent">
-Der Leutnant, der mit dieser Physik der Geister durchaus nichts zu
-tun haben mochte, brachte die Rede auf häusliche Einrichtungen.
-Der Majoratsherr erklärte, daß er nur wenig Aufwartung bedürfe,
-<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
-nur die wenigsten um sich leiden könne und deshalb sich selbst frisiere
-und rasiere, auch alle Dienerschaft entlassen habe. &bdquo;Die Aufwärterin
-hier&ldquo;, sagte er, &bdquo;ist eine herrliche Seele, sie trägt nicht mit
-Unrecht diesen Heiligenschein um ihr Haupt.&ldquo; &mdash; &bdquo;Heiligenschein?&ldquo;
-brummte der Vetter vor sich, &bdquo;das ist wohl das weiße Tuch, womit
-sie sich den Kopf eingebunden hat!&ldquo; Dann sprach er laut: &bdquo;Wenn
-Gott aus der eine Heil&rsquo;ge schnitzeln wollte, die ginge wohl ganz in
-die Späne!&ldquo; Noch berichtete der Majoratsherr, daß er gewöhnlich
-bei Tag schlafe und erst, wenn die Sonne im Sinken, aus dem
-Bette aufzustehen und seine stille Arbeit zu betreiben pflege, wogegen
-der Vetter heimlich brummte: &bdquo;Davon kommt der Geisterspuk
-im Kopfe; er lebt ja wie die Nachteulen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Nachdem das Abendessen eingenommen, hatte sich der Vetter mit
-einer guten Nacht empfohlen. Auch die Aufwärterin war zu Bette
-gegangen, während der Majoratsherr sein großes Zimmer mit
-Wachskerzen tageshell erleuchtet hatte, um seine Bücher und Handschriften,
-auf- und abgehend, mit gleicher Bequemlichkeit zu durchlaufen
-und die Hauptarbeit seines Lebens, sein Tagebuch, fortzuführen.
-Dieser glänzende Kerzenschein war eine neue Erscheinung
-für die Bewohner der Gegend und die erste Unruhe, die er ihnen
-machte; denn bei der Sparsamkeit des Leutnants mußten sie vermuten,
-daß dort ein Feuer ausgebrochen sei. Als sie sich aber vor
-dem Hause sammelten und die klagenden Töne einer Flöte durch
-das offene Fenster erschallen hörten, beruhigten sie sich wieder und
-freuten sich des neuen Lichtes, das ihnen den Schmutz der Straße
-deutlich machte. Der Flötenspieler war der Majoratsherr, aber
-seine Töne sollten sich eigentlich zu Esther hinrichten, die er am
-Fenster des dunklen Nebenzimmers belauschte, wie sie ihre Kleider
-abwarf und im zierlichsten Nachtkleide vor einem eleganten Spiegeltische
-ihre Haare flocht. Der enge Bau jener Gasse, in welche die
-<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
-Balkenlagen jedes Stockwerkes immer weiter hinausragten, um
-den Zimmern noch etwas Raum zu gewinnen, brachte ihm ihr
-Fenster so nahe, daß er mit einem kühnen Sprunge zu ihr hinüber
-hätte fliegen können.
-<span class="centerpic"><img src="images/025.jpg" alt="" /></span>
-Aber das Springen war nicht seine Sache;
-dagegen übte er die seltene Feinheit seines Ohres, das auf bedeutende
-Entfernung ihm hörbar machte, was jedem andern verhallte.
-Er hörte zuerst einen Schuß oder einen ähnlichen Schlag; da sprang
-sie auf und las ein italienisches Gedicht mit vielem Ausdruck, in
-welchem der Dienst der Liebesgötter bei einem Putztische beschrieben
-wurde; und gleich sah er unzählige dieser zartbeflügelten Gestalten
-das Zimmer beleben, wie sie ihr Kamm und Bänder reichten und
-ein zierliches Trinkgefäß, wie sie die abgeworfenen Kleider ordneten,
-alles nach dem Winken ihrer Hände, dann aber, als sie sich in
-ihr Bett gestreckt, wie ein gaukelnder Kreis um ihr Haupt schwebten,
-bis sie immer blässer und blässer sich im Dampfe der erlöschenden
-Nachtlampe verloren, in welchem ihm dagegen die Gestalt seiner
-Mutter erschien, die von der Stirn des Mädchens eine kleine
-beflügelte Lichtgestalt aufhob und in ihre Arme nahm, &mdash; wie das
-Bild der Nacht, die das Kindlein Schlaf in ihrem Gewande trägt &mdash;
-und in dem Zimmer bis zur Mitternacht damit auf- und niederschwebte,
-als wenn sie ihm die unruhigen Träume vertreiben
-wollte, es dann aber über den schwindelnden Straßengrund dicht
-an das Auge des Staunenden trug, der Esthers verklärte Züge
-in der Lichtgestalt deutlich erblickte, sie aber mit einem Schrei des
-Staunens unwiderruflich zerstreute. Denn mit diesem Schrei war er
-aus dem höheren Seelenzustande, aus dem Kern in die Schale zurückgesunken,
-und kein Wunsch führte ihm diesen seligen Anblick
-zurück. Er sah Esther in ihrem Bett nicht mehr liegen, ihr Zimmer
-war dunkel, nichts regte sich in der Gasse als die Ratten, die
-eine muntere Jagd unter den Brücken der Gossen hielten, auch hustete
-<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
-die alte Vasthi mit hoher Pelzmütze aus einem Fenster und
-fing an zu beten, als ein Stier in der Nähe ein heftiges Gebrüll
-erhob.
-<span class="centerpic"><img src="images/027.jpg" alt="" /></span>
-Diesem Gebrüll ging der Majoratsherr im Hause nach und
-erblickte durch ein Hinterfenster beim Schein des aufgehenden Mondes
-auf grüner, mit Leichensteinen besetzten, ummauerten Fläche
-einen Stier von ungeheurer Größe und Dicke, der an einem Grabsteine
-wühlte, während zwei Ziegenböcke mit seltsamen Kreuzsprüngen
-durch die Luft sich über sein Wesen zu verwundern schienen.
-Hier stand dem Majoratsherrn der Verstand still; diese schreckliche
-Wirtschaft auf einem Gottesacker empörte ihn, er klingelte der Aufwärterin.
-Sie erschien bald und fragte ihn, was er befehle? &bdquo;Nichts,
-gar nichts,&ldquo; antwortete er, &bdquo;aber was deutet dieser Spuk?&ldquo; &mdash; Die
-Frau trat ans Fenster und sagte: &bdquo;Ich sehe nichts als die Majoratsherren
-der Juden, das sind die erstgebornen Tiere, welche sie nach
-dem Befehle ihres Gesetzes dem Herrn weihen, die werden hier köstlich
-gefüttert, sie brauchen nichts zu tun; wenn sie aber ein Christ
-erschlägt, so tut er den Juden einen rechten Gefallen, weil er ihnen
-die Ausgabe spart.&ldquo; &mdash; &bdquo;Die unglücklichen Majoratsherren,&ldquo; seufzte
-er in sich, &bdquo;und warum haben sie Nachts keine Ruhe?&ldquo; &mdash; &bdquo;Die Juden
-sagen, daß einer aus der Sippschaft stirbt, wo sie nachts so
-wühlen am Grabe,&ldquo; antwortete die Frau; &bdquo;hier, wo dieser wühlt,
-ist der Vater der Esther, der große Roßtäuscher, begraben.&ldquo; &mdash; &bdquo;O Gott
-nein!&ldquo; rief er und ging in den betrübtesten Gefühlen auf sein Zimmer
-und suchte sich wieder mit heftigem Flötenspiel zu zerstreuen.
-</p>
-
-<p>
-Endlich wurde es Tag; die großen Schatten der Häuser lagerten
-sich unter dem hellen Himmel, die Mägde sprangen frisch geschuht,
-als ob sie sich an diesem Tage durchaus nicht beschmutzen wollten,
-von einem trocknen Stein zum andern, die Schwalben dagegen
-kreuzten hin zu dem köstlichen Baumörtel, den ihnen der gestrige
-Regen bereitet hatte, und füllten damit alle Lücken der menschlichen
-<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
-Architektur. Auch an dem Fenster, das zu Esther blickte, hatten sich
-heute zwei von den zwitschernden Grauröcken eingefunden und wollten
-ihr Nest gerade da ankleben, wo er durch die einzige helle Scheibe
-zu Esther hinblickte. Da stand der Majoratsherr zweifelnd, ob er sie
-stören, ob er alles abwarten solle, was ihm so bedeutend erschien.
-Seine Sinnesart überwog für das Abwarten. Nun ihm Esther verborgen,
-konnte er sich an den lieben Geschöpfen, an ihrer Lust, an ihrem
-Fleiße nicht satt sehen, es war ihm zumute, als ob er sich selbst
-da anbaue, als hänge sein Glück davon ab, daß sie fertig würden,
-und ehe er sich zu Bette legte, sang er noch zu seiner Mandoline:
-</p>
-
-<div class="poem-container">
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">Die Sonne scheinet an die Wand,</p>
- <p class="verse">Die Schwalbe baut daran;</p>
- <p class="verse">O Sonne, halt nur heute Stand,</p>
- <p class="verse">Daß sie recht bauen kann.</p>
- <p class="verse">Es ward ihr Nest so oft zerstört,</p>
- <p class="verse">Noch eh es fertig war,</p>
- <p class="verse">Und dennoch baut sie wie betört,</p>
- <p class="verse">Die Sonne scheint so klar!</p>
- </div>
- <div class="stanza">
- <p class="verse">So süß und töricht ist der Sinn,</p>
- <p class="verse">Der hier ein Haus sich baut, &mdash;</p>
- <p class="verse">Im hohen Flug ist kein Gewinn,</p>
- <p class="verse">Der fern aus Lüften schaut,</p>
- <p class="verse">Und ging er auch zur Ewigkeit,</p>
- <p class="verse">Er paßt nicht in die Zeit,</p>
- <p class="verse">Er ist von ihrer Freudigkeit</p>
- <p class="verse">Verschieden himmelweit.</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-Den Abend, als er aufwachte, fand er den Vetter schon mit einem
-guten Abendessen in seinem Zimmer, auch sprach er von einer unangenehmen
-Überraschung, die er ihm gemacht. &mdash; Deswegen führte
-er ihn in das Nebenzimmer, von wo er die Gasse beobachten könnte,
-<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
-und der Majoratsherr fand es mit Sofa und Stühlen, mit
-Schränken und Tischen geschmückt, auch war das Fenster gewaschen
-&mdash; aber die Schwalben waren herabgestoßen. &bdquo;Meine guten
-schützenden Engel sind vertrieben&ldquo;, dachte der Majoratsherr. &bdquo;Ich
-soll sie sehen, meinen Todesengel, soll den ganzen Traum durchleben,
-der mich plagte; denn eins ist schon erfüllt, was ich im Schlafe
-sah.&ldquo; &mdash; &bdquo;Warum so traurig, Vetter?&ldquo; fragte der Leutnant. &mdash; &bdquo;Ich
-habe unruhig geschlafen,&ldquo; antwortete der Majoratsherr, &bdquo;und mir
-träumte von der Esther, sie sei mein Todesengel. Närrisches Zeug!
