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-The Project Gutenberg EBook of Das Paradies, by Francis Jammes
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Das Paradies
- Geschichten und Betrachtungen
-
-Author: Francis Jammes
-
-Translator: Emil Alphons Rheinhardt
-
-Release Date: April 26, 2016 [EBook #51871]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS PARADIES ***
-
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-
-Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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- Das Paradies
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- Geschichten und Betrachtungen
- von
- Francis Jammes
-
- Kurt Wolff Verlag / Leipzig
-
- Bücherei »_Der jüngste Tag_«, Bd. 58/59
-
- Gedruckt bei E. Haberland, Leipzig
-
- Berechtigte Übertragung von E. A. Rheinhardt
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-
- DAS PARADIES
-
-
-Der Dichter sah seine Freunde an, die Anverwandten, den Priester, den
-Arzt und den kleinen Hund, alle, die in seinem Zimmer versammelt waren
--- und starb. Auf ein Stück Papier wurde sein Name geschrieben und sein
-Alter: er war achtzehn Jahre alt.
-
-Da ihn die Freunde und Anverwandten auf die Stirne küßten, fühlten sie,
-daß er kalt geworden war. Er aber empfand ihre Lippen nicht mehr, denn
-er war im Himmel. Und nun fragte er sich auch nicht mehr, wie er es auf
-Erden immer getan hatte, wie denn dieser Himmel eigentlich sei. Da er
-darinnen war, verlangte es ihn nach nichts anderem mehr. Seine Eltern,
-die vielleicht (wer weiß das?) vor ihm gestorben waren, kamen ihm
-entgegen. Sie weinten nicht, und auch er weinte nicht, denn sie hatten,
-alle drei, einander niemals verlassen.
-
-Seine Mutter sagte ihm: »Geh, kühl den Wein ein! Wir werden dann gleich
-in der Laube des Paradiesgartens mit dem lieben Gott zum Mittagessen
-gehn.«
-
-Sein Vater sagte ihm: »Geh dort unten Obst pflücken! Hier gibt es keine
-giftigen Früchte. Und die Bäume reichen dir gern ihre Früchte. Ihre
-Blätter und Zweige leiden nicht unter deinem Pflücken, denn sie sind
-unerschöpflich.«
-
-Der Dichter wurde von Freude erfüllt, da er nun wieder seinen Eltern
-gehorchen konnte. Als er aus dem Obstgarten zurückkam und die Weinkrüge
-in das Wasser gestellt hatte, erblickte er seine alte Hündin, die vor
-ihm gestorben war. Zärtlich schweifwedelnd lief sie herbei und leckte
-ihm die Hände und er streichelte sie. Und mit ihr waren alle Tiere da,
-die ihm auf Erden die liebsten gewesen waren: ein kleiner rothaariger
-Kater, zwei junge graue Kater, zwei schneeweiße Kätzchen, ein Gimpel und
-zwei Goldfische.
-
-Er sah den Tisch gedeckt und an ihm sitzend den lieben Gott, den Vater
-und die Mutter und neben ihnen ein schönes junges Mädchen, das er unten
-auf der Erde liebgehabt hatte, und das ihm in den Himmel gefolgt war,
-obwohl es nicht gestorben war. Und nun erkannte er mit einem Male, daß
-der Paradiesgarten der Garten seines irdischen Vaterhauses sei, in dem
-wie ehdem und immer die Lilien und Granatbäume blühten und der Kohl
-wuchs.
-
-Der liebe Gott hatte seinen Stock und seinen Hut auf den Boden gelegt.
-Er war angetan wie die Armen der großen Landstraßen, die einen Wecken
-Brotes in ihrem Quersacke tragen und die die Obrigkeit an den Eingängen
-der Städte anhalten und ins Gefängnis werfen läßt, weil sie nichts
-haben, was für sie bürgt. Seine Haare und sein Bart waren weiß wie das
-große Licht des Tages und seine Augen tief und dunkel wie die Nacht.
-
-Er sprach -- und seine Stimme war sanft --: »Die Engel sollen kommen und
-uns bedienen, denn es ist ihr Glück, zu dienen.« Da kamen auch schon auf
-allen Wegen des himmlischen Gartens die Heerscharen herangeeilt. Und das
-waren die treuen Dienstboten, die im irdischen Leben den Dichter und
-seine Familie geliebt hatten. Da kam nun der alte Johann, der ertrunken
-war, als er einen kleinen Jungen retten wollte, die alte Marie, die an
-einem Sonnenstiche gestorben war, da war der humpelnde Peter, Johanna
-war da und noch eine andere Johanna. Und der Dichter erhob sich von
-seinem Sitze, um ihnen die Ehre zu erweisen, und er sprach zu ihnen:
-»Setzt euch auf meinen Platz, denn ihr müßt neben Gott sitzen.« Gott
-lächelte, da er ihre Antwort schon wußte, noch ehe sie geredet hatten.
-Sie aber sagten: »Unser Glück ist, zu dienen. Und so sind wir bei Gott.
-Dienst du selber nicht auch deinem Vater und deiner Mutter? Und dienen
-sie wiederum nicht IHM, der uns dient?«
-
-Mit einem Male sah er nun den Tisch anwachsen und neue Gäste sich daran
-niederlassen. Das waren Vater und Mutter seines Vaters und seiner Mutter
-und die Geschlechter alle, die ihnen vorangegangen waren.
-
-Es wurde Abend. Die Ältesten schliefen ein. Der Dichter und seine
-Freundin hatten einander lieb. Und Gott, den sie empfangen hatten, ging
-seiner Wege, gleich jenen Armen der großen Landstraßen, die einen Wecken
-Brotes in ihrem Quersacke tragen und die die Obrigkeit an den Eingängen
-der großen Städte anhalten und ins Gefängnis werfen läßt, weil sie
-nichts haben, das für sie bürgt.
-
-
-
-
- DAS PARADIES DER TIERE
-
-
-Ein armes altes Pferd stand mit seinem Wagen träumend vor der Tür eines
-elenden Wirtshauses, in dem Weiber kreischten und Männer gröhlten. Es
-regnete, Mitternacht war nahe. Das arme dürre Pferd wartete nun hier
-todtraurig mit herabgesunkenem Kopfe und schwachen Beinen, daß ihm das
-Vergnügen der wüsten Menschen da drinnen endlich erlauben möchte, in
-seinen elenden stinkenden Stall zurückzukommen. Schreiende Zoten von
-Männern und Weibern klangen ihm in seinen halben Schlaf. Mit Mühe hatte
-es sich in der langen Zeit daran gewöhnt und verstand nun mit seinem
-armen Hirn, daß der Schrei der Dirnen nichts Bedeutsameres sei als der
-ewig gleiche Lärm des Rades, das sich dreht.
-
-Diese Nacht nun träumte ihm verschwommen von einem kleinen Füllen, das
-es einmal gewesen war, von einer Wiese, auf der es, noch ganz rosig,
-seine Sprünge gemacht hatte, und von seiner Mutter, die ihm zu trinken
-gegeben hatte. Da stürzte das alte Pferd plötzlich tot hin auf das
-schmutzige Pflaster.
-
-Das Pferd kam an das Tor des Himmels. Ein großer Weiser stand davor und
-wartete, daß Sankt Petrus käme und ihm öffne. Er sagte zu dem Pferde:
-»Was willst du denn hier? Du hast kein Recht, in den Himmel zu kommen.
-Ich habe das Recht, denn ich bin von einer Frau geboren worden.« Das
-alte Pferd erwiderte ihm: »Meine Mutter war eine liebe Stute. Sie war
-alt und ausgesogen von den Blutsaugern, als sie starb. Ich komme jetzt,
-um den lieben Gott zu fragen, ob sie hier ist.« Da öffnete das Tor des
-Himmels seine beiden Flügel den Einlaßheischenden und das Paradies der
-Tiere lag vor ihnen. Das alte Pferd erkannte sogleich seine Mutter, und
-auch diese erkannte es, und sie begrüßten einander wiehernd. Da sie nun
-beide auf der großen himmlischen Wiese standen, hatte das Pferd eine
-große Freude, denn es erblickte alle seine Gefährten aus dem einstigen
-Elend wieder und es sah, daß sie für immer glücklich waren. Alle waren
-da: die, die ausgleitend und stolpernd einst auf dem Pflaster der Städte
-Steine geschleppt hatten und lahmgeschlagen vor den Lastwagen
-zusammengebrochen waren. Die waren da, die mit verbundenen Augen zehn
-Stunden im Tage im Karussell die Holzpferde gedreht hatten, und die
-Stuten, die bei den Stierkämpfen an den jungen Mädchen vorbeigerast
-waren, die rosig vor Freude sahen, wie die Leidenskreaturen ihre
-Eingeweide durch den glühenden Sand der Arena schleiften. Und viele,
-viele andere noch waren da. Und alle gingen nun in Ewigkeit über das
-große Gefilde der göttlichen Stille.
-
-Alle Tiere waren glücklich. Zierlich und geheimnisvoll. Selbst dem
-lieben Gott, der ihnen lächelnd zusah, ungehorsam, spielten die Katzen
-mit einem Knäuel Bindfaden, den sie mit leichter Pfote weiterrollten,
-voll des Gefühles geheimer Wichtigkeit, die sie nicht mitteilen wollten.
-Die Hündinnen, die guten Mütter, verbrachten ihre Zeit damit, ihre
-winzigen Jungen zu säugen. Die Fische schwammen ohne Angst vor dem
-Fischer dahin. Der Vogel flog, ohne den Jäger zu fürchten. Und so war
-alles. Und nicht einen Menschen gab es in diesem Paradiese.
-
-
-
-
- DIE GÜTE DES LIEBEN GOTTES
-
-
-Sie war ein hübsches und zartes kleines Geschöpf und arbeitete in einem
-Laden. Sie war nicht sehr klug, wenn man das so sagen will, aber sie
-hatte dunkle Augen voll Sanftheit, die einen ein bißchen traurig
-anschauten und sich dann gleich senkten. Viel Zärtlichkeit war in ihr
-und jene schlichte Alltäglichkeit, die nur die Dichter verstehn können,
-und die einzig das Reinsein von allem Hasse mit sich bringt.
-
-Sie sah so einfach aus wie das bescheidene Zimmer, darin sie mit ihrer
-kleinen Katze, die ihr jemand geschenkt hatte, wohnte. Jeden Morgen,
-bevor sie zu ihrer Arbeit ging, ließ sie ein Näpfchen Milch für die
-Katze zurück. Diese hatte ebenso wie ihre Herrin gute, traurige Augen.
-Sie wärmte sich in der Sonne auf dem Fensterbrette, auf dem ein
-Basiliumstöckchen stand, oder sie leckte sich ihre kleinen Pfoten wie
-einen Pinsel glatt und kraute sich die kurzen Kopfhaare, oder sie hielt
-eine Maus vor sich fest.
-
-Eines Tages waren Katze und Herrin schwanger, die eine von einem schönen
-Herrn, der sie verlassen hatte, die andere von einem schönen Kater, der
-sich nicht mehr sehen ließ. Der Unterschied war nur, daß das arme
-Mädchen krank und kränker wurde und schluchzend seine Zeit hinbrachte,
-während die Katze sich in der Sonne mit allerlei fröhlichen Drehungen
-und Wendungen vergnügte und ihr weißer, spaßhaft aufgetriebener Bauch
-schimmerte. Die Katze hatte ihre Liebeszeit nach der des Mädchens
-gehabt, was die Dinge so gestaltete, daß beide um den gleichen Zeitpunkt
-ihre Niederkunft zu erwarten hatten.
-
-Die kleine Arbeiterin erhielt nun in diesen Tagen einen Brief von dem
-schönen Herrn, der sie verlassen hatte. Er sandte ihr fünfundzwanzig
-Franken und erzählte ihr dazu, wie herrlich großmütig er sei. Sie kaufte
-ein Kohlenbecken, Kohlen, für einen Sou Zündhölzer -- und tötete sich.
-
-Als sie im Himmel ankam, in den einzutreten sie erst ein junger Priester
-hatte hindern wollen, zitterte das hübsche zarte kleine Geschöpf zuerst
-in dem Gedanken, daß sie schwanger sei und Gott sie verdammen könne.
-Aber der liebe Gott sprach zu ihr: »Meine Freundin, ich habe dir ein
-hübsches Zimmer vorbereitet. Geh hin und bring darin dein Kindlein zur
-himmlischen Welt! Hier im Himmel geht alles gut vorüber, und du wirst
-nicht mehr sterben müssen. Ich liebe die Kinder -- lasset sie zu mir
-kommen!«
-
-Als sie das Zimmerchen betrat, das sie im Hause der himmlischen Güte
-erwartete, sah sie, daß ihr der liebe Gott eine Überraschung bereitet
-hatte.
-
-Er hatte ihr in einem schönen Körbchen die Katze, die sie liebte, dahin
-bringen lassen. Und auf dem Fensterbrette stand ein Basiliumstöckchen.
-Sie ging zu Bett. Und sie bekam ein schönes blondes kleines Mädchen und
-die Katze bekam vier schöne schwarze köstliche kleine Kater.
-
-
-
-
- DER WEG DES LEBENS
-
-
-Ein Dichter setzte sich eines Tages an seinen Tisch, um eine Geschichte
-zu schreiben. Aber es wollte ihm kein einziger Einfall kommen. Dennoch
-war ihm fröhlich zumute, denn die Sonne überglänzte den Geraniumstock
-auf seinem Fensterbrette und inmitten des offenen blauen Fensters flog
-surrend eine Fliege auf und nieder. Und da sah er mit einem Male sein
-Leben vor sich. Es war eine weite weiße Straße, die, ausgehend von einem
-dunklen Haine, darin die Wasser murmelten, bis an einen kleinen stillen
-Grabhügel führte, den Dornsträucher, Nesseln und Seifwurz überwucherten.
-In dem dunklen Wäldchen erblickte er den Schutzengel seiner Kindheit.
-Der hatte goldene Flügel wie eine Wespe, blondes Haar und ein Antlitz so
-still wie das Wasser eines Brunnens an einem Sommertage.
-
-Der Schutzengel sprach zu dem Dichter: »Erinnerst du dich der Zeit, da
-du noch klein warst? Du kamst mit deinem Vater und deiner Mutter, die
-hier angeln wollten, hierher. Die Wiese da war heiß, viele Blumen gab es
-und Heuschrecken. Weißt du noch, daß die Heuschrecken aussahen wie
-abgebrochene Halme, die sich bewegten? Mein Freund, willst du den Ort
-wiedersehen?« Der Dichter sagte: »Ja.« Und sie gelangten zusammen an das
-blaue Ufer, darüber blau der Himmel und schwarz die Haselnußsträucher
-hingen. »Sieh deine Kindheit!« sprach der Engel. Der Dichter sah auf das
-Wasser nieder, weinte und sagte: »Ich sehe nicht mehr die sanften
-Gesichter meiner Mutter und meines Vaters sich hier spiegeln. Hier haben
-sie sich immer ans Ufer gesetzt. O, sie waren still, gütig und
-glücklich! Ich trug eine weiße Schürze, die ich immer schmutzig machte
-und die mir die Mutter dann mit dem Taschentuche sauber rieb. Lieber
-Engel, sag mir, wo sind die Spiegelbilder ihrer sanften Gesichter? Ich
-sehe sie nicht mehr, ich sehe sie nicht mehr!« In diesem Augenblicke
-löste sich ein schönes Sträußchen Haselnüsse von einem der Sträucher,
-schwamm und wurde von der Strömung davongetragen. Da sprach der Engel zu
-dem Dichter: »Das Spiegelbild deines Vaters und deiner Mutter ist von
-der Strömung des Wassers davongetragen worden wie dieses Sträußchen
-Früchte. Denn alles geht dahin, die Dinge und die Erscheinungen. Das
-Bildnis deiner Eltern ist im Wasser vergangen, und was davon übrig
-blieb, heißt Erinnerung. Besinne dich und bete, und du wirst die
-geliebten Bilder wiederfinden!« Als in diesem Augenblicke ein azurblauer
-Eisvogel über das Schilf dahinflog, schrie der Dichter auf: »O Engel,
-sehe ich nicht in den blauen Flügeln dieses Vogels die Augen meiner
-Mutter wieder!« Und das himmlische Wesen sagte: »So ist es. Doch sieh
-weiter!« Und aus dem Wipfel eines Baumes, auf dem eine Turteltaube ihr
-Nest gebaut hatte, flatterte eine Feder leicht und weiß, sich drehend,
-zur Erde nieder. Und der Dichter schrie auf: »Ist dieser weiße Flaum
-nicht die reine Sanftheit meiner Mutter?« Und das himmlische Wesen
-sagte: »So ist es!« Ein leichter Hauch kräuselte das Wasser und rauschte
-durch das Laub. Und der Dichter fragte: »Höre ich nicht die milde und
-dunkle Stimme meines Vaters?« Und das himmlische Wesen sagte: »So ist
-es!«
-
-Sie gingen zusammen weiter auf dem Wege, der aus dem Wäldchen kam und
-das Ufer entlang führte. Mit einem Male wurde unter der Sonne die weite
-Straße blendend weiß. Sie war nun wie das Linnen auf dem heiligen
-Abendmahlstische. Und zur Rechten und zur Linken klangen verborgene
-Wasser wie heilige Glocken. Da fragte der Engel: »Kennst du diese Stelle
-deines Lebens?« »Hier ist«, sagte der Dichter, »der Tag meiner ersten
-Kommunion. Ich denke an die Kirche, an die glücklichen Gesichter meiner
-Mutter und meiner Großmutter. O, ich war traurig und glücklich zugleich.
-Wie glühend habe ich mich hingekniet! Schauer liefen mir über die Haut
-des Kopfes. Abends beim Familienmahle küßten sie mich und sagten: Du
-warst der Schönste!« In dieser Erinnerung verging der Dichter
-aufschluchzend. Und also weinend war er schön wie am Tage der heiligen
-Feier, und seine Tränen fielen auf seine Hände wie Weihwasser. Und sie
-gingen zusammen die Straße weiter.
-
-Der Tag neigte sich schon. Die hohen Pappeln am Straßenrande bogen sich
-sacht. Eine von ihnen, die ferne inmitten einer Wiese stand, glich einem
-großen jungen Mädchen. Und der Himmel war nun so wunderbar in Blässe und
-Blau getönt, daß er aussah wie die Schläfe einer Jungfrau. Der Dichter
-gedachte der ersten Frau, die er geliebt hatte. Und der Schutzengel
-sprach zu ihm: »Diese Liebe war so rein und so voll der Schmerzen, daß
-sie mich nicht betrübt.« Indes sie nun weiterschritten, wuchs sanfter
-Schatten um sie und eine Herde Lämmer zog an ihnen vorbei. Da das
-himmlische Wesen das Leiden des Dichters sah, hatte es ein Lächeln auf
-seinem Antlitze, schwer und süß wie das Lächeln einer kranken Mutter.
-Und seine goldenen Flügel verwehten den schauernden Hauch von Abend.
-
-Bald entzündeten sich die Sterne hoch oben im Schweigen. Da glich der
-Himmel dem Totenbette eines Vaters, umgeben von Kerzen und stummer
-Klage. Und die Nacht war wie eine große Witwe, die auf der Erde kniet.
-»Erkennst du das?« fragte der Engel. Der Dichter redete nicht und kniete
-nieder.
-
-Endlich gelangten sie dahin, wo die Straße bei dem kleinen Grabhügel,
-den Dornsträucher, Nesseln und Seifwurz überwucherten, zu Ende ging. Und
-der Engel sprach zu dem Dichter: »Ich wollte dir deinen Weg zeigen: hier
-ist der Ort, an dem du ruhen wirst, hier, nicht ferne den Wassern. Sie
-werden dir Tag um Tag das Bild deiner Erinnerungen bringen, das azurne
-Blau des Eisvogels, das den Augen deiner Mutter gleicht, den weißen
-Flaum der Turteltaube, der sanft ist wie sie, das Rauschen des Laubes,
-das wie die milde und dunkle Stimme deines Vaters ist, das Leuchten der
-Straße, weiß wie deine erste Kommunion, und die pappelschlanke Gestalt
-der ersten Frau, die du geliebt hast. Und endlich werden dir die Wasser
-die große leuchtende Nacht bringen.«
-
-
-
-
- DIE KLEINE NEGERIN
-
-
-Manchmal haftet mein Gedanke an dem Vergilben der alten Seekarten und
-ich höre das Brausen der Monsune im Fieber meines Hirns. Aber wie? Muß
-ich denn, um für dieses Leben etwas übrig zu haben, auch jenes
-heraufholen, das ich vielleicht vor meiner Geburt zwischen zweien
-schwarzen Sonnen geführt habe? Die ungewisse Landschaft rollte Sterne
-dahin in das zerrissene Stöhnen eines Ozeans ...
-
-Jemand kratzte an meiner Tür. Ich rief: »Herein!« Es war eine junge
-Negerin in einem blauen Überwurfe, der bis zur Hälfte der Schenkel
-reichte. Sie setzte sich auf den Boden und streckte ihre gefalteten
-Hände gegen mich; und ich sah, daß auf ihren nackten Armen
-Peitschenstriemen waren. »Wer hat dir das getan?« fragte ich sie. Sie
-antwortete nicht und zitterte an allen Gliedern. Sie verstand mich nicht
-und fragte sich vielleicht, ob auch ich sie mißhandeln wolle.
-
-Ganz sachte schob ich ihr Kleid zur Seite und sah, daß auch ihr Rücken
-wund war. Ich wusch sie. Aber sie flüchtete, entsetzt von dieser Güte,
-unter den Tisch meiner Hütte. Ich hatte Tränen in den Augen. Ich
-versuchte, sie zu rufen. Aber ihre Blicke, wie die einer geschlagenen
-Hündin, flohen mich. Ich hatte da ein paar Kartoffeln und ein wenig
-Butter. Ich zerdrückte sie mit einem Holzlöffel in einem Napfe, machte
-eine Brühe davon und stellte sie in einiger Entfernung von der
-Hingekauerten auf den Boden hin. Dann zündete ich meine Pfeife an. Aber
-wie groß war mein Erstaunen, als sie plötzlich auf allen Vieren zu einer
-Ecke der Stube kroch, wo ich ein paar Blumen liegen gelassen hatte. Sie
-richtete sich jäh auf und griff mit einer lebhaften Bewegung danach.
-
-Seit jenem Abenteuer mochten etwa hundertfünfzig Jahre vergangen sein,
-als ich ihr von neuem begegnete. Ich wenigstens war davon überzeugt, daß
-sie es war. Es war im peruanischen Speisehause in Bordeaux. Sie wischte
-hier an dem Glase eines mürrischen Studenten, der gefunden hatte, es sei
-nicht sauber genug.
-
-
-
-
- RONSARD
-
-
-Meine Mutter hat ein altes Glas bekommen, ein Glas, wie das gewesen sein
-muß, aus dem Ronsard dem Jean Brinon einen Trunk geboten hat. Wie mag
-Ronsard gewesen sein? Sicherlich hat er ein Gewand aus Hermelin
-getragen. Und während die großen Regen der alten Zeiten die
-Haselnußsträucher am Loir peitschten, saß er mit einem dicken alten
-Folianten in der Kaminecke seines Schlosses. Es muß ein
-Sonntagnachmittag um drei Uhr gewesen sein. Ein Frosch quakte in seiner
-Lache, in die die Lanzen des Regens splitterndes Licht spritzten. Marie
-oder Genoveva oder eine andere betrat das Gemach und setzte sich zu ihm.
-Und er legte, ohne das Buch zu schließen, sanft seine freie Hand auf das
-Knie der Geliebten. Und er lächelte. Er dachte an Odysseus, der über die
-grauen Meere irrt, an Helena, an das Urteil des Paris, an Troja und an
-die Bogenschützen, die nackt und helmtragend an der Mauerbrüstung knien
-und den Bogen auf antikische Art spannen.
-
-Wenn die Wasser der Pyrenäenbäche meinen Namen in die Nachwelt tragen
-wie die Wasser der Vendôme den des Ronsard, wenn je ein Jüngling, dem
-das Herz schwer und beklommen ist vom Dufte der Nelken, die ein
-Schulmädel an der Brust trägt, sich fragen sollte, wie ich gewesen sein
-mag, möge er sich antworten: »An diesem regengrauen Allerheiligentage
-hatte Francis Jammes sein Herz gar nicht schwer und beklommen vom Dufte
-der Nelken, die ein Schulmädchen an der Brust trägt. (Übrigens gibt es
-ja im Herbste keine Nelken!) Er rauchte vielmehr seine Pfeife und
-pflanzte Sauerklee in einen Blumentopf, um den Schlaf der Pflanzen zu
-studieren.« An der einen Wand seines Zimmers hing ein Epinaler
-Bilderbogen, der das »einzige wahrhaftige Bild des ewigen Juden«
-darstellte. Er zeigte den ewigen Juden mit einem wunderlichen Hute,
-einem Mantel, in blauen Pantoffeln, und einem roten Gewande, wie ihm
-gerade Brabanter Bürger einen Krug schäumenden Bieres reichen. Das
-Wirtshaus darauf ist wirklich poetisch; Reben ranken daran empor und
-große Rosen beugen sich zum Erdboden nieder -- -- wie die Armen, die
-Bettellieder singen und sich zur Erde beugen. Und das alles ist im
-Lichte des Abendrotes gegen Ende des friedlichen Sommers dargestellt.
-
-An diesem Tage nun warf Francis Jammes einen kurzen Blick auf seinen
-Ruhm. Dieser ganze Ruhm lag auf seinem Tische und bestand in dem
-Umschlag eines Briefes, den ihm ein Mönch aus Deutschland geschrieben
-hatte, aus dem Briefe eines ihm unbekannten Holländers, der Walch hieß,
-und dem Briefe eines jungen Mädchens. Francis Jammes lächelte. Dann
-klopfte er an seinem Finger die Asche aus der Pfeife -- -- -- und war
-entschlossen, den Toten Ehre zu erweisen.
-
-
-
-
- ROBINSON CRUSOE
-
-
-Ich setze diese Verse hierher; sie sind aus einem Gedichte, das ich in
-Holland geschrieben habe:
-
- Robinson Crusoe hat (so glaub ich), da er heimfuhr
- Von seinem grünen schattigen Eiland, das
- Voll frischer Kokosnüsse war, auch Amsterdam berührt.
- Wie hat es ihn gepackt, als er die ungeheuren
- Tore mit ihren wuchtigen Klopfern schimmern sah!
- Stand er voll Neugier hier vor den Gewölben,
- In denen Schreiber über Rechnungsbüchern saßen?
- Mußte er weinen, da sein lieber Papagei
- Ihm einfiel und der plumpe Sonnenschirm,
- Der Schutz war auf dem milden traurigen Eiland?
-
- »Gepriesen seist du, ewiger Gott!« so rief er,
- Als er die tulpenübermalten Truhen sah.
- Allein sein Herz, betrübt in Heimkehrfreude,
- Sehnte sich nach dem Lama, das allein im Weinberg
- Des Eilandes zurückgeblieben, das vielleicht gestorben war.
-
-Was aus den Worten und Bildern dieses Buches seit der Kindheit am
-lebendigsten vor mir steht, das ist nicht die Schönheit der Weinreben,
-die so tiefen Schatten gaben, noch ist es der Fisch, den er mit einer
-Schnur und einem Haken daran gefangen hat, nicht die einsame Kokospalme
-in der blauen Glut des Morgens ist es, noch auch sind es die rosigen und
-purpurnen Flecken der Meeresküste bei Ebbe, voll des Seegetiers, nicht
-das gebratene Zicklein, das er mit Salz aus einer Felsmulde gesalzen
-hat, ist es, was mich so ganz ergriffen hat; auch die Eier der
-schläfrigen Schildkröten sind es nicht. Noch ist es die Fieberkrankheit,
-die der Trunk Wassers, darein er Rum getan hatte, allmählich gelindert
-hat, weder der Papagei ist es, noch die Freundschaft mit dem Hund und
-der Katze, nicht der verzweifelte Glanz der Sonne, die er auf den Kompaß
-gemalt hatte, und nicht die Quelle süßen Wassers ist es, es sind auch
-nicht die Speisen, die er sich so kunstlos bereitet hat (obwohl ich mich
-gerade ihrer vielleicht am häufigsten erinnert habe!), all das hat mich
-nicht so erschüttert wie Robinson Crusoes Alter.
-
-Immer wieder muß ich an die Zeit seines Lebens denken, da er wieder in
-der Menge verschwunden war und dann, zweiundsiebzig Jahre alt geworden,
-einsamer ist, als er es je zuvor war. In einem Gewande aus
-blumendurchwirktem Sammet saß er in seinem düsteren kleinen Gemache in
-London, das eine unendliche Güte gleich dem matten Licht in Sturmwettern
-erfüllte, und wußte nichts mehr zu erwarten als den Frieden des Todes.
-
-Ich grüße dich, mein Bruder Crusoe! Auch mich haben die Orkane des
-Lebens auf eine wüste Insel geworfen; und nun, wohin immer ich schaue,
-gewahre ich nichts mehr als das betäubende und eintönige Wasser.
-Zuweilen trägt es mir treibende Trümmer zu, die ich dann einen
-Augenblick lang schweigend betrachte. Bald aber ergreift mich mein
-Träumen wieder, das nun seinen Frieden gemacht hat mit dem großen
-Dröhnen des unendlichen Meeres, und manchmal schon findet sich ein
-Lächeln in mein Gesicht. Wie der Zyklon still wird!
-
-O mögen in meinem Alter Gottes Palmen mein Herz wie die friedliche
-Weinlaube deines Eilandes überschatten!
-
-
-
-
- DAS GRABMAL DES DICHTERS
-
-
-Wenn ich an meiner Dichtung mit derselben Sorgfalt gearbeitet habe wie
-ein ordentlicher Schuster an seinem Stücke Leder, dann betrachte ich den
-schönen Baum im Garten des Hauses, in dem Alfred de Vigny gewohnt hat,
-als er in Orthez Soldat war. Der Handlungsreisende, der seinen
-Musterkoffer in die Apotheke oder den Buchladen trägt, weiß so wenig,
-daß hier der Dichter Alfred de Vigny gewohnt hat, wie das Rind, das zur
-Weide trottet, oder der Distelfink, der an seinen Futterhalmen pickt.
-
-Diese Unwissenheit der Städte in allem, was ihre großen Männer angeht,
-hat ihren guten Grund. Sie bewahren von ihnen nur das in ihrer
-Erinnerung, was im Einklange mit ihrem eigenen Wesen stand. Wenn nur
-Cervantes, der groß ist wie Homer, einmal wiederkehren wollte in die
-Francosgasse zu Madrid, in der er gestorben ist, und den Schatten seiner
-dereinstigen Hauswirtin fragte: »Habt Ihr einen Dichter des Namens
-Miguel Cervantes de Saavedra gekannt, der den Don Quichote geschrieben
-hat?« Er bekäme zweifellos zur Antwort: »Wenn Ihr einen Einarmigen
-meint, den hab' ich gekannt, aber einen Dichter nicht.«
-
-Fordert nicht Gott selber durch diese Unwissenheit, daß man die Toten
-ruhen lasse in Frieden und ihnen nicht allerorten marmorne Denksteine
-errichte? Stolzer ist kein Denkmal der Toten als das, das sich
-tagtäglich rings um uns erhebt. Ein jeder Pfirsichbaum, der in der Blüte
-steht oder die Last seiner Früchte trägt, ist Denkmal eines Dichters so
-wie jeder Sperling und jede Ameise. Daß im Garten des Dichters des Eloah
-der Tulpenbaum golden aufglänzt, daß dort bei den Akazien, wo der
-Brunnen fließt, die Ziegen den Schatten der Mauer entlang gehen, ist das
-rechte Grabmal.
