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If you are not located in the United States, you -will have to check the laws of the country where you are located before -using this eBook. - -Title: Der Bürger - -Author: Leonhard Frank - -Release Date: January 14, 2022 [eBook #67161] - -Language: German - -Produced by: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team - at https://www.pgdp.net. This book was produced from images - made available by the HathiTrust Digital Library. - -*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BÜRGER *** - - - LEONHARD FRANK / DER BÜRGER - - - LEONHARD FRANK - - - - - DER BÜRGER - - - ROMAN - - 1.-44. TAUSEND - - - DER MALIK-VERLAG / BERLIN - - - DER BÜRGERLICHEN JUGEND GEWIDMET - - - - - I - - -Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: ‚Wenn noch ein Auto -kommt, bevor die Turmuhr fünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die -Broschüre ... Ehrenwort?‘ - -„Ehrenwort!“ sagte er heftig zu sich selbst und las wieder den Titel der -philosophischen Abhandlung. Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der -Blick zuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt. Der Zeiger -stand knapp vor fünf. - -Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen vorbei und war weg. Die Uhr -hatte noch nicht geschlagen. Jürgen wollte eintreten. - -Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück. ‚Was wird mein Vater -sagen, wenn ich sie kaufe? ... Und was würde er sagen, wenn er wüßte, -daß ich sie kaufen will und dazu den Mut nicht habe? ... Oder würde er -verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen in den Laden -ginge?‘ - -Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft, kämpfte er weiter, las -den Titel, sah, wie der große Zeiger einen letzten Sprung machte. Und -fühlte, während er sich „Feigling! Elender Feigling!“ schimpfte, daß -sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das Phantom des Vaters stand -neben ihm. - -Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. Und Jürgen dachte: -Ich kann auch jetzt noch hinein. Aber sofort! ... Hat der Buchhändler -eben gelächelt? Über mich? - -Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt über die gepflegte, -sonndurchwirkte Anlage weg, in der die kreisenden Rasenspritzen -Regenbogen schlugen. - -‚Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht hinein.‘ - -Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen Laden zurück. - -‚Jetzt! ... Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe, wird das Leben auch -in Zukunft mit mir machen, was es will. Das ist klar.‘ - -Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens, Karl Lenz, Sohn eines -Universitätsprofessors. Jetzt natürlich kann ich nicht hinein, dachte -Jürgen und ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine Bonne an. -Die gestärkten Röcke strotzten, und der elegante Kinderwagen federte von -selbst auf dem gewalzten Sandwege am Tulpenrondell vorüber. - -Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige Gesicht stolz -erhoben, in verhaltenem Trabe ein kleines Mädchen im Knieröckchen so -feurig auf dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten, nackten -Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe machte sofort Halt, als der im -Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden -Hampelmann ausstreckte. - -Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter Pferdeungeduld -feurig an der Stelle weiter und sah, Brust vorgestreckt, über den -abgerissenen, abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der sich -aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte und, das Drama der Armut -im Blick, offenen Mundes den Reichtum bestaunte. - -Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem Jungen, der seine Augen -von dem glänzenden Mädchen erst losriß, als er sich beobachtet fühlte. -Dunkel fragend sah er empor zu Jürgen, der, plötzlich breit durchzogen -von einem bisher nie empfundenen Gefühle, zu Karl Lenz sagte: „Man muß -Empörer werden.“ - -„Warum Empörer? Wegen dieses Ferkels?“ - -Der Junge blickte seine schwarzen, skrofulösen Beine an, beschämt empor -zu Jürgen, in dem, unter dem Grinsen des Mitschülers, das Eigene wieder -versank. Verwirrt ging er, während Karl Lenz in den Konditorladen -eintrat, heimwärts, geduckt die teppichbelegte Treppe hinauf. - -Es war drückend still im Hause. Unbeweglich saß Jürgen in seinem Zimmer -vor dem blauen Schulheft und grübelte darüber nach, ob es einen Gott -gäbe. - -Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter der -Schulkameraden, grinsten höhnisch. Und die Tante sagt: ‚Nein, so einen -unselbständigen Jungen, wie du einer bist, gibt’s nicht mehr. Ein -Unglück für deinen Vater!‘ - -Preisgegeben ließ er sich von den Gespenstern der Verachtung weiter -quälen, stellte ihnen entgegen: ‚Ich habe doch gestern zum Professor -gesagt: Abraham, der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich ein -guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer Vater! Meiner Ansicht nach -dürfte Gott so einen Befehl auch gar nicht geben.‘ - -Fragt die Tante sehr erstaunt: ‚Was, das hast du gewagt?‘ - -Und Jürgen läßt sich sofort vom Professor, der geantwortet hatte: ‚Wie -kommen Sie zu dieser unerlaubten, sträflichen Ansicht?‘, bei der Tante -in Schutz nehmen: ‚Ihr Neffe hat öfters solche erstaunlich selbständigen -Ansichten.‘ - -Sagt die Tante erfreut zum Vater: ‚Da ist er ja gar keine Schande für -die Familie.