-Ihr Kleid hatte unzählige Augen, und sie reichte mir einen Schmerzensbecher,
-einen Todesbecher, und ich trank ihn aus bis zum letzten
-Tropfen!&ldquo; &mdash; &bdquo;Sie hatten Durst im Schlafe,&ldquo; sagte der Leutnant.
-&bdquo;Setzen Sie sich zum Essen, da steht guter Wein, echter Unger, ich
-habe ihn selbst gemacht, aus Rosinen und schwarzem Brote. Apropos,
-Sie müssen die gute alte Hofdame bald einmal besuchen; sie
-hat mich heute halbtot gequält, daß ich Sie zu ihr bringe, sie wäre
-eine Freundin Ihrer Eltern.&ldquo; &mdash; &bdquo;Dazu muß ich einen Tag leben,
-und ich verschlafe meine Tage viel lieber,&ldquo; antwortete der Majoratsherr.
-&bdquo;Lassen wir das, nehmen Sie meinen Dank für die Ausschmückung
-des Zimmers! Eins möchte ich mir noch kaufen, seidene
-Vorhänge vor jenes Fenster; Sie haben die Scheiben so hell
-polieren lassen, daß ich nicht mehr versteckt bin, wenn ich in die
-Gasse schaue.&ldquo; &mdash; &bdquo;Die finden Sie gleich unten bei der schönen Esther,&ldquo;
-rief der Vetter, &bdquo;da können Sie ihre Bekanntschaft viel näher machen
-als durch die Fensterscheiben. Alle unsere Majoratsherren
-waren verliebter Komplexion, Sie müssen keine Ausnahme machen,
-bester Vetter! Ich will Sie auch begleiten, damit Sie im Handel
-nicht betrogen werden, und daß Sie sich nicht abschrecken lassen,
-wenn das Mädchen sehr spröde tut.&ldquo; So gingen beide, der Majoratsherr
-vom Leutnant fortgezogen, in die Gasse, und der letztere
-<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
-konnte sich eines Schauers nicht erwehren; ihm wars, als wären
-die hohen, hölzernen Häuser nur aus Pappdeckeln zusammengebaut,
-und die Menschen hingen wie ein Spielzeug der Kinder an
-Fäden und regten sich, wie es das Umdrehen der großen Sonnenwalze
-ihnen geboten. Jetzt fingen sie an, ihre Läden zu schließen,
-räumten auf, zählten den Gewinn, und der Majoratsherr wagte
-in dem Lärmen, in dem Dufte nicht aufzublicken.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Hier, hier!&ldquo; rief der Leutnant, und der Majoratsherr wollte eben
-in einen Laden treten, als er statt der Esther ein grimmig Judenweib,
-mit einer Nase wie ein Adler, mit Augen wie Karfunkel, einer
-Haut wie geräucherte Gänsebrust, einem Bauch wie ein Bürgermeister,
-darin erblickte. Sie hatte sich ihm schon mit ihren Waren empfohlen
-und gefragt, ob sie auf sein Zimmer kommen solle, sie wolle
-ihm das Schönste zeigen, auch wenn er keine Elle kaufen möchte;
-denn er sei ein schöner Herr! &mdash; Schon wollte er eintreten, als der
-Leutnant ihn am Rock zupfte und zuflüsterte: &bdquo;Hier im andern Laden
-ist die schöne Esther!&ldquo; &mdash; Da wendete er sich fort und sagte verlegen,
-er wolle nichts kaufen, er hätte sich nur nach einem Komödienzettel
-an der Ecke umgesehen, und mit diesen Worten wandte er sich
-nach dem Nebenladen, wo er Esther zu sehen erwartete. Aber die
-alte Jüdin ließ ihn noch nicht los. Sie rief eifrig: &bdquo;Junger Herr!
-hier im Winkel ist auch ein Zettel, ich habe vielleicht auch einen im
-Laden! Treten Sie ein, ich habe auch den Zettel von den spanischen
-Reitern!&ldquo; Der Majoratsherr ward dadurch gestört und blickte sich
-um, erschrak aber, daß die Jüdin einen schwarzen Raben auf dem
-Kopfe trug, und verweilte. Unterdessen hatte der Leutnant schon
-ein Gespräch mit Esther angeknüpft, welche ihm ohne Zudringlichkeit
-Bescheid gegeben. Dieser zog den Majoratsherrn in den Laden
-der Esther, und nun erschallte hinter ihm ein fürchterliches Rabengekrächze
-aus dem Munde der alten Jüdin. In halb hebräischen
-<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
-Schimpfreden und im verzerrtesten Judendialekt zeihte sie die arme
-Tochter der Unkeuschheit, mit der sie Christen in ihren Laden locke,
-um ihrer eigenen Mutter den Verdienst zu rauben, und verfluchte
-sie dabei zu allen Martern. Endlich ließ der Atem des wütenden
-Weibes nach, der trotz der warmen Luft wie im Winter geraucht
-hatte, und sie hetzte vergeblich ein paar vorübergehende kleine Buben
-auf, daß sie ihr sollten schimpfen helfen, wofür sie ihnen Kuchen
-versprach. Esther glühte von Schamröte, aber sie erwiderte
-nichts. Endlich lief die Alte fort, weil ein Käufer kam. Der Majoratsherr
-fragte, wer die grimmige Alte mit dem Raben auf dem
-Kopfe gewesen? &mdash; &bdquo;Meine Stiefmutter,&ldquo; antwortete Esther, &bdquo;haben
-Sie vielleicht das schwarze Tuch mit den langen Zipfeln für einen
-Raben angesehn?&ldquo; &mdash; Der Klang der Stimme schien dem Majoratsherrn
-nun erst bekannt, nun er sie so nahe hörte; noch deutlicher als
-aus dem Fenster durchdrang ihn die Ähnlichkeit mit seiner Mutter.
-Esther war nicht frischer, aber jugendlicher; eine schmerzliche Blässe
-hatte das zarte Antlitz, selbst die feingeformten Lippen, wie ein
-schädlicher Frühlingsnebel überzogen; auch ihre Augen schienen
-dem Lichte zu schwach und verengten sich unwillkürlich, wie Blumen
-gegen Abend die Blätter um ihren Sonnenkelch zusammenziehen.
-Während sie mit Eilfertigkeit seidene Zeuge entrollte, suchte
-sie der Leutnant in ziemlich ungeschickter Art zu trösten, indem er ihr
-die Hoffnung zusicherte, ihre Stiefmutter werde bald sterben. &mdash; &bdquo;Ich
-wünsche ihr langes Leben,&ldquo; antwortete die Gute, &bdquo;sie hat noch Kinder,
-für die sie sorgen muß. Wer weiß, wer zuerst den bittern Tropfen
-des Todesengels kosten muß. Ich fühle mich heute in allen
-Nerven so gereizt und schwach.&ldquo; &mdash; Der Majoratsherr meinte einen
-Todesengel nicht nur fliegen zu sehen, sondern auch sein Flügelsausen
-zu hören: &bdquo;Wie schrecklich seine Flügel sausen!&ldquo; &mdash; Aber Esther
-sprang nach einer Hintertür, schlug sie zu und entschuldigte sich wegen
-<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
-des heftigen Zuges; ihr kleiner Bruder habe die Tür offen gelassen.
-Der Majoratsherr wählte nun unter den Zeugen, fragte aber nach
-einer Farbe, die nicht im Vorrate war.
-<span class="centerpic"><img src="images/033.jpg" alt="" /></span>
-Gleich sprang Esther zu ihrer
-Mutter nach dem andern Laden, und diese brachte mit fröhlichem
-Antlitz den verlangten Stoff, als ob der Gewittervorhang mit einem
-Hauche fortgezogen worden wäre. Der Leutnant wollte viel abdingen;
-aber der Majoratsherr warf das Geld hin, was verlangt worden.
-Da gab ihm Esther einige Taler heraus, denn soviel betrüge
-ihr Vorschlag; darüber fing die Mutter wieder an zu wettern, aber
-diesmal ganz hebräisch. Als Esther wieder geduldig die Augen niederschlug,
-antwortete der Leutnant ihr auf Hebräisch, so daß die
-Alte, ganz erstaunt über seine seltene Fertigkeit, das Feld räumte
-und sich in ihr Schneckenhaus verkroch. Esther schien sich darüber
-noch mehr zu kränken als über den Schimpf, den sie erdulden müssen,
-und der Majoratsherr zog aus Schonung den Vetter, der
-schon Triumph ausrufen wollte, mit sich fort, indem er zugleich
-das seidene Zeug unter dem Arme selbst forttrug.
-</p>
-
-<p>
-Als sie zu Hause, fragte er den Leutnant, woher er das Hebräische
-wisse? &mdash; &bdquo;Das brauchte ich zu meinem Verkehr mit den Juden,&ldquo; antwortete
-er, &bdquo;und was es mir kostet an Büchern und Lehrmeistern,
-hat es mir reichlich wieder eingebracht, denn ich konnte nun alle
-ihre Heimlichkeiten verstehen. Sehen Sie, Vetter, in dem Schranke
-sind lauter jüdische Sagenbücher und Beschreibung ihrer Sitten
-und Gebräuche. Wissen Sie, was die Alte zuletzt sagte? Sie freue
-sich darauf, wenn Esther stürbe, da würde es eine schöne Auktion
-geben! Wirklich ist sie auch aus dem Nachlasse ihres Vaters mit allen
-eleganten Möbeln versorgt, und die Leute erzählen, weil nun die
-feinen Herren nicht mehr, wie bei ihres Vaters Lebzeiten, zu ihr kommen,
-daß sie sich abends prächtig anputze und Tee mache, als ob
-sie Gesellschaft sehe, und dabei in allen Sprachen rede.&ldquo; &mdash; Aber der
-<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
-Majoratsherr hörte wenig mehr darauf, denn er war mit ganzer
-Seele über die Sagenbücher hergefallen.