-
-Ich weiß bestimmt, daß die, die (wie Valéry Larbaud, André Gide und
-Guillaumin) sich um das Andenken eines Dichters wie Charles Louis
-Philippe mühen, nur den edelsten Gefühlen gehorchen. Aber sie sollten
-doch nicht die Büste, die Bourdelle dem Dichter gemeißelt hat, dem
-Denkmale gegenüberstehen lassen, das Gott selbst ihm in Cérilly
-errichtet hat: der Werkstattbude (die wie der Himmel nur eine Türe hat),
-darin ein Handwerker Holzschuhe macht. Ich weiß wohl, daß das Erz
-widerstandskräftig ist, wie die zähe Unbeirrbarkeit des Dichters, dessen
-Beruf es ist (in diesem Sinne gleicht er dem des Fliegers),
-niederzustürzen aus höchster Höhe und sich, wenn er den Sturz überlebt,
-noch höher zu erheben. Aber das Erz, das unser Gedenken weiterleben
-sieht, wird von der Zeit versehrt. Dreihundert Jahre werden hingehn;
-diese Bergketten werden nicht mehr sein und für ihr einstiges Dasein
-wird nur mehr die menschliche Logik Zeugnis ablegen, denn sie werden
-abgetragen und in die Winde verweht sein -- und wie sie wird auch die
-Büste aus Erz dem Erdboden gleich geworden sein. Dableiben aber wird der
-Geruch des Buchen- oder Nußholzes, eine alte Frau wird da sein, eine
-kleine Katze, die sich in der Sonne wärmt, eine abgetretene Türschwelle
-und der Azur des Himmels, und all das Bleibende wird Zeugnis ablegen für
-Charles Louis Philippe wie dieser Tulpenbaum hier für Alfred de Vigny.
-Und der Wanderer künftiger Jahrhunderte, der die feierlichen Rhythmen
-des Einen oder das schlichte Wort des Anderen im Herzen trägt, wird,
-wenn sein Weg Orthez oder Cérilly berührt, auch nicht einmal mehr daran
-denken, daß es je eine Büste des Einen oder Anderen habe geben können.
-Aber mit einem Male werden die beiden Dichter ihm erscheinen: Vigny in
-einem goldenen Baume, wie ein Römer im Sturme sprechend, Philippe in
-einer kleinen Werkstatt, die nach Suppe riecht, und deren Tür kreischt,
-wenn sie sich öffnet.
-
-
-
-
- VON DER BARMHERZIGKEIT GEGEN DIE TIERE
-
-
-Tief im Blicke der Tiere leuchtet ein Licht sanfter Traurigkeit, das
-mich mit solcher Liebe erfüllt, daß mein Herz sich als ein Hospiz auftut
-allem Leiden der Kreatur.
-
-Das elende Pferd, das im Nachtregen mit bis zur Erde herabgesunkenem
-Kopfe vor einem Kaffeehause schläft, der Todeskampf der von einem Wagen
-zerfleischten Katze, der verwundete Sperling, der in einem Mauerloche
-Zuflucht sucht -- all diese Leidenden haben für immer in meinem Herzen
-ihre Stätte. Verböte das nicht die Achtung für den Menschen, ich kniete
-nieder vor solcher Geduld in all den Qualen, denn eine Erscheinung zeigt
-mir, daß ein Glorienschein über dem Haupte einer jeden dieser
-Leidenskreaturen schwebt, ein wirklicher Glorienschein, groß wie das
-All, den Gott über sie ausgegossen hat.
-
-Gestern sah ich auf dem Jahrmarkte zu, wie die hölzernen Tiere im
-Karussell sich drehten. Unter ihnen gab es auch einen Esel. Als ich ihn
-erblickte, habe ich weinen müssen, weil er mich an seine lebendigen
-Brüder, die gemartert werden, erinnerte. Und ich mußte beten: »Kleiner
-Esel, du bist mein Bruder! Sie nennen dich dumm, weil du nicht imstande
-bist, Böses zu tun. Du gehst mit so kleinen Schritten, und du siehst
-aus, als ob du im Gehen dächtest: »Schaut mich doch an, ich kann ja
-nicht schneller gehen ... Meine Dienste brauchen die Armen, weil sie mir
-nicht viel zu essen geben müssen.« Mit dem Dornstocke wirst du
-geschlagen, kleiner Esel! Du beeilst dich ein bißchen, aber nicht viel,
-du kannst ja nicht schneller .. Und manchmal stürzest du hin. Dann
-schlagen sie auf dich los und zerren so fest an dem Leitseile, daß deine
-Lefzen sich aufheben und deine armseligen gelben Zähne zeigen.«
-
-Auf demselben Jahrmarkte hörte ich einen schreienden Dudelsack. Mein
-Freund fragte mich: »Erinnert er dich nicht an afrikanische Musik?«
-»Ja,« antwortete ich ihm, »in Tuggurt näseln die Dudelsäcke so. Das muß
-ein Araber sein, der hier bläst.« »Gehen wir doch hinein in die Bude,«
-sagte mein Freund, »es sind Dromedare zu sehen.«
-
-Zusammengepreßt wie Sardinen in der Schachtel drehten sich hier ein
-Dutzend kleiner Kamele in einer Art Grube. Sie, die ich wie Wellen
-dahinziehen gesehen habe inmitten der Sahara, da es um sie nichts
-anderes gab als Gott und den Tod, mußte ich nun hier finden, o Elend
-meines Herzens! Sie drehten sich, drehten sich immerzu in dem würgenden
-Raume, und der Jammer, der von ihnen ausging, war wie ein Erbrechen über
-die Menschen. Sie gingen, gingen immerzu, stolz wie arme Schwäne und in
-einer Glorie der Verzweiflung, mit grotesken Negerlappen bedeckt,
-verhöhnt von den Weibern, die hier tanzten, und hoben ihren armen
-Wurmhals empor, Gott und den wunderbaren Blättern einer Oase des
-Wahnsinns entgegen.
-
-O Erniedrigung der Geschöpfe Gottes! In der Nähe der Kamele gab es
-Kaninchen in Käfigen, daneben, als Lotteriegewinste zur Schau gestellt,
-schwammen Goldfische in Glasballons mit so engem Halse, daß mein Freund
-mich fragte: »Wie hat man sie nur da hineinbringen können?« »Indem man
-sie ein bißchen zusammengedrückt hat,« antwortete ich ihm. Anderswo
-wieder wurden lebende Hühner, gleichfalls Lotteriegewinste, vom Kreisen
-einer Drehscheibe mitgeschleppt. In ihrer Mitte lag, von grauenhafter
-Angst gepackt, ein kleines Milchschweinchen auf dem Bauche. Schwindel
-befiel die Hühner und Hähne, sie schrien und hackten in ihrem Wahnsinn
-aufeinander los. Nun machte mich mein Begleiter darauf aufmerksam, daß
-tote und gerupfte Hühner inmitten ihrer lebendigen Schwestern aufgehängt
-waren.
-
-Mein Herz wallt heiß auf in diesen Erinnerungen und unendliches Mitleid
-ergreift mich.
-
-O Dichter, nimm die gequälten Tiere in dein Herz auf, laß sie darin
-wieder erwarmen und leben in ewigem Glücke! Geh hin und künde das
-schlichte Wort, das die Unwissenden die Güte lehrt!
-
-
-
-
- BETRACHTUNG ÜBER DIE DINGE
-
-
-Ich trete in ein großes Viereck sich bewegenden Schattens ein. Ein Mann
-sitzt hier und klopft beim Licht einer bunten Kerze Nägel in eine
-Schuhsohle. Zwei Kinder strecken die Hände gegen den Herd aus. Eine
-Amsel schläft in dem Rohrkäfige. Das Wasser brodelt im irdenen
-rauchschwarzen Topfe, aus dem ein Geruch von ranziger Suppe steigt und
-sich mit dem nach Gerberlohe und Leder mengt. Ein Hund sitzt vor dem
-Herde und starrt in die Glut.
-
-Diese Wesen und Dinge tragen in all ihrer Armseligkeit eine solche
-Sanftmut in sich, daß ich mich gar nicht frage, ob ihr Dasein einen
-anderen Sinn habe als eben diese Sanftmut, noch, ob ich mir ihre
-Dürftigkeit mit irgendeiner Schönheit schmücken solle.
-
-Hier wacht der Gott der Armen, der schlichte Gott, an den ich glaube.
-Er, der aus einem Körnlein eine Ähre werden läßt, der das Wasser vom
-Lande scheidet, das Land von der Luft, die Luft vom Feuer und das Feuer
-von der Nacht; der die Leiber beseelt, der das Laub macht, Blatt um
-Blatt, wie wir es nie werden machen können, worein wir aber unser
-Vertrauen setzen wie in die Arbeit eines vorzüglichen Arbeiters.
-
-Ohne Sehnsucht nach Menschenwissen denke ich nach; und so kann es
-geschehen, daß Gott sich mir offenbart. In der Hütte des Schuhflickers
-öffnen sich mir die Augen so einfach wie dem Hunde, der da sitzt. Und
-nun sehe ich, sehe in Wahrheit, was wenige sehen werden: das Bewußtsein
-der Dinge, zum Beispiel die Opferwilligkeit dieses rauchenden Lichtes,
-ohne das der Hammer des Arbeiters kein Brot schaffen könnte.
-
-Fast während all unserer Zeit nahen wir uns leichtfertig den Dingen, die
-doch gleich uns leiden und glücklich sind. Wenn ich eine kranke Ähre
-unter den gesunden erblicke, wenn ich die fahlen Flecken an ihren
-Körnern gesehen habe, dann schaue ich sehr klar den Schmerz dieses
-Dinges. Und in mir selber fühle ich das Leiden der Pflanzenzellen
-wieder. Ich verstehe, wie schwer sie es haben, auf dem Flecke, der ihnen
-zugewiesen ist, zu wachsen, ohne einander zu erdrücken, und mich erfaßt
-heiß der Wunsch, mein Taschentuch zu zerreißen und daraus einen Verband
-für die kranke Ähre zu machen. Dann denke ich freilich, daß das kein
-rechtes Heilmittel für eine bloße Kornähre sei, und daß eine solche
-Behandlung in den Augen der Menschen, denen ich schon sonderbar genug
-vorkomme mit meinen Fürsorgen für einen Vogel oder eine Grille, eine
-arge Narretei sein müßte. Doch von dem Leiden dieser Körner habe ich
-Gewißheit, denn ich fühle es mit.
-
-Eine schöne Rose wiederum flößt mir ihre Lebensfreude ein. Ich fühle,
-wie glücklich sie an ihrem Stiele ist. Wenn jemand einfach die Worte:
-»Es ist schade, sie zu brechen!« ausspricht, bekennt er damit, daß er
-das Glück der Blume mitempfindet, und daß er es ihr bewahren will.
-
-Ich erinnere mich noch ganz genau, wie sich mir zum ersten Male das
-Leiden eines Dinges geoffenbart hat. Ich war drei Jahre alt. In meinem
-Heimatsdorfe fiel ein kleiner Junge beim Spielen auf einen Glasscherben
-und starb an seiner Wunde. Wenige Tage später kam ich in das Haus, in
-dem das Kind gewohnt hatte. Seine Mutter weinte in der Küche. Auf dem
-Kamine lag ein armseliges kleines Spielzeug. Ich sehe deutlich vor mir,
-daß es ein kleines Pferd aus Zinn oder Blei, vor ein Blechfäßchen auf
-Rädern gespannt, war. Die Mutter sagte mir: »Dieser Wagen hat meinem
-armen kleinen Louis gehört, der tot ist. Soll ich dir ihn schenken?« Da
-ging eine Flut von Zärtlichkeit über mein Herz. Ich fühlte, daß dieses
-Ding seinen Freund, seinen Herrn nicht mehr hatte, und daß es daran
-litt. Ich nahm das Spielzeug und empfand solches Mitleid mit ihm, daß
-ich schluchzte, während ich es nach Hause trug. Ich weiß es noch ganz
-bestimmt, daß ich weder ein Gefühl für den Tod des kleinen Jungen noch
-für die Verzweiflung der Mutter hatte, wozu ich wohl noch zu jung war.
-Ich hatte nur Mitleid mit dem bleiernen Tiere, das mir dort auf dem
-Kamin ganz verzweifelt erschien und für immer ausgeschlossen aus dem
-Leben, da es den verloren hatte, den es liebte. Ich erinnere mich an all
-das, als ob es gestern geschehen wäre, und kann als sicher behaupten,
-daß der Wunsch, das Spielzeug zu besitzen, um mich damit zu vergnügen,
-mir gar nicht gekommen ist. Das ist gewiß wahr, denn ich habe, als ich
-weinend heimkam, das Pferd mit dem kleinen Fasse meiner Mutter gegeben,
-die übrigens das Ganze vergessen hat.
-
-Die Gewißheit von der Beseeltheit der Dinge lebt in den Kindern, den
-Tieren und den schlichten Herzen. Ich habe erlebt, daß Kinder ein rohes
-Stück Holz oder einen Stein so sehr mit allen Eigenschaften lebender
-Wesen begabt glaubten, daß sie ihnen eine Handvoll Gras brachten, und
-dann, nachdem ich das Gras heimlich weggenommen hatte, nicht daran
-zweifelten, daß das Holz oder der Stein das Gras aufgegessen hätten. Die
-Tiere machen keinen Unterschied in dem, was ihnen geschieht. Ich habe
-Katzen gesehen, die lange Zeit hindurch etwas, das ihnen zu heiß gewesen
-war, zerkratzten. Das spricht dafür, daß die Tiere eine Vorstellung vom
-Kampf gegen die Dinge haben und für sie die Möglichkeit sehen,
-nachzugeben -- und vielleicht auch zu sterben.
-
-Ich meine, daß nur die Erziehung durch eine falsche Eitelkeit es mit
-sich bringt, daß der Mensch sich solch eines Glaubens beraubt.
-
-Für mich unterscheidet sich die Handlung des Kindes, das einem Stück
-Holze zu essen gibt, gar nicht von gewissen Opferbräuchen der
-Urreligionen. Und schließlich bedeutet der Glaube, daß Bäume, die an dem
-Tage, an dem Kinder geboren wurden, gepflanzt worden sind, siechen und
-vertrocknen, wenn die Kinder kränkeln und sterben, nichts anderes, als
-daß man Bäumen ein tieferes Verbundensein mit uns als mit dem Leben
-zuschreibt.
-
-Ich habe leidende Dinge gekannt, und ich weiß von solchen, die an ihrem
-Leiden gestorben sind. Das traurige Kleiderwerk, das von unseren
-Abgeschiedenen zurückbleibt, verfällt rasch. Oftmals hat es die
-Krankheiten, an denen die litten, die es getragen haben; denn es hat
-seine Sympathien. Oft habe ich Gegenstände in ihrem Zugrundegehen
-betrachtet. Ihre Auflösung gleicht völlig der unseren. Auch sie haben
-ihren Knochenfraß, ihre Geschwülste und ihre Wahnsinne. Ein
-wurmzerfressenes Möbelstück, ein Gewehr mit gebrochenem Verschlusse,
-eine Lade, die sich wirft, eine Geige, die ihre Stimme verloren hat,
-sehe ich an Krankheiten leiden, vor denen ich erschüttert stehe.
-
-Warum sollen wir glauben, daß nur wir Dinge lieb haben können und den
-Dingen die Liebe zu uns absprechen? Wer bürgt denn dafür, daß die Dinge
-der Liebe nicht fähig sind, wer zeugt dafür, daß sie kein Bewußtsein
-haben?
-
-Hatte der Bildhauer nicht recht, der sich mit einem Klumpen Ton in den
-Händen begraben ließ, von jenem Ton, der seinen Träumen so gehorsam
-gewesen war. Dieser Ton hatte ihm doch immer die Aufopferung eines guten
-Dieners, wie wir sie am meisten bewundern, bewiesen: sich schweigend
-darzubringen, ohne etwas dafür zu erwarten, hingegeben gläubig. Voll
-Glanz und Erhabenheit ist ein solches Bild, das dem Menschen also dient,
-wie der Mensch Gott dient. Jener Künstler wußte nicht mehr als sein Ton
-davon, welchem Geheiße er untertan war. Von dem Augenblicke an, da sie
-beide die gleiche Erleuchtung empfangen hatten, glaube ich auf gleiche
-Weise an ihr Bewußtsein und liebe sie beide mit derselben Liebe.
-
-Unendlich ist die Traurigkeit in den Dingen, die keinem Gebrauche mehr
-dienen. Auf dem Dachboden dieses Hauses, dessen Bewohner ich nicht
-gekannt habe, liegt das Kleid eines kleinen Mädchens und eine Puppe, der
-Verzweiflung verfallen. Vor der jahrealten Einsamkeit der Dinge hier
-fühle ich die Gewißheit, daß der eisenbeschlagene Stock dort, der einst
-fest in die Erde der grünen Hügel gebissen hat, ebenso glücklich wäre,
-wenn er noch einmal die kühle Frische von Moos empfinden dürfte wie der
-Sommerhut, der nun trüb erleuchtet vom armen Lichte einer Dachluke
-daliegt, wenn er noch einmal einen Sommerhimmel sehen dürfte.
-
-Die Dinge aber, die wir liebevoll bewahren, erhalten uns ihre
-Dankbarkeit und sind immer bereit, uns ihre Seele darzubringen, auf daß
-sie sich an uns verjünge. Sie sind wie die Rosen in sandigem Grunde, die
-unendlich erblühen, wenn nur ein wenig Wasser sie der Azure ihrer
-verlorenen Brunnen gemahnt.
-
-In meinem bescheidenen Wohnzimmer habe ich einen Kindersessel stehen.
-Auf ihm saß mein Vater und spielte, als er in seinem siebenten Jahre die
-Überfahrt von Guadeloupe nach Frankreich machte. Er erinnerte sich noch
-gut daran, wie er auf ihm im Schiffssalon saß und die Bilder ansah, die
-ihm der Kapitän geliehen hatte. Das Holz von jenen Inseln muß sehr fest
-sein, denn es hat den Spielen eines kleinen Jungen standgehalten. Dieses
-kleine Möbelstück, das in meinem Wohnzimmer einen Hafen gefunden hat,
-schlief hier lange fast vergessen. In langen Jahren hat es seine Seele
-nicht geoffenbart, denn das Kind, dem es gedient hatte, gab es nun nicht
-mehr, und andere Kinder kamen nicht, um sich wie Vögel daraufzusetzen.
-Doch neuerdings ist das Haus fröhlich geworden; meine kleine Nichte ist
-da, die eben sieben Jahre alt wurde. Sie hat sich auf meinem
-Arbeitstische eines alten botanischen Atlas bemächtigt. Und da ich in
-das Wohnzimmer komme, finde ich sie im Lampenlichte auf dem kleinen
-Sessel sitzen und, wie dereinst ihr seliger Großvater, die schönen
-sanften Bilder anschauen. Da sagte ich mir, daß einzig dieses kleine
-Mädchen den Sessel habe neu beleben können, und daß seine dienensfrohe
-Seele sachte das arglose Kind dazu gelockt habe. Zwischen dem Kinde und
-dem Dinge war ein geheimnisvolles Spiel von Anziehungskräften am Werke:
-das Mädchen hätte es nicht vermocht, nicht zu dem Sessel zu gehen, der
-einzig dadurch hatte wieder zu Leben kommen können.
-
-Die Dinge sind sanft. Aus eigenem Antriebe tun sie niemals Böses. Sie
-sind die Geschwister der Geister. Sie nehmen uns in sich auf, und wir
-bringen ihnen unsere Gedanken, die Sehnsucht nach ihnen haben wie die
-Düfte nach den Blumen, zu denen sie gehören.
-
-Der Gefangene, den keine Menschenseele trösten kommt, muß seine
-Zärtlichkeit zu seiner Pritsche und zu seinem irdenen Kruge tragen. Da
-ihm von seinesgleichen alles versagt wird, schenkt ihm sein armes Lager
-den Schlaf und stillt ihm sein Krug den Durst. Und selbst die nackten
-Mauern, die ihn doch von der ganzen Welt trennen, werden ihm lieb, weil
-sie zwischen ihm und seinen Peinigern stehen.
-
-Das gezüchtigte Kind liebt den Polster, auf dem es weint. Da an einem
-solchen Abende alles ihm gegrollt und wehgetan hat, tröstet es die
-schweigende Seele des Federkissens wie ein Freund, der mit seinem
-Schweigen dem Freunde Ruhe schenken möchte.
-
-Doch nicht allein ihr Stummsein ist es, das uns ihre Zuneigung empfinden
-läßt. Sie klingen in so verschwiegenen Akkorden, mögen sie nun in dem
-Forste klagen, den René mit seiner gewitternden Seele erfüllt, oder sie
-hinsingen über den See, an dem ein anderer Dichter in Betrachtungen
-versunken ist. Es gibt Stunden und Zeiten, in denen manche dieser
-Akkorde ein stärkeres Leben haben, in denen die tausend Stimmen der
-Dinge lauter zu hören sind. Zwei oder dreimal in meinem Leben habe ich
-den Ruf dieser Geheimniswelt vernommen.
-
-Gegen Ende August um Mitternacht nach einem sehr heißen Tage geht über
-die hingeknieten Dörfer ein ungewisses Raunen. Es klingt anders als das
-der Bäche und Quellen oder das des Windes, anders ist es als das
-Geräusch, mit dem die Tiere das Gras zermalmen oder das ihrer Ketten, an
-denen sie über den Krippen zerren, anders ist es als die Laute der
-unruhigen Wachhunde, der Vögel oder der Schiffchen an den Webstühlen. So
-mild sind diese Klänge dem Ohre, wie dem Auge der Schimmer der
-Morgenröte ist. Nun regt sich eine ungeheure und sanfte Welt; die
-Grashalme lehnen sich bis zum Morgen aneinander, unhörbar rauscht der
-Tau, und mit jedem Sekundenschlage ändert das große Keimen völlig das
-Antlitz der Gefilde. Nur die Seele kann diese Seelen erfassen, den
-Blütenstaub in der Glückseligkeit der Blumenkronen ahnen und die Rufe
-und das Schweigen vernehmen, darin das göttliche Unbekannte sich
-vollzieht. Es ist so, als ob man sich mit einem Male in einem völlig
-fremden Lande befände und hier von der sehnsüchtigen Schwermut der
-Sprache zart ergriffen würde, ohne doch genau zu verstehen, was sie
-ausdrückt.
-
-Aber ich kann doch tiefer in den Sinn des Raunens der Dinge eindringen
-als in den einer Menschensprache, die mir unbekannt ist. Ich fühle, daß
-ich verstehe, und daß es dazu gar keiner großen Anstrengung bedarf.
-Vielleicht ist mein Dichten manchmal so weit, den Willen dieser
-verborgenen Seelen zu übersetzen und einige ihrer Lebensäußerungen auf
-eine faßliche Art aufzuzeichnen. Ich verstehe es schon, diesem
-unbestimmten Raunen innerlich Antwort zu geben, wie ich es verstehe, mit
-Schweigen verständlich die Fragen einer Freundin zu beantworten.
-
-Aber diese Sprache der Dinge ist nicht völlig und einzig mit dem Ohre
-vernehmbar. Sie bedient sich auch anderer Zeichen, die blaß über unsere
-Seele hinhuschen und sich allzu schwach noch einprägen, die aber
-vielleicht deutlicher wiederkommen werden, wenn wir bereiter sind, Gott
-in uns aufzunehmen.
-
-Es gibt Dinge, die mich in den wehevollsten Umständen meines Lebens
-getröstet haben. Etliche unter ihnen zogen in solchen Zeiten auf
-sonderbare Art meine Blicke auf sich. Und ich, der ich mich nie vor den
-Menschen beugen konnte, habe mich demütig diesen Dingen hingegeben. Da
-brach ein Strahlen aus ihnen -- doch nicht nur aus den Erinnerungen, die
-mich mit ihnen verknüpfen -- und durchdrang mich wie Schauer der
-Freundschaft.
-
-Ich fühlte sie und fühle sie rings um mich leben, leben in meinem
-verborgenen Reiche, und ich bin ihnen verantwortlich wie einem älteren
-Bruder. Im Augenblicke, da ich dies schreibe, empfinde ich, daß voll
-Liebe und Vertrauen die Seelen dieser göttlichen Schwestern auf mir
-ruhn. Der Sessel da, der Schrank, die Feder, sie sind mit mir. Ich
-glaube an sie über alle Systeme hinaus, über alles Verstehen und jede
-Deutung hinaus glaube ich an sie. Sie geben mir eine Überzeugung, wie
-kein Genie sie mir geben könnte. Jedes System wird eitel sein und alle
-Deutung Irrtum in dem Augenblicke, in dem ich in meiner Seele die
-Gewißheit dieser Seelen leben fühle.
-
-Als ich bei dem Schuhflicker eintrat, habe ich mich, mit den Kindern und
-dem Hunde beim Herde sitzend, unvermittelt aufgenommen gefühlt und habe
-meine Seele den tausend unbekannten Stimmen der Dinge aufgetan. In
-dieser andächtigen Besinnung wurde aus dem Niederfall einer
-halbverwelkten Ranke, aus dem Knirschen des Schürhakens, aus dem Schlage
-des Hammers und dem Flackern der Kerze, wurde aus dem schwarzen
-geblähten Flecke, als den ich die eingeschlafene Amsel sah, und aus dem
-Auf- und Niedergehen des Deckels auf dem Kochtopfe eine geheiligte
-Sprache, die meinem Lauschen verständlicher war als die Rede der meisten
-Menschen. Diese Laute und Farben waren nichts anderes als die Gebärde
-der Gegenstände, deren sie sich als Ausdrucksweise bedienen wie wir der
-Stimme und der Blicke. Brüderlich fühlte ich mich diesen demütigen
-Dingen verbunden. Und ich erkannte, wie armselig es sei, die Reiche der
-Natur voneinander zu scheiden, da es doch nur das eine Reich Gottes
-gibt.
-
-Wie darf man behaupten, daß die Dinge uns niemals Zeichen ihrer
-Zuneigung geben? Rostet nicht das Werkzeug, dessen sich die Hand des
-Arbeiters nicht mehr bedient, ebenso wie der Mann, der das Werkzeug
-feiern läßt?
-
-Ich habe einen Schmied gekannt; er war fröhlich in den Zeiten seiner
-Kraft, und der blaue Himmel leuchtete an strahlenden Mittagen in seine
-schwarze Schmiede. Lustig gab der Amboß seinem Hammer Antwort. Der
-Hammer, den der Meister von Herzen schwang, war das Herz des Amboß. Wenn
-die Nacht hereinbrach, erhellte er die Schmiede mit seinem bloßen
-Schimmer und dem Blicke seiner Augen, die unter dem ledernen Blasbalge
-als Kohlenglut glommen. Eine erhabene Liebe verband die Seele dieses
-Mannes mit der Seele seiner Dinge. Wenn er sich an den heiligen Tagen
-zur Andacht sammelte, betete die Schmiede, die er schon am Abende vorher
-gesäubert hatte, schweigend mit ihm. Dieser Schmied war mein Freund. Oft
-stand ich an der schwarzen Schwelle und rief ihm eine Frage zu -- und
-die ganze Schmiede gab mir Antwort. Die Funken lachten über die Kohlen
-hin, und metallen klingende Silben wurden zu einer tiefen und
-geheimnisvollen Sprache, die mich ergriff wie Worte von Pflicht. Hier
-widerfuhr mir fast das Gleiche wie bei dem armen Flickschuster.
-
-Eines Tages wurde der Schmied krank. Sein Atem ging kurz; wenn er jetzt
-an der Kette des Blasbalges, der vordem so stark gewesen war, zog,
-merkte ich deutlich, daß dieser keuchte und allmählich von der Krankheit
-seines Herrn befallen wurde. Sprungweise und ungleich ging nun das Herz
-des Mannes, und auch der Hammer, den er über dem Amboße schwang, fiel
-verstört auf das Eisen nieder. Und im gleichen Maße, wie das Licht in
-den Menschenaugen abnahm, leuchtete auch das Feuer in der Esse weniger
-und weniger. Abends flackerte sie dann noch weiter, und an den Wänden
-und der Decke erblich lange das Zucken ihres Vergehens.
-
-Eines Tages fühlte der Schmied bei der Arbeit seine Hände und Füße kalt
-werden, und am Abend starb er.
-
-Ich betrat die Schmiede; sie war kalt wie ein Körper ohne Leben. Ein
-bißchen Glut nur fand ich im Kamine als eine armselige Totenwache neben
-dem Sterbebette glimmen, an dem zwei Frauen beteten.
-
-Drei Monate nachher kam ich wieder in die verlassene Werkstätte, um an
-der Schätzung ihrer geringen Einrichtung teilzunehmen. Alles war feucht
-und schwarz wie in einem Grabe. Das Leder des Blasbalges war angefault
-und löchrig geworden und löste sich, da jemand an der Kette ziehen
-wollte, von seinem Holzrahmen los.
-
-Die einfachen Leute, die mit mir die Schätzung vornahmen, erklärten:
-»Der Amboß und der Hammer haben ausgedient. Sie haben mit ihrem Meister
-zu leben aufgehört.«
-
-Ich stand erschüttert. Denn ich hörte den geheimen Sinn dieser Worte.
-
-
-
-
- LOB DER STEINE
-
-
-Strahlende Schwestern der Bergströme, denen ich am Ufer des Alpensees
-begegnet bin: Steine, Geliebte der Iris und des kalten Azurs, ihr, auf
-die sich das Salz niederschlägt, das die Lämmer auflecken; ihr Spiegel
-voll Helle, schillernd wie der Hals der Taube, ihr, die ihr mehr Augen
-habt als der Pfau! Im großen Feuer seid ihr Kristalle geworden, und eure
-schneeigen Adern sind ewig, ihr Gefährten der Urzeitfluten; seit
-Anbeginn hat die Meerflut euch gebadet und gewiegt bis zu der Stunde, in
-der die Taube aus der Arche voll Liebe aufgurrte, da sie euch erblickte.
-
-Bald ist das leuchtende Korn eures Fleisches blaugeädert weiß wie eine
-Kinderfaust, bald schimmert es kupfergolden wie die Hüfte einer schönen
-schwerblütigen Frau; zuweilen blinkt der Glimmer darin silbrig wie eine
-Wange in der Sonne, dann wieder ist es bräunlich wie die Haut der
-Frauen, der das goldene Rot der Mandarine und das stumpfe Blond des
-Tabaks die Farbe gab.
-
-Ihre Steine, aus dem Herzen des Bergstroms gebrochen,
-gegeneinandergeschmettert, dahingerissen durch den Seidelbast der
-Schluchten, gepeitscht von den Rauhfrostwettern, von den Lawinen
-begraben, von der Sonne wieder ans Licht geholt, vom Fuße der Gemse
-losgebrochen: ihr seid kühl und schön -- und ihr seid, über all das
-hinaus, rein.
-
-Ich kenne eure Schwestern in Indien wenig; es gibt solche unter ihnen,
-deren Klarheit mit dem Wasser, das aus dem Marmor quillt, wettstreitet,
-andere, die mich an das leuchtende Grün der Wiesen in den Talen meiner
-Heimat denken machen, welche wieder, die wie erstarrte Tropfen Blutes
-sind, und endlich die, die Kristall gewordenes Sonnenlicht sind.
-
-Aber ich ziehe euch diesen vor, obwohl ihr nicht so kostbar seid, ihr,
-die ihr zuweilen die Balken der Strohdächer tragen müßt und so das
-Sprühen der Sterne spiegeln könnt, und ihr anderen, auf die sich der
-Schäferhund hinstreckt und traurig nun über seine Herde wacht.
-
-Empfanget tief im Äther, wo ihr auf den Gipfeln ruht, weiter die
-reinliche Nahrung, die eurem friedlichen Reiche zugemessen ist. Das
-Licht möge eure unbekannten Zellen durchdringen, und die leichten
-wirbelnden Flocken sollen sie tränken. Das Schwirren der Winde mache sie
-erklingen, und endlich mögen sie jene vollkommene Nahrung empfangen, von
-der einst Maria Magdalena in einer Felshöhle gestillt worden ist. Rings
-um euch werden eure Freunde blühen, die reinsten Blütenkronen dieses
-Gestirns: aber auch sie werden nicht so keusch sein wie ihr, denn sie
-duften nach Schnee.
-
-Arme graue Schwestern in den Rinnsalen, denen ich in den Ebenen begegnet
-bin, traurige Steine ohne Glanz, ihr, die ihr den Regen sammelt, auf daß
-der Sperling zu trinken habe; ihr, über die die Füße der Eselin
-stolpern, ihr armseligen Wächter, die ihr die elenden Gärten umfriedet,
-die ihr die hohlgetretenen Schwellen seid und die Brunnengeländer,
-glattgerieben von der Eimerkette, ihr Bettler, blank wie das Eisen der
-Ackergeräte! Ihr werdet heiß gemacht im Armenherde, auf daß ihr die Füße
-der Großeltern erwärmet, ihr werdet ausgehöhlt für die niedrigsten
-Verrichtungen, und ihr müßt in eurer Armseligkeit Tisch sein für den
-Hund und das Schwein. Durchbohrt werdet ihr und müßt, zu Mühlsteinen
-geworden, das knirschende Korn mahlen. O ihr, die ihr fortgeholt werdet,
-und ihr, die ihr liegen bleibt: o ihr, auf denen der Irrgegangene
-schlafen wird -- o ihr, unter denen ich schlafen werde!