‘ - -Und der Vater sagt: ‚Entschuldige, daß ich dich ein ‚Schmähliches Etwas‘ -genannt habe ... Wie konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig -behandeln. Unbegreiflich!‘ Jürgen lächelte bescheiden. - -Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers wurde nach dem Gange zu -geöffnet. Und Jürgen hörte, wie der Vater, der krank im Lehnsessel saß, -zu Herrn Philippi, einem alten Freunde des Hauses, sagte: „Ich werde ihn -in den Staatsdienst stecken. Ein kleiner, verschrullter Amtsrichter oder -so etwas Ähnliches! Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft, unvernünftig -und lebensuntüchtig ist er.“ - -Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf und Schultern -gedemütigt seitwärts und hob die Brauen, daß die Stirn Falten bekam. - -„Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so jungen Menschen -liegen. Niemand kennt das Maß einer unfertigen Seele“, sagte Herr -Philippi. Die Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht -funkelten. ‚Auch die Seele deiner Frau hast du so lange mit dem Lineal -gemessen, bis dieses leidensfähige Gemüt einging wie ein krankes -Vögelchen‘, dachte er und sagte es nicht. - -Auf dem Gange fing die Tante Herrn Philippi ab. „Wie gehts ihm? Wie ist -mein Bruder?“ - -„Unvernünftig, meine Liebe!“ Herr Philippi wollte fortstelzen. - -Sie erwischte ihn noch am Ärmel. „Daß dieser bedeutende Mann so einen -Sohn haben muß! Wir schämen uns seiner ... Heute sagte der Vater zu ihm: -Du kommst in ein Bureau. Das ist das beste für dich ... Und das ist auch -meine Meinung.“ - -Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen des alten Mädchens, -betrachtete, als zähle er sie, schweigend die mit der Brennschere -sorgfältig gedrehten, an Stirn und Schläfen platt angedrückten, -schwarzen zwölf Fragezeichen. „Dann erziehen wohl Sie ihn, falls Ihr -Bruder sterben sollte? ... Kann ich mit Jürgen sprechen?“ - -„Ja, ich erziehe ihn. Er schreibt gerade seinen deutschen Aufsatz: ‚Die -Bedeutung der Tinte im Dienste des Kaufmanns‘. Sprechen können Sie ihn -jetzt nicht. Der Stundenplan muß streng eingehalten werden.“ - -Die Tante stellte sich zu einer langen Erzählung zurecht. „Hören Sie! -Jürgen war schon als ganz kleiner Junge so ängstlich, daß er nicht -einmal zu sprechen wagte. Wir alle glaubten, er sei stumm geboren. Eines -Tages – er war vier Jahre, es war auf dem Geflügelmarkt – sagte er -plötzlich: ‚Hühnchen‘. Das war sein erstes Wort. Nicht etwa ‚Papa‘, wie -bei andern Kindern. Bewahre! ‚Hühnchen‘ sagte er und lockte: ‚Bi bi bi -bi‘, so mit Zeigefinger und Daumen ... Sollte man das für möglich -halten? Diese Unselbständigkeit! ... Er ist ganz seiner Mutter -nachgeschlagen. Auch sie war so lebensuntüchtig. Hatte Angst vor Mäusen -– ich habe ja auch schreckliche Angst vor Mäusen –; aber als einmal eine -Maus gefangen worden war, weinte seine Mutter stundenlang, weil die Maus -ertränkt wurde.“ - -Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, weil er sie am gehäkelten -Spitzenkragen gepackt hielt und noch immer nicht sprach. Da schüttelte -er sie kräftig und sagte: „Bi bi bi bi! Adieu!“ - -Abweisend blickte sie ihm nach, horchte dann einige Minuten strengen -Gesichtes an Jürgens Tür. Der saß glühend am Tisch und schrieb, da er -anderes Papier nicht gleich gefunden hatte, in das Schulheft eine lange -Abhandlung mit vielen Beweisen, daß es einen Gott nicht geben könne. -‚Folglich bin ich Atheist.‘ Dann erst quälte er sich den deutschen -Aufsatz ab. - -Und übergab das Heft am Montag dem Professor, der die Beweise für das -Nichtexistieren Gottes fand und sie dem Religionslehrer schickte. - -Das Ereignis wurde zu einer Professorenkonferenz und hatte nur deshalb -keine schlimmen Folgen für Jürgen, weil die Tante plötzlich an der -Stirnseite des Konferenztisches stand und die Lehrerrunde sprengte: -„Herrn Kolbenreiher hat soeben der Schlag getroffen ... Mein Bruder war -ein bedeutender Mann.“ Ihre Hand wanderte, wurde mitleidig geschüttelt. - -„Aber mit seinem Sohne müssen die Herren viel Geduld haben ... Mit viel -Geduld und Strenge gehts vielleicht.“ - -Daran solle es nicht fehlen. Vom Rektor wurde sie hinausgeleitet. -„Jürgens schwankende Seele ... Seine Unsicherheit“, vernahmen die -Zurückbleibenden. - -„Folglich bin ich Atheist.“ Der Religionslehrer riß die Augen auf. „Bin -ich Atheist, schreibt der Junge. Und gestern diese Geschichte mit -Abraham!“ - -Der Geschichtsprofessor beruhigte ihn: „Das Leben wird dem Burschen -diese Gedanken schon abschleifen ... Gut und schnell auffassen tut er -ja.“ - -„Bei mir nicht“, sagte der Mathematikprofessor und hielt die Hand -erhoben. Sie rügten noch seine außerordentliche Faulheit und schlossen -die Konferenz. - -Der Rektor schüttelte schweigend die Hand der Tante. Furchtsam und -unbeachtet stand Jürgen daneben. Und ging dann, vor Schuldgefühl -vornüberhängend, mit der aufrechten Tante nachhause, wo Weihrauchwolken -standen. - -Gegen Abend zog sie den willenlos Folgenden ins Sterbezimmer, in dem der -Vater, bekränzt und kerzenumstanden, schon auf der Bahre lag, schlug das -Kreuz und benutzte den Endschwung gleich dazu, auf des Toten Gesicht zu -deuten: „An dir hat er keine Freude gehabt. Das kannst du jetzt in -deinem ganzen Leben nicht mehr gut machen ... Bete! Drei Vaterunser! Und -dann komm und iß.