-<span class="centerpic"><img src="images/035.jpg" alt="" /></span>
-Der Leutnant wünschte
-ihm gute Nacht, und kaum hatte er ihn verlassen, so sah der Majoratsherr
-beim Lesen der alten Bücher in seinem Zimmer alle Patriarchen
-und Propheten, alle Rabbinen und ihre wunderlichen Geschichten
-aus den Sagenbüchern hervorgehen, daß die Stube zu
-eng schien für die ungeheure Zahl. Aber der Todesengel schlug sie
-endlich alle mit seinen Flügeln hinweg, und er konnte sich nicht
-satt lesen an seiner Geschichte: &bdquo;Lilis war die Mitgeschaffne Adams
-im Paradiese; aber er war zu scheu und sie zu keusch, und so gestanden
-sie einander nie ihr Gefühl, und da erschuf ihm der Herr
-im Drange seines Lebens ein Weib aus seiner Rippe, wie er es sich
-im Schlafe träumte. Aus Gram über diese Mitgenossin ihrer Liebe
-<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
-floh Lilis den Adam und übernahm nach dem Sündenfalle des
-ersten Menschen das Geschäft eines Todesengels, bedrohte die
-Kinder Edens schon in der Geburt mit Tod und umlauert sie bis
-zum letzten Augenblicke, wo sie den bittern Tropfen von ihrem
-Schwert ihnen in den Mund fallen lassen kann. Tod bringt der
-Tropfen, und Tod bringt das Wasser, in welchem der Todesengel
-sein Schwert abwäscht.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Unruhig lief der Majoratsherr bei diesen Worten im Zimmer umher,
-dann sprach er heftig: &bdquo;Jeder Mensch fängt die Welt an, und
-jeder endet sie. Auch ich liebte scheu und fromm eine keusche Lilis,
-sie war meine Mutter; in ihrer ungeteilten Liebe ruhte das Glück
-meiner Jugend. Esther ist meine Eva, sie entzieht mich ihr und gibt
-mich dem Tode hin!&ldquo; &mdash; Er hielt es nicht aus bei dem Anblick des
-Todesengels, den er immer hinter sich lauernd zu schauen glaubte;
-er eilte auf die Straße im Mantel verhüllt, um sich an dem Nachhall
-des Tages zu zerstreuen. Endlich setzte er sich ermüdet hinter
-das Fußgestell einer Bildsäule, die in der Nische eines hohen Hauses
-stand, und sah den eiligen Läufern zu, die mit Fackelglanz
-einem rollenden Wagen vorleuchteten; die Lilis zog hinter ihm her.
-Jubelnde Gesellschaften zogen lärmend aus der Trinkstube nach
-Hause und klapperten noch mit den Nägeln gegen die Saiten, die
-sie so lange hatten schwingen lassen; aber auch ihnen zog der Todesengel
-nach und &mdash; blies sie an aus einem Nachtwächterhorn.
-Und es wurden der Todesengel so viele vor seinen Augen, daß sie
-zueinander traten und paarweis wie Liebende nebeneinander gingen
-in traulichen Gesprächen. Und er horchte ihnen zu, damit er
-wüßte, wie er zu Esther reden müsse, um ihr seine Liebe kund zu
-tun. Aber die Liebenden wurden von den Geschäftigen verdrängt,
-und er mochte nicht eher zuhören, bis ihm die Stimme der Vasthi
-auffiel, die mit einem alten Rabbiner vorüberging und ihm sagte:
-</p>
-
-<div class="leftpic" id="img-037">
-<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a><img src="images/037.jpg" alt="" /></div>
-
-<p class="noindent">
-&bdquo;Was soll ich die Esther schonen;
-ist sie doch nicht das Kind meines
-Mannes, sondern ein angenommenes
-Christenkind, der er den größten
-Teil seines Geldes zugewendet
-hat.&ldquo; &mdash; &bdquo;Sei Sie still,&ldquo; sagte der
-Rabbiner, &bdquo;weiß Sie denn, wieviel
-der Mann mit dem Kinde
-bekommen hat?&ldquo; &bdquo;Alles. Er hatte
-nichts und konnte damit anlegen
-großen Handel. Was kann das
-Mädchen dafür, daß ihm sein
-Geld ist gestohlen worden?&ldquo; &mdash; Hier
-kamen sie ihm aus dem Bereich seines
-scharfen Gehörs, er eilte ihnen
-nach, aber sie hatten sich schon in
-irgend ein Haus begeben. Auch
-hier war er, wie gewöhnlich, zu
-spät zu einem Entschluß gekommen,
-doch war ihm der Fingerzeig
-seltsam bedeutend und führte ihn sinnend hin in sein Haus.
-</p>
-
-<p>
-Als er sich kaum ein paar Minuten ausgeruht hatte, hörte er einen
-Schuß, er sah zum Fenster hinaus, aber niemand schien es gehört
-zu haben. Beruhigt rückte er auf seine Warte am Fenster und wagte
-es, einen Fensterflügel zu öffnen, so daß er noch genauer, als
-die Nacht vorher, das Zimmer der, schönen Esther übersehen konnte.
-&mdash; Da hatte sich vieles verändert, die Kappen der Stühle waren
-abgenommen, und sie glänzten in weißem Atlas um einen prachtvollen
-Teetisch, auf welchem eine silberne Teemaschine dampfte.
-Esther schüttete wohlriechendes Wasser auf eine glühende Schippe,
-<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
-dann sprach sie in die Luft: &bdquo;Nanni, es ist höchste Zeit, daß ich
-meine Locken mache, meine Gäste müssen bald kommen.&ldquo; Esther
-antwortete darauf mit veränderter Stimme: &bdquo;Gnädiges Fräulein,
-es ist alles bereit.&ldquo; &mdash; Im Augenblicke des Worts stand eine zierliche
-Kammerjungfer vor Esther und half ihr die Locken ausziehen und
-ordnen. Dann reichte sie Esther den Spiegel, und diese klagte:
-&bdquo;Gott, wie bin ich bleich! Hat es denn nicht Zeit mit dem Erbleichen,
-bis ich tot bin? Du sagst, ich soll mich schminken. Nein, dann
-gefalle ich dem Majoratsherrn nicht, denn er ist auch blaß wie ich,
-gut wie ich, unglücklich wie ich; wenn er nur heut käme, die Gesellschaft
-macht mir ohne ihn keine Freude.&ldquo; Nun war alles im Zimmer
-geordnet, und Esther, sehr elegant angezogen, legte einige
-schön gebundene englische Bücher aufs Sofa und begrüßte auch
-englisch das erste Nichts, dem sie in ihrer Gesellschaftskomödie die
-Tür öffnete. Kaum antwortete sie englisch in seinem Namen, so
-stand da ein langer, finsterer Engländer vor ihr, mit der Art Freiheit
-und Anstand, die sie damals vor allen Nationen in Europa
-auszeichnete. Mit solchen Luftbildern von Franzosen, Polen, Italienern,
-endlich auch mit einem kantischen Philosophen, einem
-deutschen Fürsten, der Roßhändler geworden, einem jungen aufgeklärten
-Theologen und einigen Edelleuten auf Reisen belebte sich
-der Teetisch. Sie war in einer unerschöpflichen Bewegung durch
-alle Sprachen. Es entspann sich ein Streit über die Angelegenheiten
-Frankreichs. Der Kantianer demonstrierte, aber der Franzose
-wütete. Sie suchte sehr gewandt die Streitenden auseinander zu
-halten und schüttete endlich, als ob sie angestoßen wäre, eine Tasse
-heißen Tee dem Kantianer auf die Unterkleider, um eine Diversion
-zu machen. Das gelang auch; es wurde entschuldigt, abgewischt,
-und sie versicherte, den Tritt des Majoratsherrn zu hören, eine neue
-Bekanntschaft, die sie erst jetzt gemacht, ein ausgezeichneter junger
-<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
-Mann, der Frankreich erst kürzlich verlassen habe und jene streitigen
-Fragen am besten beantworten könne. &mdash; Bei diesen Worten
-durchgriff eine kalte Hand den Majoratsherrn. Er fürchtete, sich
-selbst eintreten zu sehen; es war ihm, als ob er wie ein Handschuh
-im Herabziehen von sich selbst umgekehrt würde. Zu seiner Beruhigung
-sah er gar nichts auf dem Stuhle, den Esther ihm hinrückte,
-aber den andern Mitgliedern der eleganten Gesellschaft mußte sein
-Ansehen etwas Unheimliches haben, und während Esther zu
-ihm flüsterte, empfahlen sich diese, aber einer nach dem andern.
-Als alle sich entfernt hatten, sprach Esther lauter zu dem leeren
-Stuhle: &bdquo;Sie haben mir in aller Kürze gesagt, ich sei nicht, was ich
-zu sein &mdash; scheine, und ich entgegne darauf, daß auch Sie nicht
-sind, was Sie scheinen.&ldquo; Darauf antwortete Esther, indem sie zum
-Staunen des aufhorchenden Majoratsherrn seine Stimme täuschend
-nachahmte: &bdquo;Ich will mich erklären: Sie sind nicht die Tochter
-dessen, den die Welt Ihren Vater nennt, Sie sind ein geraubtes
-Christenkind, Ihren wahren Eltern, Ihrem wahren Glauben geraubt,
-und mein Entschluß, Sie dahin zurückzuführen, hat mich
-bestimmt, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Erklären Sie sich
-mir jetzt auch deutlicher.&ldquo; &mdash; Esther: &bdquo;Es sei. Ich bin Sie und Sie
-sind ich; sollte aber die Sache wieder in Ordnung gebracht werden,
-so zweifle ich, daß ich dabei gewinnen kann, Sie aber verlören
-unglaublich viel, und nur der schreckliche, rotnasige Vetter würde
-zu einer schwindelnden Höhe erhoben.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Sie schwieg und flehte sich selbst mit der Stimme des Majoratsherrn
-an, weiter zu reden, denn eine Ähnlichkeit mit der geliebten
-Mutter enthüllte ihm nun halb das Geheimnis. &mdash; Dann fuhr sie
-fort: &bdquo;Ist Ihnen denn der Eigensinn eines alten Majoratsherrn,
-der von seinem Vetter, dem Leutnant, mehrmals gekränkt worden,
-einem eignen Sohne die geliebten Reichtümer überlassen möchte,
-<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
-so geheimnisvoll? Nehmen Sie an, daß die Erfüllung dieser Hoffnung
-ihm nahe bevorstand, daß seine Frau in Wochen kommen
-sollte, daß ihn aber die Furcht quälte, die Geburt eines Mädchens
-könne alles vereiteln. Wenn diese oft geäußerte Furcht eine listige
-Hofdame benutzt, um ihm einen Knaben aufzuschwatzen, den sie
-eine Woche früher insgeheim geboren: bedarf es da mehr als einer
-oft bestochenen Hebamme, wenn nun die Furcht erfüllt wird, und
-ich statt eines Knaben geboren werde? Ich werde einem dienstbaren
-Juden überliefert, der, außer dem Vorteil, auch seiner Religion
-dadurch etwas zuzuwenden hofft. Haben Sie Nathan den
-Weisen gelesen?&ldquo; &mdash; Majoratsherr: &bdquo;Nein!&ldquo; &mdash; Esther: &bdquo;Nun gut, Sie
-werden der Mutter an die Brust gegeben, wie die Nachtigall auch
-Kuckuckseier ausbrütet, doch es versteht sich, ohne etwas Böses damit
-sagen zu wollen. Und daß ich dies alles weiß, danke ich der
-Sterbestunde meines Pflegevaters; er versicherte mir noch dabei,
-daß jenes Kapital, was er mir zurücklasse, mehr betrage, als was
-ich nach der Stiftung des Majorats fordern könne; er habe aber
-wohl das Dreifache vom alten Majoratsherrn empfangen, um
-das Geheimnis zu bewahren, es sei die Grundlage seines großen
-Handelsverkehrs geworden. Sie verstummen, Sie zweifeln, was
-zu tun sei? Sie verfluchen die Eitelkeit des männlichen Geschlechts,
-seinen Namen allein in Ansehen erhalten zu wollen? Aber was ist
-zu tun? Lassen Sie denn den alten, lächerlichen Vetter Ihres Reichtums
-mit froh werden, wie Sie schon jetzt getan; meine Bahn ist
-bald durchlaufen, und ich ertrage keinen großen Wechsel der Witterung.