-
-Ihr habt euch nicht wie eure Gefährten in den großen Gebirgen eure
-Freiheit wahren können, aber ich achte euch darob nicht geringer, ihr
-meine Freunde. Ihr seid schön wie alle Dinge, die im Schatten sind.
-
-
-
-
- BETRACHTUNG ÜBER EINE SCHNEPFE
-
-
-»Ich bin eine Schnepfe. Um die Zeit, in der der herbstliche Ozean
-fürchterlich wird und die Schiffe im gelben und schwarzen Himmel tanzen,
-wohne ich hier, denn ich mische mich nicht ein in die verschiedenen
-großen Angelegenheiten der Natur, ich Schnepfe, die ich nicht weiß, daß
-tausend und tausend Kreolenjungfrauen jetzt verblüht sind wie feurige
-Rosen im zerstörenden Hauche eines Vulkans. Hier wohne ich, zwischen den
-Binsen und einer Lache, in der Gleichförmigkeit von Tag um Tag. Mein Tal
-zieht von Norden nach Süden, es ist morastig, waldverwachsen und
-traurig. Aber es stimmt recht hübsch überein mit meinem Kleide, das wie
-ein totes Blatt gefärbt ist, und man könnte mich schon für eine Dame
-nehmen, wenn ich da mit meinem Stocke, der mein Schnabel ist,
-spazierengehe ... Man weiß von mir auch, daß ich die schönsten Augen auf
-der Welt habe, und daß von ihnen die Sage geht, sie weinten, bevor ich
-sterbe.«
-
-»Kommen Sie und sehen sie mich in meinem Salon an! Wissen Sie denn, wie
-der Salon einer Schnepfe aussieht? Die Jäger mögen Ihnen davon erzählt
-haben. Haben Sie Ihnen aber auch gesagt, was ein Schnepfenspiegel ist?
-Das ist nämlich etwas, das ein bißchen schwierig zu erklären ist. Meine
-Spiegel sind aus blankem Silber und haben einen dunklen Punkt in der
-Mitte .... sie sind das, was ich hinter mir fallen lasse. Mein Parfüm
-ist das frischgeschlagene Holz. Lieben Sie den Geruch von Heu? O, in der
-Natur sind alle Gerüche vereinigt. Würziger aber riecht doch nichts als
-der Saft der Erle, den der Holzhauer abzapft. Das ist ein Geruch, der
-schön ist, während doch Gerüche für gewöhnlich nur gut sind. Aber dieser
-Duft ist schön wie das Blut, das in der stillen Stunde aufsteigt in die
-Wangen des Heidekrautes, wenn die Sonne müde ihre Haare auflöst und sich
-lang über den Hügel hinstreckt. Wenn ich meine Füße auf das setzte, was
-von einem Erlenstamme am Erdboden übrigbleibt, kommt es mir vor, als ob
-ich auf duftenden Purpur trete und ich die Königin von Saba bin.«
-
-»Die Wohnung, die ich habe, ist gottlob recht brauchbar. Ein paar
-Verbesserungen täten ihr freilich schon not: der Wind hat nämlich die
-Dachschindel aus Blättern, die mir der Dachdecker Frühling darauf gelegt
-hat, schon wieder zerblasen. Der Herr Herbst hat sie durch
-Klematisfrüchte ersetzt -- aber die saugen mit ihrem Flaum den Regen aus
-der Luft.«
-
-»Ich habe nur ein Erdgeschoß. Der Flur ist ein Wassergraben, dunkel
-genug, daß ich darin ordentlich sehe. Man weiß ja, daß meine Augen das
-grelle Licht schlecht vertragen. Mir ist auch ein einfacher Stern lieber
-als die beste Kerze. Der Herr hat mir gesagt: >Geh, kleine Schnepfe. Ich
-schenke dir alle Sterne des Himmels, daß sie dir leuchten.<«
-
-»Mein Park ist unermeßlich, er schließt die ganze Welt in sich. Aber ich
-gehe doch erst in die Berge, mir kleine Eisstückchen zu holen, wenn die
-große Hitze kommt. Denn man muß es verstehen, seine Wünsche
-einzuschränken -- sonst muß man die Geschichte vom Weinberge des Naboth
-wieder von frischem beginnen. Ich wohne also hier, sage ich Ihnen,
-zwischen diesen Binsen und der Lache, und ich komme auch kaum fort von
-meinem runden moosigen Platze da und von der Quelle, deren Wasser ein
-Hirt in einen Dachziegel geleitet hat, von dem jetzt, durch einen Stein
-festgehalten, ein Kastanienblatt herunterhängt. Man darf aber nicht
-vielleicht glauben, daß es da weiter unten nicht eine herrliche
-Landschaft gibt: die Ufer und Inseln des Wildbaches, wo inmitten von
-rosa Nebeln der Herr Reiher auftaucht und wieder verschwindet, je
-nachdem der Nebel sich hebt oder sich ausbreitet. Und in einiger
-Entfernung von ihm unter dem silbernen Himmel schnellen über das
-silberne Wasser die Silberfische, auf die er lauert, empor.«
-
-»Ich wünsche mir, glücklich und verborgen wie ein Veilchen zu leben.
-Eine Schnecke in der Schale genügt für mein erstes Frühstück,
-währenddessen ich entzückt bin von all dem Nebel, der von jedem Zweige
-fällt wie ein Hagelschauer aus lauter Regenbogen. Was brauche ich auch
-Luxus und Eitelkeit? Wenn ich doch lieber das große Buch der Natur lesen
-könnte, das Buch, von dem ich selber ein bescheidenes Exemplar bin.
-Sehen nicht wirklich meine Rückenfedern aus wie der Ledereinband eines
-ganz alten Folianten -- und die Federn auf meiner Brust wie seine bunten
-Ränder? Ja, ich lese in mir selber, in dem wirklichen Buche, das ich
-bin, und ich muß nicht meine Zuflucht zu all den Mitteln nehmen, deren
-sich die unwissenden Dichter bedienen. Was ich weiß, weiß ich
-ordentlich, weil ich es mir nicht nur vorstelle, sondern es mit dem
-Schnabel und den Füßen angreifen kann, und weil es doch die Frucht
-meiner Erfahrungen und meiner Weisheit ist.«
-
-»Was ich weiß? Ich weiß, daß ich gerade vor mich hinmarschiere, die Füße
-auf der Erde und den Kopf im Himmel. Ich weiß, daß es ganz gewöhnliche
-Sachen gibt, über die man sich doch sehr wundern muß. Und ich weiß, daß
-die Welt zusammengesetzt ist aus lauter Schnepfen, die gar keine
-Schnepfen sind. Ich weiß, daß ich leide, wenn man mir Blei in meine
-Flügel schießt. Ich weiß, daß ich glücklich bin, wenn ich im Mondschein
-durch das sanfte Gras der Waldränder irre, mit gezählten Schritten, den
-Kopf nach rechts und links drehend und bereit, mit der Spitze des
-Schnabels die Würmer aufzupicken. O, von was für wunderbaren Nächten
-habe ich nicht schon die Quellen singen gehört, wenn ich mir in ihnen
-säuberlich die Füße wasche! O das fließende Blau, das die Schatten des
-Gebüsches liebkost, bis sie zittern und den ersten Himmelschlüsseln
-weichen!«
-
-»Ich weiß, daß >es muß sein< ein großes Wort ist, und daß danach mein
-ganzes armes Tierleben abgewandelt wird. Es muß sein, daß ich, wenn es
-April wird, diese wunderbaren Täler verlasse und es meinem Fluge
-anheimgebe, dahin zu fliegen, wohin er fühlt, daß nun geflogen werden
-muß. Das habe ich verstehen gelernt, daß so einfach dahinzureisen besser
-ist, als sich abzuquälen mit Landkarten, Kompaß und Sextant, mit alldem,
-wodurch die Menschen Schiffbruch leiden. Es muß sein, sage ich, ist ein
-großes Wort! Darum habe ich Schnepfe mir auch nicht mein Dasein durch
-Weltkarten, Luftballons, Dampfmaschinen und Theorien verwirrt, denn es
-mußte sein, daß ich Flügel habe. Und so ist meine ganze Wissenschaft
-ganz einfach die, daß ich mich auf meinen Schnabel, meine einzige
-Bussole, verlassen kann, um inmitten der Schneefelder (die die
-Orangenblütenhaine des Gebirges sind) die süßeste Braut wiederzufinden.«
-
-So spricht die kleine Schnepfe. Und ich beneide die kleine Schnepfe um
-ihren guten Sinn und um ihr Glück. Kleine Schnepfe, es gibt noch anderes
-Blei als das, das dir durch die Flügel schlägt: das Blei, das ich im
-Herzen trage. Und andere Stechpalmen gibt es als die, die sich mit Moos
-umgeben, so daß du verlockt bist, darauf auszuruhen: die Stechpalmen,
-die meine Schläfen kränzen und die mein einziger Lorbeer sind.
-
-O, warum hat Gott mir nicht wie dir Flügel gegeben? O, warum kann ich,
-wenn der Duft des Flieders den liebesbleichen Frühling in seinem Gewande
-schwanken und hinsinken macht, und wenn der Seidelbast wieder blüht,
-nicht am Rande der durchstürmten Schlucht die erwarten, von der ich
-getrennt bin? O kleine Schnepfe, warum bin ich nicht lieber in deinem
-kleinen Salon aus welken Blättern geblieben, um im langen Regnen dem
-Seufzen der Winterwinde zuzuhören, anstatt in diesem Zimmer zu sitzen
-und meinen Betrachtungen nachzuhängen, indes der Herd braust wie der
-Ozean und mir im Uhrenschlagen geschieht, als ob ich eine reine und
-traurige Stimme wiederhörte.
-
-Kleine Schnepfe, möge das wilde Wetter mit dir gnädig verfahren! Die
-Windstöße sollen deine Spuren verwischen, so daß der Hund sie morgen
-nicht spüren kann, sich von seinem Herrn prügeln lassen muß und endlich
-schlammbeschmiert, verdutzt, den Schweif eingeklemmt, zurückkommt, ohne
-dich gefunden zu haben!
-
-
-
-
- BETRACHTUNGEN ÜBER EIN SPEISEZIMMER
-
-
-Nicht das Familienspeisezimmer ist es, über das ich jetzt sprechen will.
-Zwar war das wie ein Spiegel im Schatten und roch nach Obst, nach Wein
-und dem Wachse des Fußbodens, und wenn man eintrat, glitt man aus und
-fiel hin. In diesem Zimmer wurde ein jeder zu Eis so wie in Gegenwart
-meiner hugenottischen Großtante, die in ihre Bibel den Spruch des
-Psalmisten geschrieben hatte: »Wahrlich, Schein ist es, darinnen der
-Mensch wandelt. Wahrlich, eitel ist, was er treibt.«
-
-Dieser Raum hatte einst bessere Tage gesehen. Aber um die Zeit, von der
-ich jetzt spreche, wohnte nur mehr ein schmerzliches Schweigen darin,
-das wie das Schweigen der Abwesenden, die voll Traurigkeit den Kopf
-schüttelten, anmutete. Man hat mir hier eine Ecke gezeigt, in der mein
-Vater nach seiner Ankunft aus Guadeloupe (er war damals sieben Jahre
-alt) allerlei Grimassen versucht hat, um seine Eltern zu erheitern, und
-vielleicht auch, um sich selber zu erheitern. Armes verstörtes Kind, das
-noch traumtrunken war von den grünen Kokosnüssen, von zärtlich rosigen
-Blumen und dem klingenden Schimmern der Kolibris.
-
-Das Speisezimmer von heute liegt gegen Osten, auf den Garten hinaus, der
-sich längs der Straße hinzieht. Es ist ohne allen Luxus eingerichtet und
-ein rechtes Durchschnittszimmer, aber die Götter besuchen mich darin,
-und ein paarmal haben Göttinnen, müde der Welt, hier mein grobes Brot
-gegessen. Man kann dieses Speisezimmer gar nicht besser als mit den
-Versen des Mong-Kao-Jen beschreiben:
-
- ... Ein alter Freund reicht mir ein Huhn und Reis dazu.
- ... Und unser Horizont sind blaue Berge, deren Gipfel
- Aus blauem Glanz des Himmels ausgeschnitten sind.
- Im offenen Saal ist uns der Tisch gedeckt.
- Nun überschauen wir den Garten meines Gastfreunds,
- Nun reichen wir einander die gefüllten Becher.
- Wir reden sacht von Hanf und Maulbeerbaum.
- Wir warten auf den Herbst: dann werden hier im Garten
- Die Chrysanthemen blühn.
-
-Hier in diesem Raume geschieht es mir zweimal im Tage, daß ich mir der
-Dinge bewußt werde, sei es dadurch, daß aus dem Brote die Seele des
-fahlen Korns, das unter dem Hundsstern des Juli knirscht, mich
-durchdringt, sei es, daß aus dem Weine mich die purpurne Landschaft der
-Weinlese überkommt und die Fröhlichkeit der Mädchen, die singend die
-dunklen Trauben schnitten. Und ein jedes Gericht wird mir geheiligt um
-alles dessen willen, was es an Kraft dichterischer Ahnung in mein Blut
-schickt. So muß ich auch nicht den demütigen Küchengarten mißachten, in
-dem die duftende Goldrübe wuchs, noch das herbe Gras der erlengesäumten
-Wiese, auf der das Rind gelebt hat, dessen Fleisch ich esse, nicht die
-von welken Blättern bedeckte Hütte, verkrochen im innersten Gebirge, in
-der dieser Käse entstanden ist, noch endlich den Obstgarten, wo in der
-betäubenden Glut der Sommerferien ein Schulmädchen es über sich gebracht
-hat, inmitten von bläulichen und granatroten Himbeersträuchern (deren
-Früchte ich genieße) ihren brennenden Mund lange auf dem Munde eines
-Jungen zu vergessen.
-
-Ich kenne die Einsamkeiten, in denen das Wasser, das ich trinke,
-entspringt, und die traurigen Forste, die sie umgeben. Dort bin ich dem
-fröhlichen alten Manne begegnet, dessen Hühner ich in einem Gedichte
-besungen habe, und jenem anderen Greise, der den Wahnsinn seiner Tochter
-beweinte.
-
-Ich muß mir aber auch zu Bewußtsein bringen, daß die Schüsseln, die alle
-diese Gerichte bergen, irgendwoher stammen, und zwar ebenso aus der Erde
-wie ihr Inhalt, und daß die Früchte da in der Schale aus Steingut mir in
-einem Gefäße aus dem Urstoffe selber dargebracht werden. Und ich muß
-mich endlich auch daran erinnern, daß das Glas der Wasserflasche, in der
-das Wasser eben schwankend ins Gleichgewicht strebt, aus dem Wasser
-selber hervorgegangen ist, aus dem natriumreichen sandigen Meere, das
-ihm seine Durchsichtigkeit gegeben hat.
-
-Speisezimmer, du göttliche Vorratskammer, in dir gibt es die Feige mit
-den Bißspuren der Amsel und die Kirsche, die der Sperling angepickt hat.
-Der Hering liegt da, der die Korallen und die Schwämme des Meeres
-gesehen hat, und die Wachtel, die durch die Nacht der Minze geschluchzt
-hat; in dir ist der Herbsthonig aufbewahrt, den die Bienen in der schon
-bräunlichen Sonne eingeheimst, und der Akazienhonig, den sie im fahlen
-Lichte einer Tränenallee gesammelt haben. Das Öl, das die Lampen der
-Provence speist, ist da, das Salz, das perlmuttern schimmert, und der
-Pfeffer, den die Kauffahrer auf ihren Galeeren geheimnisvoll lächelnd
-gebracht haben.
-
-Mein Speisezimmer, ich habe dich oft aus der Beute meiner
-Botanisiergänge geschmückt und deine Luft mit dem Geruche der Feldblumen
-erfüllt.
-
-Und dann warst du eines Tages mit Sträußen seltener Blumen geschmückt,
-mit denen eine Frau deine Bescheidenheit geehrt hat. Aber du hast es
-verstanden, du selbst zu bleiben, nicht allzu geschmeichelt noch auch
-abweisend. Als die erlesenen Blumen auf deinem Tische standen, hast du
-sie durch deine Schlichtheit so sehr entzückt, daß sie schön erschienen
-wie ihre ländlichen Schwestern.
-
-Du bist es, mein Speisezimmer, das, nahe der Straße, meine Heimkehr vom
-Walde erwartet, wenn die Stunde gekommen ist, in der mein Hund in Nacht
-verschwimmt und sich das Paffen meiner Pfeife mit dem Nebel, der meinen
-Bart feuchtet, mischt. Da horchst du wie eine brave Dienerin auf den
-Tritt meiner benagelten Schuhe. Ich erkenne dein brennendes Herz, du
-Hüterin ohne Makel: die Lampe, die zu Ende flackt wie diese meine
-Träumerei. Da ich an dich denke, schwingt meine Seele sich auf, und ich
-möchte Hosianna! rufen und mich vor deine Knie hinwerfen, auf deine
-Schwelle, du Bewahrerin der Dinge, die mir die Vorsehung bescheert hat.
-Mit gekreuzten Armen verharrest du über der Straße, auf der die Bettler
-dahinziehen, wenn die Stunde gekommen ist, in der das Aveläuten in
-verzweiflungsvoller Liebe zittert und gleich Weihrauchfässern die
-elendsten Hütten aus der Finsternis ihren Rauch emporschicken zu den
-Füßen Gottes.
-
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- BETRACHTUNGEN ÜBER EINEN TAUTROPFEN
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-
-Das anbetungswürdige alte Fräulein starb in einem kleinen Schlößchen,
-das einst Jean Jaques Rousseau gefallen hat. Ein Wildbach schauerte an
-den Grundmauern des Türmchens vorbei, das überblüht war von gelben
-Rosen, und der nahe Teich einer verlassenen Mühle machte die Gegend mit
-ihren schattigen Baumgruppen vollends poetisch. Reiche Äcker dehnten
-sich da und dort. Einst, als der Tag zu Ende ging, sah ich an der Ecke
-eines Feldes auf dem Marksteine einen alten Mann sitzen. Er stützte sich
-auf einen Stock mit einem Schnabelgriffe. Von seinem Platze aus
-überwachte er gemach die Erntearbeit. Ich wünsche mir sehnlich dieses
-Alter herbei, in dem die stillen Blicke nur mehr nahe trauliche Dinge
-vor sich haben. Vielleicht wird das Gewesene dann zur Gegenwart? Dieser
-friedliche Greis, der mich eines anderen Greises gedenken ließ, jener
-edlen Gestalt aus »Paul und Virginie«, rief sich vielleicht, da er die
-schönen Schnitterinnen betrachtete, die Zeit wieder empor, in der noch
-die Bücher seiner Jugend über ihn Gewalt gehabt hatten ... Vielleicht
-erschien ihm Ruth, mit Kornblumen und Ähren bekränzt, oder die
-myrthenduftende Chloe, wie sie ihren Ziegen Salz reicht.
-
- * * * * *
-
-Lange, bevor ich die Heiterkeit des Tages, der hier über dem Patriarchen
-zu Ende ging, erlebte, war das alte Fräulein gestorben. Sie hatte hier
-ihre ganze Jugendzeit verbracht, und sie wohnte auch später fast immer
-hier. Denn ihr oblag, nachdem sie Waise geworden war, die ganze Sorge um
-ihre wahnsinnige Schwester. Nur ein paarmal war sie fortgewesen: als sie
-einige Jahre hintereinander eine Zeit in Paris verbrachte. Wenn ich an
-sie denke, wie ich sie als Achtzigjährige gekannt habe, mit ihren
-schneeweißen Scheiteln, die stets mit Parmaveilchen geschmückt waren,
-der großen Nase, dem spitzen aufwärtsgebogenen Kinn und den feurigen
-Augen, wird es mir nicht allzu schwer, mir vorzustellen, wie sie als
-Achtzehnjährige gewesen sein mag: Da sehe ich sie mit einem biegsamen
-großen, mit Feldblumen geschmückten Hute, in einem Mousselinkleide, das
-sich in ihren Knicksen bauscht, und mit einem Gürtel aus einer
-kolibrifarbenen Schleife.
-
- * * * * *
-
-In diesem Schlosse nun habe ich in den letzten Tagen langsam und voll
-Zärtlichkeit das Album durchgeblättert, darein das Fräulein Sophie F.
-von B. seine Herzensdinge geschrieben hat, und ein unsagbares Heimweh
-nach der Vergangenheit überkam mich.
-
-Während sie in Paris lebte, das muß um 1840 gewesen sein, nahm sie
-Botanikunterricht im Jardin des Plantes. O, von wie viel Liebreiz
-umgeben sie mir jetzt erscheint! Wer weiß, wie schönheitsentflammt die
-Seele dieses jungen Provinzmädchens war, das hier nun die strahlenden
-Farben und den Duftatem irgendwelcher neuer Blütendolden, die vielleicht
-Laurent de Jussien eben erst von wilden Inseln gebracht hatte, genoß!
-Ich glaube dieses Mädchen der alten Zeit vor mir zu sehen, wie es sich
-in einer Allee des Botanischen Gartens auf die Spitze seiner
-fliederfarbigen Schuhe erhebt, um das Innere einer zottigen Blumenglocke
-zu erforschen.
-
-Diesem Album, in das sie sorgsam wunderbare Sträußchen gezeichnet und
-gemalt hat, hat sie ihr Herz anvertraut. Ich nenne ihre Malereien
-wunderbar, aber ich will damit gewiß nicht sagen, daß sie etwa das Genie
-besessen habe, in der Wiedergabe der Blumenkronen auch das Geheimnis der
-Säfte mitzugestalten; ich will vielmehr damit ausdrücken, daß diese
-Rokokomalereien, fern von jeder künstlerischen Absicht, die Spuren einer
-hohen und reinen Seele tragen, und daß kein noch so berühmtes Kunstwerk
-mich mehr ergreifen wird als sie.
-
- * * * * *
-
-Man müßte sich einzeln jeden der Tage wieder emporrufen, in deren Kelch
-diese zarte und zage Seele ein wenig von ihrer Ewigkeit geträufelt hat.
-Was man auch von ihrem Verlobten redet und geredet haben mag, ich
-glaube, daß sie nur aus Opferwilligkeit für ihre früher erwähnte
-Schwester von ihm nichts wissen wollte. Das hat sie den glühenden
-Blumen, die sie malte, gebeichtet. Das sagen die schwellenden Rosen, die
-emportaumeln wollen aus ihren Kelchen wie die Herzen der erwachenden
-Mädchen in den Verzückungen der Maiabende. Von ihren Rosen hat eine
-besonders und schmerzlich zu mir gesprochen. Die hat sie sicherlich an
-einem leuchtenden Morgen gemalt, da sie Gott um Gnade gebeten hatte.
-Kein Wort vermöchte die leidenschaftliche Reinheit dieser Blumenblätter
-wiederzugeben, aus denen langsam eine Tauträne rollt. O, wie habe ich
-diese Träne verstanden!
-
- * * * * *
-
-Du junges Mädchen des hingegangenen Jahrhunderts, hättest du, als dir in
-deinem immer schattigen Salon diese Träne niederfiel, gedacht, daß eines
-Tages ich ihrer voll Verehrung gedenken würde? Ich habe sie aufgefangen,
-und nichts mehr wird ihr köstliches Wasser trüben. Dieser Edelstein voll
-des Glanzes aus deinem Herzen -- O mögest du in Frieden ruhen an der
-Brust des Herrn! -- ist von würdigen und andächtigen Händen in dem
-chinesischen Schränkchen des großen Salons aufbewahrt worden, und nur
-zuweilen komme ich und bitte die Freunde, die ihn verwahren, ihn mir zu
-zeigen. O du, vielleicht hast du an demselben Weh gelitten, davon auch
-ich ergriffen bin, an der sinnlosen und schweigenden Leidenschaft, die
-einzig deine Zeitgenossen in ihrer müden Anmut und scheuen Reinheit
-verstehen konnten!
-
- * * * * *
-
-Was wissen wir, wie viele Kalvarienberge es gibt, und wie oft schon der
-Kreuzweg beschritten worden ist! Wenn uns unter Fingerhüten, Scheeren,
-Stückchen von Stickerei und Seidenfleckchen, zwischen kleinen Spiegeln,
-Haarlocken und Kinderzähnen, unter künstlichen Blumen, Fläschchen und
-längst aus der Mode gekommenen Schmucksachen eine alte »Nachfolge
-Christi« in die Hände kommt, erscheint es uns, als ob der Duft des
-Abgeschlossenen, der an den Seiten haftet, nur eine unendliche Sanftheit
-in sich trüge. Und doch, wie mögen Hände, die jung waren, und die es
-nicht mehr waren, vor Warten und vor Weh gezittert haben, während sie
-dieses Buch hielten!
-
-In der Morgenröte ihres Geschickes mag das junge Mädchen diese Seiten
-wohl noch in der geheimen Hoffnung aufgeschlagen haben, daß an den
-Bitternissen doch nicht alle Menschen teilhaben müßten, und daß
-vielleicht gerade ihr das Schicksal sie ersparen werde. Nur in einem
-entzückenden Gefühle von Pietät streckte sie damals im Erwachen die
-schon kräftigen Arme nach der »Nachfolge« aus. Erst später, in der Mitte
-ihres Lebens kam sie wieder zu diesem Buche zurück. Die früchteschweren
-Apfelbäume waren nicht mehr fröhlich wie ehedem ... eine Freudigkeit
-(ich weiß nicht, was für eine) hatte sie verlassen. Und jenen bunten
-Schmetterling, der sich vor ihr im heißen Glanze der Tage in den großen
-Ferien gewiegt hat, den hat sie später nie mehr über den Wiesen
-erblickt.
-
-Das Alter kam. Und siehe, nun in der Neige ihres Seins hörte sie kaum
-mehr auf, in dem Buche zu lesen. Es war sieben Uhr abends, draußen
-schneite es. Die Lampe, die aufzuckend der Stille den Takt schlug,
-erleuchtete den großen Spiegel, in dem sich das alte Fräulein als das
-getrübte Bildnis der menschlichen Wandlungen erblickte. Nun sah sie
-nichts mehr von dem honiggoldenen Haar, das sie sich einst spielend um
-die zarte Faust gewunden hatte ... Ihre Scheitel waren weiß und streng
-wie die Binden, in die man die Toten hüllt. Und ihre Wangen, auf deren
-Erblühen einst viel helles Lächeln wie Apriltage über die Gärten
-gestrahlt hatte, waren voll der tiefen Furchen, die allgemach der
-bittere Niederfall der Tränen eingräbt.
-
- * * * * *
-
-Möge Gottes Frieden sich auf diese Leben der alten Zeit herniedersenken!
-O, sie haben für mich immer noch die Jugend der Rose, auf der ein
-Tropfen in solcher Reinheit schimmert, daß man zweifelt, ob er ein
-Tautropfen oder die Träne eines Kindes, das sein erstes Weh verstört
-hat, sei. Man tut gut daran, die Toten zu verehren und täglich ihrer zu
-gedenken! Kein Regenguß rauscht nieder auf die Kronen des Waldes, kein
-Regenbogen wölbt sich über das wolkendüstere Dorf, keiner Hirtenflöte
-Klang geht im Herbstwinde verloren, ohne mir Gegenstand für meine
-Betrachtungen zu werden. Hier, so denke ich, in dieser kleinen Höhle mit
-ihrem Teppiche aus Farnkraut und Veilchen, mögen sie zuweilen Zuflucht
-vor den Regenschauern gesucht haben. Hier muß es auch gewesen sein, wo
-der letzte Guß des Gewitters die Schleife mit den Irismustern
-davongetragen hat. Und hier, so sage ich mir weiter, in diesem
-entlegensten Winkel des Parkes, mag das Mädchen vielleicht von ihm
-geträumt haben, der ihr dort in der Grotte als der Bezauberndste
-erschienen war. Und wenn sie dann ihre Schwermut fragte, hat ihr nur die
-Glocke eines verirrten Lammes geantwortet.
-
- * * * * *
-
-O wie wird jede Kleinigkeit zu einer Welt, wenn man in ihr nicht nur ein
-poetisches Spiel sucht, sondern die Spuren Gottes in den geringsten
-Geschehnissen des Alltags. Dächte nicht ein jeder, es sei keine Sache
-von Bedeutung, um welche Stunde und an welchem Tage ein Kind im Walde
-Erdbeeren pflückt? Und ist es nicht doch voll Bedeutung, daß an einem
-Morgen, von dem ich nichts weiß, ein Mädchen in vergangener Zeit
-unwissentlich einen Tropfen Tau auf einer Rose schimmern ließ und so den
-Anlaß gab zu dieser meiner Träumerei, die nun zu Ende geht?
-
-
-
-
- BETRACHTUNG ÜBER ASTROLOGIE
-
-
-Was kann das sein, das mich so bedrückt? Aus welcher Ferne kommt das
-Schwere, das sich auf mein Herz legt und es bitter macht, wie die Frucht
-war, die ich eines Morgens im Sande der Sahara gefunden habe?
-
-Der Rosenkäfer ist der Rose untertan, die Rose dem Mädchen, das Mädchen
-der Liebe und die Liebe wiederum den großen Kreisen der Kräfte, das das
-Auf und Nieder meines Atmens in Einklang mit dem Meere bringt.
-
-Dem Monde ist die Macht gegeben, über die großen Wasser zu herrschen und
-sie stöhnen oder singen zu machen; welches Gestirn aber in der Tiefe der
-himmlischen Abgründe vermag es, gerade meine Gedanken stöhnen oder
-singen zu machen?
-
-Sicher ist eins: wenn meine Seele in ihrer Verstörtheit übereinstimmt
-mit einem Sterne, den ich gar nicht kenne, dann muß dieser Stern seit
-Jahren den schrecklichsten Ausbrüchen, Erschütterungen und Erdbeben
-preisgegeben sein.
-
-Es macht mir Freude, mir auszumalen, daß das ganze Wesen eines Menschen
-dem Charakter des Planeten entspräche, dessen tyrannischem Geheiße er
-untertan ist: dann untersteht Edgar Poe sicherlich irgendeiner Welt, die
-an den äußersten Grenzen eines düsteren und schneereichen Himmels
-kreist, und auf der die grünen Tale voll blühender Lilien, Hyazinthen
-und Anemonen nur in den Fernen jenseits wattiger Nebelbänke erscheinen.
-Und Lamartine muß einem Gestirne gehorcht haben, das kein Ozean
-ausgehöhlt hat, darauf es nur einen himmlischen See gibt, über den die
-sanfte Brise mit Erzengelfingern hinstreicht und an die zitternden
-lyrageschwungenen Flügel der Schwäne rührt.
-
-Der Stern, mit dem dieses junge Mädchen verwandt ist, lacht und weint in
-tausend Wasserfällen. Murmelt das Wasser dieser Wasserfälle gerade jetzt
-mehr als sonst? Denn das Mädchen hört nicht auf zu plappern, solange die
-Schneeschmelze da oben die Wildbäche des Sterns so überreichlich füllt.
-Säumt der Schaum der Wildbäche den Azur, unter dem er schauert, jetzt
-mit köstlicheren Spitzen? Das Mädchen zieht ein Kleid von zartem Blau
-an, das es mit quellenden Spitzen, die durchsichtiger sind als die
-Wasser der Felsen oder böhmische Gläser, ziert. Sind die Quellen jetzt,
-austrocknend in der glühenden Sonne, verstummt? Das Mädchen wird
-schweigsam. Und wenn da oben die Wasser zu schluchzen beginnen,
-entströmen dem Mädchen die Tränen, die man hier auf Erden sinnlose
-Tränen nennt. Das Mädchen errötet plötzlich: das kommt daher, daß auf
-seinem Sterne eine Pfingstrose aufblüht. Es erbleicht -- denn dort oben
-ist eine Lilie aufgegangen.