“ - -Das Gewicht des Hauses legte sich auf den gekrümmten Rücken. Die still -brennenden Kerzen beleuchteten des Vaters Gesicht, das in -Unzufriedenheit erstarrt war, als habe ihn auch der Tod enttäuscht. - -Lange kämpfte Jürgen mit sich; endlich versuchte er, das wächserne -Gesicht im Blick, die gefalteten, toten Hände zu berühren. Und wich -zurück, als er das bekannte Lächeln der Verachtung zu sehen glaubte. - -Ganz langsam kniete er nieder, die befohlenen drei Vaterunser zu beten. -Kein Wort fiel ihm ein. Seine flehende Hand wollte die äußerste Spitze -des Leintuches berühren. Und sank kraftlos zurück. - -Der Tote lag unberührbar, in ungeheuerer Macht. - -Da drehte sich ein Stachelrad brennend schmerzhaft in Jürgens Kopf und -schleuderte die Worte ab: ‚Na, du schmähliches Etwas!‘ - -„Na, du schmähliches Etwas!“ wiederholte Jürgen verächtlich und wandte, -irr blickend, Kopf und Schultern gedemütigt weg, weil er glaubte, nicht -er, sondern der Tote habe gesagt: Na, du schmähliches Etwas! - -Die Macht des Toten vor sich, die Macht der Tante hinter sich, kniete er -ausgeliefert und verloren, schief und tränenlos im Zimmer. - -„Jetzt bist du eine Doppelwaise“, sagte die Tante, ergriff seine Hand -und führte ihn hinaus. - -Jürgen versuchte gar nicht mehr, Übersicht über seine Gefühle zu -gewinnen. In die Träume schickte die vergewaltigte Seele drohende -Ungeheuer. Der Vater stand immer daneben. - -Und wenn ihn der qualenerfüllte Schlaf entließ, empfing ihn die Tante, -schüttelte verächtlich den Kopf und gab ihm Briefe mit an die -Professoren, in denen sie für Jürgen, der leider nicht seinem -bedeutenden Vater nachgeschlagen sei, um Nachsicht bat. - -In der schon gewohnheitsmäßigen Erwartung, wieder gedemütigt zu werden, -drehte Jürgen Kopf und Schultern weg, als im Zimmer plötzlich Herr -Philippi stand. „... Da fällt mir ein: Sie glauben vermutlich immer -noch, Ihr Vater habe nicht viel von Ihnen gehalten? Selbst wenn es so -wäre, dürften Sie ihm das weiter nicht nachtragen. Er war ein alter, -kranker Mann, der den Glauben an das Gute eingebüßt hatte. So einer ist -leicht blind und ungerecht.“ - -Als habe der Vater gesprochen, war der Knabenkopf immer tiefer gesunken. - -Der Vater ist tot ... Seine Autorität lebt, dachte Herr Philippi. Und -log: „Ich habe Ihnen etwas von Ihrem Vater auszurichten. Kurz vor seinem -Tode war ich bei ihm. Er saß im Sessel, Sie wissen ja, saß wie immer im -Sessel und blickte zum Fenster hinaus auf einen vorüberfliegenden -Vogelschwarm ... Es waren Stare“, dichtete Herr Philippi. „Plötzlich -sagte Ihr Vater nachdenklich: ‚Meinem Jürgen habe ich zeitlebens -furchtbar unrecht getan. Warum eigentlich? Das ist mir ein Rätsel.‘ ... -Er wußte es nämlich tatsächlich selbst nicht ... ‚Denn ich bin mir ja in -Wirklichkeit ganz klar darüber, daß Jürgen ein‘, wie sagte er doch, ‚ein -ausgezeichneter und sogar sehr kluger Junge ist ... Das muß man ihm bei -Gelegenheit einmal sagen‘.“ - -Es gelang Herrn Philippi, wie ein Knabe zu lächeln, als er auch die -Autorität der Tante zu erschlagen versuchte: „Und dieses alte Mädchen, -Ihre Tante! Aus der brauchen Sie sich natürlich gar nichts zu machen. So -eine vertrocknete Schachtel ist ja ganz ahnungslos! Das ist übrigens die -volle Wahrheit ... Besuchen Sie mich einmal.“ - -‚Diese Bürgeraristokratie sagt sich: Wir lassen unsere Kinder nicht -hungern, nicht arbeiten; wir asphaltieren ihnen mit Körperpflege, -reichlichem Essen, höherem Unterricht und Geld, mit viel Geld eine -breite, glatte Straße ins Leben ... Die psychischen Ungeheuer, die sie -in die Seelen stoßen, zählen nicht. Da fallen die allerhand Autoritäten -über so einen Jungen her, nehmen ihm, auch wenn er beim Spiel mit Sand -mehr Phantasie und Geist offenbart, als sie in ihrem ganzen Leben, seine -Selbständigkeit und wundern sich dann über seine Unselbständigkeit‘, -dachte der Alte auf der Straße, während Jürgen vor der Tante stand. - -Sie blickte beim Sprechen hinaus in den Garten, steil aufgerichtet. „Ich -habe alles gehört. Du hast keine Zeit, Herrn Philippi zu besuchen. Deine -Schularbeiten sind wichtiger. In meinen Händen liegt deine Erziehung.“ - -Ein Automat sagte: „So eine vertrocknete Schachtel! Du bist ja -vollkommen ahnungslos ... Das ist übrigens die volle Wahrheit.“ - -Die Tante schnellte entsetzt herum. Auch Jürgens Mund blieb in -übergroßem Schrecken geöffnet. „Was hast du gesagt? Wiederhole, was du -eben gesagt hast!“ - -„Das habe doch ich nicht gesagt.“ Sein Tonfall der Überzeugung riß der -Tante die Empörung ins Gesicht. „Du leugnest, was ich mit meinen Ohren -gehört habe?“ - -Jürgen, überzeugt, diese Worte nicht gesprochen zu haben, bekam -irrblickende Augen. - -„Das werde ich morgen dem Herrn Rektor schriftlich mitteilen. Du -übergibst ihm den Brief. Und jetzt ... Pfui!“ - -Erst nachdem die Tante schon draußen war, fühlte Jürgen ein paar Tropfen -auf seinem Gesichte kalt werden und wußte, daß sie ihn angespuckt hatte. - -Hitze und Kälte wechselten einigemal schnell in seinem Körper. Er trat -ans Fenster, starrte in den Garten. Die farbigen, kopfgroßen Glaskugeln -steckten still und öde auf den grünen Stangen. Aus dem Nachbargarten -klangen Sonntagnachmittagsgeräusche herüber. Abgerissene Worte. Jemand -spielte Ziehharmonika. - -Ein wilder Schrei saß Jürgen im Halse. Er hob die linke Schulter, die -rechte, rhythmisch die Beine. Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten -Tanz. - -Am Montagmorgen schlich er, eine Stunde früher als gewöhnlich, ohne -Brief geduckt aus dem Hause, begann plötzlich zu laufen, rannte, -galoppierte weit aus der Stadt hinaus, quer über Schollenäcker, hügelan -und -ab, bis vor das schwarze Tunnelloch im Berg und glotzte blöd -hinein, kehrte um und kam, verschwitzt und keuchend, noch rechtzeitig im -Schulzimmer an, wo der Professor eben mit dem steilgestellten Bleistift -auf das Katheder klopfte. - -Die Blicke der sechzig Augenpaare trafen beim Bleistift zusammen, der in -dieser Stellung immer etwas Außergewöhnliches bedeutete. Der Professor -zog die Stille hinaus. Jeder lauerte: ‚Wen trifft es?