-Aber Sie lieben mich, sagen Sie. Ach ich habe Ihre Augen
-beim ersten Anblick verstanden, aber unsre Liebe ist nicht von dieser
-Welt; diese Welt hat mich mit aller ihrer Torheit zerstört. Freund,
-nicht alle Männer meinten es mit mir so ehrlich wie Sie, und sie
-umstrickten mich mit jeder Eitelkeit des kindischen Verstandes. Scheiden
-<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
-wir für heute, denn es kostet mir viel Zeit, Ihnen zu sagen,
-daß ich Ihnen kein ganzes Herz mehr schenken kann; es brach, es
-ging in Stücken, und nur dort heilt sich der Riß.&ldquo; &mdash; Bei diesen Worten
-verfinsterte eine Tränenflut die Augen des Majoratsherrn. Als
-er aufblickte, lag Esther, nachdem sie das Nachtlicht ausgelöscht, in
-ihrem Hemdchen im Fenster und atmete heftig die kalte Nachtluft
-ein; dann ging sie zu Bette, und er setzte sich zu seinem Tagebuche,
-um alles Wunderbare, so treu er vermochte, aufzuzeichnen.
-</p>
-
-<p>
-Gegen Mittag kam der Vetter, wie gewöhnlich, vor sein Bette und
-fragte ihn, ob er nicht endlich Lust habe, die Hofdame zu besuchen.
-Der Majoratsherr überraschte ihn mit einem vernehmlichen Ja,
-hätte aber gern hinzugefügt, daß er lieber allein den Besuch gemacht
-hätte. Er kleidete sich schnell an und machte sich mit dem
-Vetter auf den Weg, der sich darüber freute, daß sie jetzt gewiß
-noch allein sei. Wie sie sich dem Hause näherten, pochte dem Majoratsherrn
-das Herz. &bdquo;Was ist das für ein schrecklich großer Menschenkasten
-dort,&ldquo; fragte er, &bdquo;mit den Spiegelscheiben? In dieser
-Nische habe ich einmal nachts hinter der Statue in der Nische gesessen!&ldquo;
-&mdash; &bdquo;Kennen Sie noch nicht Ihr eigenes Majoratshaus?&ldquo;
-fragte der Vetter, &bdquo;da ließe es sich besser wohnen als in meinem
-kleinen Neste!&ldquo; &mdash; &bdquo;Bewahre der Himmel,&ldquo; antwortete der Majoratsherr,
-&bdquo;ich wollte, daß ich es nie gesehen hätte; die großen Steine
-scheinen mit Hunger und Kummer zusammengemauert.&ldquo; &mdash; &bdquo;Freilich,
-der es baute, hat sich kaum satt zu essen gewagt, und Ihr Vater
-war nicht auf sonderliche Ausgaben eingerichtet, hat mir einmal,
-als ich knapp von einem Tage zum andern lebte, einen Prozeß gemacht,
-weil ich eine Schneiderrechnung, die er für mich ausgelegt,
-am festgesetzten Tage ihm nicht wieder gezahlt hatte.&ldquo; &mdash; &bdquo;Gott, das
-ist hart,&ldquo; sagte der Majoratsherr, &bdquo;das kann den Erben keinen
-Segen bringen!&ldquo;
-</p>
-
-<div class="leftpic" id="img-042">
-<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a><img src="images/042.jpg" alt="" /></div>
-
-<p class="noindent">
-Unter solchen Gesprächen waren sie in
-das Vorzimmer der Hofdame getreten,
-die darum bitten ließ, daß die Herren
-eine halbe Stunde warten möchten, sie
-hätte noch einige Worte zu schreiben.
-Der Vetter sah an seiner Uhr, daß er
-nicht so lange warten könne, wegen
-seines regelmäßigen Spazierganges,
-und ließ den Majoratsherrn allein.
-Diesem ward sehr unheimlich in dem Zimmer. Der schreiende
-Laubfrosch auf der kleinen Leiter schien von einem fatalen Geiste
-beseelt; auch die Blumen in den Töpfen hatten kein recht unschuldiges
-Ansehen; aus dem Potpourri glaubte er ein Dutzend
-abgelebte Diplomaten heraufhorchen zu sehen. Aber mehr
-als alles quälte ihn der schwarze Pudel, obgleich sich dieser vor
-ihm zu fürchten schien; er hielt ihn für eine Inkarnation des Teufels.
-Als nun endlich die Hofdame wie ein chinesisches Feuerwerk
-mit dem steifen Wechsel ihrer Farben aus dem andern Zimmer
-hervortrat, da vergingen ihm fast die Sinne, denn ihm stand&rsquo;s vor
-der Seele, daß die Abscheuliche seine Mutter sei. &bdquo;Mutter,&ldquo; sagte er,
-und sah sie scharf an, &bdquo;deinem Sohn ist sehr wehe!&ldquo; Er dachte, sie
-würde erschrecken, ihn für einen Toren erklären; aber sie setzte sich
-ruhig zu ihm und sagte: &bdquo;Sohn, deiner Mutter ist sehr wohl.&ldquo; Sie
-wollte ihm ein emailliertes, großes Riechfläschchen reichen, aber er
-scheute sich davor und sagte: &bdquo;Da sehe ich eine Seele eingesperrt!&ldquo;
-Sie legte es leise beiseite und sagte: &bdquo;Wenn darin eine Seele, so ist
-es die Seele deines Vaters, des Schönen; ich reichte es ihm, als er
-vom Leutnant, dem Vetter, durchstochen ward, im unerwarteten
-Zweikampf vor meiner Türe.&ldquo; &mdash; &bdquo;Ich lebe mit dem Mörder meines
-Vaters unter einem Dache, und du bist seine geliebte Freundin?&ldquo; &mdash;
-<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
-&bdquo;Du weißt zuviel, mein Sohn,&ldquo; fuhr sie fort, &bdquo;als daß du nicht
-alles wissen solltest, wieviel du mir zu danken, was ich für dich getan
-habe. Dein Vater hieß der schöne ... in der ganzen Stadt; dieser
-Ruf machte, daß ich gegen ihn alle Vorsicht vergaß. Unser
-Liebeshandel blieb zwar heimlich; aber bei den Folgen, die ich trug,
-mußte ich auf Verbannung vom Hofe gefaßt sein, wenn ich diese
-Folgen nicht verheimlichen könnte, nachdem dein Vater erstochen
-war, ehe er sein Versprechen, mich zu heiraten, erfüllen können.
-Das gelang mir.&ldquo; &mdash; &bdquo;Ich weiß es.&ldquo; &mdash; &bdquo;Und zugleich rächte ich deinen
-Vater an seinem Mörder, indem ich dir das Vermögen zuwandte,
-was jenem mit allem Rechte zugefallen wäre. Ich tat noch
-mehr. Durch meinen Einfluß am Hofe hemmte ich jeden seiner Versuche,
-sich in Ehren fortzuarbeiten, und erhielt ihn dabei in den
-Netzen meiner Reize. Weder seinem Verstande noch seinem Mute
-wurde gerechte Anerkennung; so veraltete er in sinnlosem Treiben
-und quälenden Nahrungsspekulationen, ein lächerliches Spottgesicht
-aller Welt, während die ältern Leute noch mit Entzücken von
-der Schönheit deines Vaters reden, ihn noch als Sprichwort brauchen,
-um Schönheit zu bezeichnen. Wenn ich dich in deinem Reichtum
-edel, sorgenfrei aufgewachsen sehe, allem Höheren zugewendet,
-und den Vetter denke, wie er da täglich unter schielenden Seitenblicken
-der Alten und mit Hohnlachen der Gassenbuben in lächerlichen
-Hahnentritten vor meinem Fenster vorübertrippelt, oder
-Sonntags meinen Hund kämmen muß, dann fühle ich, daß ich
-deinen Vater gerächt, ihm ein rechtes Totenopfer gebracht habe.
-Oder soll ich noch mehr tun, um den Vetter zu kränken, soll ich ihn
-heiraten, ihn in seinem Stundenlauf durch die Stadt stören, seine
-Wappensammlung zusammenwerfen?&ldquo; &mdash; Der Majoratsherr hatte
-auf das alles nicht gehört, sonst möchte sein Widerspruch sie früher
-unterbrochen haben. Er sprach halbträumend in sich hinein: &bdquo;Also
-<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
-ward ich der Edlen nur als ein Dieb an die Mutterbrust gelegt.
-Und wo ist das unglückliche Kind, das meinetwegen verstoßen
-wurde? Ich weiß es, Esther ist es, die unglückliche, geistreiche, von
-der Gemeinheit der Ihren, von dem Fluch ihres Glaubens niedergebeugte
-Esther!&ldquo; &mdash; &bdquo;Darüber kann ich dir keine Antwort geben,&ldquo;
-sagte die Hofdame, &bdquo;der alte Majoratsherr allein führte die Sache
-aus; ich war beruhigt, als ich dich aus der Schande unehelicher
-Geburt zu dem glänzendsten Schicksale erhoben sah. Du dankst mir
-nicht dafür?&ldquo; &mdash; Er saß in sich versunken und hörte nicht, sondern
-sprach halblaut: &bdquo;Ich sollte reich sein auf Unkosten einer Armen?