-
-Sind die Bezeichnungen: ein Mensch hat einen finsteren oder klaren oder
-verbitterten Charakter nicht dem Horoskope dessen, auf den man sie
-anwendet, entnommen? Was wohl die Astrologen damit ausdrücken wollten,
-daß sie die alte Selenographie mit solchen dichterischen Bezeichnungen
-schmückten, wie da sind: das Meer der Krisen, das Meer der Feuchtigkeit,
-das Meer der Tränen, der Golf der Verzweiflung? Ich vermute, daß sie
-jene menschlichen Veränderungen, die sie dann mit Recht die lunatischen
-nannten, von den Umwälzungen auf unserem Satelliten ableiteten. Das Meer
-der Krisen beginnt unruhig zu werden -- und alle Gichtkranken,
-Asthmatiker, Hypochonder und Narren werden von ihren Übeln befallen. Ein
-Zyklon wirbelte über das Meer der Feuchtigkeit dahin -- und die
-Wassersüchtigen fühlen ihre Anschwellungen wachsen. Der Sturm wütete
-über dem Meere der Tränen -- und alle kleinen Kinder weinen. Wenn aber
-der Golf der Verzweiflung sich verdüsterte, geschieht dem Herzen eines
-jeden Menschen ein Gleiches.
-
-Nach dieser Betrachtung des Einflusses der Gestirne auf die Menschen
-wollen wir erforschen, wie eine solche Einwirkung auch auf die Pflanzen
-möglich wäre. Wir stellen also die Hypothese auf (die wir untersuchen
-wollen,) daß Mensch und Pflanze der gleichen Ausstrahlung untertan sind,
-und schließen, daß es eine schicksalhafte Sympathie zwischen ihnen geben
-müsse.
-
-Die Theorie des Professors Philipp van Tieghem ist bekannt: sie
-ermächtigt uns, zu denken, daß der Pflanzenwuchs der Erde von Samen
-abstammt, die von Meteoriten auf sie herabgebracht worden sind. (Beim
-Lesen einer bestimmten Stelle dieses Forschers kam mir einmal nachts der
-belustigende Einfall, meine Hände gegen den Mond zu strecken, um den
-Flug bestimmter Arten von Mohn aufzuhalten, deren hinfällige Blüten
-freilich in der Berührung mit meinen Fingern hätten zerstieben müssen.)
-
-Mit dieser Hypothese wollen wir nun die Darwinsche verbinden, nach der
-wir Pflanzen waren, ehe wir Menschen geworden sind. Daraus ergibt sich
-freilich für jeden das Recht, zu fragen, was für eine Feuerkugel ihn
-denn auf die Erde gebracht, und was für eine Konstellation diese
-sonderbare Saat bewirkt habe.
-
-Nun gibt es aber zweifellos Menschen, deren ganzes Leben im Gegensatze
-steht zu dem aller anderen Menschen -- was demnach auf eine
-Sternenherkunft von besonderer Art schließen lassen müßte --, genau so,
-wie gewisse Pflanzen in ihrem Verhalten dem sämtlicher anderer Pflanzen
-widersprechen.
-
-Von jener Regel zum Beispiel, die den Stengeln der Schlingpflanzen zu
-gebieten scheint, der Drehung der Erde folgend von links nach rechts zu
-ranken, sind Hopfen, Geißblatt, Stickwurz, Schildkrötenkraut sowie das
-knotige und das Kletter-Polygonum ausgenommen, die alle, Newton und
-Laplace mißachtend, sich von rechts nach links winden. Rührt das daher,
-daß diese Pflanzen von Gestirnen stammen, die sich in entgegengesetztem
-Sinne drehen wie die Erde?
-
-Übrigens, wenn Rose und Iris, Orchydee und Seerose, solcherart auf
-unsere Erdkugel gelangt, von den unbekannten Gesetzen ihrer vorherigen
-Heimat geleitet werden -- sei die nun Mars oder Venus oder ein ganz
-anderer Planet --, ist es reizvoll, sich vorzustellen, daß die Blüte der
-Wunderblume nicht eher sich schließen und einschlafen mag, bevor sich
-nicht der Abend auf ihren Heimatstern gesenkt hat, das heißt ehe es
-nicht Tag geworden ist auf der Erde.
-
-Das früher Gesagte vorausgesetzt, wäre es unterhaltend, die Blume oder
-den Baum zu kennen, die jeder einzelne bevorzugt, und zu beobachten, ob
-die Menschen, die Sympathie für die gleiche Blume haben, nicht denselben
-Sterneneinflüssen unterworfen sind wie diese Blumen. Was mich anlangt,
-so liebe ich die Pflanzen zu sehr, um mich für die eine oder die andere
-zu entscheiden -- denn das schiene mir eine Untreue gegen alle übrigen
-zu sein. Aber einen Strauch und eine Blume kann ich doch angeben, deren
-Anblick mich in eine unerklärliche Erregung versetzt: die lagerstroemia
-Indica und die amaryllis belladonna. Die lagerstroemia blüht gegen Ende
-des Sommers. Ich habe sie einmal in einem Prosagedichte »Flieder einer
-anderen Welt« getauft. Sie ist ein Strauch ohne Rinde. Ihr glatter Stamm
-breitet nur im Schlafe die Zweige aus, was ihr das unglückliche Aussehen
-eines Besens oder einer riesenhaften Rose von Jericho verleiht. Aber
-ihre Blüten! Unter den azurnen August- und Septemberhimmeln heben sie
-sich aus ihrem Laube, das fremdartig grün ist und sehr ähnlich dem des
-Granat- und des Spindelbaumes, und bilden Szepter von einem unsagbaren
-Rosa, das nie der Erde angehört hat, einem Rosa voll schwermutschönen
-Heimwehs nach einem verlorenen Paradiese. Warum liebe ich diesen Baum
-mit solcher Liebe? Es gibt eine lagerstroemia, die ich Jahr für Jahr
-besuche, und die in jedes neue Blühen meine Trauer oder meine Freude
-mitempfängt. Sie schmückt mit ihren geheimnisvollen Korallen einen
-Garten im nördlichen Spanien. Auf meine Bitte hat man mir erlaubt, durch
-eine kleine Tür ihr sorglich verschlossenes Reich zu betreten. Und ich
-bin, einer sonderbaren Unruhe verfallen, durch die Alleen geirrt, die
-ihre glorreiche Majestät zu verdunkeln schien.
-
-Die amaryllis belladonna ist vom Kap der guten Hoffnung zu uns gebracht
-worden. Inmitten eines Büschels schwertförmiger Blätter, die sich weich
-nach außen biegen, strebt ihre rosige Lilie empor. Aber ihr Rosa hat
-nichts von dem außerirdischen der lagerstroemia, es ist samtig wie
-Aprikosen, es gleicht dem der Wassermelone, der Meerfrüchte oder des
-Lachses. Ein paar von diesen Pflanzen sind meine Freunde: die stehen
-nicht in dem spanischen Garten, von dem ich früher gesprochen habe,
-sondern in einem alten kleinen Garten in Frankreich. Er wölbt sich wie
-ein Dach über die Landstraße, auf der dereinst die Postkutschen, in
-denen die Mädchen der alten Zeiten mit wehenden Hüten durch den Glanz
-der untergehenden Sonne gegen Paris fuhren, hinholperten ....
-
-Ich empfinde eine trübe und schmerzliche Freude, wenn meine Blicke über
-diese rosigen Kelche hingehen. Wer wird mir die sonderbaren Gefühle, die
-mir diese beiden Pflanzen einflößen, erklären? Ihr Anblick verwirrt
-meinen Verstand und läßt im Spiegel meiner Seele das Bild eines ganz
-traurigen Traumes erstehen: auf einem Sterne erwartet mich widerwillig
-und sehnlich zugleich ein dunkelhaariges Mädchen in einem amaryllisrosa
-Kleide. Sie sitzt unter einer lagerstroemia an einem Grabhügel, über dem
-in unbekannten Zeichen ein Name, vielleicht der meine, geschrieben
-steht.
-
-Meine Freundin, eines Abends wirst du mich aus der Tiefe des Tales
-kommen sehen, und ich werde dir deine Lieblingsblumen bringen. Es wird
-schon spät sein. Mit meiner grünen Trommel auf dem Rücken werde ich den
-ganzen Tag ohne Rast auf der Suche gewesen sein, das Herz voll Tränen,
-und werde unter den Blicken Gottes mit meinem kleinen Spaten in allen
-Einsamkeiten die Erde durchwühlt haben. Werde ich aber die Pflanze, die
-unser beider Geschicke einen muß, wirklich gewünscht haben? Schon ahne
-ich, wie ein Edelsteinsucher, den ein geheimnisvoller Sinn leitet, deine
-liebste Blume voraus. Sie wächst nicht im Schnee, nicht auf den
-Gletschern noch unter den Lärchen der Alpen, nicht am Rande der
-Kressebeete noch auch in der lügnerischen Sahara, deren Spiegelungen
-meinen Fieberdurst heimgesucht haben. Sie erblüht in meiner Seele.
-
-
-
-
- NOTIZEN
-
-
- I.
-
-Ich habe mir oft den Himmel ausgemalt. In der Kindheit war er mir die
-Hütte, die sich ein alter Mann in unserer Gegend hatte auf der Höhe
-eines steilen Bergweges errichten lassen, und die »das Paradies« genannt
-wurde. Mein Vater pflegte um die Stunde, in der das schwarze Heidekraut
-der Hügel golden wird wie eine Kirche, mit mir dahin zu gehen. Am Ende
-jedes dieser Spaziergänge wartete ich darauf, Gott in der Sonne, die
-oben am Kamme des steinigen Steiges einzuschlafen schien, sitzen zu
-sehen. Habe ich mich getäuscht?
-
-Weniger leicht kommt es mir an, mir das katholische Paradies mit seinen
-azurnen Harfen und dem rosigen Schnee der himmlischen Heerscharen in den
-reinen Regenbogen vorzustellen. So halte ich mich doch immer noch an
-mein erstes Gesicht. Aber seitdem ich die Liebe kennen gelernt habe,
-habe ich zu dem himmlischen Bereiche vor der Hütte des alten Mannes noch
-eine sonnenwarme Bergwiese, auf der ein junges Mädchen Blumen pflückt,
-dazugetan.
-
-
- II.
-
-Ich habe die Seele eines Fauns und zugleich die eines ganz jungen
-Mädchens. Wenn ich eine Frau betrachte, empfinde ich eine völlig andere
-Art von Erregung als beim Anblicke eines Mädchens. Wenn man sich mit
-Hilfe von Blumen und Früchten verständlich machen könnte, würde ich
-einer Frau glühende Pfirsiche, die rosigen Glocken der Tollkirsche und
-schwere Rosen reichen, dem Mädchen aber Kirschen, Himbeeren,
-Quittenblüten, Heckenrosen und Gaisblatt.
-
-Es gibt kaum ein Gefühl, das ich erlebe, ohne daß es vom Bilde einer
-Blume oder Frucht begleitet wäre. Wenn ich an Martha denke, sehe ich
-Gentianen vor mir, Lucie ist mir mit den weißen japanischen Anemonen
-verbunden, Marie mit Maiglöckchen und eine andere wieder mit einer
-Zedratfrucht, die aber ganz durchsichtig ist.
-
-Zum ersten Rendezvous, das ich mit einer Freundin hatte, habe ich
-Schwertlilien mit aprikosenrosa Halse mitgebracht. Wir stellten sie über
-Nacht ins Fenster, und dort vergaß ich sie, um mich nur meiner Freundin
-zu erinnern. Heute wollte ich gerne der Freundin vergessen und nur mehr
-der Schwertlilien gedenken.
-
-All meine Erinnerungen gehören also sozusagen der Pflanzenwelt an.
-Bäume, Blüten und Früchte sind meine Merkzeichen für Menschen und
-Gefühle.
-
-Die Pflanzen, aber auch die Tiere und die Steine haben meine Kindheit
-mit geheimnisvoller Lieblichkeit erfüllt.
-
-Als ich vier Jahre alt war, stand ich und betrachtete die Haufen
-zerschlagener Bergkiesel am Straßenrande. Wenn man diese Steine in der
-Dämmerung gegeneinanderschlug, gaben sie Feuer -- rieb man sie
-aneinander, dann rochen sie verbrannt. Die geäderten hob ich auf: sie
-waren schwer, als ob sie Wasser in sich verborgen hielten. Der Glimmer
-im Granit bezauberte meine Neugier so sehr, daß nun nichts anderes mehr
-sie stillen konnte. Ich fühlte, daß da etwas war, das niemand mir zu
-erzählen vermochte: das Leben der Steine.
-
-Um dieselbe Zeit war man einmal böse mit mir, weil ich die künstlichen
-Käfer von einem Hute meiner Mutter weggenommen hatte. Das war meine
-Leidenschaft: Tiere aufzuheben, und ich war so voll Freundschaft zu
-ihnen, daß ich weinte, wenn ich sie unglücklich glaubte. Noch heute
-erlebe ich die namenlose Angst wieder, wenn ich daran denke, wie die
-kleinen Nachtigallen, die mir jemand geschenkt hatte, in unserem
-Speisezimmer zugrunde gingen. In dieser Zeit mußte man mir, damit ich
-einschlafe, das Glas mit meinem Laubfrosche in meine Nähe stellen. Ich
-fühlte, daß er mein treuer Freund war und mich auch gegen Diebe
-verteidigt hätte. Als ich das erstemal einen Hirschkäfer sah, war ich
-von der Schönheit seiner Geweihzangen so ergriffen, daß die Begierde,
-einen zu besitzen, mich krank machte.
-
-Meine Leidenschaft für die Pflanzen zeigte sich später, als ich gegen
-neun Jahre alt war. Die rechte Einsicht in ihr Leben aber fing erst an,
-als ich ins fünfzehnte Jahr ging -- ich erinnere mich noch, unter
-welchen Umständen. An einem Donnerstage, einem lähmend heißen
-Sommernachmittage, ging ich mit meiner Mutter durch den botanischen
-Garten einer großen Stadt. Weißblendende Sonne, dicke blaue Schatten und
-schwere zähe Gerüche machten aus diesem fast verlassenen Orte das Reich,
-dessen Pforte ich nun endlich überschritt. Im lauen goldkäferfarbigen
-Wasser der Bassins gediehen kümmerlich allerlei Pflanzen, lederige graue
-und hohe weiche, durchsichtige. Aber aus der Mitte dieser armen
-traurigen Wassergewächse erhoben sich in den großen Azur grüne
-Lanzenschäfte und hielten die Anmut ihrer weißen und rosigen Dolden in
-den lodernden Tag: die Wasserlilien über ihren Blättern, in
-vertrauensvollen Schlaf versunken. Mit den Wasserpflanzen hielten die
-Pflanzen der Erde stumme Zwiesprache. Ich erinnere mich einer Allee, in
-der Studenten, ein Sacktuch im Nacken, unter der Schönheit der Blätter
-begraben lagen. Das war die Allee der Ombelliferen. Fenchel und
-Steckenkraut drehten ihre Kronen über die Stengel, deren Blattscheiden
-platzten, empor. Schweigend unterredeten sich die Düfte miteinander,
-stumme Verständigung wob fühlbar von Pflanze zu Pflanze, und über dem
-vereinsamten Reiche schwebte Entsagung.
-
-Seit damals verstehe ich die Pflanzen: ich weiß, daß ihre Familien sich
-miteinander verschwägern, und daß sie alle von Natur aus einander
-lieben. Aber ich weiß auch, daß diese Verwandtschaften nicht da sind, um
-den Klassifikationen zur Unterstützung unseres trägen Gedächtnisses zu
-dienen.
-
-Die Pflanzen sind lebendige, tätige Geometrie, die irgendwelchen
-Auflösungen zustrebt -- wie die sein werden, weiß ich nicht. Da läßt
-sich nun ein reizvolles Geheimnis beobachten: die Arten, die in
-denselben geologischen Epochen vorkamen, haben einander ihre Sympathien
-geschenkt und bleiben auch heute noch im Wechsel der Jahreszeiten
-einander nahe. Wie vermöchte sonst das Wesen der frierenden schneeigen
-Winterliliaceen mit dem der purpurnen Herbstnachtschatten so
-zusammenzustimmen?
-
-Es gibt noch andere Pflanzengemeinschaften, die nicht so sehr durch
-Menschenbemühungen als dadurch zustandekommen, daß gewisse Arten andere
-als Freunde bei sich haben mögen und sich nach ihnen sehnen. Wie schön
-sind die Bauerngärten, in denen die strahlende Lilie -- gleich den
-Göttern, die die Niedrigen besuchen -- zwischen Kohlköpfen, Knoblauch
-und Zwiebeln (die in den Töpfen der Armen kochen werden) wächst! O, wie
-liebe ich diese ländlichen Küchengärten, wenn mittags der traurige blaue
-Schatten der Gemüse auf den Vierecken körniger weißer Erde einschläft,
-der Hahnenruf das Schweigen noch tiefer macht und das geduckte Huhn
-unter dem schrägen gewundenen Fluge des Habichts aufgluckst! Da wachsen
-die Blumen der schlichten Liebenden, die Blumen der jungen Frauen, die
-den blauen Lavendel trocknen und zwischen ihr grobes Leinen legen. Da
-wächst auch der treue Buchsbaum, an dem jedes Blättchen ein Spiegel von
-Azur ist, und die Stockrose, an der die sanfte reine Flamme der Blüten
-sich in Schwermut verzehrt: fromme Blumen, dem Schweigen und der
-Entsagung geweiht.
-
-Ich liebe auch die Wiesenblumen: die Königin der Fluren, schaukelnd in
-leichten Winden und vom Glucksen des Baches in den Schlaf gewiegt. Ihre
-duftende Krone schmückt sich mit Wasserkäfern schimmernder als der Hals
-der Kolibris. Sie ist die Geliebte der Halden, die Braut der grasigen
-Lichtungen.
-
-Tief in den verlorenen alten Parks aber gibt es die geheimnisvollen
-Pflanzen: da gedeihen die _alten_ Blumen, der Erdflieder, die amaryllis
-belladonna und die Kaiserkrone. Anderswo müßten sie sterben, hier aber
-beharren sie, behütet von den Vorbildern der jahrhundertealten
-einzigartigen Bäume mit den verschollenen Namen. Diese vornehmen,
-verwöhnten und gezierten Blumen erheben ihre schwanken Köpfe nur, wenn
-der Wind durch die Amberbäume und Ahorne streicht und aufseufzt wie
-einst Chateaubriand.
-
-
- III.
-
-Die Traurigkeit der kleinen Stadt tut mir wohl: die Gassen mit ihren
-finsteren Laden, die abgetretenen Türschwellen, die Gärten, die in der
-schönen Zeit des Jahres über einem Grunde von blauem Brodem schwimmen,
-über dem Gewirre von Stockrosen, Glyzinien und Weinreben -- und dann
-jene anderen Gärtchen, räudig wie Esel, mit schwärigen Buchsbaumhecken,
-darauf Lumpen zum Trocknen liegen, und das Rinnsal der Gerber, das den
-dünnen Perlmutterglanz des Himmels mitschleppt und zwischen seinen
-Schlammpflanzen hart die Dächer widerspiegelt, o -- und der Wildbach,
-der die Felsen höhlt, sich windet und eilig dahinblinkt! Der kleine
-Stadtplatz ist hübsch, ob die Zikaden in den sommerlichen Buchen
-schrein, ob der Herbstwind auf ihm scharrt oder die Regen ihn
-zerkritzeln. Es gibt auch einen kleinen Stadtpark da, von dem Bernhardin
-de Saint Pierre entzückt gewesen wäre: unter seinen Kastanienbäumen sind
-die Mainächte tief, blau und sanft.
-
-Ich komme seit Jahren in diese Stadt, die einst mein Großvater und mein
-Großoheim verlassen haben, um die überblühten Antillen zu suchen. Dann
-haben sie das Brausen des Meeres gehört, musselinene Kleider glitten
-unter ihren Veranden dahin -- und als sie starben, waren sie vielleicht
-voll Sehnsucht nach diesen Gassen mit ihren Laden, den Gärten hier, den
-Rinnsalen und diesem Wildbache.
-
-Wenn ich dann meinen kleinen Meierhof aufsuche, denke ich daran, daß sie
-einst hier gewesen sind. O, ihre Ausflüge! Das Frühstück trugen sie in
-einem Körbchen mit und einer hatte eine Gitarre umgehängt. Leichten
-Ganges folgten ihnen die jungen Mädchen; zwischen taufeuchten Hecken
-summte eine Romanze auf und erschreckte die Vögel mit einer
-unaussprechlichen Liebe. Die Maulbeeren waren noch grün. Man marschierte
-im Takte. Der Schrei eines Mädchens zitterte durch die Luft, an einer
-Wegecke wurde ein großer Hut geschwungen, und ein kühles Lachen flog
-zwischen den regenversehrten Heckenrosen empor.
-
-Diese Gitarre habe ich im Hofe meiner hugenottischen Großtanten an einem
-Sommerabende gehört, als ich vier Jahre alt war. Der Hof schlief in
-weißer Dämmerung, und von den Dächern sank eine unbekannte Zärtlichkeit
-auf die Rosenstöcke und das helle Pflaster. Meine Verwandten saßen auf
-einem Balken, waren froh und lachten darüber, daß ich so ein kleines
-Kind war und eine weiße Schürze anhatte. Dann sang mein Großonkel ein
-Lied aus der Hauptstadt. Ich seh ihn noch mit vorgestrecktem Kopfe
-stehen. Die Luft zitterte sacht. Am Ende einer Koloratur machte er eine
-komische nette Verbeugung.
-
-Ich segne dich, kleine Stadt, in der kein Mensch mich versteht, wo ich
-meinen Stolz, mein Weh und meine Freude in mir verberge und ich keine
-andere Zerstreuung habe, als meine alte Hündin kläffen zu hören oder
-arme Gesichter anzuschauen. Aber dann steige ich die Hügel empor, wo der
-dornige Stechginster wächst -- und dort erlebe ich in der Betrachtung
-meiner Kümmernisse das sanfte Glück, das Verzichten heißt. Jetzt quält
-mich nicht mehr das rohe und verächtliche Lachen der Leute noch auch das
-Zweifeln an allem. Das Lachen derer, die mich verachten, ist verstummt
--- und ich werde gleichgültig gegen alles, was ich bin. Aber ich bin
-indessen ernst geworden gegen mich selber und die andern. Mit
-furchtsamer Freude sehe ich nun die Sorglosigkeit der Glücklichen. Ich
-habe verstehen gelernt, wieviel Leiden aus der Liebe wachsen kann und
-wie tiefe Blindheit aus einem Blicke. Und um dieser meiner Leiden willen
-möchte ich eine traurige zarte Liebkosung denen schenken, die noch
-nichts anderes wissen als das Glück.
-
-
- IV.
-
-Im Garten tut mir der Duft des Flieders plötzlich weh, denn ich bin
-todtraurig.
-
-Flieder, seit der Kindheit bist du mir teuer. Damals habe ich
-deine Blütensträuße angeschaut, die schönen Bilder, auf eine
-Spielzeugschachtel gemalt. In dem vertrauten Obstgarten meiner
-Jugendzeit blühtest du auch. O, in diesem Garten gab es Igel! Sie
-glitten die alten Balken entlang -- wie unschuldig und sanft sind die
-Igel trotz ihrer Stacheln. Ich erinnere mich noch meiner Erregung, als
-ich an einem Winterabende einen auf der Schwelle unserer Küche fand. Der
-Schnee hatte ihn vertrieben und nun steckte er seinen kleinen Rüssel in
-die Abfälle, die da liegengeblieben waren.
-
-
- V.
-
-Ich liebe die Wesen der Nacht, die Käuzchen mit hauchendem Fluge, die
-Fledermäuse, die Dachse -- alle ängstlichen Tiere, die durch die Luft
-und das Gras gleiten, und die wir so wenig kennen. Was für Feste mögen
-sie wohl unter den Pflanzen, ihren Schwestern, feiern?
-
-In der Stunde, da der Mensch ruht, springen die Kaninchen silberig von
-Tau über die Minze der Gräben hin und halten ihre geheimen Versammlungen
-ab; die Frösche quaken und platschen in den Pfützen, aus den
-Glühwürmchen sickert der weiche gelbe, feuchte Schimmer, der Maulwurf
-bohrt sich unter den Wiesen hin, die Nachtigall schluchzt auf wie ein
-Springbrunnen, und die Schleiereule läßt ihr trauriges Lachen hören, als
-ob sie sich in ihrer Furchtsamkeit zu der Freude Gottes gesellen wollte.
-
-Wie oft habe ich mir gewünscht, ein solches Wesen der Nacht zu sein! Ein
-schauerndes Kaninchen unter der Weißdornhecke oder ein Dachs, von den
-saftigen grünen Blättern gestreichelt. So hätte ich keine anderen Sorgen
-gekannt als die um meine leibliche Verteidigung -- und ich hätte nicht
-lieben müssen und nicht hoffen.
-
- ENDE
-
-
-
-
- INHALT
-
-
- Seite
- Das Paradies 3
- Das Paradies der Tiere 6
- Die Güte des lieben Gottes 8
- Der Weg des Lebens 11
- Die kleine Negerin 15
- Ronsard 17
- Robinson Crusoe 19
- Das Grabmal des Dichters 21
- Von der Barmherzigkeit gegen die Tiere 24
- Betrachtung über die Dinge 27
- Lob der Steine 40
- Betrachtung über eine Schnepfe 43
- Betrachtungen über ein Speisezimmer 49
- Betrachtungen über einen Tautropfen 53
- Betrachtung über Astrologie 60
- Notizen 68
-
-
-
-
-Anmerkungen zur Transkription
-
-
-Hervorhebungen, die im Original g e s p e r r t sind, wurden mit
-Unterstrichen wie _hier_ gekennzeichnet.
-
-Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
-(vorher/nachher):
-
- [S. 38]:
- ... Hammer Anwort. Der Hammer, den der Meister ...
- ... Hammer Antwort. Der Hammer, den der Meister ...
-
- [S. 38]:
- ... vom Herzen schwang, war das Herz des Amboß. ...
- ... von Herzen schwang, war das Herz des Amboß. ...
-
- [S. 64]:
- ... ehe wir Menschen geworden sind. Daraus ergibt ...
- ... ehe wir Menschen geworden sind. Daraus ergibt sich ...
-
- [S. 65]:
- ... blüht gegen Ende des Sommer. Ich habe ...
- ... blüht gegen Ende des Sommers. Ich habe ...
-
- [S. 75]:
- ... die Luft, an eine Wegecke wurde ein großer Hut ...
- ... die Luft, an einer Wegecke wurde ein großer Hut ...
-
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Das Paradies, by Francis Jammes
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS PARADIES ***
-
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-
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-
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-even without complying with the full terms of this agreement. See
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-Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
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-works. See paragraph 1.E below.
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-1.E.9.
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-<title>The Project Gutenberg eBook of Das Paradies, by Francis Jammes</title>
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- <!-- TITLE="Das Paradies" -->
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-<body>
-
-
-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Das Paradies, by Francis Jammes
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Das Paradies
- Geschichten und Betrachtungen
-
-Author: Francis Jammes
-
-Translator: Emil Alphons Rheinhardt
-
-Release Date: April 26, 2016 [EBook #51871]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS PARADIES ***
-
-
-
-
-Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<div class="frontmatter">
-<h1 class="title">
-Das Paradies
-</h1>
-
-<p class="aut">
-<span class="line1">Geschichten und Betrachtungen</span><br />
-<span class="line2">von</span><br />
-<span class="line3">Francis Jammes</span>
-</p>
-
-<p class="pub">
-<span class="line1">Kurt Wolff Verlag / Leipzig</span>
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="frontmatter">
-<p class="ser">
-Bücherei &bdquo;<em>Der jüngste Tag</em>&ldquo;, Bd. 58/59
-</p>
-
-<p class="printer">
-Gedruckt bei E. Haberland, Leipzig
-</p>
-
-<p class="trn">
-Berechtigte Übertragung von E. A. Rheinhardt
-</p>
-
-</div>
-
-<h2 class="pbb chapter" id="chapter-0-1">
-<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a>
-DAS PARADIES
-</h2>
-
-<p class="first">
-Der Dichter sah seine Freunde an, die Anverwandten,
-den Priester, den Arzt und den kleinen
-Hund, alle, die in seinem Zimmer versammelt
-waren &mdash; und starb. Auf ein Stück Papier wurde
-sein Name geschrieben und sein Alter: er war achtzehn
-Jahre alt.
-</p>
-
-<p>
-Da ihn die Freunde und Anverwandten auf die
-Stirne küßten, fühlten sie, daß er kalt geworden
-war. Er aber empfand ihre Lippen nicht mehr,
-denn er war im Himmel. Und nun fragte er sich
-auch nicht mehr, wie er es auf Erden immer
-getan hatte, wie denn dieser Himmel eigentlich
-sei. Da er darinnen war, verlangte es ihn nach
-nichts anderem mehr. Seine Eltern, die vielleicht
-(wer weiß das?) vor ihm gestorben waren, kamen
-ihm entgegen. Sie weinten nicht, und auch er
-weinte nicht, denn sie hatten, alle drei, einander
-niemals verlassen.
-</p>
-
-<p>
-Seine Mutter sagte ihm: &bdquo;Geh, kühl den Wein
-ein! Wir werden dann gleich in der Laube des
-Paradiesgartens mit dem lieben Gott zum Mittagessen
-gehn.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Sein Vater sagte ihm: &bdquo;Geh dort unten Obst
-<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a>
-pflücken! Hier gibt es keine giftigen Früchte.
-Und die Bäume reichen dir gern ihre Früchte.
-Ihre Blätter und Zweige leiden nicht unter deinem
-Pflücken, denn sie sind unerschöpflich.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Der Dichter wurde von Freude erfüllt, da er
-nun wieder seinen Eltern gehorchen konnte. Als
-er aus dem Obstgarten zurückkam und die Weinkrüge
-in das Wasser gestellt hatte, erblickte er
-seine alte Hündin, die vor ihm gestorben war.
-Zärtlich schweifwedelnd lief sie herbei und leckte
-ihm die Hände und er streichelte sie. Und mit
-ihr waren alle Tiere da, die ihm auf Erden die
-liebsten gewesen waren: ein kleiner rothaariger
-Kater, zwei junge graue Kater, zwei schneeweiße
-Kätzchen, ein Gimpel und zwei Goldfische.
-</p>
-
-<p>
-Er sah den Tisch gedeckt und an ihm sitzend
-den lieben Gott, den Vater und die Mutter und
-neben ihnen ein schönes junges Mädchen, das er
-unten auf der Erde liebgehabt hatte, und das ihm in
-den Himmel gefolgt war, obwohl es nicht gestorben
-war. Und nun erkannte er mit einem Male, daß
-der Paradiesgarten der Garten seines irdischen
-Vaterhauses sei, in dem wie ehdem und immer
-die Lilien und Granatbäume blühten und der Kohl
-wuchs.
-</p>
-
-<p>
-Der liebe Gott hatte seinen Stock und seinen
-Hut auf den Boden gelegt. Er war angetan wie
-die Armen der großen Landstraßen, die einen
-Wecken Brotes in ihrem Quersacke tragen und
-<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
-die die Obrigkeit an den Eingängen der Städte anhalten
-und ins Gefängnis werfen läßt, weil sie nichts
-haben, was für sie bürgt. Seine Haare und sein Bart
-waren weiß wie das große Licht des Tages und
-seine Augen tief und dunkel wie die Nacht.
-</p>
-
-<p>
-Er sprach &mdash; und seine Stimme war sanft &mdash;:
-&bdquo;Die Engel sollen kommen und uns bedienen,
-denn es ist ihr Glück, zu dienen.&ldquo; Da kamen auch
-schon auf allen Wegen des himmlischen Gartens
-die Heerscharen herangeeilt. Und das waren die
-treuen Dienstboten, die im irdischen Leben den
-Dichter und seine Familie geliebt hatten. Da kam
-nun der alte Johann, der ertrunken war, als er
-einen kleinen Jungen retten wollte, die alte Marie,
-die an einem Sonnenstiche gestorben war, da war
-der humpelnde Peter, Johanna war da und noch
-eine andere Johanna. Und der Dichter erhob sich
-von seinem Sitze, um ihnen die Ehre zu erweisen,
-und er sprach zu ihnen: &bdquo;Setzt euch auf meinen
-Platz, denn ihr müßt neben Gott sitzen.&ldquo; Gott
-lächelte, da er ihre Antwort schon wußte, noch
-ehe sie geredet hatten. Sie aber sagten: &bdquo;Unser
-Glück ist, zu dienen. Und so sind wir bei Gott.