‘ Jürgen hatte das -Gefühl, sein Herz sei so rund und so groß wie ein schwarzer Mond und -schlage nicht mehr. - -„Leo Seidel! ... Sie wissen, daß Ihr Vater Sie leider aus dem Gymnasium -herausnehmen muß. Umstände halber! ... Euer bisheriger Schulkamerad -verläßt euch heute. Er muß verdienen ... Leo Seidel, Armut ist keine -Schande.“ - -Der Sohn des Briefträgers blickte beschämt ins Tintenfaß. - -„Auch ein Hausdiener kann sich heraufarbeiten ... In Amerika, zum -Beispiel, soll das öfter vorkommen“, sagte der Professor und lächelte. -„Diesen Vormittag bleiben Sie noch in unserer Mitte“, zeigte er, mit -einer Handbewegung über die ganze Klasse weg. Und deutete mit dem Daumen -zur Tür: „Dann treten Sie in Ihren neuen Pflichtenkreis ein.“ - -Kreisende Rasenspritzen. Sonne. Hinter dem eleganten Kinderwagen reitet -das Mädchen auf dem Steckenpferd in gezähmter Pferdeungeduld durch das -Klassenzimmer. Offenen Mundes starrte Jürgen den abgezehrten -Proletarierjungen an. - -„Wollen Sie etwas sagen, Kolbenreiher? ... Nun? Heraus damit!“ - -Die übergroße Erregung fraß Jürgens ganze Kraft auf. Seine gelähmten -Lippen stammelten: „Ich wollte nichts sagen.“ - -„Karl Lenz! ... Sie haben vorhin mit Adolf Sinsheimer Fingerhakeln -geübt; erklären Sie uns jetzt den Flaschenzug.“ Auf dem Katheder stand -ein kleines Modell. „Nichts? ... Setzen Sie sich. Und lassen Sie sichs -von Leo Seidel erklären.“ - -Während hinten das Duell der Fingerhakelnden ausgetragen wurde und der -Professor mit den kleinen Bleigewichten des Modells spielte, erklärte -die einsame Stimme Leo Seidels das Gesetz des Flaschenzuges. - -Jürgen litt unter der Feigheit, seine Meinung nicht geäußert zu haben, -brüllte in Gedanken: ‚Nur weil Seidels Vater arm ist? Das ist gemein. -Gemein! ... Alles ist gemein.‘ Glotzte besinnungslos den Professor an, -bis der ihm zurief: „Kolbenreiher, wo werden Flaschenzüge gebraucht?“ - -„Flaschenzüge?“ - -„Aber gewiß, Flaschenzüge! Nun? ... Leo Seidel, sagen Sie es ihm.“ - -„Zum Beispiel am Neubau. Da kann ein einzelner Arbeiter mit einem -Flaschenzuge ...“ - -„Mit Hilfe!“ - -„... mit Hilfe eines Flaschenzuges Lasten in die Höhe winden, die -zehnmal so schwer sind wie der Arbeiter. Infolge der Übersetzung!“ - -‚Infolge der Übersetzung‘, sollte Jürgen wiederholen, hatte aber -‚Überrumplung‘ gesagt. - -Die ganze Klasse durfte lachen. Lachte noch auf dem Heimwege, wo alle -sich von Leo Seidel, der vielleicht schon morgen einen Handwagen durch -die Stadt schieben mußte, abgesondert hielten. - -Auch Jürgen, gelähmt, wagte nicht, ihn zu begleiten. Nur in Gedanken -trat er mit kühner Ritterlichkeit zu ihm. ‚Ich fürchte die Meinung der -andern nicht.‘ Ließ sich von Seidel verehren. - -Beim Mittagessen beachtete ihn die gefährlich schweigende Tante nicht. -Schickte das Dienstmädchen, mit dem Befehl, Jürgen habe den Brief am -nächsten Morgen dem Herrn Professor zu übergeben. - -Erst nachmittags konnte Jürgen so viel Entschlußkraft finden, Seidel zu -besuchen. In der Kellerstube stand der Armeleutegeruch, der das Vorhaben -des schwindsüchtigen Briefträgers, den Sohn studieren zu lassen, als -schwer ausführbar erscheinen ließ. Seidel saß still am Fenster und sah -hinaus in den stinkenden Hof. Qual und Scham drehten Seidels Kopf und -Schultern zur Seite, so daß er plötzlich Jürgen glich, der sich im -selben Moment zum erstenmal in seinem Leben frei fühlte. - -Er reichte Seidel eine in Leder gebundene Weltgeschichte, konnte -scherzen: „In der biblischen Geschichte steht zwar: Gehe hin, verkaufe -alles, was du hast, und ... Aber nicht deshalb gebe ich dir das Buch. -Denn ich glaube ja gar nicht an Gott.“ - -Die fahle Mutter lag im Bett. Der Säugling, wegen dessen unerwünschter -Ankunft der Vater den Sohn aus dem Gymnasium hatte nehmen müssen, begann -zu schreien. Die Bettlade knackte. Vier Kinder, in verschiedenen Größen, -bleich und blutleer, standen reglos da, mit großen Augen. - -„Hast eine schöne Weltgeschichte. Zum Andenken an mich. Hast eine Freude -... mit hundertsiebenunddreißig Illustrationen.“ - -Ohne den Blick zu erheben, sagte Seidel, daß er voraussichtlich bald der -Klassenfünfte geworden wäre. - -Und Jürgen rief: „Also deshalb, weil dein Vater kein Geld hat, mußt du -Hausdiener werden, anstatt vielleicht ... Minister. Das ist ja! Alles -was recht ist!“ - -„Mein Gott, was redet ihr Buben!“ Die Wöchnerin spuckte in den Napf. -„Was ihr redet!“ - -Jürgen redete sich in Zorn hinein: „Absolut! Das ist maßlos ungerecht. -Gemein ist das. Einfach hundsgemein! Wahrhaftig, das sage ich jedem, -ders hören will.“ Auch Seidel hatte rotgefleckte Wangen bekommen. - -Die Mutter beruhigte den Säugling. Und zu den Knaben: „Mein Gott, das -sind ja lauter Dummheiten.“ - -„Nehmen wir an“, sagte Herr Philippi, „es sei schon von vornherein eine -Dummheit gewesen von dem schwindsüchtigen Briefträger mit der großen -Familie, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken.“ - -„Wenn Leo Seidel doch gescheit ist! ... Postdirektor werden kann! Wer -kanns wissen?“ - -„Ganz recht, wer kanns wissen. Mancher Dummkopf wird Professor; manch -kluger Kopf muß sich eine Kugel in den Kopf schießen. So ist das -heutzutage. Und so wird es auch noch einige Zeit bleiben. Man muß sich -schon überlegen, ob man Hoffnungen wecken soll, denen von vornherein die -Armut schwer im Wege liegt ... Da eröffnen sich verschiedenerlei wüste -Perspektiven.