-Habe ich nicht manches gelernt, was mir einen Unterhalt verschaffen
-kann? Ich spiele mehrere Instrumente so fertig wie irgendeiner;
-ich male, ich kann in mancher Sprache Unterricht geben. Fort mit
-der Sündenlast des Reichtums, sie hat mich nie beglückt!&ldquo; &mdash; Die
-Hofdame hörte ihm aufmerksam zu und sprach mit ihrem Pudel,
-der seine Vorderpfoten auf ihre Knie stützte und ihr ans Ohr den
-Kopf ausstreckte, dann nahm sie die Hand des Majoratsherrn und
-sagte: &bdquo;Du bist deiner Mutter wenigstens Gehorsam schuldig, und
-was ich fordere, ist nicht unbillig; nur vierundzwanzig Stunden
-bewahre das Geheimnis deiner Geburt und schiebe jeden Entschluß
-auf, den es in dir erregen könnte; darauf gib mir Hand und
-Wort!&ldquo; &mdash; Der Majoratsherr war froh, daß er in vierundzwanzig
-Stunden zu keinem Entschluß zu kommen brauchte, schlug ein,
-küßte die Hand, empfahl sich ihr und eilte nach Hause, um zu
-einer ruhigen Fassung zu gelangen.
-</p>
-
-<p>
-Aber eine neue Veranlassung zur tiefsten Beunruhigung seines Gemüts
-mußte er dort vorfinden. Er sah vor dem Hause der Esther
-eine große Versammlung von Juden und Jüdinnen, die heftig
-miteinander redeten. Weil er sich nicht darunter mischen wollte,
-so ging er in sein Haus und befragte die alte Aufwärterin. Sie
-<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
-berichtete ihm, daß der Verlobte der schönen Esther vor einer Stunde
-ganz zerlumpt von einer Reise nach England zurückgekommen sei;
-er habe alles das Seine verloren.
-<span class="centerpic"><img src="images/045.jpg" alt="" /></span>
-Die alte Vasthi habe ihm darauf
-erklärt, daß er ihre Schwelle nie betreten, an ihre Stieftochter nicht
-denken solle; aber Esther habe laut versichert, daß sie gerade jetzt
-ihre Zusage erfüllen wolle, den Unglücklichen zu heiraten, weil er
-ihrer bedürfe, sonst hätte sie wegen ihrer Kränklichkeit das Verlöbnis
-aufgelöst. Darüber sei eine schreckliche Wut der Mutter Vasthi
-ausgebrochen, die kaum durch das Zwischentreten der ältesten Nachbarn
-beschwichtigt worden sei. <a id="corr-4"></a>Jedermann gebe ihr laut schuld, daß
-sie nicht aus Vorsorge für die Stieftochter, sondern aus Verlangen, sie
-zu beerben, weil sie sehr kränklich, die Heirat zu hindern suche.
-</p>
-
-<p>
-So war nun ein Mittel der Ausgleichung, wenn er selbst, der Majoratsherr,
-die verstoßene Esther geheiratet hätte, fast verloren, und
-seine Neigung schien ihm jetzt sträflich. Er sah Esther, die bleich und
-erstarrt wie eine Tote auf ihrem Sofa lag, während der Verlobte,
-ein jammervoller Mensch, ihr seine unglücklichen Begebenheiten
-erzählte. Es wurde Licht angezündet; sie schien sich zu erholen,
-tröstete ihn, versprach ihm ihren Handel zu überlassen, wenn sie
-verheiratet wären, aber er dürfe dann nie ihr Zimmer betreten. Er
-beschwor alle Bedingungen, die sie ihm machen wolle, wenn sie
-ihn aus dem Elend reißen und vor dem Zorn der grausamen Vasthi
-bewahren wolle. &bdquo;Sie ist der Würgengel, der Todesengel,&ldquo; sagte
-er, &bdquo;ich weiß es gewiß; sie wird abends gerufen, daß die toten
-Leute nicht über Nacht im Hause bleiben müssen, und saugt ihnen
-den Atem aus, daß sie sich nicht lange quälen und den Ihren zur
-Last fallen. Ich hab&rsquo;s gesehen, als sie von meiner Mutter fortschlich,
-und als ich ans Bette kam, war sie tot; ich hab es gehört von meinem
-Schwager, es darf nur keiner davon reden. Es ist eine Sache
-der Milde, aber ich scheue mich davor.&ldquo;
-<span class="centerpic"><img src="images/047.jpg" alt="" /></span>
-Esther suchte es ihm auszureden,
-<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
-endlich sagte sie: &bdquo;Bedenk Er sich wohl! Wenn Er sich allzusehr
-vor ihr fürchtet, so heirate Er mich nicht. Mir ist es einerlei,
-ich tue es nur, um Ihn aus dem Elend zu retten; das bedenk Er
-sich und geh Er und laß Er mich allein.&ldquo; Der Verlobte ging. Kaum
-war er fort, so stand Esther mit Mühe auf, erschrak, als sie sich im
-Spiegel erblickte, und rang die Hände.
-</p>
-
-<p>
-Der Majoratsherr beschaute den schmalen Raum, der sie trennte;
-er glaubte sie trösten zu müssen. Aber ehe er entschlossen, ob er sich
-einem kühnen Sprunge hingeben oder durch ein Brett beide Fenster
-in aller Sicherheit vereinigen könnte, hörte er, wie alle Abende,
-einen Schuß, und es überfiel der gesellige Wahnsinn die schöne
-Esther schon wieder. Sie schlüpfte mit Eile in ein kurzes Ballkleid
-und warf darüber einen feuerfarbenen Maskenmantel, nahm auch
-eine Maske vor, und so erwartete sie die übrigen Masken zu dem
-Balle. Es ging wie am vorigen Tage, nur viel wilder. Groteske Verkleidungen,
-Teufel, Schornsteinfeger, Ritter, große Hähne schnarrten
-und schrien in allen Sprachen, er sah die Gestalten, sowie ihre
-Stimme sie belebte. Sie war schlagend witzig gegen alle Angriffe,
-die sie sich selbst machte, und scheute in diesen Spottreden keine ihrer
-Schwächen, die sie je gehabt hatte; aber sie wußte auch von allem
-die beste Seite zu zeigen. Nur einer Maske wußte sie nichts zu antworten,
-die ihr vorwarf, so nahe ihrer Hochzeit solchen Leichtsinn
-zu treiben. &bdquo;Nennen Sie dieses Almosen, das ich dem armen Jungen
-reiche, keine Hochzeit. Ich bin verlassen; der Majoratsherr wird
-sich immerdar zu lange in Unschlüssigkeit bedenken, ehe er etwas
-für mich tut, meine Pulse schlagen bald die letzte Stunde, kurz David
-tanzte vor der Bundeslade, und ich tanze dem höheren Bunde
-entgegen.&ldquo; Bei diesen Worten ergriff sie die Maske und raste einen
-schnellen Walzer, welchem Beispiel die anderen Masken folgten,
-während ihr Mund mit seltener Fertigkeit Violinen, Bässe, Hoboen
-<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
-und Waldhörner tanzend nachzuahmen wußte.
-<span class="centerpic"><img src="images/049.jpg" alt="" /></span>
-Kaum war dieser
-allgemeine Tanz beendet, so wurde sie angefleht, die Fandango
-zu tanzen. Sie warf die Maske und auch das Ballkleid von sich,
-ergriff die Kastagnetten und tanzte mit einer Zierlichkeit den zierlichsten
-Tanz, daß dem Majoratsherrn alle anderen Gedanken in
-Wonne des Anschauens untergingen. Als ihr nun alle für diese
-Kunst ihren Dank zollten und sie nur mit Mühe wieder zu Atem
-kam, sah sie mit Schrecken einen kleinen Mann eintreten, den auch
-der Majoratsherr, sobald sie ihn genannt, in einer sehr abgetragenen
-Maske die Herren begrüßen sah. &bdquo;Gott, das ist mein armer
-Bräutigam,&ldquo; sagte sie, &bdquo;der will mit seinen Kunststücken Geld verdienen.&ldquo;
-Diese armselige Maske trug einen kleinen Tisch und Stuhl
-auf dem Rücken, empfahl seine Kunststücke, ließ einen Teller umhergehen,
-um für sich einzusammeln, und eröffnete den Schauplatz
-mit sehr geschickten Kartenkünsten; dann brachte er Becher, Ringe,
-Beutel, Leuchter und ähnliche Schnurrpfeifereien vor, mit denen er
-das größte Entzücken in der ganzen Gesellschaft erregte. Zuletzt
-sprang er in einem leichten, weißen Anzuge, doch wieder maskiert,
-wie eine Seele aus dem schmutzigen Maskenmantel heraus und
-versicherte, mit seinem Körper seltsame Kunststücke machen zu wollen,
-legte sich auf den Bauch und drehte sich wie ein angestochener
-Käfer umher. Aber Esther faßte einen so gräßlichen Widerwillen
-gegen ihn in dieser Verzerrung, daß sie mit zugehaltenen Augen
-in Krämpfen auf ihr Bett stürzte. Im Augenblicke waren dem Majoratsherrn
-alle Gestalten verschwunden; er sah die Geliebte, die
-Unterdrückte im schrecklichsten Leiden verlassen; er beschloß, zu ihr
-zu eilen. Er sprang die Treppe hinunter; aber er fehlte die Tür und
-trat in ein Zimmer, das er nie betreten. Und ihm und seiner Laterne
-entgegen drängten sich ungeheure gefiederte Gestalten, denen
-rote Nasen wie Nachtmützen über die Schnäbel hingen. Er flieht
-<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
-zurück und steigt zum Dache empor, indem er sein Zimmer sucht.
-<span class="centerpic"><img src="images/051.jpg" alt="" /></span>
-Er blickt umher in dem Raume, und still umsitzen ihn heilige Gestalten,
-fromme Symbole, weiße Tauben; und das Gefühl, wie er
-zwischen Himmel und Hölle wohne, und die Sehnsucht nach dem
-himmlischen Frieden, dessen Sinnbilder ihn umgaben, stillte wie
-Öl die Sturmeswellen, die ihn durchbebten, und eine Ahnung, daß
-er ihm nahe, daß es seiner auf Erden nicht mehr bedürfe, drängte
-seine aufglimmende Tätigkeit für Esther wieder zurück.