-Dienst du selber nicht auch deinem Vater und
-deiner Mutter? Und dienen sie wiederum nicht
-IHM, der uns dient?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Mit einem Male sah er nun den Tisch anwachsen
-und neue Gäste sich daran niederlassen. Das
-waren Vater und Mutter seines Vaters und seiner
-<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a>
-Mutter und die Geschlechter alle, die ihnen vorangegangen
-waren.
-</p>
-
-<p>
-Es wurde Abend. Die Ältesten schliefen ein.
-Der Dichter und seine Freundin hatten einander
-lieb. Und Gott, den sie empfangen hatten, ging
-seiner Wege, gleich jenen Armen der großen
-Landstraßen, die einen Wecken Brotes in ihrem
-Quersacke tragen und die die Obrigkeit an den
-Eingängen der großen Städte anhalten und ins
-Gefängnis werfen läßt, weil sie nichts haben, das
-für sie bürgt.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-2">
-DAS PARADIES DER TIERE
-</h2>
-
-<p class="first">
-Ein armes altes Pferd stand mit seinem Wagen
-träumend vor der Tür eines elenden Wirtshauses,
-in dem Weiber kreischten und Männer gröhlten.
-Es regnete, Mitternacht war nahe. Das arme dürre
-Pferd wartete nun hier todtraurig mit herabgesunkenem
-Kopfe und schwachen Beinen, daß ihm
-das Vergnügen der wüsten Menschen da drinnen
-endlich erlauben möchte, in seinen elenden stinkenden
-Stall zurückzukommen. Schreiende Zoten
-von Männern und Weibern klangen ihm in seinen
-halben Schlaf. Mit Mühe hatte es sich in der langen
-Zeit daran gewöhnt und verstand nun mit
-seinem armen Hirn, daß der Schrei der Dirnen
-nichts Bedeutsameres sei als der ewig gleiche
-Lärm des Rades, das sich dreht.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
-Diese Nacht nun träumte ihm verschwommen
-von einem kleinen Füllen, das es einmal gewesen
-war, von einer Wiese, auf der es, noch ganz rosig,
-seine Sprünge gemacht hatte, und von seiner
-Mutter, die ihm zu trinken gegeben hatte. Da
-stürzte das alte Pferd plötzlich tot hin auf das
-schmutzige Pflaster.
-</p>
-
-<p>
-Das Pferd kam an das Tor des Himmels. Ein
-großer Weiser stand davor und wartete, daß Sankt
-Petrus käme und ihm öffne. Er sagte zu dem
-Pferde: &bdquo;Was willst du denn hier? Du hast kein
-Recht, in den Himmel zu kommen. Ich habe das
-Recht, denn ich bin von einer Frau geboren worden.&ldquo;
-Das alte Pferd erwiderte ihm: &bdquo;Meine Mutter
-war eine liebe Stute. Sie war alt und ausgesogen
-von den Blutsaugern, als sie starb. Ich
-komme jetzt, um den lieben Gott zu fragen, ob
-sie hier ist.&ldquo; Da öffnete das Tor des Himmels seine
-beiden Flügel den Einlaßheischenden und das Paradies
-der Tiere lag vor ihnen. Das alte Pferd erkannte
-sogleich seine Mutter, und auch diese erkannte
-es, und sie begrüßten einander wiehernd.
-Da sie nun beide auf der großen himmlischen
-Wiese standen, hatte das Pferd eine große Freude,
-denn es erblickte alle seine Gefährten aus dem
-einstigen Elend wieder und es sah, daß sie für
-immer glücklich waren. Alle waren da: die, die
-ausgleitend und stolpernd einst auf dem Pflaster
-der Städte Steine geschleppt hatten und lahmgeschlagen
-<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
-vor den Lastwagen zusammengebrochen
-waren. Die waren da, die mit verbundenen Augen
-zehn Stunden im Tage im Karussell die Holzpferde
-gedreht hatten, und die Stuten, die bei den Stierkämpfen
-an den jungen Mädchen vorbeigerast
-waren, die rosig vor Freude sahen, wie die Leidenskreaturen
-ihre Eingeweide durch den glühenden
-Sand der Arena schleiften. Und viele, viele
-andere noch waren da. Und alle gingen nun in
-Ewigkeit über das große Gefilde der göttlichen
-Stille.
-</p>
-
-<p>
-Alle Tiere waren glücklich. Zierlich und geheimnisvoll.
-Selbst dem lieben Gott, der ihnen lächelnd
-zusah, ungehorsam, spielten die Katzen mit einem
-Knäuel Bindfaden, den sie mit leichter Pfote weiterrollten,
-voll des Gefühles geheimer Wichtigkeit,
-die sie nicht mitteilen wollten. Die Hündinnen,
-die guten Mütter, verbrachten ihre Zeit damit,
-ihre winzigen Jungen zu säugen. Die Fische
-schwammen ohne Angst vor dem Fischer dahin.
-Der Vogel flog, ohne den Jäger zu fürchten. Und
-so war alles. Und nicht einen Menschen gab es
-in diesem Paradiese.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-3">
-DIE GÜTE DES LIEBEN GOTTES
-</h2>
-
-<p class="first">
-Sie war ein hübsches und zartes kleines Geschöpf
-und arbeitete in einem Laden. Sie war nicht sehr
-klug, wenn man das so sagen will, aber sie hatte
-<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
-dunkle Augen voll Sanftheit, die einen ein bißchen
-traurig anschauten und sich dann gleich senkten. Viel
-Zärtlichkeit war in ihr und jene schlichte Alltäglichkeit,
-die nur die Dichter verstehn können, und die
-einzig das Reinsein von allem Hasse mit sich bringt.
-</p>
-
-<p>
-Sie sah so einfach aus wie das bescheidene Zimmer,
-darin sie mit ihrer kleinen Katze, die ihr jemand
-geschenkt hatte, wohnte. Jeden Morgen,
-bevor sie zu ihrer Arbeit ging, ließ sie ein Näpfchen
-Milch für die Katze zurück. Diese hatte
-ebenso wie ihre Herrin gute, traurige Augen. Sie
-wärmte sich in der Sonne auf dem Fensterbrette,
-auf dem ein Basiliumstöckchen stand, oder sie
-leckte sich ihre kleinen Pfoten wie einen Pinsel
-glatt und kraute sich die kurzen Kopfhaare, oder
-sie hielt eine Maus vor sich fest.
-</p>
-
-<p>
-Eines Tages waren Katze und Herrin schwanger,
-die eine von einem schönen Herrn, der sie verlassen
-hatte, die andere von einem schönen Kater,
-der sich nicht mehr sehen ließ. Der Unterschied
-war nur, daß das arme Mädchen krank und kränker
-wurde und schluchzend seine Zeit hinbrachte,
-während die Katze sich in der Sonne mit allerlei
-fröhlichen Drehungen und Wendungen vergnügte
-und ihr weißer, spaßhaft aufgetriebener Bauch
-schimmerte. Die Katze hatte ihre Liebeszeit nach
-der des Mädchens gehabt, was die Dinge so gestaltete,
-daß beide um den gleichen Zeitpunkt ihre
-Niederkunft zu erwarten hatten.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
-Die kleine Arbeiterin erhielt nun in diesen
-Tagen einen Brief von dem schönen Herrn, der
-sie verlassen hatte. Er sandte ihr fünfundzwanzig
-Franken und erzählte ihr dazu, wie herrlich großmütig
-er sei. Sie kaufte ein Kohlenbecken, Kohlen,
-für einen Sou Zündhölzer &mdash; und tötete sich.
-</p>
-
-<p>
-Als sie im Himmel ankam, in den einzutreten
-sie erst ein junger Priester hatte hindern wollen,
-zitterte das hübsche zarte kleine Geschöpf zuerst
-in dem Gedanken, daß sie schwanger sei und Gott
-sie verdammen könne. Aber der liebe Gott sprach
-zu ihr: &bdquo;Meine Freundin, ich habe dir ein hübsches
-Zimmer vorbereitet. Geh hin und bring darin
-dein Kindlein zur himmlischen Welt! Hier im
-Himmel geht alles gut vorüber, und du wirst nicht
-mehr sterben müssen. Ich liebe die Kinder &mdash; lasset
-sie zu mir kommen!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Als sie das Zimmerchen betrat, das sie im Hause
-der himmlischen Güte erwartete, sah sie, daß ihr
-der liebe Gott eine Überraschung bereitet hatte.
-</p>
-
-<p>
-Er hatte ihr in einem schönen Körbchen die
-Katze, die sie liebte, dahin bringen lassen. Und
-auf dem Fensterbrette stand ein Basiliumstöckchen.
-Sie ging zu Bett. Und sie bekam ein schönes
-blondes kleines Mädchen und die Katze bekam
-vier schöne schwarze köstliche kleine Kater.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-4">
-<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
-DER WEG DES LEBENS
-</h2>
-
-<p class="first">
-Ein Dichter setzte sich eines Tages an seinen
-Tisch, um eine Geschichte zu schreiben. Aber es
-wollte ihm kein einziger Einfall kommen. Dennoch
-war ihm fröhlich zumute, denn die Sonne überglänzte
-den Geraniumstock auf seinem Fensterbrette
-und inmitten des offenen blauen Fensters
-flog surrend eine Fliege auf und nieder. Und da
-sah er mit einem Male sein Leben vor sich. Es war
-eine weite weiße Straße, die, ausgehend von einem
-dunklen Haine, darin die Wasser murmelten, bis
-an einen kleinen stillen Grabhügel führte, den
-Dornsträucher, Nesseln und Seifwurz überwucherten.
-In dem dunklen Wäldchen erblickte er den
-Schutzengel seiner Kindheit. Der hatte goldene
-Flügel wie eine Wespe, blondes Haar und ein Antlitz
-so still wie das Wasser eines Brunnens an
-einem Sommertage.
-</p>
-
-<p>
-Der Schutzengel sprach zu dem Dichter: &bdquo;Erinnerst
-du dich der Zeit, da du noch klein warst?
-Du kamst mit deinem Vater und deiner Mutter,
-die hier angeln wollten, hierher. Die Wiese da
-war heiß, viele Blumen gab es und Heuschrecken.
-Weißt du noch, daß die Heuschrecken aussahen
-wie abgebrochene Halme, die sich bewegten? Mein
-Freund, willst du den Ort wiedersehen?&ldquo; Der
-Dichter sagte: &bdquo;Ja.&ldquo; Und sie gelangten zusammen
-an das blaue Ufer, darüber blau der Himmel und
-schwarz die Haselnußsträucher hingen. &bdquo;Sieh deine
-<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
-Kindheit!&ldquo; sprach der Engel. Der Dichter sah auf
-das Wasser nieder, weinte und sagte: &bdquo;Ich sehe
-nicht mehr die sanften Gesichter meiner Mutter
-und meines Vaters sich hier spiegeln. Hier haben
-sie sich immer ans Ufer gesetzt. O, sie waren still,
-gütig und glücklich! Ich trug eine weiße Schürze,
-die ich immer schmutzig machte und die mir die
-Mutter dann mit dem Taschentuche sauber rieb.
-Lieber Engel, sag mir, wo sind die Spiegelbilder
-ihrer sanften Gesichter? Ich sehe sie nicht mehr,
-ich sehe sie nicht mehr!&ldquo; In diesem Augenblicke
-löste sich ein schönes Sträußchen Haselnüsse von
-einem der Sträucher, schwamm und wurde von
-der Strömung davongetragen. Da sprach der Engel
-zu dem Dichter: &bdquo;Das Spiegelbild deines Vaters
-und deiner Mutter ist von der Strömung des Wassers
-davongetragen worden wie dieses Sträußchen
-Früchte. Denn alles geht dahin, die Dinge und
-die Erscheinungen. Das Bildnis deiner Eltern ist
-im Wasser vergangen, und was davon übrig blieb,
-heißt Erinnerung. Besinne dich und bete, und du
-wirst die geliebten Bilder wiederfinden!&ldquo; Als in
-diesem Augenblicke ein azurblauer Eisvogel über
-das Schilf dahinflog, schrie der Dichter auf: &bdquo;O
-Engel, sehe ich nicht in den blauen Flügeln dieses
-Vogels die Augen meiner Mutter wieder!&ldquo; Und
-das himmlische Wesen sagte: &bdquo;So ist es. Doch sieh
-weiter!&ldquo; Und aus dem Wipfel eines Baumes, auf
-dem eine Turteltaube ihr Nest gebaut hatte, flatterte
-<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
-eine Feder leicht und weiß, sich drehend, zur
-Erde nieder. Und der Dichter schrie auf: &bdquo;Ist dieser
-weiße Flaum nicht die reine Sanftheit meiner
-Mutter?&ldquo; Und das himmlische Wesen sagte: &bdquo;So
-ist es!&ldquo; Ein leichter Hauch kräuselte das Wasser
-und rauschte durch das Laub. Und der Dichter
-fragte: &bdquo;Höre ich nicht die milde und dunkle
-Stimme meines Vaters?&ldquo; Und das himmlische
-Wesen sagte: &bdquo;So ist es!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Sie gingen zusammen weiter auf dem Wege,
-der aus dem Wäldchen kam und das Ufer entlang
-führte. Mit einem Male wurde unter der Sonne die
-weite Straße blendend weiß. Sie war nun wie das
-Linnen auf dem heiligen Abendmahlstische. Und
-zur Rechten und zur Linken klangen verborgene
-Wasser wie heilige Glocken. Da fragte der Engel:
-&bdquo;Kennst du diese Stelle deines Lebens?&ldquo; &bdquo;Hier ist&ldquo;,
-sagte der Dichter, &bdquo;der Tag meiner ersten Kommunion.
-Ich denke an die Kirche, an die glücklichen
-Gesichter meiner Mutter und meiner Großmutter.
-O, ich war traurig und glücklich zugleich. Wie
-glühend habe ich mich hingekniet! Schauer liefen
-mir über die Haut des Kopfes. Abends beim Familienmahle
-küßten sie mich und sagten: Du warst
-der Schönste!&ldquo; In dieser Erinnerung verging der
-Dichter aufschluchzend. Und also weinend war er
-schön wie am Tage der heiligen Feier, und seine
-Tränen fielen auf seine Hände wie Weihwasser.
-Und sie gingen zusammen die Straße weiter.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
-Der Tag neigte sich schon. Die hohen Pappeln
-am Straßenrande bogen sich sacht. Eine von ihnen,
-die ferne inmitten einer Wiese stand, glich einem
-großen jungen Mädchen. Und der Himmel war nun
-so wunderbar in Blässe und Blau getönt, daß er
-aussah wie die Schläfe einer Jungfrau. Der Dichter
-gedachte der ersten Frau, die er geliebt hatte. Und
-der Schutzengel sprach zu ihm: &bdquo;Diese Liebe war
-so rein und so voll der Schmerzen, daß sie mich
-nicht betrübt.&ldquo; Indes sie nun weiterschritten, wuchs
-sanfter Schatten um sie und eine Herde Lämmer
-zog an ihnen vorbei. Da das himmlische Wesen
-das Leiden des Dichters sah, hatte es ein Lächeln auf
-seinem Antlitze, schwer und süß wie das Lächeln
-einer kranken Mutter. Und seine goldenen Flügel
-verwehten den schauernden Hauch von Abend.
-</p>
-
-<p>
-Bald entzündeten sich die Sterne hoch oben im
-Schweigen. Da glich der Himmel dem Totenbette
-eines Vaters, umgeben von Kerzen und stummer
-Klage. Und die Nacht war wie eine große Witwe,
-die auf der Erde kniet. &bdquo;Erkennst du das?&ldquo;
-fragte der Engel. Der Dichter redete nicht und
-kniete nieder.
-</p>
-
-<p>
-Endlich gelangten sie dahin, wo die Straße bei
-dem kleinen Grabhügel, den Dornsträucher, Nesseln
-und Seifwurz überwucherten, zu Ende ging. Und
-der Engel sprach zu dem Dichter: &bdquo;Ich wollte dir
-deinen Weg zeigen: hier ist der Ort, an dem du
-ruhen wirst, hier, nicht ferne den Wassern. Sie
-<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
-werden dir Tag um Tag das Bild deiner Erinnerungen
-bringen, das azurne Blau des Eisvogels, das den
-Augen deiner Mutter gleicht, den weißen Flaum
-der Turteltaube, der sanft ist wie sie, das Rauschen
-des Laubes, das wie die milde und dunkle Stimme
-deines Vaters ist, das Leuchten der Straße, weiß
-wie deine erste Kommunion, und die pappelschlanke
-Gestalt der ersten Frau, die du geliebt hast. Und
-endlich werden dir die Wasser die große leuchtende
-Nacht bringen.&ldquo;
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-5">
-DIE KLEINE NEGERIN
-</h2>
-
-<p class="first">
-Manchmal haftet mein Gedanke an dem Vergilben
-der alten Seekarten und ich höre das Brausen
-der Monsune im Fieber meines Hirns. Aber wie? Muß
-ich denn, um für dieses Leben etwas übrig zu haben,
-auch jenes heraufholen, das ich vielleicht vor meiner
-Geburt zwischen zweien schwarzen Sonnen geführt
-habe? Die ungewisse Landschaft rollte Sterne dahin
-in das zerrissene Stöhnen eines Ozeans ...
-</p>
-
-<p>
-Jemand kratzte an meiner Tür. Ich rief: &bdquo;Herein!&ldquo;
-Es war eine junge Negerin in einem blauen Überwurfe,
-der bis zur Hälfte der Schenkel reichte.
-Sie setzte sich auf den Boden und streckte ihre
-gefalteten Hände gegen mich; und ich sah, daß
-auf ihren nackten Armen Peitschenstriemen waren.
-&bdquo;Wer hat dir das getan?&ldquo; fragte ich sie. Sie antwortete
-nicht und zitterte an allen Gliedern. Sie
-<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
-verstand mich nicht und fragte sich vielleicht, ob
-auch ich sie mißhandeln wolle.
-</p>
-
-<p>
-Ganz sachte schob ich ihr Kleid zur Seite und
-sah, daß auch ihr Rücken wund war. Ich wusch
-sie. Aber sie flüchtete, entsetzt von dieser Güte,
-unter den Tisch meiner Hütte. Ich hatte Tränen
-in den Augen. Ich versuchte, sie zu rufen. Aber
-ihre Blicke, wie die einer geschlagenen Hündin,
-flohen mich. Ich hatte da ein paar Kartoffeln und
-ein wenig Butter. Ich zerdrückte sie mit einem
-Holzlöffel in einem Napfe, machte eine Brühe davon
-und stellte sie in einiger Entfernung von der
-Hingekauerten auf den Boden hin. Dann zündete
-ich meine Pfeife an. Aber wie groß war mein Erstaunen,
-als sie plötzlich auf allen Vieren zu einer
-Ecke der Stube kroch, wo ich ein paar Blumen
-liegen gelassen hatte. Sie richtete sich jäh auf und
-griff mit einer lebhaften Bewegung danach.
-</p>
-
-<p>
-Seit jenem Abenteuer mochten etwa hundertfünfzig
-Jahre vergangen sein, als ich ihr von
-neuem begegnete. Ich wenigstens war davon überzeugt,
-daß sie es war. Es war im peruanischen
-Speisehause in Bordeaux. Sie wischte hier an dem
-Glase eines mürrischen Studenten, der gefunden
-hatte, es sei nicht sauber genug.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-6">
-<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
-RONSARD
-</h2>
-
-<p class="first">
-Meine Mutter hat ein altes Glas bekommen,
-ein Glas, wie das gewesen sein muß, aus dem
-Ronsard dem Jean Brinon einen Trunk geboten
-hat. Wie mag Ronsard gewesen sein? Sicherlich
-hat er ein Gewand aus Hermelin getragen. Und
-während die großen Regen der alten Zeiten die
-Haselnußsträucher am Loir peitschten, saß er mit
-einem dicken alten Folianten in der Kaminecke
-seines Schlosses. Es muß ein Sonntagnachmittag
-um drei Uhr gewesen sein. Ein Frosch quakte in
-seiner Lache, in die die Lanzen des Regens splitterndes
-Licht spritzten. Marie oder Genoveva oder
-eine andere betrat das Gemach und setzte sich zu
-ihm. Und er legte, ohne das Buch zu schließen,
-sanft seine freie Hand auf das Knie der Geliebten.
-Und er lächelte. Er dachte an Odysseus, der über
-die grauen Meere irrt, an Helena, an das Urteil
-des Paris, an Troja und an die Bogenschützen, die
-nackt und helmtragend an der Mauerbrüstung
-knien und den Bogen auf antikische Art spannen.
-</p>
-
-<p>
-Wenn die Wasser der Pyrenäenbäche meinen
-Namen in die Nachwelt tragen wie die Wasser
-der Vendôme den des Ronsard, wenn je ein Jüngling,
-dem das Herz schwer und beklommen ist vom
-Dufte der Nelken, die ein Schulmädel an der Brust
-trägt, sich fragen sollte, wie ich gewesen sein mag,
-möge er sich antworten: &bdquo;An diesem regengrauen
-Allerheiligentage hatte Francis Jammes sein Herz
-<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
-gar nicht schwer und beklommen vom Dufte der
-Nelken, die ein Schulmädchen an der Brust trägt.
-(Übrigens gibt es ja im Herbste keine Nelken!)
-Er rauchte vielmehr seine Pfeife und pflanzte
-Sauerklee in einen Blumentopf, um den Schlaf
-der Pflanzen zu studieren.&ldquo; An der einen Wand
-seines Zimmers hing ein Epinaler Bilderbogen,
-der das &bdquo;einzige wahrhaftige Bild des ewigen
-Juden&ldquo; darstellte. Er zeigte den ewigen Juden mit
-einem wunderlichen Hute, einem Mantel, in blauen
-Pantoffeln, und einem roten Gewande, wie ihm
-gerade Brabanter Bürger einen Krug schäumenden
-Bieres reichen. Das Wirtshaus darauf ist wirklich
-poetisch; Reben ranken daran empor und große
-Rosen beugen sich zum Erdboden nieder &mdash; &mdash; wie die
-Armen, die Bettellieder singen und sich zur Erde
-beugen. Und das alles ist im Lichte des Abendrotes
-gegen Ende des friedlichen Sommers dargestellt.
-</p>
-
-<p>
-An diesem Tage nun warf Francis Jammes einen
-kurzen Blick auf seinen Ruhm. Dieser ganze Ruhm
-lag auf seinem Tische und bestand in dem Umschlag
-eines Briefes, den ihm ein Mönch aus Deutschland
-geschrieben hatte, aus dem Briefe eines ihm
-unbekannten Holländers, der Walch hieß, und dem
-Briefe eines jungen Mädchens. Francis Jammes
-lächelte. Dann klopfte er an seinem Finger die
-Asche aus der Pfeife &mdash; &mdash; &mdash; und war entschlossen, den
-Toten Ehre zu erweisen.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-7">
-<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
-ROBINSON CRUSOE
-</h2>
-
-<p class="first">
-Ich setze diese Verse hierher; sie sind aus einem
-Gedichte, das ich in Holland geschrieben habe:
-</p>
-
-<div class="poem-container">
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">Robinson Crusoe hat (so glaub ich), da er heimfuhr</p>
- <p class="verse">Von seinem grünen schattigen Eiland, das</p>
- <p class="verse">Voll frischer Kokosnüsse war, auch Amsterdam berührt.</p>
- <p class="verse">Wie hat es ihn gepackt, als er die ungeheuren</p>
- <p class="verse">Tore mit ihren wuchtigen Klopfern schimmern sah!</p>
- <p class="verse">Stand er voll Neugier hier vor den Gewölben,</p>
- <p class="verse">In denen Schreiber über Rechnungsbüchern saßen?</p>
- <p class="verse2">Mußte er weinen, da sein lieber Papagei</p>
- <p class="verse">Ihm einfiel und der plumpe Sonnenschirm,</p>
- <p class="verse">Der Schutz war auf dem milden traurigen Eiland?</p>
- </div>
- <div class="stanza">
- <p class="verse">&bdquo;Gepriesen seist du, ewiger Gott!&ldquo; so rief er,</p>
- <p class="verse">Als er die tulpenübermalten Truhen sah.</p>
- <p class="verse">Allein sein Herz, betrübt in Heimkehrfreude,</p>
- <p class="verse">Sehnte sich nach dem Lama, das allein im Weinberg</p>
- <p class="verse">Des Eilandes zurückgeblieben, das vielleicht gestorben war.</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-Was aus den Worten und Bildern dieses Buches
-seit der Kindheit am lebendigsten vor mir steht,
-das ist nicht die Schönheit der Weinreben, die so
-tiefen Schatten gaben, noch ist es der Fisch, den er
-mit einer Schnur und einem Haken daran gefangen
-hat, nicht die einsame Kokospalme in der
-blauen Glut des Morgens ist es, noch auch sind es
-die rosigen und purpurnen Flecken der Meeresküste
-bei Ebbe, voll des Seegetiers, nicht das gebratene
-Zicklein, das er mit Salz aus einer Felsmulde
-gesalzen hat, ist es, was mich so ganz ergriffen
-<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
-hat; auch die Eier der schläfrigen Schildkröten
-sind es nicht. Noch ist es die Fieberkrankheit,
-die der Trunk Wassers, darein er Rum getan
-hatte, allmählich gelindert hat, weder der Papagei
-ist es, noch die Freundschaft mit dem Hund und
-der Katze, nicht der verzweifelte Glanz der Sonne,
-die er auf den Kompaß gemalt hatte, und nicht
-die Quelle süßen Wassers ist es, es sind auch nicht
-die Speisen, die er sich so kunstlos bereitet hat
-(obwohl ich mich gerade ihrer vielleicht am häufigsten
-erinnert habe!), all das hat mich nicht so
-erschüttert wie Robinson Crusoes Alter.
-</p>
-
-<p>
-Immer wieder muß ich an die Zeit seines Lebens
-denken, da er wieder in der Menge verschwunden
-war und dann, zweiundsiebzig Jahre alt geworden,
-einsamer ist, als er es je zuvor war. In einem Gewande
-aus blumendurchwirktem Sammet saß er in
-seinem düsteren kleinen Gemache in London, das
-eine unendliche Güte gleich dem matten Licht in
-Sturmwettern erfüllte, und wußte nichts mehr zu
-erwarten als den Frieden des Todes.
-</p>
-
-<p>
-Ich grüße dich, mein Bruder Crusoe! Auch mich
-haben die Orkane des Lebens auf eine wüste Insel
-geworfen; und nun, wohin immer ich schaue, gewahre
-ich nichts mehr als das betäubende und
-eintönige Wasser. Zuweilen trägt es mir treibende
-Trümmer zu, die ich dann einen Augenblick lang
-schweigend betrachte. Bald aber ergreift mich
-mein Träumen wieder, das nun seinen Frieden
-<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
-gemacht hat mit dem großen Dröhnen des unendlichen
-Meeres, und manchmal schon findet sich
-ein Lächeln in mein Gesicht. Wie der Zyklon
-still wird!
-</p>
-
-<p>
-O mögen in meinem Alter Gottes Palmen mein
-Herz wie die friedliche Weinlaube deines Eilandes
-überschatten!
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-8">
-DAS GRABMAL DES DICHTERS
-</h2>
-
-<p class="first">
-Wenn ich an meiner Dichtung mit derselben
-Sorgfalt gearbeitet habe wie ein ordentlicher
-Schuster an seinem Stücke Leder, dann betrachte
-ich den schönen Baum im Garten des Hauses, in
-dem Alfred de Vigny gewohnt hat, als er in Orthez
-Soldat war. Der Handlungsreisende, der seinen
-Musterkoffer in die Apotheke oder den Buchladen
-trägt, weiß so wenig, daß hier der Dichter Alfred
-de Vigny gewohnt hat, wie das Rind, das zur
-Weide trottet, oder der Distelfink, der an seinen
-Futterhalmen pickt.
-</p>
-
-<p>
-Diese Unwissenheit der Städte in allem, was
-ihre großen Männer angeht, hat ihren guten Grund.
-Sie bewahren von ihnen nur das in ihrer Erinnerung,
-was im Einklange mit ihrem eigenen Wesen
-stand. Wenn nur Cervantes, der groß ist wie Homer,
-einmal wiederkehren wollte in die Francosgasse
-zu Madrid, in der er gestorben ist, und den Schatten
-seiner dereinstigen Hauswirtin fragte: &bdquo;Habt Ihr
-<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
-einen Dichter des Namens Miguel Cervantes de
-Saavedra gekannt, der den Don Quichote geschrieben
-hat?&ldquo; Er bekäme zweifellos zur Antwort: &bdquo;Wenn
-Ihr einen Einarmigen meint, den hab&rsquo; ich gekannt,
-aber einen Dichter nicht.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Fordert nicht Gott selber durch diese Unwissenheit,
-daß man die Toten ruhen lasse in Frieden und
-ihnen nicht allerorten marmorne Denksteine errichte?
-Stolzer ist kein Denkmal der Toten als das,
-das sich tagtäglich rings um uns erhebt. Ein jeder
-Pfirsichbaum, der in der Blüte steht oder die Last
-seiner Früchte trägt, ist Denkmal eines Dichters
-so wie jeder Sperling und jede Ameise. Daß im
-Garten des Dichters des Eloah der Tulpenbaum
-golden aufglänzt, daß dort bei den Akazien, wo
-der Brunnen fließt, die Ziegen den Schatten der
-Mauer entlang gehen, ist das rechte Grabmal.
-</p>
-
-<p>
-Ich weiß bestimmt, daß die, die (wie Valéry
-Larbaud, André Gide und Guillaumin) sich um
-das Andenken eines Dichters wie Charles Louis
-Philippe mühen, nur den edelsten Gefühlen gehorchen.
-Aber sie sollten doch nicht die Büste,
-die Bourdelle dem Dichter gemeißelt hat, dem
-Denkmale gegenüberstehen lassen, das Gott selbst
-ihm in Cérilly errichtet hat: der Werkstattbude
-(die wie der Himmel nur eine Türe hat), darin
-ein Handwerker Holzschuhe macht. Ich weiß wohl,
-daß das Erz widerstandskräftig ist, wie die zähe
-Unbeirrbarkeit des Dichters, dessen Beruf es ist
-<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
-(in diesem Sinne gleicht er dem des Fliegers),
-niederzustürzen aus höchster Höhe und sich, wenn
-er den Sturz überlebt, noch höher zu erheben.
-Aber das Erz, das unser Gedenken weiterleben
-sieht, wird von der Zeit versehrt. Dreihundert
-Jahre werden hingehn; diese Bergketten werden
-nicht mehr sein und für ihr einstiges Dasein wird
-nur mehr die menschliche Logik Zeugnis ablegen,
-denn sie werden abgetragen und in die Winde
-verweht sein &mdash; und wie sie wird auch die Büste
-aus Erz dem Erdboden gleich geworden sein. Dableiben
-aber wird der Geruch des Buchen- oder
-Nußholzes, eine alte Frau wird da sein, eine kleine
-Katze, die sich in der Sonne wärmt, eine abgetretene
-Türschwelle und der Azur des Himmels,
-und all das Bleibende wird Zeugnis ablegen
-für Charles Louis Philippe wie dieser Tulpenbaum
-hier für Alfred de Vigny. Und der Wanderer
-künftiger Jahrhunderte, der die feierlichen Rhythmen
-des Einen oder das schlichte Wort des Anderen
-im Herzen trägt, wird, wenn sein Weg Orthez
-oder Cérilly berührt, auch nicht einmal mehr daran
-denken, daß es je eine Büste des Einen oder Anderen
-habe geben können. Aber mit einem Male werden
-die beiden Dichter ihm erscheinen: Vigny in einem
-goldenen Baume, wie ein Römer im Sturme
-sprechend, Philippe in einer kleinen Werkstatt, die
-nach Suppe riecht, und deren Tür kreischt, wenn
-sie sich öffnet.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-9">
-<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
-VON DER BARMHERZIGKEIT GEGEN DIE
-TIERE
-</h2>
-
-<p class="first">
-Tief im Blicke der Tiere leuchtet ein Licht
-sanfter Traurigkeit, das mich mit solcher Liebe
-erfüllt, daß mein Herz sich als ein Hospiz auftut
-allem Leiden der Kreatur.