“ - -„Ich würde Seidel aber doch helfen, wenn ich Sie wäre. Sie sind reich.“ - -Alt lächelnd Herr Philippi: „Und ich, ich habe nicht den Mut dazu.“ Und -schwankend zwischen Abweisung und Güte: „Du gehst jetzt nachhause, -verstehst du, nachhause, und hältst alles aus. Verschwinde!“ - -Die Tante ging selbst zum Briefträger, holte die Weltgeschichte zurück. -Und einen Tag später stand die ganze Begebenheit auf den Gesichtern der -Mitschüler. - -Die Lücke, die Seidel hinterlassen hatte, war durch Vorrücken ausgefüllt -worden. - -„Jetzt trägt er Backsteine an einem Neubau.“ Karl Lenz machte das -Backsteintragen vor, krümmte den Rücken, ächzte. - -„Und so las er Roßballen auf.“ Adolf Sinsheimer, Sohn eines reichen -Knopffabrikanten, tat, als habe er einen Besen in der Hand, und log: -„Ich sah, wie Seidel die Straße kehrte ... Die frischen Roßballen kehrte -er zusammen.“ - -Vorsichtig und ängstlich näherte Jürgen sich dem Gelächter, stimmte ein, -ohne zu wissen, weshalb die andern lachten. - -„Braucht Seidel zum Sammeln der Roßballen eine Weltgeschichte?“ Alle -sahen Jürgen erwartungsvoll an, hielten das Lachen noch zurück. - -Da erlachte Jürgen sich die Achtung seiner Mitschüler: „Zum -Roßballensammeln braucht man, weiß Gott, keine Weltgeschichte.“ - -Sie waren zufrieden, nahmen ihn auf. Jürgen sagte noch: „Zuhause bei ihm -...“ Er hielt sich die Nase zu. „Und jetzt dazu noch Roßballen!“ Alle -hielten sich die Nase zu. - -Plötzlich wich aller Druck von ihm, bei dem Gefühle, nicht mehr allein -zu stehen. Und Jürgen nahm sich vor, von nun an immer und in allem so zu -sein, wie die andern. Das würde das Leben leicht machen. - -Am nächsten Morgen saß Leo Seidel wieder an seinem Platze, in einem -neuen Anzug, das Gesicht verschlossen. - -‚Warum, warum habe ich das getan!‘ Jürgens Körper bewegte sich -selbsttätig nachhause, ins Wohnzimmer. - -„Erst lies mir aus der Zeitung vor! Dann gehst du an deine -Schularbeiten.“ Die Tante stickte weiter am Stramintischläufer ‚An -Gottes Segen ist alles gelegen‘. Mit dem Schnabel hielt diese von -Rosengirlanden durchzogene Wortkette ein Papagei, der noch unfertig in -der Mitte saß. - -Der Satz – im Reichstag sei wieder ein Antrag zur Einführung einer hohen -Vermögenssteuer gestellt worden – kam automatisch aus Jürgens Mund. ‚Ich -allein habe zu Seidel gehalten, habe mit Herrn Philippi gesprochen. -Jetzt darf er das Gymnasium weiter besuchen. Ich! Ich habe das -veranlaßt. Hilfe! Ich!‘ - -‚Jawohl, Jürgen ist der Beste von euch allen. Hat zu mir gehalten. Der -hat Mut. Hat mich gerettet. Ihr habt mich verraten.‘ - -‚Und ich? ... Ich auch!‘ Jürgen sah die Tante irr an. „Wie schrecklich!“ - -„Das ist ja einstweilen nur ein Antrag. Lies weiter! Zuerst die -Todesanzeigen!“ - -„Man muß gut sein ... So lange gut sein, bis man etwas Schlechtes gar -nicht mehr zu tun vermag.“ - -„Merke dir das“, sagte die Tante und zog dem Papagei einen grünen Faden -durch das Auge. „Alle Todesanzeigen!“ - -„Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“ ‚Weshalb hat Herr Philippi -mir nicht gesagt, daß er Seidel helfen werde. Dann wäre ich vielleicht -nicht so furchtbar gemein gewesen ... Jetzt ist alles verloren.‘ - -Jürgen bemerkte nicht, daß die Tante vom Dienstmädchen gerufen worden -war. - -Er überschrie noch eine Weile seine qualvolle Ohnmacht mit den Worten: -„Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“, blickte die Nadel an, die -im Papageienauge steckte, den Faden, der lang und grün herunterhing, -umklammerte in Gedanken mit beiden Händen ein Messer und drückte es -langsam in seine Brust. - -Entwurzelt taumelte er beim Unterricht mit, mußte schon nach einigen -Wochen Leo Seidel weichen, der sich bald zum Primus in die Höhe -arbeitete und, da er vorsichtig und schwer angreifbar strebte, von der -ganzen Klasse gefürchtet wurde. Wer sein eigentlicher Retter war, erfuhr -Seidel nie. Auch dann nicht, als er sich eines Tages mit der ganzen -Klasse gegen Jürgen verband und von der Weltgeschichte sprach, die er -bei sich zuhause absolut nicht finden könne. - -Jürgen flüchtete aus dem immer schwerer werdenden Drucke der Einsamkeit -wiederholt zu seinen Mitschülern und, vor Ekel, sich angebiedert zu -haben, immer wieder zu sich selbst zurück und wieder zu den Mitschülern. -Schloß sich endlich enger dem Sohne des Knopffabrikanten an, zu dem ihn -anfangs der gemeinsame Haß gegen die Mathematikstunde hingezogen hatte -und später seine immer stärker werdende Bewunderung von Adolf -Sinsheimers Fähigkeit, außerhalb der Schule wie ein Erwachsener ohne -Schwierigkeit mit dem Leben fertig zu werden. - -„Wenn du eine Geliebte hast, ist das noch gar nichts; wenn du aber eine -Geliebte hast und zu ihr sagen kannst: Heute nacht, meine Liebe, bin ich -verhindert, tut mir leid, der Klub geht denn doch vor – dann erst bist -du ein Mann, gewissermaßen. Bedauerlicherweise jedoch wird man in den -Klub junger Kaufleute erst nach dem Abiturientenexamen aufgenommen. Ich -werde dir das Klubhaus zeigen. Livrierte Diener natürlich!“ - -„Wenn man aber gar nicht Kaufmann wird?“ - -„Dann ist man ein Esel, heutzutage ... Sag mal, aber ehrlich, wie oft -warst du schon krank?“ - -„Dreimal: Scharlach, Masern und Halsentzündung.“ - -„Du bist ein Säugling, gewissermaßen. Die elegante Männerkrankheit, wie -oft du die gehabt hast!“ - -„Vielleicht habe ich sie schon sehr oft gehabt; ich weiß nur nicht, was -du meinst.“ - -Sie waren vor dem Klubhause angelangt. Klaviergepauke und Refraingesang -klangen durch das beleuchtete, offene Fenster herunter. Adolf sang -gleich mit: - - „Es haben zwei ne ganze Nacht - Zusammen in einem Bett verbracht. - Was ham se wohl gemacht?