-</p>
-
-<p>
-Doch diesem höheren Traum stellte sich die Wirklichkeit mit spitzer
-Nachtmütze, einem bunten Band darum gebunden, eine Brille auf
-der roten Nase, einen japanischen, bunten Schlafrock am Leibe,
-mit bloßem Schwerte entgegen; natürlich der Vetter, der, von dem
-Geräusch im Hause erwacht, den Majoratsherrn mit den Worten
-begrüßte: &bdquo;Sind Sie es, lieber Vetter, oder Ihr Geist?&ldquo; &mdash; &bdquo;Mein
-Geist,&ldquo; antwortete der Majoratsherr verlegen, &bdquo;denn kaum weiß
-ich, wie ich hier unter die Engel versetzt bin.&ldquo; &mdash; &bdquo;Kommen Sie in
-Ihr Zimmer zurück,&ldquo; entgegnete der Vetter, &bdquo;sonst verlassen die
-Tauben ihre Eier; meine Puthähne unten wollen sich ohnehin
-nicht zufrieden geben, Sie waren gewiß auch dort, ich konnte mir
-dieses Treppensteigen, den Lärm bei den Tieren nicht anders erklären,
-als daß ein Dieb von der Judengasse eingestiegen sei. Nun
-ist es mir nur lieb, daß Sie es sind. Vielleicht etwas mondsüchtig,
-lieber Vetter? Das weiß ich zu kurieren.&ldquo; &mdash; Unter solchen Gesprächen
-führte er den Majoratsherrn in sein Zimmer zurück. Dieser
-aber faßte den Entschluß, dem Vetter zu erzählen, daß er Esther in
-Krämpfen ganz verlassen aus seinem Fenster gesehen habe, und
-daß er in der Eil&rsquo;, ihr zu Hilfe zu kommen, die Türen verfehlt
-habe. &mdash; &bdquo;Welch ein Glück,&ldquo; rief der Vetter, &bdquo;denn wenn die Türe
-der Gasse offen gewesen, Sie wären nicht ohne Unglück oder Schimpf
-hinausgekommen.&ldquo; &mdash; Der Majoratsherr war an das Fenster gegangen
-<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
-und sagte: &bdquo;Sie scheint jetzt zu schlummern, der schreckliche
-Anfall ist vorüber.&ldquo;
-<span class="centerpic"><img src="images/053.jpg" alt="" /></span>
-Der Leutnant erzählte aber weiter: &bdquo;Vor einem
-Jahre hätten Sie die Esther sehen sollen, da war sie schön; da kam
-der Sohn eines Regimentskameraden vom Lande hieher unter die
-Dragoner. Er war das einzige Gut der Mutter, seitdem der Vater
-in einem Scharmützel geblieben; denn die sind oft gefährlicher als
-die großen Schlachten. Ich sah es, wie sie ihm das letzte Hemde zu
-seiner Equipierung nähte; sie dachte nicht, daß es sein Sterbehemde
-werden sollte. Aber der Mensch war unbesonnen, ich sah es ihm
-gleich beim Reiten an: er wollte immer Kunststücke auf den Straßen
-machen und dachte nicht daran, daß da Leute neben ihm gingen.
-Genug, der verliebt sich in die schöne Esther, und sie in ihn,
-und mein junger Herr will abends zu ihr schleichen, und wie die
-armen Juden außer ihrer Gasse mißhandelt werden, so meinen sie
-die Christen drinnen auch mißhandeln zu können, und fallen über
-ihn her, &mdash; besonders die alte Vasthi, die hätte ihn fast erwürgt. Die
-Sache ward laut, die Offiziere wollten nicht mit dem jungen Fähndrich
-<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
-weiter dienen. Er kam zu mir: was er tun sollte? Ich sagte
-ihm: schießt Euch tot, weiter ist nichts zu tun. Und der Mensch
-nimmt das Wort buchstäblich und schießt sich tot. Da hatte ich
-Mühe, es der Mutter auf gute Art beizubringen. Die Esther aber
-bekommt seitdem abends um die Zeit, wo er sich erschossen, einen
-Eindruck, als ob ein Pistolenschuß in der Nähe fiele, &mdash; andre
-hören es nicht, &mdash; und dann ein Anfall von Reden, Tanzen, daß
-kein Mensch aus ihr klug wird; und die andern im Hause lassen sie
-allein und scheuen sich vor ihr!&ldquo; &mdash; Entsetzt von dem kaltblütigen
-Vortrage rief der Majoratsherr: &bdquo;Welche Klüfte trennen die arme
-Menschheit, die sich immer nach Vereinigung liebend sehnt! Wie
-hoch muß ihre Bestimmung sein, daß sie solcher Fundamente bedarf,
-daß solche Opfer von der ewigen Liebe gefordert werden, solche
-Zeichen, &mdash; die, mehr als Wunder, die Wahrheit der heiligen Geschichte
-bewähren? O, sie sind alle wahr, die heiligen Geschichten
-aller Völker!&ldquo; &mdash; Nach einer Pause fragte er: &bdquo;Ist denn die Vasthi
-wirklich der Würgengel? Die Leute sagen, daß sie den Sterbenden
-den Todesdruck gebe.&ldquo; &mdash; &bdquo;Wenn das der Fall ist,&ldquo; sagte der Vetter,
-&bdquo;so ist es Milde, daß sie nicht lebend begraben werden, weil
-ein törichtes Gesetz gebietet, die Toten nach dreien Stunden aus
-dem Hause zu schaffen.&ldquo; Es habe ihm ein Arzt versichert, daß er
-deswegen einem, der an Krämpfen gelitten, schwören mußte, bei
-ihm zu bleiben, daß er nicht erstickt würde, wenn man ihn für tot
-hielte. Und da sah er, wie die Verwandten ihn verlegen bereden
-wollten, fortzugehen, der Tote sei tot; aber er blieb und rettete das
-Leben des Erstarrten, der ihm noch lange dankte. Da sollte die
-Obrigkeit ein Einsehen haben und das frühe Beerdigen verbieten.
-&bdquo;Aber lassen Sie uns von angenehmeren Dingen reden,&ldquo; fuhr der
-Vetter fort. &bdquo;Ich habe Ihnen vielen Dank zu sagen, Sie haben
-mein Glück gemacht. Meine vortreffliche Herzens- und Hofdame
-<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
-fühlt eine so gütige, mütterliche Zärtlichkeit gegen Sie, daß sie mir
-die seit dreißig Jahren versagte Hand reichen will, insofern ich Sie
-verpflichten kann, als ein geliebter Sohn in ihrer Nähe zu bleiben
-und unser nahendes Alter zu unterstützen. Da Sie nun, lieber Vetter,
-Ihr ganzes äußeres Dasein mit der Verwaltung des Majorats
-mir übertragen haben, ich auch aus der näheren Kenntnis der Verhandlungen
-ersehe, daß Sie viel zu abstrakt in Ihren Studien sind,
-um Ihrem Vermögen selbst vorstehen zu können, so habe ich, gleichsam
-als Ihr natürlicher Vormund, Ihr Wort dazu gegeben.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Der Majoratsherr fühlte sich in den Willen des Vetters ebenso hingegeben,
-wie Esther in den Willen der Vasthi; er kam ihm auch vor
-wie ein Würgengel, und er konnte sich denken, daß er ihm ebenso
-gleichgültig wie dem jungen Dragoner die Pistole reichen würde,
-wenn er das Geheimnis des Majorats erführe. Der Majoratsherr
-liebte aber sein Leben wie alle Kranke und Leidende, und es schien
-ihm ein milder Ausweg, den die Hofdame ersonnen, ihn durch diese
-Heirat als Sohn dem Hause dergestalt zu verknüpfen, daß bei der
-Unwahrscheinlichkeit, in ihrem Alter noch andre Kinder zu bekommen,
-er allein die Aussicht und der Mittelpunkt aller Hoffnungen
-beider werden müßte. So fand er sich gezwungen, dem Vetter zur
-Heirat Glück zu wünschen und ihm seine kindliche Ergebenheit gegen
-die Hofdame zu versichern; auch versprach er ihm, künftig mit
-ihm im Majoratshause zu wohnen, Gesellschaften zu sehen und
-am Hofe sein Glück zu suchen. Dann las ihm der Vetter einige
-wohlgereimte Gedichte vor, in denen er dieses Glück besungen
-hatte, und empfahl sich erst spät dem schlaftrunkenen Majoratsherrn,
-der heimlich allen Versen abgeschworen, seitdem er die edle
-Reimkunst mit so fataler nichtiger Fertigkeit hatte handhaben
-hören. Und doch konnte er es nicht lassen, einige Reime bis zum
-Verzweifeln sich zu wiederholen, und wußte auch nicht, wo er sie
-<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
-gehört hatte, doch meinte er damals, als er die alte Vasthi hinter
-der Bildsäule belauerte.