-</p>
-
-<p>
-Das elende Pferd, das im Nachtregen mit bis
-zur Erde herabgesunkenem Kopfe vor einem Kaffeehause
-schläft, der Todeskampf der von einem
-Wagen zerfleischten Katze, der verwundete Sperling,
-der in einem Mauerloche Zuflucht sucht &mdash;
-all diese Leidenden haben für immer in meinem
-Herzen ihre Stätte. Verböte das nicht die Achtung
-für den Menschen, ich kniete nieder vor solcher
-Geduld in all den Qualen, denn eine Erscheinung
-zeigt mir, daß ein Glorienschein über dem Haupte
-einer jeden dieser Leidenskreaturen schwebt, ein
-wirklicher Glorienschein, groß wie das All, den
-Gott über sie ausgegossen hat.
-</p>
-
-<p>
-Gestern sah ich auf dem Jahrmarkte zu, wie die
-hölzernen Tiere im Karussell sich drehten. Unter
-ihnen gab es auch einen Esel. Als ich ihn erblickte,
-habe ich weinen müssen, weil er mich an seine
-lebendigen Brüder, die gemartert werden, erinnerte.
-Und ich mußte beten: &bdquo;Kleiner Esel, du
-bist mein Bruder! Sie nennen dich dumm, weil
-du nicht imstande bist, Böses zu tun. Du gehst
-mit so kleinen Schritten, und du siehst aus, als ob
-du im Gehen dächtest: &bdquo;Schaut mich doch an, ich
-<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
-kann ja nicht schneller gehen ... Meine Dienste
-brauchen die Armen, weil sie mir nicht viel zu
-essen geben müssen.&ldquo; Mit dem Dornstocke wirst
-du geschlagen, kleiner Esel! Du beeilst dich ein
-bißchen, aber nicht viel, du kannst ja nicht schneller ..
-Und manchmal stürzest du hin. Dann schlagen
-sie auf dich los und zerren so fest an dem Leitseile,
-daß deine Lefzen sich aufheben und deine
-armseligen gelben Zähne zeigen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Auf demselben Jahrmarkte hörte ich einen
-schreienden Dudelsack. Mein Freund fragte mich:
-&bdquo;Erinnert er dich nicht an afrikanische Musik?&ldquo;
-&bdquo;Ja,&ldquo; antwortete ich ihm, &bdquo;in Tuggurt näseln die
-Dudelsäcke so. Das muß ein Araber sein, der hier
-bläst.&ldquo; &bdquo;Gehen wir doch hinein in die Bude,&ldquo; sagte
-mein Freund, &bdquo;es sind Dromedare zu sehen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Zusammengepreßt wie Sardinen in der Schachtel
-drehten sich hier ein Dutzend kleiner Kamele in
-einer Art Grube. Sie, die ich wie Wellen dahinziehen
-gesehen habe inmitten der Sahara, da es um
-sie nichts anderes gab als Gott und den Tod, mußte
-ich nun hier finden, o Elend meines Herzens! Sie
-drehten sich, drehten sich immerzu in dem würgenden
-Raume, und der Jammer, der von ihnen
-ausging, war wie ein Erbrechen über die Menschen.
-Sie gingen, gingen immerzu, stolz wie arme
-Schwäne und in einer Glorie der Verzweiflung,
-mit grotesken Negerlappen bedeckt, verhöhnt von
-den Weibern, die hier tanzten, und hoben ihren
-<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
-armen Wurmhals empor, Gott und den wunderbaren
-Blättern einer Oase des Wahnsinns entgegen.
-</p>
-
-<p>
-O Erniedrigung der Geschöpfe Gottes! In der
-Nähe der Kamele gab es Kaninchen in Käfigen,
-daneben, als Lotteriegewinste zur Schau gestellt,
-schwammen Goldfische in Glasballons mit so engem
-Halse, daß mein Freund mich fragte: &bdquo;Wie hat
-man sie nur da hineinbringen können?&ldquo; &bdquo;Indem
-man sie ein bißchen zusammengedrückt hat,&ldquo; antwortete
-ich ihm. Anderswo wieder wurden lebende
-Hühner, gleichfalls Lotteriegewinste, vom Kreisen
-einer Drehscheibe mitgeschleppt. In ihrer Mitte
-lag, von grauenhafter Angst gepackt, ein kleines
-Milchschweinchen auf dem Bauche. Schwindel
-befiel die Hühner und Hähne, sie schrien und
-hackten in ihrem Wahnsinn aufeinander los. Nun
-machte mich mein Begleiter darauf aufmerksam,
-daß tote und gerupfte Hühner inmitten ihrer
-lebendigen Schwestern aufgehängt waren.
-</p>
-
-<p>
-Mein Herz wallt heiß auf in diesen Erinnerungen
-und unendliches Mitleid ergreift mich.
-</p>
-
-<p>
-O Dichter, nimm die gequälten Tiere in dein
-Herz auf, laß sie darin wieder erwarmen und leben
-in ewigem Glücke! Geh hin und künde das schlichte
-Wort, das die Unwissenden die Güte lehrt!
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-10">
-<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
-BETRACHTUNG ÜBER DIE DINGE
-</h2>
-
-<p class="first">
-Ich trete in ein großes Viereck sich bewegenden
-Schattens ein. Ein Mann sitzt hier und klopft beim
-Licht einer bunten Kerze Nägel in eine Schuhsohle.
-Zwei Kinder strecken die Hände gegen den
-Herd aus. Eine Amsel schläft in dem Rohrkäfige.
-Das Wasser brodelt im irdenen rauchschwarzen
-Topfe, aus dem ein Geruch von ranziger Suppe
-steigt und sich mit dem nach Gerberlohe und
-Leder mengt. Ein Hund sitzt vor dem Herde und
-starrt in die Glut.
-</p>
-
-<p>
-Diese Wesen und Dinge tragen in all ihrer
-Armseligkeit eine solche Sanftmut in sich, daß ich
-mich gar nicht frage, ob ihr Dasein einen anderen
-Sinn habe als eben diese Sanftmut, noch, ob ich
-mir ihre Dürftigkeit mit irgendeiner Schönheit
-schmücken solle.
-</p>
-
-<p>
-Hier wacht der Gott der Armen, der schlichte
-Gott, an den ich glaube. Er, der aus einem Körnlein
-eine Ähre werden läßt, der das Wasser vom
-Lande scheidet, das Land von der Luft, die Luft
-vom Feuer und das Feuer von der Nacht; der die
-Leiber beseelt, der das Laub macht, Blatt um Blatt,
-wie wir es nie werden machen können, worein
-wir aber unser Vertrauen setzen wie in die Arbeit
-eines vorzüglichen Arbeiters.
-</p>
-
-<p>
-Ohne Sehnsucht nach Menschenwissen denke
-ich nach; und so kann es geschehen, daß Gott sich
-mir offenbart. In der Hütte des Schuhflickers
-<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
-öffnen sich mir die Augen so einfach wie dem
-Hunde, der da sitzt. Und nun sehe ich, sehe in
-Wahrheit, was wenige sehen werden: das Bewußtsein
-der Dinge, zum Beispiel die Opferwilligkeit
-dieses rauchenden Lichtes, ohne das der Hammer
-des Arbeiters kein Brot schaffen könnte.
-</p>
-
-<p>
-Fast während all unserer Zeit nahen wir uns leichtfertig
-den Dingen, die doch gleich uns leiden und
-glücklich sind. Wenn ich eine kranke Ähre unter
-den gesunden erblicke, wenn ich die fahlen Flecken
-an ihren Körnern gesehen habe, dann schaue ich
-sehr klar den Schmerz dieses Dinges. Und in mir
-selber fühle ich das Leiden der Pflanzenzellen
-wieder. Ich verstehe, wie schwer sie es haben,
-auf dem Flecke, der ihnen zugewiesen ist, zu
-wachsen, ohne einander zu erdrücken, und mich
-erfaßt heiß der Wunsch, mein Taschentuch zu
-zerreißen und daraus einen Verband für die kranke
-Ähre zu machen. Dann denke ich freilich, daß
-das kein rechtes Heilmittel für eine bloße Kornähre
-sei, und daß eine solche Behandlung in den
-Augen der Menschen, denen ich schon sonderbar
-genug vorkomme mit meinen Fürsorgen für einen
-Vogel oder eine Grille, eine arge Narretei sein
-müßte. Doch von dem Leiden dieser Körner habe
-ich Gewißheit, denn ich fühle es mit.
-</p>
-
-<p>
-Eine schöne Rose wiederum flößt mir ihre
-Lebensfreude ein. Ich fühle, wie glücklich sie an
-ihrem Stiele ist. Wenn jemand einfach die Worte:
-<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
-&bdquo;Es ist schade, sie zu brechen!&ldquo; ausspricht, bekennt
-er damit, daß er das Glück der Blume mitempfindet,
-und daß er es ihr bewahren will.
-</p>
-
-<p>
-Ich erinnere mich noch ganz genau, wie sich
-mir zum ersten Male das Leiden eines Dinges geoffenbart
-hat. Ich war drei Jahre alt. In meinem Heimatsdorfe
-fiel ein kleiner Junge beim Spielen auf
-einen Glasscherben und starb an seiner Wunde.
-Wenige Tage später kam ich in das Haus, in dem
-das Kind gewohnt hatte. Seine Mutter weinte in
-der Küche. Auf dem Kamine lag ein armseliges
-kleines Spielzeug. Ich sehe deutlich vor mir, daß
-es ein kleines Pferd aus Zinn oder Blei, vor ein
-Blechfäßchen auf Rädern gespannt, war. Die
-Mutter sagte mir: &bdquo;Dieser Wagen hat meinem
-armen kleinen Louis gehört, der tot ist. Soll ich
-dir ihn schenken?&ldquo; Da ging eine Flut von Zärtlichkeit
-über mein Herz. Ich fühlte, daß dieses
-Ding seinen Freund, seinen Herrn nicht mehr
-hatte, und daß es daran litt. Ich nahm das Spielzeug
-und empfand solches Mitleid mit ihm, daß
-ich schluchzte, während ich es nach Hause trug.
-Ich weiß es noch ganz bestimmt, daß ich weder
-ein Gefühl für den Tod des kleinen Jungen noch
-für die Verzweiflung der Mutter hatte, wozu ich
-wohl noch zu jung war. Ich hatte nur Mitleid
-mit dem bleiernen Tiere, das mir dort auf dem
-Kamin ganz verzweifelt erschien und für immer
-ausgeschlossen aus dem Leben, da es den verloren
-<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
-hatte, den es liebte. Ich erinnere mich an all das,
-als ob es gestern geschehen wäre, und kann als
-sicher behaupten, daß der Wunsch, das Spielzeug
-zu besitzen, um mich damit zu vergnügen, mir
-gar nicht gekommen ist. Das ist gewiß wahr,
-denn ich habe, als ich weinend heimkam, das
-Pferd mit dem kleinen Fasse meiner Mutter gegeben,
-die übrigens das Ganze vergessen hat.
-</p>
-
-<p>
-Die Gewißheit von der Beseeltheit der Dinge
-lebt in den Kindern, den Tieren und den schlichten
-Herzen. Ich habe erlebt, daß Kinder ein rohes
-Stück Holz oder einen Stein so sehr mit allen
-Eigenschaften lebender Wesen begabt glaubten,
-daß sie ihnen eine Handvoll Gras brachten, und
-dann, nachdem ich das Gras heimlich weggenommen
-hatte, nicht daran zweifelten, daß das Holz
-oder der Stein das Gras aufgegessen hätten. Die
-Tiere machen keinen Unterschied in dem, was
-ihnen geschieht. Ich habe Katzen gesehen, die
-lange Zeit hindurch etwas, das ihnen zu heiß
-gewesen war, zerkratzten. Das spricht dafür, daß
-die Tiere eine Vorstellung vom Kampf gegen die
-Dinge haben und für sie die Möglichkeit sehen,
-nachzugeben &mdash; und vielleicht auch zu sterben.
-</p>
-
-<p>
-Ich meine, daß nur die Erziehung durch eine
-falsche Eitelkeit es mit sich bringt, daß der Mensch
-sich solch eines Glaubens beraubt.
-</p>
-
-<p>
-Für mich unterscheidet sich die Handlung des
-Kindes, das einem Stück Holze zu essen gibt, gar
-<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
-nicht von gewissen Opferbräuchen der Urreligionen.
-Und schließlich bedeutet der Glaube, daß
-Bäume, die an dem Tage, an dem Kinder geboren
-wurden, gepflanzt worden sind, siechen und vertrocknen,
-wenn die Kinder kränkeln und sterben,
-nichts anderes, als daß man Bäumen ein tieferes
-Verbundensein mit uns als mit dem Leben zuschreibt.
-</p>
-
-<p>
-Ich habe leidende Dinge gekannt, und ich weiß
-von solchen, die an ihrem Leiden gestorben sind.
-Das traurige Kleiderwerk, das von unseren Abgeschiedenen
-zurückbleibt, verfällt rasch. Oftmals
-hat es die Krankheiten, an denen die litten, die es
-getragen haben; denn es hat seine Sympathien.
-Oft habe ich Gegenstände in ihrem Zugrundegehen
-betrachtet. Ihre Auflösung gleicht völlig
-der unseren. Auch sie haben ihren Knochenfraß,
-ihre Geschwülste und ihre Wahnsinne. Ein wurmzerfressenes
-Möbelstück, ein Gewehr mit gebrochenem
-Verschlusse, eine Lade, die sich wirft, eine
-Geige, die ihre Stimme verloren hat, sehe ich an
-Krankheiten leiden, vor denen ich erschüttert stehe.
-</p>
-
-<p>
-Warum sollen wir glauben, daß nur wir Dinge
-lieb haben können und den Dingen die Liebe zu
-uns absprechen? Wer bürgt denn dafür, daß die
-Dinge der Liebe nicht fähig sind, wer zeugt dafür,
-daß sie kein Bewußtsein haben?
-</p>
-
-<p>
-Hatte der Bildhauer nicht recht, der sich mit
-einem Klumpen Ton in den Händen begraben
-ließ, von jenem Ton, der seinen Träumen so gehorsam
-<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
-gewesen war. Dieser Ton hatte ihm doch
-immer die Aufopferung eines guten Dieners, wie
-wir sie am meisten bewundern, bewiesen: sich
-schweigend darzubringen, ohne etwas dafür zu
-erwarten, hingegeben gläubig. Voll Glanz und
-Erhabenheit ist ein solches Bild, das dem Menschen
-also dient, wie der Mensch Gott dient. Jener
-Künstler wußte nicht mehr als sein Ton davon,
-welchem Geheiße er untertan war. Von dem
-Augenblicke an, da sie beide die gleiche Erleuchtung
-empfangen hatten, glaube ich auf gleiche
-Weise an ihr Bewußtsein und liebe sie beide mit
-derselben Liebe.
-</p>
-
-<p>
-Unendlich ist die Traurigkeit in den Dingen,
-die keinem Gebrauche mehr dienen. Auf dem
-Dachboden dieses Hauses, dessen Bewohner ich
-nicht gekannt habe, liegt das Kleid eines kleinen
-Mädchens und eine Puppe, der Verzweiflung verfallen.
-Vor der jahrealten Einsamkeit der Dinge
-hier fühle ich die Gewißheit, daß der eisenbeschlagene
-Stock dort, der einst fest in die Erde der
-grünen Hügel gebissen hat, ebenso glücklich wäre,
-wenn er noch einmal die kühle Frische von Moos
-empfinden dürfte wie der Sommerhut, der nun
-trüb erleuchtet vom armen Lichte einer Dachluke
-daliegt, wenn er noch einmal einen Sommerhimmel
-sehen dürfte.
-</p>
-
-<p>
-Die Dinge aber, die wir liebevoll bewahren,
-erhalten uns ihre Dankbarkeit und sind immer
-<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
-bereit, uns ihre Seele darzubringen, auf daß sie
-sich an uns verjünge. Sie sind wie die Rosen in
-sandigem Grunde, die unendlich erblühen, wenn
-nur ein wenig Wasser sie der Azure ihrer verlorenen
-Brunnen gemahnt.
-</p>
-
-<p>
-In meinem bescheidenen Wohnzimmer habe
-ich einen Kindersessel stehen. Auf ihm saß mein
-Vater und spielte, als er in seinem siebenten Jahre
-die Überfahrt von Guadeloupe nach Frankreich
-machte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er
-auf ihm im Schiffssalon saß und die Bilder ansah,
-die ihm der Kapitän geliehen hatte. Das Holz von
-jenen Inseln muß sehr fest sein, denn es hat den
-Spielen eines kleinen Jungen standgehalten. Dieses
-kleine Möbelstück, das in meinem Wohnzimmer
-einen Hafen gefunden hat, schlief hier lange fast
-vergessen. In langen Jahren hat es seine Seele
-nicht geoffenbart, denn das Kind, dem es gedient
-hatte, gab es nun nicht mehr, und andere Kinder
-kamen nicht, um sich wie Vögel daraufzusetzen.
-Doch neuerdings ist das Haus fröhlich geworden;
-meine kleine Nichte ist da, die eben sieben Jahre
-alt wurde. Sie hat sich auf meinem Arbeitstische
-eines alten botanischen Atlas bemächtigt. Und da
-ich in das Wohnzimmer komme, finde ich sie im
-Lampenlichte auf dem kleinen Sessel sitzen und,
-wie dereinst ihr seliger Großvater, die schönen
-sanften Bilder anschauen. Da sagte ich mir, daß
-einzig dieses kleine Mädchen den Sessel habe neu
-<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
-beleben können, und daß seine dienensfrohe Seele
-sachte das arglose Kind dazu gelockt habe. Zwischen
-dem Kinde und dem Dinge war ein geheimnisvolles
-Spiel von Anziehungskräften am Werke:
-das Mädchen hätte es nicht vermocht, nicht zu
-dem Sessel zu gehen, der einzig dadurch hatte
-wieder zu Leben kommen können.
-</p>
-
-<p>
-Die Dinge sind sanft. Aus eigenem Antriebe
-tun sie niemals Böses. Sie sind die Geschwister
-der Geister. Sie nehmen uns in sich auf, und wir
-bringen ihnen unsere Gedanken, die Sehnsucht
-nach ihnen haben wie die Düfte nach den Blumen,
-zu denen sie gehören.
-</p>
-
-<p>
-Der Gefangene, den keine Menschenseele trösten
-kommt, muß seine Zärtlichkeit zu seiner Pritsche
-und zu seinem irdenen Kruge tragen. Da ihm
-von seinesgleichen alles versagt wird, schenkt ihm
-sein armes Lager den Schlaf und stillt ihm sein
-Krug den Durst. Und selbst die nackten Mauern,
-die ihn doch von der ganzen Welt trennen, werden
-ihm lieb, weil sie zwischen ihm und seinen Peinigern
-stehen.
-</p>
-
-<p>
-Das gezüchtigte Kind liebt den Polster, auf dem
-es weint. Da an einem solchen Abende alles ihm
-gegrollt und wehgetan hat, tröstet es die schweigende
-Seele des Federkissens wie ein Freund, der
-mit seinem Schweigen dem Freunde Ruhe schenken
-möchte.
-</p>
-
-<p>
-Doch nicht allein ihr Stummsein ist es, das uns
-<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
-ihre Zuneigung empfinden läßt. Sie klingen in
-so verschwiegenen Akkorden, mögen sie nun in
-dem Forste klagen, den René mit seiner gewitternden
-Seele erfüllt, oder sie hinsingen über den
-See, an dem ein anderer Dichter in Betrachtungen
-versunken ist. Es gibt Stunden und Zeiten, in
-denen manche dieser Akkorde ein stärkeres Leben
-haben, in denen die tausend Stimmen der Dinge
-lauter zu hören sind. Zwei oder dreimal in meinem
-Leben habe ich den Ruf dieser Geheimniswelt
-vernommen.
-</p>
-
-<p>
-Gegen Ende August um Mitternacht nach einem
-sehr heißen Tage geht über die hingeknieten Dörfer
-ein ungewisses Raunen. Es klingt anders als
-das der Bäche und Quellen oder das des Windes,
-anders ist es als das Geräusch, mit dem die Tiere
-das Gras zermalmen oder das ihrer Ketten, an denen
-sie über den Krippen zerren, anders ist es als die
-Laute der unruhigen Wachhunde, der Vögel oder
-der Schiffchen an den Webstühlen. So mild sind
-diese Klänge dem Ohre, wie dem Auge der
-Schimmer der Morgenröte ist. Nun regt sich eine
-ungeheure und sanfte Welt; die Grashalme lehnen
-sich bis zum Morgen aneinander, unhörbar rauscht
-der Tau, und mit jedem Sekundenschlage ändert
-das große Keimen völlig das Antlitz der Gefilde.
-Nur die Seele kann diese Seelen erfassen, den
-Blütenstaub in der Glückseligkeit der Blumenkronen
-ahnen und die Rufe und das Schweigen
-<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
-vernehmen, darin das göttliche Unbekannte sich
-vollzieht. Es ist so, als ob man sich mit einem
-Male in einem völlig fremden Lande befände und
-hier von der sehnsüchtigen Schwermut der Sprache
-zart ergriffen würde, ohne doch genau zu verstehen,
-was sie ausdrückt.
-</p>
-
-<p>
-Aber ich kann doch tiefer in den Sinn des
-Raunens der Dinge eindringen als in den einer
-Menschensprache, die mir unbekannt ist. Ich fühle,
-daß ich verstehe, und daß es dazu gar keiner großen
-Anstrengung bedarf. Vielleicht ist mein Dichten
-manchmal so weit, den Willen dieser verborgenen
-Seelen zu übersetzen und einige ihrer Lebensäußerungen
-auf eine faßliche Art aufzuzeichnen.
-Ich verstehe es schon, diesem unbestimmten Raunen
-innerlich Antwort zu geben, wie ich es verstehe,
-mit Schweigen verständlich die Fragen einer
-Freundin zu beantworten.
-</p>
-
-<p>
-Aber diese Sprache der Dinge ist nicht völlig
-und einzig mit dem Ohre vernehmbar. Sie bedient
-sich auch anderer Zeichen, die blaß über unsere
-Seele hinhuschen und sich allzu schwach noch
-einprägen, die aber vielleicht deutlicher wiederkommen
-werden, wenn wir bereiter sind, Gott in
-uns aufzunehmen.
-</p>
-
-<p>
-Es gibt Dinge, die mich in den wehevollsten
-Umständen meines Lebens getröstet haben. Etliche
-unter ihnen zogen in solchen Zeiten auf sonderbare
-Art meine Blicke auf sich. Und ich, der ich
-<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
-mich nie vor den Menschen beugen konnte, habe
-mich demütig diesen Dingen hingegeben. Da
-brach ein Strahlen aus ihnen &mdash; doch nicht nur aus
-den Erinnerungen, die mich mit ihnen verknüpfen
-&mdash; und durchdrang mich wie Schauer der
-Freundschaft.
-</p>
-
-<p>
-Ich fühlte sie und fühle sie rings um mich leben,
-leben in meinem verborgenen Reiche, und ich bin
-ihnen verantwortlich wie einem älteren Bruder.
-Im Augenblicke, da ich dies schreibe, empfinde
-ich, daß voll Liebe und Vertrauen die Seelen dieser
-göttlichen Schwestern auf mir ruhn. Der Sessel
-da, der Schrank, die Feder, sie sind mit mir. Ich
-glaube an sie über alle Systeme hinaus, über alles
-Verstehen und jede Deutung hinaus glaube ich
-an sie. Sie geben mir eine Überzeugung, wie kein
-Genie sie mir geben könnte. Jedes System wird
-eitel sein und alle Deutung Irrtum in dem Augenblicke,
-in dem ich in meiner Seele die Gewißheit
-dieser Seelen leben fühle.
-</p>
-
-<p>
-Als ich bei dem Schuhflicker eintrat, habe ich
-mich, mit den Kindern und dem Hunde beim
-Herde sitzend, unvermittelt aufgenommen gefühlt
-und habe meine Seele den tausend unbekannten
-Stimmen der Dinge aufgetan. In dieser andächtigen
-Besinnung wurde aus dem Niederfall einer
-halbverwelkten Ranke, aus dem Knirschen des
-Schürhakens, aus dem Schlage des Hammers und
-dem Flackern der Kerze, wurde aus dem schwarzen
-<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
-geblähten Flecke, als den ich die eingeschlafene Amsel
-sah, und aus dem Auf- und Niedergehen des Deckels
-auf dem Kochtopfe eine geheiligte Sprache,
-die meinem Lauschen verständlicher war als die
-Rede der meisten Menschen. Diese Laute und
-Farben waren nichts anderes als die Gebärde der
-Gegenstände, deren sie sich als Ausdrucksweise
-bedienen wie wir der Stimme und der Blicke.
-Brüderlich fühlte ich mich diesen demütigen Dingen
-verbunden. Und ich erkannte, wie armselig
-es sei, die Reiche der Natur voneinander zu scheiden,
-da es doch nur das eine Reich Gottes gibt.
-</p>
-
-<p>
-Wie darf man behaupten, daß die Dinge uns
-niemals Zeichen ihrer Zuneigung geben? Rostet
-nicht das Werkzeug, dessen sich die Hand des
-Arbeiters nicht mehr bedient, ebenso wie der Mann,
-der das Werkzeug feiern läßt?
-</p>
-
-<p>
-Ich habe einen Schmied gekannt; er war fröhlich
-in den Zeiten seiner Kraft, und der blaue
-Himmel leuchtete an strahlenden Mittagen in seine
-schwarze Schmiede. Lustig gab der Amboß seinem
-Hammer <a id="corr-0"></a>Antwort. Der Hammer, den der Meister
-<a id="corr-1"></a>von Herzen schwang, war das Herz des Amboß.
-Wenn die Nacht hereinbrach, erhellte er die
-Schmiede mit seinem bloßen Schimmer und dem
-Blicke seiner Augen, die unter dem ledernen Blasbalge
-als Kohlenglut glommen. Eine erhabene
-Liebe verband die Seele dieses Mannes mit der
-Seele seiner Dinge. Wenn er sich an den heiligen
-<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
-Tagen zur Andacht sammelte, betete die Schmiede,
-die er schon am Abende vorher gesäubert hatte,
-schweigend mit ihm. Dieser Schmied war mein
-Freund. Oft stand ich an der schwarzen Schwelle
-und rief ihm eine Frage zu &mdash; und die ganze
-Schmiede gab mir Antwort. Die Funken lachten
-über die Kohlen hin, und metallen klingende
-Silben wurden zu einer tiefen und geheimnisvollen
-Sprache, die mich ergriff wie Worte von Pflicht.
-Hier widerfuhr mir fast das Gleiche wie bei dem
-armen Flickschuster.
-</p>
-
-<p>
-Eines Tages wurde der Schmied krank. Sein
-Atem ging kurz; wenn er jetzt an der Kette des
-Blasbalges, der vordem so stark gewesen war, zog,
-merkte ich deutlich, daß dieser keuchte und allmählich
-von der Krankheit seines Herrn befallen
-wurde. Sprungweise und ungleich ging nun das
-Herz des Mannes, und auch der Hammer, den
-er über dem Amboße schwang, fiel verstört auf
-das Eisen nieder. Und im gleichen Maße, wie
-das Licht in den Menschenaugen abnahm, leuchtete
-auch das Feuer in der Esse weniger und weniger.
-Abends flackerte sie dann noch weiter, und
-an den Wänden und der Decke erblich lange das
-Zucken ihres Vergehens.
-</p>
-
-<p>
-Eines Tages fühlte der Schmied bei der Arbeit
-seine Hände und Füße kalt werden, und am Abend
-starb er.
-</p>
-
-<p>
-Ich betrat die Schmiede; sie war kalt wie ein
-<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
-Körper ohne Leben. Ein bißchen Glut nur fand
-ich im Kamine als eine armselige Totenwache
-neben dem Sterbebette glimmen, an dem zwei
-Frauen beteten.
-</p>
-
-<p>
-Drei Monate nachher kam ich wieder in die
-verlassene Werkstätte, um an der Schätzung ihrer
-geringen Einrichtung teilzunehmen. Alles war
-feucht und schwarz wie in einem Grabe. Das
-Leder des Blasbalges war angefault und löchrig
-geworden und löste sich, da jemand an der Kette
-ziehen wollte, von seinem Holzrahmen los.
-</p>
-
-<p>
-Die einfachen Leute, die mit mir die Schätzung
-vornahmen, erklärten: &bdquo;Der Amboß und der Hammer
-haben ausgedient. Sie haben mit ihrem Meister
-zu leben aufgehört.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Ich stand erschüttert. Denn ich hörte den geheimen
-Sinn dieser Worte.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-11">
-LOB DER STEINE
-</h2>
-
-<p class="first">
-Strahlende Schwestern der Bergströme, denen
-ich am Ufer des Alpensees begegnet bin: Steine,
-Geliebte der Iris und des kalten Azurs, ihr, auf
-die sich das Salz niederschlägt, das die Lämmer auflecken;
-ihr Spiegel voll Helle, schillernd wie der
-Hals der Taube, ihr, die ihr mehr Augen habt als
-der Pfau! Im großen Feuer seid ihr Kristalle geworden,
-und eure schneeigen Adern sind ewig,
-ihr Gefährten der Urzeitfluten; seit Anbeginn hat
-<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
-die Meerflut euch gebadet und gewiegt bis zu der
-Stunde, in der die Taube aus der Arche voll Liebe
-aufgurrte, da sie euch erblickte.
-</p>
-
-<p>
-Bald ist das leuchtende Korn eures Fleisches
-blaugeädert weiß wie eine Kinderfaust, bald schimmert
-es kupfergolden wie die Hüfte einer schönen
-schwerblütigen Frau; zuweilen blinkt der Glimmer
-darin silbrig wie eine Wange in der Sonne, dann
-wieder ist es bräunlich wie die Haut der Frauen,
-der das goldene Rot der Mandarine und das stumpfe
-Blond des Tabaks die Farbe gab.
-</p>
-
-<p>
-Ihre Steine, aus dem Herzen des Bergstroms
-gebrochen, gegeneinandergeschmettert, dahingerissen
-durch den Seidelbast der Schluchten, gepeitscht
-von den Rauhfrostwettern, von den
-Lawinen begraben, von der Sonne wieder ans
-Licht geholt, vom Fuße der Gemse losgebrochen:
-ihr seid kühl und schön &mdash; und ihr seid, über all
-das hinaus, rein.
-</p>
-
-<p>
-Ich kenne eure Schwestern in Indien wenig;
-es gibt solche unter ihnen, deren Klarheit mit dem
-Wasser, das aus dem Marmor quillt, wettstreitet,
-andere, die mich an das leuchtende Grün der
-Wiesen in den Talen meiner Heimat denken
-machen, welche wieder, die wie erstarrte Tropfen
-Blutes sind, und endlich die, die Kristall gewordenes
-Sonnenlicht sind.
-</p>
-
-<p>
-Aber ich ziehe euch diesen vor, obwohl ihr nicht
-so kostbar seid, ihr, die ihr zuweilen die Balken
-<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
-der Strohdächer tragen müßt und so das Sprühen
-der Sterne spiegeln könnt, und ihr anderen, auf
-die sich der Schäferhund hinstreckt und traurig
-nun über seine Herde wacht.
-</p>
-
-<p>
-Empfanget tief im Äther, wo ihr auf den Gipfeln
-ruht, weiter die reinliche Nahrung, die eurem
-friedlichen Reiche zugemessen ist. Das Licht möge
-eure unbekannten Zellen durchdringen, und die
-leichten wirbelnden Flocken sollen sie tränken.
-Das Schwirren der Winde mache sie erklingen,
-und endlich mögen sie jene vollkommene Nahrung
-empfangen, von der einst Maria Magdalena in
-einer Felshöhle gestillt worden ist. Rings um euch
-werden eure Freunde blühen, die reinsten Blütenkronen
-dieses Gestirns: aber auch sie werden nicht
-so keusch sein wie ihr, denn sie duften nach Schnee.