“ - -Das vereinzelte, noch unterdrückte Lachen, das plötzlich zum Sturm -anwuchs, galt dem Vortragenden, der auf dem Podium stand und wortlos -demonstrierte, was die beiden gemacht haben. - -„Es geht doch nichts über lustige junge Leute“, sagte zu seiner -verschwitzten, verstaubten Frau ein ziegenbärtiger, mit Waldlaub -geschmückter Sonntagsausflügler und schob den Kinderwagen weiter. - -Oben sang der junge Kaufmann mit speckiger Stimme. Das Klaviergepauke -trug den Refrain herunter: „Was ham se wohl gemacht?“ - -„Kalte Umschläge, meinst du, was, gegen die Halsentzündung?“ - - „Bei Nacht und auch bei Licht ...“ - -Mitten in das stürmische Gelächter hinein fragte Jürgen zögernd: „Drückt -dich auch alles so? Ich meine, deinetwegen und auch wegen der andern. -Das ganze Leben, so wie es ist?“ - - „Gebetet, gebetet ham se nicht!“ - -„Unsinn! Ich bitte dich, was soll denn drücken! Der Kragen, der Schuh -drückt.“ Er streckte den Fuß vor: „Wirklich, beinahe jeder angemessene -Schuh drückt. Aber elegant, was? Übrigens, ich spitze einmal hinauf. -Warte du hier.“ - -Da drehte Jürgen sich elefantenhaft langsam und ging davon, bis zu der -Ansammlung waldlaubbehangener Sonntagsausflügler, Kleinbürgerfamilien, -Ladenmädchen mit ihren Freunden, die, verstaubt, verschwitzt und grün, -stillgeworden unter der zischenden Bogenlampe standen und den Anblick -eines Mannes auf sich wirken ließen. - -Der lag, Augen geschlossen, schwer atmend, Schaum auf den Lippen, -langgestreckt im Staub, vor einem Bankhause, auf dessen Schaufenster -erhabene Goldbuchstaben verkündeten: Kapital und Goldreserven 500 -Millionen. - -Der Kleinbürger mit dem Ziegenbart sagte energisch: „Epileptischer -Anfall! Man muß die Daumen herausziehen. Dann vergeht der Anfall.“ - -Sofort streifte der Mann mit einem blitzschnellen Blick die über ihn -gebeugten Gesichter und richtete sich, von zehn Armen unterstützt, -sitzlings auf, ließ den Kopf hängen: „Das macht alles nur das Elend. Ich -wollte mit der Straßenbahn fahren, hatte aber das Nötige nicht ... Alles -nur das Elend!“ - -Jürgen wurde von Ekel gepackt. Er simuliert, dachte er und stieß brutal -durch den Kreis. - -Ein Erlebnis aus seiner frühen Jugend stieg auf. Auch damals lag auf dem -Pflaster ein Mann: jung, mit eleganter, blutiger Wäsche, -strenggebügelten, großkarierten Hosen, Brillantringe an den Fingern und -Schaum auf den Lippen. Die seidene Weste ist aufgerissen, die Brust -freigelegt. - -‚Bei dem war der Schaum blutrot. Die offenen Augen starrten gläsern. Das -war echt und entsetzlich; der vorhin hat simuliert ... Aber wie -furchtbar muß es ihm gegangen sein, bis er sich entschloß, so schamlos -Theater zu spielen, sich dermaßen zu demütigen vor den vielen Menschen -... Es wird ja vollkommen gleichgültig, ob seine Krankheit echt oder nur -simuliert war; im Gegenteil, es ist unendlich viel grauenvoller, daß er -nur simulierte. Denn wie muß es ihm gegangen sein.‘ - -Bestürzt über seine Gedankenlosigkeit, rannte er zurück. Der Platz war -leer, die Bogenlampe zischte nicht mehr, leuchtete ruhig und weiß. -Jürgen lief umher, suchte vergebens, stand wieder vor dem Bankhause und -sah die erhabenen Buchstaben an. Deutlich sah er den Bettler liegen. - - „Beim Sang der Nachtigallen - Ist Urselchen gefallen. - Wohl über große Steine?“ - -schallte der Gesang vom Klubzimmer herunter. - -„Nein über, nein unter Karlchens Beine!“ - -„Und daran geht man vorüber, hinauf in den Klub, und singt so ein Lied. -Wie furchtbar! ... Nun, und jetzt?“ fragte Jürgen, ging weiter. „Ist -wieder etwas dazu gekommen, zu allem andern? ... Man muß unausgesetzt -wach sein, bis man zu etwas Schlechtem gar nicht mehr fähig ist.“ Das -war ein Gelübde. - -Da hatte er einen Gedanken, der ihn so erleichterte, daß er, obwohl es -Sonntag und zehn Uhr abends war, die Hausglocke des Lackierermeisters -zog. - -„... Gewiß, Sie haben recht. Es hätte selbstverständlich auch bis morgen -Zeit gehabt; aber ich ging gerade hier vorbei ...“ - -„Also, was für eine Tafel soll ich denn schreiben?“ - -‚Betteln gestattet‘, geht nicht, dachte Jürgen. ‚Betteln erwünscht‘, -geht auch nicht. „Schreiben Sie – auf eine hübsche Tafel: ‚Hier wird -Armen gegeben‘.“ - -„Und die willst du wirklich aufhängen? Du wirst dich wundern, mein -Junge.“ - -„Nein, die andern werden sich wundern.“ - -„Das wird wahr sein! Nun, also wie denn? ... Weiß auf schwarz? Oder -schwarz auf weiß? Man kann auch etwas Farbiges machen. Oder -Goldschrift?“ - -„Vielleicht Gold auf schwarz?“ - -„Schön. Macht sich gut ... ‚Hier wird Armen gegeben‘, nicht wahr? Mein -Gott, so einen Unsinn hab’ ich auch noch nie geschrieben, kannst du mir -glauben.“ - -Mit Hilfe des Dienstmädchens nagelte Jürgen die Tafel am Gartenzaun -fest, an der Rückseite des Hauses, wo die Tante selten hinkam, und gab -dem Dienstmädchen Geld. „Wird das für einen Monat reichen?