-</p>
-
-<div class="poem-container">
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">Es war eine alte Jüdin,</p>
- <p class="verse">Ein grimmig gelbes Weib;</p>
- <p class="verse">Sie hat eine schöne Tochter</p>
- <p class="verse">Ihr Haar war schön geflochten</p>
- <p class="verse">Mit Perlen, soviel sie mochte,</p>
- <p class="verse">Zu ihrem Hochzeitskleid.</p>
- </div>
- <div class="stanza">
- <p class="verse">&bdquo;Ach liebste, liebste Mutter,</p>
- <p class="verse">Wie tut mirs Herz so weh; &mdash;</p>
- <p class="verse">In meinem geblümten Kleide</p>
- <p class="verse">Ach laß mich eine Weile</p>
- <p class="verse">Spazieren auf grüner Heide,</p>
- <p class="verse">Bis an die blaue See.</p>
- </div>
- <div class="stanza">
- <p class="verse">Gut Nacht! Gut Nacht, Herzmutter,</p>
- <p class="verse">Du siehst mich nimmermehr;</p>
- <p class="verse">Zum Meere will ich laufen,</p>
- <p class="verse">Und sollt ich auch ersaufen,</p>
- <p class="verse">Es muß mich heute taufen;</p>
- <p class="verse">Es stürmet gar zu sehr!&ldquo;</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-Spät entschlafen unter diesen wiederkehrenden Reimen, wurde er
-erst gegen Abend durch den Pistolenschuß erweckt, der sich zur gewohnten
-Stunde hören ließ. Fast zugleich trat die alte, gute Aufwärterin
-leise ein, und als sie ihn wachend fand, fragte sie: ob er
-nicht der Judenhochzeit aus dem Hinterfenster zusehen wolle. &mdash; &bdquo;Wer
-wird verheiratet?&ldquo; fuhr er auf. &mdash; &bdquo;Die schöne Esther, mit dem armen
-<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
-Lump, der gestern zurückgekehrt ist.&ldquo; &mdash; Zum Glück war der Majoratsherr
-unausgekleidet auf seinem Sofa eingeschlafen, denn Zeit
-konnte er nicht verlieren, mit solcher Heftigkeit sprang er nach den
-hinteren Fenstern des Hauses, aus denen er den Begräbnisort mit
-den wilden Tieren gesehen hatte. Lange Häuserschatten und zwischendurch
-strahlende Abendlichter streiften über den grünen Platz
-neben dem Begräbnisort, der mit einem schrecklichen Gewirre schmutziger
-Kinder eingehegt war. Die Art der Musik, welche jetzt anhub, erinnerte
-an das Morgenland, auch der reichgestickte Baldachin, der
-von vier Knaben vorausgetragen wurde. Ebenso fremdartig waren
-alle Zeichen der Lustigkeit unter den Zuschauern, welche Nachtigallen
-und Wachteln künstlich nachahmten, einander zwickten und Gesichter
-schnitten, und endlich, zum Teil mit künstlichen Sprüngen, den
-Bräutigam begrüßten, der wie ein Schornsteinfeger ein schwarzes
-Tuch um den Kopf trug und mit einer Zahl befreundeter Männer
-eintrat. Und welche Ungeduld, wie viele seltsame Einfälle unter den
-Leuten, als die Braut länger als erlaubt auf sich warten ließ. Aber
-endlich kam händeringend ein Weib und schrie unbarmherzig:
-&bdquo;Esther ist tot!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Die Musik der Zimbeln und kleinen Pauken schwieg, die Knaben
-ließen den Thronhimmel fallen, der wilde Stier brüllte schrecklich
-oder wurde jetzt erst gehört. Der Majoratsherr allein, während
-alles lief zu schauen, blieb erstarrt in seiner Fensterecke liegen, bis
-die Tauben heimkehrend es mit lautem Flügel umflogen, und die
-Aufwärterin sagte: &bdquo;Ach Gott! da haben sie wieder eine mitgebracht;
-wer weiß, welchem armen Menschen sie gehört hat, und wieviele
-sich darum grämen!&ldquo; &mdash; &bdquo;Sie ists,&ldquo; rief der Majoratsherr, &bdquo;die
-himmlische Taube, und ich werde nicht lange um sie weinen!&ldquo; Er
-ging auf sein Zimmer zurück und wagte es nach ihrem Fenster hinzublicken.
-Schon waren alle aus ihrem Zimmer entflohen, aus
-<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
-Furcht der Einwirkung eines Toten. Der Verlobte zerriß sein Kleid
-vor dem Hause und überließ sich allen Rasereien des Schmerzes,
-während die Ältesten von der Beerdigung redeten. Sie lag auf ihrem
-Bette. Der Kopf hing herab, und die Haarflechten rollten aufgelöst
-zum Boden. Ein Topf mit blühenden Zweigen aller Art stand neben
-ihr und ein Becher mit Wasser, aus dem sie wohl die letzte Kühlung
-im heißen Lebenskampfe mochte empfangen haben. &mdash; &bdquo;Wohin seid
-ihr nun entrückt,&ldquo; rief er nun zum Himmel, &bdquo;ihr himmlischen Gestalten,
-die ahnend sie umgaben? Wo bist du, schöner Todesengel,
-Abbild meiner Mutter! So ist der Glaube nur ein zweifelhaft Schauen
-zwischen Schlaf und Wachen, ein Morgennebel, der das schmerzliche
-Licht zerstreut! Wo ist die geflügelte Seele, der ich mich einst in
-reinster Umgebung zu nahen hoffte? Und wenn ich mir alles abstreite,
-wer legt Zeugnis ab für jene höhere Welt? Die Männer vor dem
-Hause reden vom Begräbnis, und dann ist alles abgetan. Immer
-dunkler wird ihr Zimmer, die geliebten Züge verschwinden darin.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Während er in tränenlosem Wahnsinn so vor sich hinredete, trat
-die alte Vasthi mit einer Diebeslaterne in das Zimmer, öffnete einen
-Schrank und nahm einige Beutel heraus, die sie in ihre lange Seitentasche
-steckte. Dann nahm sie den Brautschmuck der Erstarrten
-vom Kopfe und maß mit einem Bande ihre Länge, wohl nicht zu
-einem Kleide, sondern zur Auswahl des Sarges. Und nun setzte
-sie sich auf das Bett, und es schien, als ob sie bete. Und der Majoratsherr
-vergab ihr den Diebstahl für dies Gebet und betete mit
-ihr. Und wie sie gebetet hatte, zogen sich alle Züge ihres Antlitzes in
-lauter Schatten zusammen, wie die ausgeschnittenen Kartengesichter,
-welche, einem Lichte entgegengestellt, mit dem durchscheinenden
-Lichte ein menschliches Bild darstellen, das sie doch selbst nicht zu
-erkennen geben: sie erschien nicht wie ein menschliches Wesen, sondern
-wie ein Geier, der, lange von Gottes Sonne gnädig beschienen,
-<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
-mit der gesammelten Glut auf eine Taube niederstößt.
-<span class="centerpic"><img src="images/059.jpg" alt="" /></span>
-So setzte
-sie sich wie ein Alpdruck auf die Brust der armen Esther und legte
-ihre Hände an ihren Hals. Der Majoratsherr meinte einige Bewegungen
-am Kopf, an Händen und Füßen der schönen Esther
-zu sehen; aber Wille und Entschluß lagen ihm wie immer fern, der
-<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
-Anblick ergriff ihn, daß er es nicht meinte überleben zu können.
-&bdquo;Der grimmige Geier, die arme Taube!&ldquo; &mdash; Und wie Esther das Ringen
-aufgab und ihre Arme über den Kopf ausstreckte, da erlosch
-das Licht, und aus der Tiefe des Zimmers erschienen mit mildem
-Gruße die Gestalten der ersten reinen Schöpfung, Adam und Eva,
-unter dem verhängnisvollen Baume und blickten tröstend zu der
-Sterbenden aus dem Frühlingshimmel des wiedergewonnenen
-Paradieses, während der Todesengel zu ihrem Haupte mit traurigem
-Antlitz in einem Kleide voll Augen mit glänzendem, gesenktem
-Flammenschwerte lauerte, den letzten, bittern Tropfen ihren Lippen
-einzuflößen. So saß der Engel wartend, tiefsinnig, wie ein Erfinder
-am Schlusse seiner mühevollen Arbeit. Aber Esther sprach mit
-gebrochener Stimme zu Adam und Eva: &bdquo;Euretwegen muß ich so
-viel leiden!&ldquo; &mdash; Und jene erwiderten: &bdquo;Wir taten nur eine Sünde,
-und hast du auch nur eine getan?&ldquo; &mdash; Da seufzte Esther, und wie sich
-ihr Mund öffnete, fiel der bittre Tropfen von dem Schwerte des
-Todesengels in ihren Mund, und mit Unruhe lief ihr Geist durch
-alle Glieder getrieben und nahm Abschied von dem schmerzlich geliebten
-Aufenthaltsorte. Der Todesengel wusch aber die Spitze seines
-Schwertes in dem offenen Wasserbecher vor dem Bette ab und
-steckte es in die Scheide und empfing dann die geflügelte, lauschende
-Seele von den Lippen der schönen Esther, ihr feines Ebenbild.
-Und die Seele stellte sich auf die Zehen in seine Hand und faltete
-die Hände zum Himmel, und so entschwanden beide, als ob das
-Haus ihrem Fluge kein Hindernis sei, und es erschien überall durch
-den Bau dieser Welt eine höhere, welche den Sinnen nur in der
-Phantasie erkenntlich wird: in der Phantasie, die zwischen beiden
-Welten als Vermittlerin steht und immer neu den toten Stoff der
-Umhüllung zu lebender Gestaltung vergeistigt, indem sie das Höhere
-verkörpert. Die alte Vasthi schien aber von all der Herrlichkeit
-<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
-nichts zu erkennen und zu sehen; ihre Augen waren abgewandt,
-und als sich der Todeskampf gestillt hatte, nahm sie noch einigen
-Schmuck zu sich und hob das Bild von Adam und Eva von der
-Wand und schleppte es auch mit fort.
-</p>
-
-<p>
-Erst jetzt fiel dem Majoratsherrn ein, daß etwas Wirkliches auch
-für diese Welt an allem dem sein könne, was er gesehen, und mit
-dem Schrei: &bdquo;Um Gottes Gnade willen, die Alte hat sie erwürgt,&ldquo;
-sprang er, seiner selbst unbewußt, auf das Fenster und glücklich
-hinüber in das offene Fenster der Esther. Sein Schrei hatte die Totengräber
-und den Verlobten ins Haus gerufen. Sie kamen in das
-Zimmer, wo sie den Majoratsherrn, den keiner kannte, beschäftigt
-fanden, der armen Esther Leben einzuhauchen. Aber vergebens.
-Mit Mühe sagte er ihnen, was er gesehen, wie Vasthi sie erwürgt
-habe. Der Verlobte rief: &bdquo;Es ist gewißlich wahr, ich sah sie hinaufschleichen
-und sah sie herunterschleichen, aber ich fürchtete mich vor
-ihr!&ldquo; Die Totenbegleiter verwiesen ihm aber solche frevelhafte Gedanken,
-der Fremde sei ein Rasender, vielleicht ein Dieb, der solche
-Lügen ersonnen, um sich der Strafe zu entziehen. Da ergriff der
-Majoratsherr den Becher mit Wasser und sprach: &bdquo;So gewiß der
-Tod in diesem Wasser sein Schwert gewaschen und es tödlich vergiftet
-hat, so gewiß hat Vasthi die arme Esther vor meinen Augen
-erwürgt!&ldquo; &mdash; Bei diesen Worten trank er den Becher aus und sank
-am Bette nieder. &mdash; Alle sahen an dem Glanze seiner Augen, an der
-Bleichheit seiner Lippen, daß ihm sehr wehe sei, und sie hörten seinen
-gebrochenen Reden zu. &bdquo;Sie würgte an ihr schon manches
-Jahr,&ldquo; sagte er, &bdquo;und Esther starb in einem Abbilde ihres Lebens,
-das mit seinem eiteln Schmuck noch in dem Tode die Raubgier der
-Alten und vergebliche Liebe in mir regte. Sie ist dem Himmel ihres
-Glaubens nicht entzogen, sie hat ihn gefunden, und auch ich werde
-meinen Himmel, die Ruhe und Unbeweglichkeit des ewigen Blaus
-<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
-finden, das mich aufnimmt in seiner Unendlichkeit, sein jüngstes
-Kind, wie seine Erstgeborenen, alle in gleicher Seligkeit!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Bald wurden seine Worte undeutlicher, und er bewegte kaum noch
-die Lippen. Und die Juden alle sagten, daß das Wasser in einem
-Sterbezimmer gefährlich und selbst öfter als tödlich erfunden sei bei
-gewaltsamen Todesfällen. Sie trugen ihn in das Haus des Leutnants
-und erzählten, was er ihnen von den Ereignissen berichtet
-hätte. Dieser versicherte ihnen, der Sterbende sei schon lange sehr
-kränklich gewesen, und rief eben den Arzt in das Haus, den der
-Majoratsherr zuerst erblickt hatte, wie der Tod auf seinem Wagen
-gesessen und die beiden Rosse, Hunger und Schmerz, gelenkt habe.