-</p>
-
-<p>
-Arme graue Schwestern in den Rinnsalen,
-denen ich in den Ebenen begegnet bin, traurige
-Steine ohne Glanz, ihr, die ihr den Regen sammelt,
-auf daß der Sperling zu trinken habe; ihr, über
-die die Füße der Eselin stolpern, ihr armseligen
-Wächter, die ihr die elenden Gärten umfriedet,
-die ihr die hohlgetretenen Schwellen seid und die
-Brunnengeländer, glattgerieben von der Eimerkette,
-ihr Bettler, blank wie das Eisen der Ackergeräte!
-Ihr werdet heiß gemacht im Armenherde,
-auf daß ihr die Füße der Großeltern erwärmet,
-ihr werdet ausgehöhlt für die niedrigsten Verrichtungen,
-und ihr müßt in eurer Armseligkeit Tisch
-<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
-sein für den Hund und das Schwein. Durchbohrt
-werdet ihr und müßt, zu Mühlsteinen geworden,
-das knirschende Korn mahlen. O ihr, die ihr fortgeholt
-werdet, und ihr, die ihr liegen bleibt: o ihr,
-auf denen der Irrgegangene schlafen wird &mdash; o ihr,
-unter denen ich schlafen werde!
-</p>
-
-<p>
-Ihr habt euch nicht wie eure Gefährten in den
-großen Gebirgen eure Freiheit wahren können,
-aber ich achte euch darob nicht geringer, ihr
-meine Freunde. Ihr seid schön wie alle Dinge, die
-im Schatten sind.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-12">
-BETRACHTUNG ÜBER EINE SCHNEPFE
-</h2>
-
-<p class="first">
-&bdquo;Ich bin eine Schnepfe. Um die Zeit, in der der
-herbstliche Ozean fürchterlich wird und die Schiffe
-im gelben und schwarzen Himmel tanzen, wohne
-ich hier, denn ich mische mich nicht ein in die
-verschiedenen großen Angelegenheiten der Natur,
-ich Schnepfe, die ich nicht weiß, daß tausend und
-tausend Kreolenjungfrauen jetzt verblüht sind wie
-feurige Rosen im zerstörenden Hauche eines
-Vulkans. Hier wohne ich, zwischen den Binsen
-und einer Lache, in der Gleichförmigkeit von Tag
-um Tag. Mein Tal zieht von Norden nach Süden,
-es ist morastig, waldverwachsen und traurig. Aber
-es stimmt recht hübsch überein mit meinem Kleide,
-das wie ein totes Blatt gefärbt ist, und man könnte
-mich schon für eine Dame nehmen, wenn ich da
-<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
-mit meinem Stocke, der mein Schnabel ist, spazierengehe
-... Man weiß von mir auch, daß ich die
-schönsten Augen auf der Welt habe, und daß von
-ihnen die Sage geht, sie weinten, bevor ich sterbe.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Kommen Sie und sehen sie mich in meinem
-Salon an! Wissen Sie denn, wie der Salon einer
-Schnepfe aussieht? Die Jäger mögen Ihnen davon
-erzählt haben. Haben Sie Ihnen aber auch gesagt,
-was ein Schnepfenspiegel ist? Das ist nämlich
-etwas, das ein bißchen schwierig zu erklären ist.
-Meine Spiegel sind aus blankem Silber und haben
-einen dunklen Punkt in der Mitte .... sie sind
-das, was ich hinter mir fallen lasse. Mein Parfüm
-ist das frischgeschlagene Holz. Lieben Sie den Geruch
-von Heu? O, in der Natur sind alle Gerüche
-vereinigt. Würziger aber riecht doch nichts als der
-Saft der Erle, den der Holzhauer abzapft. Das ist
-ein Geruch, der schön ist, während doch Gerüche
-für gewöhnlich nur gut sind. Aber dieser Duft
-ist schön wie das Blut, das in der stillen Stunde
-aufsteigt in die Wangen des Heidekrautes, wenn
-die Sonne müde ihre Haare auflöst und sich lang
-über den Hügel hinstreckt. Wenn ich meine Füße auf
-das setzte, was von einem Erlenstamme am Erdboden
-übrigbleibt, kommt es mir vor, als ob ich auf duftenden
-Purpur trete und ich die Königin von Saba bin.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Die Wohnung, die ich habe, ist gottlob recht
-brauchbar. Ein paar Verbesserungen täten ihr freilich
-schon not: der Wind hat nämlich die Dachschindel
-<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
-aus Blättern, die mir der Dachdecker Frühling darauf
-gelegt hat, schon wieder zerblasen. Der Herr Herbst
-hat sie durch Klematisfrüchte ersetzt &mdash; aber die
-saugen mit ihrem Flaum den Regen aus der Luft.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Ich habe nur ein Erdgeschoß. Der Flur ist ein
-Wassergraben, dunkel genug, daß ich darin ordentlich
-sehe. Man weiß ja, daß meine Augen das
-grelle Licht schlecht vertragen. Mir ist auch ein
-einfacher Stern lieber als die beste Kerze. Der Herr
-hat mir gesagt: &sbquo;Geh, kleine Schnepfe. Ich schenke
-dir alle Sterne des Himmels, daß sie dir leuchten.&lsquo;&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Mein Park ist unermeßlich, er schließt die
-ganze Welt in sich. Aber ich gehe doch erst in
-die Berge, mir kleine Eisstückchen zu holen, wenn
-die große Hitze kommt. Denn man muß es verstehen,
-seine Wünsche einzuschränken &mdash; sonst
-muß man die Geschichte vom Weinberge des
-Naboth wieder von frischem beginnen. Ich wohne
-also hier, sage ich Ihnen, zwischen diesen Binsen
-und der Lache, und ich komme auch kaum fort
-von meinem runden moosigen Platze da und von
-der Quelle, deren Wasser ein Hirt in einen Dachziegel
-geleitet hat, von dem jetzt, durch einen
-Stein festgehalten, ein Kastanienblatt herunterhängt.
-Man darf aber nicht vielleicht glauben, daß es da
-weiter unten nicht eine herrliche Landschaft gibt:
-die Ufer und Inseln des Wildbaches, wo inmitten
-von rosa Nebeln der Herr Reiher auftaucht und
-wieder verschwindet, je nachdem der Nebel sich
-<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
-hebt oder sich ausbreitet. Und in einiger Entfernung
-von ihm unter dem silbernen Himmel
-schnellen über das silberne Wasser die Silberfische,
-auf die er lauert, empor.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Ich wünsche mir, glücklich und verborgen
-wie ein Veilchen zu leben. Eine Schnecke in der
-Schale genügt für mein erstes Frühstück, währenddessen
-ich entzückt bin von all dem Nebel, der
-von jedem Zweige fällt wie ein Hagelschauer aus
-lauter Regenbogen. Was brauche ich auch Luxus
-und Eitelkeit? Wenn ich doch lieber das große
-Buch der Natur lesen könnte, das Buch, von dem
-ich selber ein bescheidenes Exemplar bin. Sehen
-nicht wirklich meine Rückenfedern aus wie der
-Ledereinband eines ganz alten Folianten &mdash; und
-die Federn auf meiner Brust wie seine bunten
-Ränder? Ja, ich lese in mir selber, in dem wirklichen
-Buche, das ich bin, und ich muß nicht meine
-Zuflucht zu all den Mitteln nehmen, deren sich
-die unwissenden Dichter bedienen. Was ich weiß,
-weiß ich ordentlich, weil ich es mir nicht nur
-vorstelle, sondern es mit dem Schnabel und den
-Füßen angreifen kann, und weil es doch die Frucht
-meiner Erfahrungen und meiner Weisheit ist.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Was ich weiß? Ich weiß, daß ich gerade vor
-mich hinmarschiere, die Füße auf der Erde und den
-Kopf im Himmel. Ich weiß, daß es ganz gewöhnliche
-Sachen gibt, über die man sich doch sehr
-wundern muß. Und ich weiß, daß die Welt zusammengesetzt
-<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
-ist aus lauter Schnepfen, die gar
-keine Schnepfen sind. Ich weiß, daß ich leide, wenn
-man mir Blei in meine Flügel schießt. Ich weiß,
-daß ich glücklich bin, wenn ich im Mondschein
-durch das sanfte Gras der Waldränder irre, mit
-gezählten Schritten, den Kopf nach rechts und
-links drehend und bereit, mit der Spitze des
-Schnabels die Würmer aufzupicken. O, von was
-für wunderbaren Nächten habe ich nicht schon
-die Quellen singen gehört, wenn ich mir in ihnen
-säuberlich die Füße wasche! O das fließende Blau,
-das die Schatten des Gebüsches liebkost, bis sie
-zittern und den ersten Himmelschlüsseln weichen!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Ich weiß, daß &sbquo;es muß sein&lsquo; ein großes Wort
-ist, und daß danach mein ganzes armes Tierleben
-abgewandelt wird. Es muß sein, daß ich, wenn es
-April wird, diese wunderbaren Täler verlasse und
-es meinem Fluge anheimgebe, dahin zu fliegen,
-wohin er fühlt, daß nun geflogen werden muß.
-Das habe ich verstehen gelernt, daß so einfach
-dahinzureisen besser ist, als sich abzuquälen mit
-Landkarten, Kompaß und Sextant, mit alldem, wodurch
-die Menschen Schiffbruch leiden. Es muß
-sein, sage ich, ist ein großes Wort! Darum habe
-ich Schnepfe mir auch nicht mein Dasein durch
-Weltkarten, Luftballons, Dampfmaschinen und
-Theorien verwirrt, denn es mußte sein, daß ich
-Flügel habe. Und so ist meine ganze Wissenschaft
-ganz einfach die, daß ich mich auf meinen Schnabel,
-<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
-meine einzige Bussole, verlassen kann, um inmitten
-der Schneefelder (die die Orangenblütenhaine des
-Gebirges sind) die süßeste Braut wiederzufinden.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-So spricht die kleine Schnepfe. Und ich beneide
-die kleine Schnepfe um ihren guten Sinn und um
-ihr Glück. Kleine Schnepfe, es gibt noch anderes
-Blei als das, das dir durch die Flügel schlägt: das
-Blei, das ich im Herzen trage. Und andere Stechpalmen
-gibt es als die, die sich mit Moos umgeben,
-so daß du verlockt bist, darauf auszuruhen: die
-Stechpalmen, die meine Schläfen kränzen und die
-mein einziger Lorbeer sind.
-</p>
-
-<p>
-O, warum hat Gott mir nicht wie dir Flügel
-gegeben? O, warum kann ich, wenn der Duft des
-Flieders den liebesbleichen Frühling in seinem
-Gewande schwanken und hinsinken macht, und
-wenn der Seidelbast wieder blüht, nicht am Rande
-der durchstürmten Schlucht die erwarten, von
-der ich getrennt bin? O kleine Schnepfe, warum
-bin ich nicht lieber in deinem kleinen Salon aus
-welken Blättern geblieben, um im langen Regnen
-dem Seufzen der Winterwinde zuzuhören, anstatt
-in diesem Zimmer zu sitzen und meinen Betrachtungen
-nachzuhängen, indes der Herd braust wie
-der Ozean und mir im Uhrenschlagen geschieht,
-als ob ich eine reine und traurige Stimme wiederhörte.
-</p>
-
-<p>
-Kleine Schnepfe, möge das wilde Wetter mit
-dir gnädig verfahren! Die Windstöße sollen deine
-Spuren verwischen, so daß der Hund sie morgen
-<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
-nicht spüren kann, sich von seinem Herrn prügeln
-lassen muß und endlich schlammbeschmiert, verdutzt,
-den Schweif eingeklemmt, zurückkommt,
-ohne dich gefunden zu haben!
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-13">
-BETRACHTUNGEN
-ÜBER EIN SPEISEZIMMER
-</h2>
-
-<p class="first">
-Nicht das Familienspeisezimmer ist es, über das
-ich jetzt sprechen will. Zwar war das wie ein
-Spiegel im Schatten und roch nach Obst, nach
-Wein und dem Wachse des Fußbodens, und wenn
-man eintrat, glitt man aus und fiel hin. In diesem
-Zimmer wurde ein jeder zu Eis so wie in Gegenwart
-meiner hugenottischen Großtante, die in ihre
-Bibel den Spruch des Psalmisten geschrieben hatte:
-&bdquo;Wahrlich, Schein ist es, darinnen der Mensch
-wandelt. Wahrlich, eitel ist, was er treibt.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Dieser Raum hatte einst bessere Tage gesehen.
-Aber um die Zeit, von der ich jetzt spreche,
-wohnte nur mehr ein schmerzliches Schweigen
-darin, das wie das Schweigen der Abwesenden, die
-voll Traurigkeit den Kopf schüttelten, anmutete.
-Man hat mir hier eine Ecke gezeigt, in der mein Vater
-nach seiner Ankunft aus Guadeloupe (er war damals
-sieben Jahre alt) allerlei Grimassen versucht hat,
-um seine Eltern zu erheitern, und vielleicht auch,
-um sich selber zu erheitern. Armes verstörtes Kind,
-das noch traumtrunken war von den grünen Kokosnüssen,
-<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
-von zärtlich rosigen Blumen und dem
-klingenden Schimmern der Kolibris.
-</p>
-
-<p>
-Das Speisezimmer von heute liegt gegen Osten,
-auf den Garten hinaus, der sich längs der Straße hinzieht.
-Es ist ohne allen Luxus eingerichtet und ein
-rechtes Durchschnittszimmer, aber die Götter besuchen
-mich darin, und ein paarmal haben Göttinnen,
-müde der Welt, hier mein grobes Brot gegessen.
-Man kann dieses Speisezimmer gar nicht
-besser als mit den Versen des Mong-Kao-Jen beschreiben:
-</p>
-
-<div class="poem-container">
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">... Ein alter Freund reicht mir ein Huhn und Reis dazu.</p>
- <p class="verse">... Und unser Horizont sind blaue Berge, deren Gipfel</p>
- <p class="verse">Aus blauem Glanz des Himmels ausgeschnitten sind.</p>
- <p class="verse">Im offenen Saal ist uns der Tisch gedeckt.</p>
- <p class="verse">Nun überschauen wir den Garten meines Gastfreunds,</p>
- <p class="verse">Nun reichen wir einander die gefüllten Becher.</p>
- <p class="verse">Wir reden sacht von Hanf und Maulbeerbaum.</p>
- <p class="verse">Wir warten auf den Herbst: dann werden hier im Garten</p>
- <p class="verse">Die Chrysanthemen blühn.</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-Hier in diesem Raume geschieht es mir zweimal
-im Tage, daß ich mir der Dinge bewußt werde,
-sei es dadurch, daß aus dem Brote die Seele des
-fahlen Korns, das unter dem Hundsstern des Juli
-knirscht, mich durchdringt, sei es, daß aus dem
-Weine mich die purpurne Landschaft der Weinlese
-überkommt und die Fröhlichkeit der Mädchen,
-die singend die dunklen Trauben schnitten. Und
-ein jedes Gericht wird mir geheiligt um alles
-dessen willen, was es an Kraft dichterischer Ahnung
-<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
-in mein Blut schickt. So muß ich auch nicht den
-demütigen Küchengarten mißachten, in dem die
-duftende Goldrübe wuchs, noch das herbe Gras
-der erlengesäumten Wiese, auf der das Rind gelebt
-hat, dessen Fleisch ich esse, nicht die von welken
-Blättern bedeckte Hütte, verkrochen im innersten
-Gebirge, in der dieser Käse entstanden ist, noch
-endlich den Obstgarten, wo in der betäubenden
-Glut der Sommerferien ein Schulmädchen es über
-sich gebracht hat, inmitten von bläulichen und
-granatroten Himbeersträuchern (deren Früchte ich
-genieße) ihren brennenden Mund lange auf dem
-Munde eines Jungen zu vergessen.
-</p>
-
-<p>
-Ich kenne die Einsamkeiten, in denen das Wasser,
-das ich trinke, entspringt, und die traurigen Forste,
-die sie umgeben. Dort bin ich dem fröhlichen
-alten Manne begegnet, dessen Hühner ich in einem
-Gedichte besungen habe, und jenem anderen Greise,
-der den Wahnsinn seiner Tochter beweinte.
-</p>
-
-<p>
-Ich muß mir aber auch zu Bewußtsein bringen,
-daß die Schüsseln, die alle diese Gerichte bergen,
-irgendwoher stammen, und zwar ebenso aus der
-Erde wie ihr Inhalt, und daß die Früchte da in
-der Schale aus Steingut mir in einem Gefäße aus
-dem Urstoffe selber dargebracht werden. Und ich
-muß mich endlich auch daran erinnern, daß das
-Glas der Wasserflasche, in der das Wasser eben
-schwankend ins Gleichgewicht strebt, aus dem
-Wasser selber hervorgegangen ist, aus dem natriumreichen
-<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
-sandigen Meere, das ihm seine Durchsichtigkeit
-gegeben hat.
-</p>
-
-<p>
-Speisezimmer, du göttliche Vorratskammer, in
-dir gibt es die Feige mit den Bißspuren der Amsel
-und die Kirsche, die der Sperling angepickt hat. Der
-Hering liegt da, der die Korallen und die Schwämme
-des Meeres gesehen hat, und die Wachtel, die durch
-die Nacht der Minze geschluchzt hat; in dir ist der
-Herbsthonig aufbewahrt, den die Bienen in der
-schon bräunlichen Sonne eingeheimst, und der
-Akazienhonig, den sie im fahlen Lichte einer
-Tränenallee gesammelt haben. Das Öl, das die
-Lampen der Provence speist, ist da, das Salz, das
-perlmuttern schimmert, und der Pfeffer, den die
-Kauffahrer auf ihren Galeeren geheimnisvoll
-lächelnd gebracht haben.
-</p>
-
-<p>
-Mein Speisezimmer, ich habe dich oft aus der
-Beute meiner Botanisiergänge geschmückt und
-deine Luft mit dem Geruche der Feldblumen erfüllt.
-</p>
-
-<p>
-Und dann warst du eines Tages mit Sträußen
-seltener Blumen geschmückt, mit denen eine Frau
-deine Bescheidenheit geehrt hat. Aber du hast es
-verstanden, du selbst zu bleiben, nicht allzu geschmeichelt
-noch auch abweisend. Als die erlesenen
-Blumen auf deinem Tische standen, hast du sie
-durch deine Schlichtheit so sehr entzückt, daß sie
-schön erschienen wie ihre ländlichen Schwestern.
-</p>
-
-<p>
-Du bist es, mein Speisezimmer, das, nahe der
-Straße, meine Heimkehr vom Walde erwartet,
-<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
-wenn die Stunde gekommen ist, in der mein Hund
-in Nacht verschwimmt und sich das Paffen meiner
-Pfeife mit dem Nebel, der meinen Bart feuchtet,
-mischt. Da horchst du wie eine brave Dienerin
-auf den Tritt meiner benagelten Schuhe. Ich erkenne
-dein brennendes Herz, du Hüterin ohne
-Makel: die Lampe, die zu Ende flackt wie diese
-meine Träumerei. Da ich an dich denke, schwingt
-meine Seele sich auf, und ich möchte Hosianna!
-rufen und mich vor deine Knie hinwerfen, auf
-deine Schwelle, du Bewahrerin der Dinge, die mir
-die Vorsehung bescheert hat. Mit gekreuzten
-Armen verharrest du über der Straße, auf der die
-Bettler dahinziehen, wenn die Stunde gekommen
-ist, in der das Aveläuten in verzweiflungsvoller
-Liebe zittert und gleich Weihrauchfässern die
-elendsten Hütten aus der Finsternis ihren Rauch
-emporschicken zu den Füßen Gottes.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-14">
-BETRACHTUNGEN
-ÜBER EINEN TAUTROPFEN
-</h2>
-
-<p class="first">
-Das anbetungswürdige alte Fräulein starb in
-einem kleinen Schlößchen, das einst Jean Jaques
-Rousseau gefallen hat. Ein Wildbach schauerte an
-den Grundmauern des Türmchens vorbei, das
-überblüht war von gelben Rosen, und der nahe
-Teich einer verlassenen Mühle machte die Gegend
-mit ihren schattigen Baumgruppen vollends poetisch.
-<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
-Reiche Äcker dehnten sich da und dort. Einst, als
-der Tag zu Ende ging, sah ich an der Ecke eines
-Feldes auf dem Marksteine einen alten Mann
-sitzen. Er stützte sich auf einen Stock mit einem
-Schnabelgriffe. Von seinem Platze aus überwachte
-er gemach die Erntearbeit. Ich wünsche mir sehnlich
-dieses Alter herbei, in dem die stillen Blicke
-nur mehr nahe trauliche Dinge vor sich haben.
-Vielleicht wird das Gewesene dann zur Gegenwart?
-Dieser friedliche Greis, der mich eines anderen
-Greises gedenken ließ, jener edlen Gestalt aus
-&bdquo;Paul und Virginie&ldquo;, rief sich vielleicht, da er die
-schönen Schnitterinnen betrachtete, die Zeit wieder
-empor, in der noch die Bücher seiner Jugend über
-ihn Gewalt gehabt hatten ... Vielleicht erschien
-ihm Ruth, mit Kornblumen und Ähren bekränzt,
-oder die myrthenduftende Chloe, wie sie ihren
-Ziegen Salz reicht.
-</p>
-
-<p class="tb">
-*
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Lange, bevor ich die Heiterkeit des Tages, der
-hier über dem Patriarchen zu Ende ging, erlebte,
-war das alte Fräulein gestorben. Sie hatte hier ihre
-ganze Jugendzeit verbracht, und sie wohnte auch
-später fast immer hier. Denn ihr oblag, nachdem
-sie Waise geworden war, die ganze Sorge um ihre
-wahnsinnige Schwester. Nur ein paarmal war sie
-fortgewesen: als sie einige Jahre hintereinander
-eine Zeit in Paris verbrachte. Wenn ich an sie
-denke, wie ich sie als Achtzigjährige gekannt habe,
-<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
-mit ihren schneeweißen Scheiteln, die stets mit
-Parmaveilchen geschmückt waren, der großen
-Nase, dem spitzen aufwärtsgebogenen Kinn und
-den feurigen Augen, wird es mir nicht allzu schwer,
-mir vorzustellen, wie sie als Achtzehnjährige gewesen
-sein mag: Da sehe ich sie mit einem biegsamen
-großen, mit Feldblumen geschmückten Hute,
-in einem Mousselinkleide, das sich in ihren Knicksen
-bauscht, und mit einem Gürtel aus einer kolibrifarbenen
-Schleife.
-</p>
-
-<p class="tb">
-*
-</p>
-
-<p class="noindent">
-In diesem Schlosse nun habe ich in den letzten
-Tagen langsam und voll Zärtlichkeit das Album
-durchgeblättert, darein das Fräulein Sophie F. von B.
-seine Herzensdinge geschrieben hat, und ein unsagbares
-Heimweh nach der Vergangenheit überkam
-mich.
-</p>
-
-<p>
-Während sie in Paris lebte, das muß um 1840
-gewesen sein, nahm sie Botanikunterricht im
-Jardin des Plantes. O, von wie viel Liebreiz umgeben
-sie mir jetzt erscheint! Wer weiß, wie schönheitsentflammt
-die Seele dieses jungen Provinzmädchens
-war, das hier nun die strahlenden Farben
-und den Duftatem irgendwelcher neuer Blütendolden,
-die vielleicht Laurent de Jussien eben erst
-von wilden Inseln gebracht hatte, genoß! Ich
-glaube dieses Mädchen der alten Zeit vor mir zu
-sehen, wie es sich in einer Allee des Botanischen
-Gartens auf die Spitze seiner fliederfarbigen Schuhe
-<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
-erhebt, um das Innere einer zottigen Blumenglocke
-zu erforschen.
-</p>
-
-<p>
-Diesem Album, in das sie sorgsam wunderbare
-Sträußchen gezeichnet und gemalt hat, hat sie ihr
-Herz anvertraut. Ich nenne ihre Malereien wunderbar,
-aber ich will damit gewiß nicht sagen, daß
-sie etwa das Genie besessen habe, in der Wiedergabe
-der Blumenkronen auch das Geheimnis der
-Säfte mitzugestalten; ich will vielmehr damit ausdrücken,
-daß diese Rokokomalereien, fern von
-jeder künstlerischen Absicht, die Spuren einer
-hohen und reinen Seele tragen, und daß kein noch
-so berühmtes Kunstwerk mich mehr ergreifen
-wird als sie.
-</p>
-
-<p class="tb">
-*
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Man müßte sich einzeln jeden der Tage wieder
-emporrufen, in deren Kelch diese zarte und zage
-Seele ein wenig von ihrer Ewigkeit geträufelt hat.
-Was man auch von ihrem Verlobten redet und
-geredet haben mag, ich glaube, daß sie nur aus
-Opferwilligkeit für ihre früher erwähnte Schwester
-von ihm nichts wissen wollte. Das hat sie den
-glühenden Blumen, die sie malte, gebeichtet. Das
-sagen die schwellenden Rosen, die emportaumeln
-wollen aus ihren Kelchen wie die Herzen der erwachenden
-Mädchen in den Verzückungen der
-Maiabende. Von ihren Rosen hat eine besonders
-und schmerzlich zu mir gesprochen. Die hat sie
-sicherlich an einem leuchtenden Morgen gemalt,
-<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
-da sie Gott um Gnade gebeten hatte. Kein Wort
-vermöchte die leidenschaftliche Reinheit dieser
-Blumenblätter wiederzugeben, aus denen langsam
-eine Tauträne rollt. O, wie habe ich diese Träne
-verstanden!
-</p>
-
-<p class="tb">
-*
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Du junges Mädchen des hingegangenen Jahrhunderts,
-hättest du, als dir in deinem immer
-schattigen Salon diese Träne niederfiel, gedacht,
-daß eines Tages ich ihrer voll Verehrung gedenken
-würde? Ich habe sie aufgefangen, und nichts mehr
-wird ihr köstliches Wasser trüben. Dieser Edelstein
-voll des Glanzes aus deinem Herzen &mdash;
-O mögest du in Frieden ruhen an der Brust des
-Herrn! &mdash; ist von würdigen und andächtigen Händen
-in dem chinesischen Schränkchen des großen Salons
-aufbewahrt worden, und nur zuweilen komme ich
-und bitte die Freunde, die ihn verwahren, ihn mir
-zu zeigen. O du, vielleicht hast du an demselben
-Weh gelitten, davon auch ich ergriffen bin, an der
-sinnlosen und schweigenden Leidenschaft, die
-einzig deine Zeitgenossen in ihrer müden Anmut
-und scheuen Reinheit verstehen konnten!
-</p>
-
-<p class="tb">
-*
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Was wissen wir, wie viele Kalvarienberge es gibt,
-und wie oft schon der Kreuzweg beschritten
-worden ist! Wenn uns unter Fingerhüten, Scheeren,
-Stückchen von Stickerei und Seidenfleckchen,
-zwischen kleinen Spiegeln, Haarlocken und Kinderzähnen,
-<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
-unter künstlichen Blumen, Fläschchen und
-längst aus der Mode gekommenen Schmucksachen
-eine alte &bdquo;Nachfolge Christi&ldquo; in die Hände kommt,
-erscheint es uns, als ob der Duft des Abgeschlossenen,
-der an den Seiten haftet, nur eine unendliche
-Sanftheit in sich trüge. Und doch, wie mögen
-Hände, die jung waren, und die es nicht mehr
-waren, vor Warten und vor Weh gezittert haben,
-während sie dieses Buch hielten!
-</p>
-
-<p>
-In der Morgenröte ihres Geschickes mag das
-junge Mädchen diese Seiten wohl noch in der geheimen
-Hoffnung aufgeschlagen haben, daß an
-den Bitternissen doch nicht alle Menschen teilhaben
-müßten, und daß vielleicht gerade ihr das Schicksal
-sie ersparen werde. Nur in einem entzückenden
-Gefühle von Pietät streckte sie damals im Erwachen
-die schon kräftigen Arme nach der &bdquo;Nachfolge&ldquo;
-aus. Erst später, in der Mitte ihres Lebens kam
-sie wieder zu diesem Buche zurück. Die früchteschweren
-Apfelbäume waren nicht mehr fröhlich
-wie ehedem ... eine Freudigkeit (ich weiß nicht,
-was für eine) hatte sie verlassen. Und jenen bunten
-Schmetterling, der sich vor ihr im heißen Glanze
-der Tage in den großen Ferien gewiegt hat, den
-hat sie später nie mehr über den Wiesen erblickt.
-</p>
-
-<p>
-Das Alter kam. Und siehe, nun in der Neige
-ihres Seins hörte sie kaum mehr auf, in dem Buche
-zu lesen. Es war sieben Uhr abends, draußen
-schneite es. Die Lampe, die aufzuckend der Stille
-<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
-den Takt schlug, erleuchtete den großen Spiegel,
-in dem sich das alte Fräulein als das getrübte
-Bildnis der menschlichen Wandlungen erblickte.
-Nun sah sie nichts mehr von dem honiggoldenen
-Haar, das sie sich einst spielend um die zarte Faust
-gewunden hatte ... Ihre Scheitel waren weiß
-und streng wie die Binden, in die man die Toten
-hüllt. Und ihre Wangen, auf deren Erblühen einst
-viel helles Lächeln wie Apriltage über die Gärten
-gestrahlt hatte, waren voll der tiefen Furchen, die
-allgemach der bittere Niederfall der Tränen eingräbt.
-</p>
-
-<p class="tb">
-*
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Möge Gottes Frieden sich auf diese Leben der
-alten Zeit herniedersenken! O, sie haben für mich
-immer noch die Jugend der Rose, auf der ein
-Tropfen in solcher Reinheit schimmert, daß man
-zweifelt, ob er ein Tautropfen oder die Träne
-eines Kindes, das sein erstes Weh verstört hat, sei.
-Man tut gut daran, die Toten zu verehren und
-täglich ihrer zu gedenken! Kein Regenguß rauscht
-nieder auf die Kronen des Waldes, kein Regenbogen
-wölbt sich über das wolkendüstere Dorf,
-keiner Hirtenflöte Klang geht im Herbstwinde
-verloren, ohne mir Gegenstand für meine Betrachtungen
-zu werden. Hier, so denke ich, in
-dieser kleinen Höhle mit ihrem Teppiche aus
-Farnkraut und Veilchen, mögen sie zuweilen Zuflucht
-vor den Regenschauern gesucht haben. Hier
-muß es auch gewesen sein, wo der letzte Guß
-<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
-des Gewitters die Schleife mit den Irismustern
-davongetragen hat. Und hier, so sage ich mir
-weiter, in diesem entlegensten Winkel des Parkes,
-mag das Mädchen vielleicht von ihm geträumt haben,
-der ihr dort in der Grotte als der Bezauberndste
-erschienen war. Und wenn sie dann ihre Schwermut
-fragte, hat ihr nur die Glocke eines verirrten
-Lammes geantwortet.
-</p>
-
-<p class="tb">
-*
-</p>
-
-<p class="noindent">
-O wie wird jede Kleinigkeit zu einer Welt, wenn
-man in ihr nicht nur ein poetisches Spiel sucht,
-sondern die Spuren Gottes in den geringsten Geschehnissen
-des Alltags. Dächte nicht ein jeder, es
-sei keine Sache von Bedeutung, um welche Stunde
-und an welchem Tage ein Kind im Walde Erdbeeren
-pflückt? Und ist es nicht doch voll Bedeutung,
-daß an einem Morgen, von dem ich nichts
-weiß, ein Mädchen in vergangener Zeit unwissentlich
-einen Tropfen Tau auf einer Rose schimmern
-ließ und so den Anlaß gab zu dieser meiner
-Träumerei, die nun zu Ende geht?
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-15">
-BETRACHTUNG ÜBER ASTROLOGIE
-</h2>
-
-<p class="first">
-Was kann das sein, das mich so bedrückt? Aus
-welcher Ferne kommt das Schwere, das sich auf
-mein Herz legt und es bitter macht, wie die Frucht
-war, die ich eines Morgens im Sande der Sahara
-gefunden habe?
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
-Der Rosenkäfer ist der Rose untertan, die Rose
-dem Mädchen, das Mädchen der Liebe und die
-Liebe wiederum den großen Kreisen der Kräfte,
-das das Auf und Nieder meines Atmens in Einklang
-mit dem Meere bringt.
-</p>
-
-<p>
-Dem Monde ist die Macht gegeben, über die
-großen Wasser zu herrschen und sie stöhnen oder
-singen zu machen; welches Gestirn aber in der
-Tiefe der himmlischen Abgründe vermag es, gerade
-meine Gedanken stöhnen oder singen zu machen?