“ - -Die goldenen Worte ‚Hier wird Armen gegeben‘ glänzten schön. Darunter -hatte Jürgen einen Zettel geklebt, auf dem stand ‚Zwischen neun und elf -Uhr vormittags‘. Das war die Zeit, während der die Tante täglich in der -Kirche saß. - -In Gliedern und Gelenken unbeherrscht wie ein junger Hund, langgeworden -und immer in so unruhvoller Eile, daß der vornüberhängende Körper einen -schlotternden spitzen Winkel zum Boden bildete, stolperte Jürgen in die -Jünglingstage, in seinen siebzehnten Frühling hinein, fragenden Blickes -beständig und vergebens in sich selbst und bei der Umwelt suchend nach -der erlösenden Antwort. - -Maiwind und Spiellust wehten gepflegten, langbeinigen Mädchen, die im -öffentlichen Parke ihren Reifen nachjagten, die Röcke bis zum Kinn. -Seidenblauer Frühlingshimmel war über Tulpen- und Hyazinthenbeete, -billardglatte Rasenflächen und knospende Baumkronen gespannt. Alte -Gouvernanten sahen rosig aus. - -Unschlüssig, ob er, wie auf dem Wege hierher, ziellos weiter eilen oder -verweilen solle, blickte Jürgen sich um, sog den Blumenduft ein. Wind -schüttelte die langen, störrischen Zotteln. Einige Male mußte er sie aus -der Stirn streichen, um die fünfzehnjährige, in den Schultern noch -eckige Katharina – Tochter des Universitätsprofessors Lenz – betrachten -zu können, die, sichtbar vom Leben schon gezeichnet, fremden Blickes die -jubelnden Kinder beobachtete, bis sie Jürgens unverwandten Blick fühlte. -Da sah sie erst in den Teich, wo alte Karpfen und armlange Goldfische -aus den Schlinggewächsen langsam zur Wasseroberfläche zogen, langsam -wieder in die Tiefe, und las dann weiter in dem Buche. - -Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich sich selbst. Die -Himmelsbläue über ihr sprang mit. - -Mit gemachtem Interesse betrachtete Jürgen Bäume, Teich, Fontäne und -umkreiste dabei in immer kleiner werdendem Abstande die Lesende, deren -ganzer Körper, obwohl sie reglos saß, sichtbar spröder wurde, je näher -Jürgen kam. - -Unvermittelt und aus noch fünf Schritt Entfernung: „Das sind Karpfen, -richtige Karpfen. Man kann sie essen.“ Unheimlich dumm, daß ich das -sagte, dachte er und setzte sich. - -Sie las weiter, das Gesicht interessiert schief gestellt zur Buchseite. - -Da traf sein ratlos bittender Blick zusammen mit ihrem, in dem -frühzeitige Bewußtheit noch mit Mädchenscheu zu kämpfen hatte. - -Als ob diese dunkle Last der Bewußtheit, die wie das zukünftige Ich in -ihrem Blicke stand, losgespalten von der lieblichen Kindlichkeit, mit -der sie den Rock über die Knie hinunterzupfte, in Jürgen das Gefühl -erschlossen hätte, ihr schicksalsverwandt zu sein, empfand er das -erstemal in seinem Leben ganz plötzlich rückhaltloses Vertrauen. Dies -kam mehr in Blick und Ton zum Ausdruck, als in seinen Worten. - -Um die beiden herum war die Umwelt. Rede und Antwort im Innersten der -Umwelt. Frage und Antwort. Und eine Frage Katharinas, auf die er -antworten konnte: „Vielleicht trägt man alles Erlebte in sich. Das reißt -uns hin und her. Und täglich und stündlich kommt Neues hinzu, und alles -ist furchtbar. Alles! Das ganze Leben, so wie es ist.“ - -Und als brächte dies Erleichterung, bat er, sie möge mit ihm -spazierengehen. Katharina erhob sich sofort. Er überragte sie um -Kopfeslänge. Sie verschwanden in dem streng beschnittenen Laubgang von -Korneliuskirschen. - -Er blickte hinunter auf ihren gebräunten, eigenwillig gebogenen Nacken -und, da sie aufsah, auf ihren kleinen, festen Mund. Erbebend blieben sie -stehen und wandten erbebend sich ab. - -„Ich weiß schon genug über Sie. Mein Bruder hat mir viel von Ihnen -erzählt. Auch das von der Weltgeschichte! Er ist dumm. Er begreift gar -nichts.“ - -Das Vertrauen ließ ihn erzählen, daß er die Tafel ‚Hier wird Armen -gegeben‘ an den Gartenzaun angeschlagen habe. „Aber das sprach sich so -schnell herum, daß noch in der selben Woche an einem einzigen Vormittag -mehr als dreihundert Bettler kamen. Jetzt weiß ich natürlich schon, daß -all das gar nichts nützt. Und wenn meine Tante die Tafel nicht -heruntergenommen hätte, würde ich selbst es getan haben ... Was aber -soll man denn tun?“ - -Erst nach zwei langen Minuten und als läse sie es von ihren Schuhspitzen -ab: „Es gibt nur eines: man muß sich opfern, muß sich selbst ganz und -gar aufopfern.“ - -„Das ist, das ist kolossal, ganz kolossal, was Sie da sagen ... Aber -wie? Wie soll man sich aufopfern?“ - -Schon eine Weile bekam die Tante, die seit Wochen und auch heute ihren -täglichen, vom Arzte verschriebenen Spaziergang im Öffentlichen Parke -gemacht hatte, keinen Atem mehr. Endlich stürzte sie zu Bewußtsein und -auf die Bank zurück, auf der sie saß, und raffte ihren Häkelbeutel -zusammen, schoß nach in den Laubgang, packte den sie überragenden Jürgen -bei der Hand und führte ihn entschlossen und wortlos weg von Katharina. - -In durchwachten, verzweiflungsvollen Nächten kam Jürgen zu dem Schlusse, -erst nachdem er für immer aus dem Hause gelaufen sei, könne er Katharina -wieder vor die Augen treten. - -Als das Nervenfieber lebensgefährlich zu werden drohte, mußte der -Hausarzt die Behandlung dem Spezialisten überlassen. Erst nach Wochen -war des Kranken Gefühlskathedrale wieder so weit in Ordnung, daß er -eines Morgens, beim Erwachen, sich allen Eindrücken weich darbieten -konnte. - -Die Tante schob die auf dem Nachtkästchen stehenden Medizinflaschen zur -Seite, schlug ihr Haushaltungsbuch auf, in das sie des toten Vaters -‚Letztwillige Verfügungen über Jürgen‘ geschrieben hatte, und begann das -viele Seiten lange Erziehungsprogramm abzulesen. - -Die Worte tropften glühend in den Ausgelieferten hinein. - -„... Und deshalb nehme ich mir das heilige Versprechen ab, den letzten -Sproß der alteingesessenen Patrizierfamilie Kolbenreiher, deren -Geschichte bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurückverfolgt -werden kann, nach dem Willen seines unvergessenen Vaters zu erziehen und -ihn Beamter werden zu lassen, da er die Fähigkeit zu etwas Größerem nach -meines seligen Bruders Meinung nicht hat ... So ists, Jürgen, siehst du. -Nun werde mir bald wieder gesund ... Wenn du auch nicht so bist, wie du -sein könntest, ich habe dich doch lieb.