-Dieser zuckte die Achseln, machte Versuche mit Stechen und Brennen
-und einigen heftigen Mitteln; aber er konnte die Ruhe des Unglücklichen
-nicht mehr stören, sondern beschleunigte nur seinen Tod.
-</p>
-
-<p>
-Noch am Abend nahm der Leutnant Besitz von dem Majoratshause
-und schlief seine erste selige Nacht in dem Prachtbette des Hauses.
-Seine glänzende Bedienung, sein Geschmack in der Pracht zeigte
-sich zur allgemeinen Bewunderung bei dem Leichenbegängnisse des
-Majoratsherrn. Er gab mehrere große Mittagessen, und es verging
-keine Woche und jedermann war erstaunt, wie dem Manne
-Unrecht geschehen. Viele rühmten seinen echt praktischen Verstand,
-wie er sich durch alle Not des Lebens durchgearbeitet habe; andre
-erinnerten sich jetzt, wie viele Proben seines Mutes er im Kriege
-gegeben; einige verehrten sogar seine Gedichte und erboten sich, sie
-herauszugeben. Bald trat er nach seinem Dienstalter in die Armee
-ein und reichte als General der alten Hofdame seine Hand, nachdem
-er durch die glückliche Erfindungsgabe jenes Arztes von seiner
-roten Nase kuriert war.
-</p>
-
-<p>
-Dem Hochzeitstage zu Ehren wurde alles Geflügel geschlachtet, das
-er im kleinen Hause so lange verpflegt hatte. Die hohen Herrschaften
-<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
-beehrten ihn selbst mit ihrer Gegenwart, und jedermann rühmte
-die Fröhlichkeit und die Pracht dieses Festes.
-<span class="centerpic"><img src="images/063.jpg" alt="" /></span>
-Um so unruhiger
-war die Nacht. Die Ärzte behaupteten, der Vetter habe sich im Weine
-übernommen; die Leute im Hause aber berichteten, die Hofdame
-habe im zu Bette gehen ein emailliertes Riechfläschchen zerbrochen,
-worin der Geist ihres erstochenen Freundes eingeschlossen gewesen.
-Dieser Geist habe ihr Bett gegen ihn mit dem Degen verteidigt, und
-beide hätten die ganze Nacht gefochten, bis endlich der Herr ermüdet
-sich vor ihm zurückgezogen. Die Hofdame verhöhnte ihn am
-Morgen als einen törichten Geisterseher, und als er ihr im Zorne
-antwortete, drohte sie die Geschichte zu seinem Schimpfe am Hofe
-bekannt zu machen. Zu ihren Füßen flehte er, daß sie schweigen
-möchte, und sie versprach es unter der Bedingung, daß er sie in
-keiner ihrer Launen stören wolle. So mußte er es ruhig dulden,
-daß die Hunde der Frau, als diese die Wappensammlung besehen
-und offen stehen lassen, mit den kostbarsten Wappen spielten und
-sie im Spiel zerbissen. Auch mit der Ordnung seiner Zeit hatte es ein
-Ende, denn die Frau verstellte und verdrehte ihm alle Uhren, wenn
-die Hunde zum Mittagessen früher eine Lust bezeigten. Auch hatte
-er zum Spazierengehen nun so wenig Zeit übrig, seit ihm die Frau
-eine gewisse Anzahl junger Hühnerhunde und Hetzhunde zum Abrichten
-übergeben hatte. Die gute alte Ursula wagte es, zuzureden,
-ihn zum Widerstand aufzumuntern; aber er fürchtete schon bei dem
-bloßen Gedanken, daß sie in der nächsten Nacht den Geist aus dem
-emaillierten Riechfläschchen loslassen möchte, und jagte sie aus seinem
-Dienste; er trug die physische Angst in seinem Herzen, wie ein gebissener
-Hahn, der einmal vor seinem Gegner flüchtig geworden ist.
-</p>
-
-<p>
-Die Frau kannte diese schwache Seite und trieb ihn mit dieser Furcht
-aus allen guten Zimmern des großen Hauses auf ein Bodenzimmer,
-um ihre neuen Kolonien von Hunderassen aller Art in den
-<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
-Prachtzimmern wohl unterzubringen.
-<span class="centerpic"><img src="images/065.jpg" alt="" /></span>
-Ungeachtet seiner Ehrenstellen
-wagte er sich unter solchen beschämenden Umständen nicht in
-die Welt, die sich der Frau wegen der allmählich verbreiteten Geschichte
-ihrer heimlichen Niederkunft und des Kindertausches ohnehin
-verschloß. Um so ungestörter gab sie sich ihrer Liebhaberei zu
-<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
-Tieren aller Art und gestattete niemand den Eintritt in das Innere
-ihres Hauses. Neugierige Leute lauerten wohl abends vor dem
-Fenster, wenn sie durch die Ritzen der Fensterladen die Kronleuchter
-hell brennen sahen, und kletterten auch wohl hinan, um etwas
-von diesem seltsamen Feste zu ersehen. Sie erzählten dann, daß sie
-unzählige Hunde und Katzen an großen wohlbedeckten Tischen
-hätten tafeln sehen, und wie der Herr General hinter dem Stuhle
-des Lieblingshundes mit einem Teller unter dem Arme aufgewartet
-habe, während sie alle mit den artigsten französischen Worten
-zum Essen überredet habe. Sie erzählten, wie sie als einen artigen
-Einfall belacht habe, als ein paar Hunde die schmutzigen Pfoten
-an dem großen Wappen des Majoratsdamastgedeckes abgewischt
-hätten, während der Teller des Eheherrn hinter dem Stuhle des
-Hundes vom Zittern des unterdrückten Zornes an den Uniformknöpfen
-den hellsten Triller geschlagen habe. &bdquo;Wir sind jetzt alle
-bei recht guter Laune&ldquo;, hatte sie da befragt gesagt, &bdquo;lesen Sie uns
-Ihr Gedicht auf den Namenstag meines Kartusch vor!&ldquo; Als der
-Horcher bei diesen Worten laut auflachte, brachte dies dem ganzen
-Feste eine Störung. Die Frau schalt, die Hunde bellten, der General
-schickte seine Leute hinaus. Alle Zuschauer flüchteten, und am anderen
-Tage wurde das Haus mit einem hohen, eisernen Gitter umgeben,
-so daß niemand mehr diesen Heimlichkeiten zusehen konnte.
-</p>
-
-<p>
-Mit diesem Gitter schließen sich auch, zufällig oder historisch, je nachdem
-man es ansehen will, die Nachrichten von den Majoratsherren.
-Die Stadt hatte während des Revolutionskrieges sehr bald
-Gelegenheit, andere Leutnants und Generale zu beobachten. Es
-war eine so unruhige Zeit, daß die alten Leute gar nicht mehr mitkommen
-konnten und deswegen unbemerkt abstarben.
-<span class="centerpic"><img src="images/067.jpg" alt="" /></span>
-So erging
-es wenigstens dem Majoratsherrn, seiner Frau und ihren Hunden
-nach einigen heftigen Auftritten, in denen einer der fremden
-<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
-Offiziere, der eine bessere Hausordnung zu stiften sich berufen glaubte,
-die Hunde auf gewaltsame Weise aus dem Staatszimmer hetzte
-und den alten Majoratsherrn in seine Rechte auf die Hausherrschaft
-<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
-wieder einzusetzen strebte. Bald darauf kam die Stadt unter
-die Herrschaft der Fremden; die Lehnsmajorate wurden aufgehoben,
-die Juden aus der engen Gasse befreit, der Kontinent aber
-wie ein überwiesener Verbrecher eingesperrt. Da gab es viel heimlichen
-Handelsverkehr auf Schleichwegen, und Vasthi soll ihre Zeit so
-wohl benutzt haben, daß sie das ausgestorbene Majoratshaus durch
-Gunst der neuen Regierung zur Anlegung einer Salmiakfabrik für
-eine Kleinigkeit erkaufte, welche durch den Verkauf einiger darin übernommenen
-Bilder völlig wiedererstattet war. So erhielt das Majoratshaus
-eine den Nachbarn zwar unangenehme, aber doch sehr nützliche
-Bestimmung, und es trat der Kredit an die Stelle des Lehnrechtes.
-</p>
-
-<div class="centerpic" id="img-068">
-<img src="images/068.jpg" alt="" /></div>
-
-<p class="printer">
-Achim von Arnim&rsquo;s &bdquo;Die Majoratsherren&ldquo;
-mit den Zeichnungen von Alfred Kubin
-wurde im Auftrage des Avalun-Verlages,
-Wien, neunzehnhundertzweiundzwanzig
-bei Jakob Hegner in Hellerau bei Dresden
-in Jean-Paul-Fraktur auf Bütten gedruckt.
-</p>
-
-
-<div class="trnote">
-<p id="trnote" class="part"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
-
-<p>
-Die folgenden Fehler wurden wie hier aufgeführt korrigiert (vorher/nachher):
-</p>
-
-<ul>
-
-<li>
-... in <span class="underline">ununsern</span> ...<br />
-... in <a href="#corr-0"><span class="underline">unsern</span></a> ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... von <span class="underline">den</span> Grausamen zurück, der sie mit kannibalischer Begierde ansieht. ...<br />
-... von <a href="#corr-2"><span class="underline">dem</span></a> Grausamen zurück, der sie mit kannibalischer Begierde ansieht. ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... beschwichtigt worden sei. <span class="underline">Jederman</span> gebe ihr laut schuld, daß ...<br />
-... beschwichtigt worden sei. <a href="#corr-4"><span class="underline">Jedermann</span></a> gebe ihr laut schuld, daß ...<br />
-</li>
-</ul>
-</div>
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die Majoratsherren, by Achim von Arnim
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE MAJORATSHERREN ***
-
-***** This file should be named 50833-h.htm or 50833-h.zip *****
-This and all associated files of various formats will be found in:
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-
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