-</p>
-
-<p>
-Sicher ist eins: wenn meine Seele in ihrer Verstörtheit
-übereinstimmt mit einem Sterne, den ich
-gar nicht kenne, dann muß dieser Stern seit Jahren
-den schrecklichsten Ausbrüchen, Erschütterungen
-und Erdbeben preisgegeben sein.
-</p>
-
-<p>
-Es macht mir Freude, mir auszumalen, daß das
-ganze Wesen eines Menschen dem Charakter des
-Planeten entspräche, dessen tyrannischem Geheiße
-er untertan ist: dann untersteht Edgar Poe sicherlich
-irgendeiner Welt, die an den äußersten Grenzen
-eines düsteren und schneereichen Himmels kreist,
-und auf der die grünen Tale voll blühender Lilien,
-Hyazinthen und Anemonen nur in den Fernen
-jenseits wattiger Nebelbänke erscheinen. Und
-Lamartine muß einem Gestirne gehorcht haben,
-das kein Ozean ausgehöhlt hat, darauf es nur einen
-himmlischen See gibt, über den die sanfte Brise
-mit Erzengelfingern hinstreicht und an die zitternden
-lyrageschwungenen Flügel der Schwäne rührt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
-Der Stern, mit dem dieses junge Mädchen verwandt
-ist, lacht und weint in tausend Wasserfällen.
-Murmelt das Wasser dieser Wasserfälle gerade jetzt
-mehr als sonst? Denn das Mädchen hört nicht auf
-zu plappern, solange die Schneeschmelze da oben
-die Wildbäche des Sterns so überreichlich füllt.
-Säumt der Schaum der Wildbäche den Azur,
-unter dem er schauert, jetzt mit köstlicheren
-Spitzen? Das Mädchen zieht ein Kleid von
-zartem Blau an, das es mit quellenden Spitzen,
-die durchsichtiger sind als die Wasser der Felsen
-oder böhmische Gläser, ziert. Sind die Quellen jetzt,
-austrocknend in der glühenden Sonne, verstummt?
-Das Mädchen wird schweigsam. Und wenn da
-oben die Wasser zu schluchzen beginnen, entströmen
-dem Mädchen die Tränen, die man hier
-auf Erden sinnlose Tränen nennt. Das Mädchen
-errötet plötzlich: das kommt daher, daß auf seinem
-Sterne eine Pfingstrose aufblüht. Es erbleicht &mdash;
-denn dort oben ist eine Lilie aufgegangen.
-</p>
-
-<p>
-Sind die Bezeichnungen: ein Mensch hat einen
-finsteren oder klaren oder verbitterten Charakter
-nicht dem Horoskope dessen, auf den man sie anwendet,
-entnommen? Was wohl die Astrologen
-damit ausdrücken wollten, daß sie die alte Selenographie
-mit solchen dichterischen Bezeichnungen
-schmückten, wie da sind: das Meer der Krisen,
-das Meer der Feuchtigkeit, das Meer der Tränen,
-der Golf der Verzweiflung? Ich vermute, daß sie
-<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
-jene menschlichen Veränderungen, die sie dann
-mit Recht die lunatischen nannten, von den Umwälzungen
-auf unserem Satelliten ableiteten. Das
-Meer der Krisen beginnt unruhig zu werden &mdash;
-und alle Gichtkranken, Asthmatiker, Hypochonder
-und Narren werden von ihren Übeln befallen.
-Ein Zyklon wirbelte über das Meer der Feuchtigkeit
-dahin &mdash; und die Wassersüchtigen fühlen ihre
-Anschwellungen wachsen. Der Sturm wütete über
-dem Meere der Tränen &mdash; und alle kleinen Kinder
-weinen. Wenn aber der Golf der Verzweiflung
-sich verdüsterte, geschieht dem Herzen eines jeden
-Menschen ein Gleiches.
-</p>
-
-<p>
-Nach dieser Betrachtung des Einflusses der Gestirne
-auf die Menschen wollen wir erforschen,
-wie eine solche Einwirkung auch auf die Pflanzen
-möglich wäre. Wir stellen also die Hypothese auf
-(die wir untersuchen wollen,) daß Mensch und
-Pflanze der gleichen Ausstrahlung untertan sind,
-und schließen, daß es eine schicksalhafte Sympathie
-zwischen ihnen geben müsse.
-</p>
-
-<p>
-Die Theorie des Professors Philipp van Tieghem
-ist bekannt: sie ermächtigt uns, zu denken, daß
-der Pflanzenwuchs der Erde von Samen abstammt,
-die von Meteoriten auf sie herabgebracht worden
-sind. (Beim Lesen einer bestimmten Stelle dieses
-Forschers kam mir einmal nachts der belustigende
-Einfall, meine Hände gegen den Mond zu strecken,
-um den Flug bestimmter Arten von Mohn aufzuhalten,
-<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
-deren hinfällige Blüten freilich in der Berührung
-mit meinen Fingern hätten zerstieben
-müssen.)
-</p>
-
-<p>
-Mit dieser Hypothese wollen wir nun die Darwinsche
-verbinden, nach der wir Pflanzen waren,
-ehe wir Menschen geworden sind. Daraus <a id="corr-2"></a>ergibt sich
-freilich für jeden das Recht, zu fragen, was für eine
-Feuerkugel ihn denn auf die Erde gebracht, und
-was für eine Konstellation diese sonderbare Saat
-bewirkt habe.
-</p>
-
-<p>
-Nun gibt es aber zweifellos Menschen, deren
-ganzes Leben im Gegensatze steht zu dem aller
-anderen Menschen &mdash; was demnach auf eine
-Sternenherkunft von besonderer Art schließen
-lassen müßte &mdash;, genau so, wie gewisse Pflanzen
-in ihrem Verhalten dem sämtlicher anderer Pflanzen
-widersprechen.
-</p>
-
-<p>
-Von jener Regel zum Beispiel, die den Stengeln
-der Schlingpflanzen zu gebieten scheint, der Drehung
-der Erde folgend von links nach rechts zu
-ranken, sind Hopfen, Geißblatt, Stickwurz, Schildkrötenkraut
-sowie das knotige und das Kletter-Polygonum
-ausgenommen, die alle, Newton und Laplace
-mißachtend, sich von rechts nach links winden.
-Rührt das daher, daß diese Pflanzen von Gestirnen
-stammen, die sich in entgegengesetztem Sinne
-drehen wie die Erde?
-</p>
-
-<p>
-Übrigens, wenn Rose und Iris, Orchydee und
-Seerose, solcherart auf unsere Erdkugel gelangt,
-<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
-von den unbekannten Gesetzen ihrer vorherigen
-Heimat geleitet werden &mdash; sei die nun Mars oder
-Venus oder ein ganz anderer Planet &mdash;, ist es reizvoll,
-sich vorzustellen, daß die Blüte der Wunderblume
-nicht eher sich schließen und einschlafen
-mag, bevor sich nicht der Abend auf ihren Heimatstern
-gesenkt hat, das heißt ehe es nicht Tag
-geworden ist auf der Erde.
-</p>
-
-<p>
-Das früher Gesagte vorausgesetzt, wäre es unterhaltend,
-die Blume oder den Baum zu kennen,
-die jeder einzelne bevorzugt, und zu beobachten,
-ob die Menschen, die Sympathie für die gleiche
-Blume haben, nicht denselben Sterneneinflüssen
-unterworfen sind wie diese Blumen. Was mich
-anlangt, so liebe ich die Pflanzen zu sehr, um mich
-für die eine oder die andere zu entscheiden &mdash; denn
-das schiene mir eine Untreue gegen alle übrigen
-zu sein. Aber einen Strauch und eine Blume kann
-ich doch angeben, deren Anblick mich in eine
-unerklärliche Erregung versetzt: die lagerstroemia
-Indica und die amaryllis belladonna. Die lagerstroemia
-blüht gegen Ende des <a id="corr-3"></a>Sommers. Ich habe
-sie einmal in einem Prosagedichte &bdquo;Flieder einer
-anderen Welt&ldquo; getauft. Sie ist ein Strauch ohne
-Rinde. Ihr glatter Stamm breitet nur im Schlafe
-die Zweige aus, was ihr das unglückliche Aussehen
-eines Besens oder einer riesenhaften Rose von
-Jericho verleiht. Aber ihre Blüten! Unter den
-azurnen August- und Septemberhimmeln heben
-<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
-sie sich aus ihrem Laube, das fremdartig grün ist
-und sehr ähnlich dem des Granat- und des Spindelbaumes,
-und bilden Szepter von einem unsagbaren
-Rosa, das nie der Erde angehört hat, einem
-Rosa voll schwermutschönen Heimwehs nach einem
-verlorenen Paradiese. Warum liebe ich diesen
-Baum mit solcher Liebe? Es gibt eine lagerstroemia,
-die ich Jahr für Jahr besuche, und die in jedes
-neue Blühen meine Trauer oder meine Freude
-mitempfängt. Sie schmückt mit ihren geheimnisvollen
-Korallen einen Garten im nördlichen Spanien.
-Auf meine Bitte hat man mir erlaubt, durch
-eine kleine Tür ihr sorglich verschlossenes Reich
-zu betreten. Und ich bin, einer sonderbaren Unruhe
-verfallen, durch die Alleen geirrt, die ihre glorreiche
-Majestät zu verdunkeln schien.
-</p>
-
-<p>
-Die amaryllis belladonna ist vom Kap der guten
-Hoffnung zu uns gebracht worden. Inmitten eines
-Büschels schwertförmiger Blätter, die sich weich
-nach außen biegen, strebt ihre rosige Lilie empor.
-Aber ihr Rosa hat nichts von dem außerirdischen
-der lagerstroemia, es ist samtig wie Aprikosen, es
-gleicht dem der Wassermelone, der Meerfrüchte
-oder des Lachses. Ein paar von diesen Pflanzen
-sind meine Freunde: die stehen nicht in dem spanischen
-Garten, von dem ich früher gesprochen
-habe, sondern in einem alten kleinen Garten in
-Frankreich. Er wölbt sich wie ein Dach über die
-Landstraße, auf der dereinst die Postkutschen, in
-<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
-denen die Mädchen der alten Zeiten mit wehenden
-Hüten durch den Glanz der untergehenden Sonne
-gegen Paris fuhren, hinholperten ....
-</p>
-
-<p>
-Ich empfinde eine trübe und schmerzliche Freude,
-wenn meine Blicke über diese rosigen Kelche hingehen.
-Wer wird mir die sonderbaren Gefühle,
-die mir diese beiden Pflanzen einflößen, erklären?
-Ihr Anblick verwirrt meinen Verstand und läßt
-im Spiegel meiner Seele das Bild eines ganz traurigen
-Traumes erstehen: auf einem Sterne erwartet
-mich widerwillig und sehnlich zugleich ein dunkelhaariges
-Mädchen in einem amaryllisrosa Kleide.
-Sie sitzt unter einer lagerstroemia an einem Grabhügel,
-über dem in unbekannten Zeichen ein Name,
-vielleicht der meine, geschrieben steht.
-</p>
-
-<p>
-Meine Freundin, eines Abends wirst du mich
-aus der Tiefe des Tales kommen sehen, und ich
-werde dir deine Lieblingsblumen bringen. Es wird
-schon spät sein. Mit meiner grünen Trommel auf
-dem Rücken werde ich den ganzen Tag ohne Rast
-auf der Suche gewesen sein, das Herz voll Tränen,
-und werde unter den Blicken Gottes mit meinem
-kleinen Spaten in allen Einsamkeiten die Erde
-durchwühlt haben. Werde ich aber die Pflanze,
-die unser beider Geschicke einen muß, wirklich
-gewünscht haben? Schon ahne ich, wie ein Edelsteinsucher,
-den ein geheimnisvoller Sinn leitet,
-deine liebste Blume voraus. Sie wächst nicht im
-Schnee, nicht auf den Gletschern noch unter den
-<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
-Lärchen der Alpen, nicht am Rande der Kressebeete
-noch auch in der lügnerischen Sahara, deren
-Spiegelungen meinen Fieberdurst heimgesucht
-haben. Sie erblüht in meiner Seele.
-</p>
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-16">
-NOTIZEN
-</h2>
-
-<h3 class="no" id="subchap-0-16-1">
-I.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Ich habe mir oft den Himmel ausgemalt. In
-der Kindheit war er mir die Hütte, die sich ein
-alter Mann in unserer Gegend hatte auf der Höhe
-eines steilen Bergweges errichten lassen, und die
-&bdquo;das Paradies&ldquo; genannt wurde. Mein Vater pflegte
-um die Stunde, in der das schwarze Heidekraut
-der Hügel golden wird wie eine Kirche, mit mir
-dahin zu gehen. Am Ende jedes dieser Spaziergänge
-wartete ich darauf, Gott in der Sonne, die
-oben am Kamme des steinigen Steiges einzuschlafen
-schien, sitzen zu sehen. Habe ich mich getäuscht?
-</p>
-
-<p>
-Weniger leicht kommt es mir an, mir das katholische
-Paradies mit seinen azurnen Harfen und
-dem rosigen Schnee der himmlischen Heerscharen
-in den reinen Regenbogen vorzustellen. So halte
-ich mich doch immer noch an mein erstes Gesicht.
-Aber seitdem ich die Liebe kennen gelernt habe,
-habe ich zu dem himmlischen Bereiche vor der
-Hütte des alten Mannes noch eine sonnenwarme
-Bergwiese, auf der ein junges Mädchen Blumen
-pflückt, dazugetan.
-</p>
-
-<h3 class="no" id="subchap-0-16-2">
-<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
-II.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Ich habe die Seele eines Fauns und zugleich
-die eines ganz jungen Mädchens. Wenn ich eine
-Frau betrachte, empfinde ich eine völlig andere
-Art von Erregung als beim Anblicke eines Mädchens.
-Wenn man sich mit Hilfe von Blumen und
-Früchten verständlich machen könnte, würde ich
-einer Frau glühende Pfirsiche, die rosigen Glocken
-der Tollkirsche und schwere Rosen reichen, dem
-Mädchen aber Kirschen, Himbeeren, Quittenblüten,
-Heckenrosen und Gaisblatt.
-</p>
-
-<p>
-Es gibt kaum ein Gefühl, das ich erlebe, ohne
-daß es vom Bilde einer Blume oder Frucht begleitet
-wäre. Wenn ich an Martha denke, sehe ich Gentianen
-vor mir, Lucie ist mir mit den weißen japanischen
-Anemonen verbunden, Marie mit Maiglöckchen
-und eine andere wieder mit einer Zedratfrucht,
-die aber ganz durchsichtig ist.
-</p>
-
-<p>
-Zum ersten Rendezvous, das ich mit einer Freundin
-hatte, habe ich Schwertlilien mit aprikosenrosa
-Halse mitgebracht. Wir stellten sie über Nacht
-ins Fenster, und dort vergaß ich sie, um mich nur
-meiner Freundin zu erinnern. Heute wollte ich
-gerne der Freundin vergessen und nur mehr der
-Schwertlilien gedenken.
-</p>
-
-<p>
-All meine Erinnerungen gehören also sozusagen
-der Pflanzenwelt an. Bäume, Blüten und Früchte
-sind meine Merkzeichen für Menschen und Gefühle.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
-Die Pflanzen, aber auch die Tiere und die Steine
-haben meine Kindheit mit geheimnisvoller Lieblichkeit
-erfüllt.
-</p>
-
-<p>
-Als ich vier Jahre alt war, stand ich und betrachtete
-die Haufen zerschlagener Bergkiesel am Straßenrande.
-Wenn man diese Steine in der Dämmerung
-gegeneinanderschlug, gaben sie Feuer &mdash;
-rieb man sie aneinander, dann rochen sie verbrannt.
-Die geäderten hob ich auf: sie waren schwer, als
-ob sie Wasser in sich verborgen hielten. Der Glimmer
-im Granit bezauberte meine Neugier so sehr,
-daß nun nichts anderes mehr sie stillen konnte.
-Ich fühlte, daß da etwas war, das niemand mir zu
-erzählen vermochte: das Leben der Steine.
-</p>
-
-<p>
-Um dieselbe Zeit war man einmal böse mit mir,
-weil ich die künstlichen Käfer von einem Hute
-meiner Mutter weggenommen hatte. Das war
-meine Leidenschaft: Tiere aufzuheben, und ich
-war so voll Freundschaft zu ihnen, daß ich weinte,
-wenn ich sie unglücklich glaubte. Noch heute
-erlebe ich die namenlose Angst wieder, wenn ich
-daran denke, wie die kleinen Nachtigallen, die mir
-jemand geschenkt hatte, in unserem Speisezimmer
-zugrunde gingen. In dieser Zeit mußte man mir,
-damit ich einschlafe, das Glas mit meinem Laubfrosche
-in meine Nähe stellen. Ich fühlte, daß er
-mein treuer Freund war und mich auch gegen
-Diebe verteidigt hätte. Als ich das erstemal einen
-Hirschkäfer sah, war ich von der Schönheit seiner
-<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
-Geweihzangen so ergriffen, daß die Begierde, einen
-zu besitzen, mich krank machte.
-</p>
-
-<p>
-Meine Leidenschaft für die Pflanzen zeigte sich
-später, als ich gegen neun Jahre alt war. Die
-rechte Einsicht in ihr Leben aber fing erst an,
-als ich ins fünfzehnte Jahr ging &mdash; ich erinnere
-mich noch, unter welchen Umständen. An einem
-Donnerstage, einem lähmend heißen Sommernachmittage,
-ging ich mit meiner Mutter durch
-den botanischen Garten einer großen Stadt. Weißblendende
-Sonne, dicke blaue Schatten und schwere
-zähe Gerüche machten aus diesem fast verlassenen
-Orte das Reich, dessen Pforte ich nun endlich überschritt.
-Im lauen goldkäferfarbigen Wasser der
-Bassins gediehen kümmerlich allerlei Pflanzen,
-lederige graue und hohe weiche, durchsichtige.
-Aber aus der Mitte dieser armen traurigen Wassergewächse
-erhoben sich in den großen Azur grüne
-Lanzenschäfte und hielten die Anmut ihrer weißen
-und rosigen Dolden in den lodernden Tag: die
-Wasserlilien über ihren Blättern, in vertrauensvollen
-Schlaf versunken. Mit den Wasserpflanzen
-hielten die Pflanzen der Erde stumme Zwiesprache.
-Ich erinnere mich einer Allee, in der Studenten,
-ein Sacktuch im Nacken, unter der Schönheit der
-Blätter begraben lagen. Das war die Allee der
-Ombelliferen. Fenchel und Steckenkraut drehten
-ihre Kronen über die Stengel, deren Blattscheiden
-platzten, empor. Schweigend unterredeten sich
-<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
-die Düfte miteinander, stumme Verständigung
-wob fühlbar von Pflanze zu Pflanze, und über dem
-vereinsamten Reiche schwebte Entsagung.
-</p>
-
-<p>
-Seit damals verstehe ich die Pflanzen: ich weiß,
-daß ihre Familien sich miteinander verschwägern,
-und daß sie alle von Natur aus einander lieben.
-Aber ich weiß auch, daß diese Verwandtschaften
-nicht da sind, um den Klassifikationen zur Unterstützung
-unseres trägen Gedächtnisses zu dienen.
-</p>
-
-<p>
-Die Pflanzen sind lebendige, tätige Geometrie,
-die irgendwelchen Auflösungen zustrebt &mdash; wie die
-sein werden, weiß ich nicht. Da läßt sich nun ein
-reizvolles Geheimnis beobachten: die Arten, die
-in denselben geologischen Epochen vorkamen,
-haben einander ihre Sympathien geschenkt und
-bleiben auch heute noch im Wechsel der Jahreszeiten
-einander nahe. Wie vermöchte sonst das
-Wesen der frierenden schneeigen Winterliliaceen
-mit dem der purpurnen Herbstnachtschatten so zusammenzustimmen?
-</p>
-
-<p>
-Es gibt noch andere Pflanzengemeinschaften,
-die nicht so sehr durch Menschenbemühungen
-als dadurch zustandekommen, daß gewisse Arten
-andere als Freunde bei sich haben mögen und sich
-nach ihnen sehnen. Wie schön sind die Bauerngärten,
-in denen die strahlende Lilie &mdash; gleich den
-Göttern, die die Niedrigen besuchen &mdash; zwischen
-Kohlköpfen, Knoblauch und Zwiebeln (die in den
-Töpfen der Armen kochen werden) wächst! O, wie
-<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
-liebe ich diese ländlichen Küchengärten, wenn
-mittags der traurige blaue Schatten der Gemüse
-auf den Vierecken körniger weißer Erde einschläft,
-der Hahnenruf das Schweigen noch tiefer macht
-und das geduckte Huhn unter dem schrägen gewundenen
-Fluge des Habichts aufgluckst! Da
-wachsen die Blumen der schlichten Liebenden,
-die Blumen der jungen Frauen, die den blauen
-Lavendel trocknen und zwischen ihr grobes Leinen
-legen. Da wächst auch der treue Buchsbaum, an
-dem jedes Blättchen ein Spiegel von Azur ist, und
-die Stockrose, an der die sanfte reine Flamme der
-Blüten sich in Schwermut verzehrt: fromme Blumen,
-dem Schweigen und der Entsagung geweiht.
-</p>
-
-<p>
-Ich liebe auch die Wiesenblumen: die Königin
-der Fluren, schaukelnd in leichten Winden und
-vom Glucksen des Baches in den Schlaf gewiegt.
-Ihre duftende Krone schmückt sich mit Wasserkäfern
-schimmernder als der Hals der Kolibris.
-Sie ist die Geliebte der Halden, die Braut der
-grasigen Lichtungen.
-</p>
-
-<p>
-Tief in den verlorenen alten Parks aber gibt es
-die geheimnisvollen Pflanzen: da gedeihen die
-<em>alten</em> Blumen, der Erdflieder, die amaryllis belladonna
-und die Kaiserkrone. Anderswo müßten sie
-sterben, hier aber beharren sie, behütet von den
-Vorbildern der jahrhundertealten einzigartigen
-Bäume mit den verschollenen Namen. Diese vornehmen,
-verwöhnten und gezierten Blumen erheben
-<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
-ihre schwanken Köpfe nur, wenn der Wind
-durch die Amberbäume und Ahorne streicht und
-aufseufzt wie einst Chateaubriand.
-</p>
-
-<h3 class="no" id="subchap-0-16-3">
-III.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Die Traurigkeit der kleinen Stadt tut mir wohl:
-die Gassen mit ihren finsteren Laden, die abgetretenen
-Türschwellen, die Gärten, die in der
-schönen Zeit des Jahres über einem Grunde von
-blauem Brodem schwimmen, über dem Gewirre
-von Stockrosen, Glyzinien und Weinreben &mdash; und
-dann jene anderen Gärtchen, räudig wie Esel, mit
-schwärigen Buchsbaumhecken, darauf Lumpen zum
-Trocknen liegen, und das Rinnsal der Gerber,
-das den dünnen Perlmutterglanz des Himmels
-mitschleppt und zwischen seinen Schlammpflanzen
-hart die Dächer widerspiegelt, o &mdash; und der Wildbach,
-der die Felsen höhlt, sich windet und eilig
-dahinblinkt! Der kleine Stadtplatz ist hübsch, ob
-die Zikaden in den sommerlichen Buchen schrein,
-ob der Herbstwind auf ihm scharrt oder die Regen
-ihn zerkritzeln. Es gibt auch einen kleinen Stadtpark
-da, von dem Bernhardin de Saint Pierre entzückt
-gewesen wäre: unter seinen Kastanienbäumen
-sind die Mainächte tief, blau und sanft.
-</p>
-
-<p>
-Ich komme seit Jahren in diese Stadt, die einst
-mein Großvater und mein Großoheim verlassen
-haben, um die überblühten Antillen zu suchen.
-Dann haben sie das Brausen des Meeres gehört,
-<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
-musselinene Kleider glitten unter ihren Veranden
-dahin &mdash; und als sie starben, waren sie vielleicht
-voll Sehnsucht nach diesen Gassen mit ihren Laden,
-den Gärten hier, den Rinnsalen und diesem Wildbache.
-</p>
-
-<p>
-Wenn ich dann meinen kleinen Meierhof aufsuche,
-denke ich daran, daß sie einst hier gewesen
-sind. O, ihre Ausflüge! Das Frühstück trugen sie
-in einem Körbchen mit und einer hatte eine Gitarre
-umgehängt. Leichten Ganges folgten ihnen die
-jungen Mädchen; zwischen taufeuchten Hecken
-summte eine Romanze auf und erschreckte die
-Vögel mit einer unaussprechlichen Liebe. Die
-Maulbeeren waren noch grün. Man marschierte
-im Takte. Der Schrei eines Mädchens zitterte durch
-die Luft, an <a id="corr-4"></a>einer Wegecke wurde ein großer Hut
-geschwungen, und ein kühles Lachen flog zwischen
-den regenversehrten Heckenrosen empor.
-</p>
-
-<p>
-Diese Gitarre habe ich im Hofe meiner hugenottischen
-Großtanten an einem Sommerabende
-gehört, als ich vier Jahre alt war. Der Hof schlief
-in weißer Dämmerung, und von den Dächern sank
-eine unbekannte Zärtlichkeit auf die Rosenstöcke
-und das helle Pflaster. Meine Verwandten saßen
-auf einem Balken, waren froh und lachten darüber,
-daß ich so ein kleines Kind war und eine weiße
-Schürze anhatte. Dann sang mein Großonkel ein
-Lied aus der Hauptstadt. Ich seh ihn noch mit
-vorgestrecktem Kopfe stehen. Die Luft zitterte sacht.
-<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
-Am Ende einer Koloratur machte er eine komische
-nette Verbeugung.
-</p>
-
-<p>
-Ich segne dich, kleine Stadt, in der kein Mensch
-mich versteht, wo ich meinen Stolz, mein Weh
-und meine Freude in mir verberge und ich keine
-andere Zerstreuung habe, als meine alte Hündin
-kläffen zu hören oder arme Gesichter anzuschauen.
-Aber dann steige ich die Hügel empor, wo der
-dornige Stechginster wächst &mdash; und dort erlebe ich
-in der Betrachtung meiner Kümmernisse das sanfte
-Glück, das Verzichten heißt. Jetzt quält mich
-nicht mehr das rohe und verächtliche Lachen der
-Leute noch auch das Zweifeln an allem. Das Lachen
-derer, die mich verachten, ist verstummt &mdash;
-und ich werde gleichgültig gegen alles, was ich bin.
-Aber ich bin indessen ernst geworden gegen mich
-selber und die andern. Mit furchtsamer Freude
-sehe ich nun die Sorglosigkeit der Glücklichen.
-Ich habe verstehen gelernt, wieviel Leiden aus
-der Liebe wachsen kann und wie tiefe Blindheit
-aus einem Blicke. Und um dieser meiner Leiden
-willen möchte ich eine traurige zarte Liebkosung
-denen schenken, die noch nichts anderes
-wissen als das Glück.
-</p>
-
-<h3 class="no" id="subchap-0-16-4">
-IV.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Im Garten tut mir der Duft des Flieders plötzlich
-weh, denn ich bin todtraurig.
-</p>
-
-<p>
-Flieder, seit der Kindheit bist du mir teuer. Damals
-<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
-habe ich deine Blütensträuße angeschaut, die
-schönen Bilder, auf eine Spielzeugschachtel gemalt.
-In dem vertrauten Obstgarten meiner Jugendzeit
-blühtest du auch. O, in diesem Garten gab es Igel!
-Sie glitten die alten Balken entlang &mdash; wie unschuldig
-und sanft sind die Igel trotz ihrer Stacheln.
-Ich erinnere mich noch meiner Erregung, als ich
-an einem Winterabende einen auf der Schwelle
-unserer Küche fand. Der Schnee hatte ihn vertrieben
-und nun steckte er seinen kleinen Rüssel
-in die Abfälle, die da liegengeblieben waren.
-</p>
-
-<h3 class="no" id="subchap-0-16-5">
-V.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Ich liebe die Wesen der Nacht, die Käuzchen
-mit hauchendem Fluge, die Fledermäuse, die
-Dachse &mdash; alle ängstlichen Tiere, die durch die
-Luft und das Gras gleiten, und die wir so wenig
-kennen. Was für Feste mögen sie wohl unter den
-Pflanzen, ihren Schwestern, feiern?
-</p>
-
-<p>
-In der Stunde, da der Mensch ruht, springen
-die Kaninchen silberig von Tau über die Minze
-der Gräben hin und halten ihre geheimen Versammlungen
-ab; die Frösche quaken und platschen
-in den Pfützen, aus den Glühwürmchen sickert der
-weiche gelbe, feuchte Schimmer, der Maulwurf bohrt
-sich unter den Wiesen hin, die Nachtigall schluchzt
-auf wie ein Springbrunnen, und die Schleiereule
-läßt ihr trauriges Lachen hören, als ob sie sich in ihrer
-Furchtsamkeit zu der Freude Gottes gesellen wollte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
-Wie oft habe ich mir gewünscht, ein solches
-Wesen der Nacht zu sein! Ein schauerndes Kaninchen
-unter der Weißdornhecke oder ein Dachs,
-von den saftigen grünen Blättern gestreichelt. So
-hätte ich keine anderen Sorgen gekannt als die
-um meine leibliche Verteidigung &mdash; und ich hätte
-nicht lieben müssen und nicht hoffen.
-</p>
-
-<p class="end">
-ENDE
-</p>
-
-<h2 class="pbb chapter" id="chapter-0-17">
-INHALT
-</h2>
-
-<table class="toc" summary="TOC">
-<tbody>
- <tr>
- <td class="col1">&nbsp;</td>
- <td class="col_page">Seite</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Das Paradies</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-3">3</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Das Paradies der Tiere</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-6">6</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Die Güte des lieben Gottes</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-8">8</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Der Weg des Lebens</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-11">11</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Die kleine Negerin</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-15">15</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Ronsard</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-17">17</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Robinson Crusoe</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-19">19</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Das Grabmal des Dichters</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-21">21</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Von der Barmherzigkeit gegen die Tiere</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-24">24</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Betrachtung über die Dinge</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-27">27</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Lob der Steine</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-40">40</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Betrachtung über eine Schnepfe</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-43">43</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Betrachtungen über ein Speisezimmer</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-49">49</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Betrachtungen über einen Tautropfen</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-53">53</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Betrachtung über Astrologie</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-60">60</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Notizen</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-68">68</a></td>
- </tr>
-</tbody>
-</table>
-
-<div class="trnote">
-<p id="trnote" class="chapter"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
-
-<p class="handheld-only">
-Im Original
-g&nbsp;e&nbsp;s&nbsp;p&nbsp;e&nbsp;r&nbsp;r&nbsp;t
-hervorgehobener Text wurde in einem <em>anderen Schriftstil</em> markiert.
-</p>
-
-<p>
-Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):
-</p>
-
-<ul>
-
-<li>
-... Hammer <span class="underline">Anwort</span>. Der Hammer, den der Meister ...<br />
-... Hammer <a href="#corr-0"><span class="underline">Antwort</span></a>. Der Hammer, den der Meister ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... <span class="underline">vom</span> Herzen schwang, war das Herz des Amboß. ...<br />
-... <a href="#corr-1"><span class="underline">von</span></a> Herzen schwang, war das Herz des Amboß. ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... ehe wir Menschen geworden sind. Daraus <span class="underline">ergibt</span> ...<br />
-... ehe wir Menschen geworden sind. Daraus <a href="#corr-2"><span class="underline">ergibt sich</span></a> ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... blüht gegen Ende des <span class="underline">Sommer</span>. Ich habe ...<br />
-... blüht gegen Ende des <a href="#corr-3"><span class="underline">Sommers</span></a>. Ich habe ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... die Luft, an <span class="underline">eine</span> Wegecke wurde ein großer Hut ...<br />
-... die Luft, an <a href="#corr-4"><span class="underline">einer</span></a> Wegecke wurde ein großer Hut ...<br />
-</li>
-</ul>
-</div>
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Das Paradies, by Francis Jammes
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS PARADIES ***
-
-***** This file should be named 51871-h.htm or 51871-h.zip *****
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-1.E.9.
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-including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
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-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
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-To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
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-and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
-
-
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
-Foundation
-
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-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
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