“ Sie sah ihn freundlich an, -streichelte seine nassen Haare und rief erschrocken: „Du hast ja wieder -Fieber.“ - -Wangen und Augen glühten. Die rechte Gesichtshälfte lachte. - -Die Ärzte wurden geholt, Eisbeutel aufgelegt. Der Rückfall war kurz und -heftig. - -Jürgen verließ das Bett als verschlossener Jüngling, dessen früherer -Wille, sich durch die Wirrnisse der Jugend durchzuschlagen, unterbunden -war. Die Tante äußerte oft ihre Zufriedenheit. Denn nur, wenn sie ihn -fragte, antwortete er, ganz nach Wunsch ‚Ja‘ oder ‚Nein‘. Niemals -‚Nein‘, wenn ein ‚Ja‘ erwartet wurde. - -Seine grenzenlose Nachgiebigkeit lieferte ihn allen, selbst viel -jüngeren Schülern, aus. Körperlich wuchs er gleichsam über sich selbst -hinaus, wurde lang und sehr stark. Das Lernen für das bevorstehende -Examen verschob er von Tag zu Tag, fuhr Schlittschuh, stundenlang -flußaufwärts. - -Die eisbrechenden Fischer schimpften ihm wütend nach, da hier das -Schlittschuhlaufen äußerst lebensgefährlich war, der vielen großen, -quadratischen Wasserlöcher wegen. - -In dem Gefühle, durch eine körperliche Kraftleistung, durch große -Schnelligkeit seine seelische Gebundenheit lösen zu können, sauste -Jürgen an den unverhofft sich auftuenden grünen Wasserlöchern vorbei, -bis die Nacht ihn überraschte. - -Schnurgerade führte die Landstraße stadtwärts; der Fluß dagegen zog -einen mächtigen Bogen, so daß Jürgen zu Fuß schneller nachhause gekommen -wäre, als auf dem Eise. - -Der geheime Todeswunsch, der ihm das imaginäre Messer in die Hand -gegeben und ihn vor das Tunnelloch getrieben hatte, veranlaßte ihn auch -jetzt, blind in die Gefahr hineinzurennen. - -Die Fischer waren schon lange heimgegangen. Jürgen stand dunkel in der -unwirklichen Helligkeit, die das Eis ausstrahlte. Zehn Schritte von ihm -entfernt war tiefschwarze Nacht. Das Eis knackte leise. Tierische Laute -stieß Jürgen aus, während er als schwarzer rechter Winkel stadtwärts -sauste. - -War er knapp an einem Wasserloch vorbeigeglitten, dann klang sein wilder -Schrei der Genugtuung in die Einsamkeit. - -Näher der Stadt mehrten sich die Wasserlöcher, links und rechts von ihm, -manchmal unerwartet dicht vor ihm. - -Angespannt und stumm geworden, zog er seine Bogen um den Tod herum. - - - - - II - - -Ungeduldig hörten die Abiturienten dem Rektor zu, der die lange -Entlassungsrede hielt. Endlich stieg sein Brustkorb hoch, der -Zeigefinger deutete zum Fenster. Sofort fühlten alle, daß jetzt die -Schlußworte kamen. - -Sie sollten denn hinaustreten ins ernste Leben, tüchtige, brave Männer -werden. Der Zeigefinger deutete noch zum Fenster hinaus. Es war -vollkommen still geworden. „Geachtete Männer!“ Da sanken Finger und -Brustkorb. Und die Entlassenen brachen los von den Bänken. - -Der Lärm entfernte sich rollend, wurde immer dünner, drang noch einmal, -wieder stärker geworden, von der Straße aus mit der Sonne durch das -Fenster zu den leeren Bänken herein. Und verebbte schnell. - -In die Stille des leeren Schulsaales klang eine Stimme, die aus dem -Gitter der Dampfheizung zu kommen schien: „Ich möchte mich noch bedanken -für alles, was die Herren Professoren in den Jahren meiner Schulzeit -Gutes an mir getan haben.“ Ah, ihr niederträchtigen Schufte, setzte Leo -Seidel in Gedanken hinzu und trat weg von der Dampfheizung, schob seine -Schulter unter die ausgestreckte Hand des Rektors: „Wenn der Herr Rektor -jetzt auch noch die große Güte haben wollten, mir den weitern Lebensweg -zu ebnen ...“ - -„Nicht jeder Deutsche kann die Universität besuchen. Das ist doch -einleuchtend.“ - -‚Denn woher sollten sonst die Briefträger und Hausdiener genommen -werden.‘ - -„Aber die Schreiberstelle beim Stadtmagistrat bekommen Sie. Ich habe -schon gesprochen ... Machen Sie mir Ehre. Werden auch Sie ein geachteter -Mann.“ - -Die Professoren ließen dem Rektor den Vortritt, verbeugten sich in -höflicher Erregung immer weiter von der offenen Tür weg. - -Adolf Sinsheimers Gesicht, das aus einem Rahmen oval heraussprang, denn -er trug seit Jahren ein schwarzes Seidenband straff über die -wegstehenden Ohren gespannt, damit sie sich mit der Zeit anlegen -sollten, war während der Prüfung so aufgedunsen, daß er das Band -abnehmen mußte. Sofort wurden beide Ohren lebendig, schnellten nach -vorne. „Jetzt, mein Lieber, geht das Leben an. Weißt du, was das -bedeutet: das Leben? Ich bin grandios glücklich. Morgen kaufe ich mir -einen steifen Hut und trete dem Klub junger Kaufleute bei ... Man ist -ganz unter sich im Klub. Keine Weiber!“ - -Jürgen setzt nach einem hartnäckigen Kampfe mit der Tante durch, daß er -nicht Staatsbeamter werden muß, sondern Philosophie studieren darf, -schreibt eine Abhandlung, die ungeheueres Aufsehen macht, und wird -daraufhin zum Bürgermeister gewählt. „... Das ist Glück!“ - -„Du kannst dich darauf verlassen, daß das Glück ist.“ Während Adolf -Sinsheimer von den Anzügen sprach, die er sich machen lassen werde, -wurde Jürgen Besitzer einer Fabrik, in der zwanzigtausend Arbeiter -beschäftigt sind, und bestimmt mit einem Federzuge, daß alle -zwanzigtausend Arbeiter, alle Beamten und er selbst von jetzt an ganz -gleichmäßig am Gewinn beteiligt werden. - -Der alte Buchhalter sagt bestürzt: ‚Aber ich bitte Sie, Herr Direktor -...‘ - -‚Genug! Ich will das so. Das ist nur gerecht.‘ Und Jürgen schickt den -alten Buchhalter freundlich, aber entschlossen fort. - -„Zuhause werde ich meinem Alten ganz kalt erklären: Du, unter uns -gesagt, ohne Lackschuhe und Frack bringst du mich nicht auf den -Abiturientenball ... Hör mal, Jürgen – aber Diskretion bitte –, ich sage -dir, daß ich mich auf dem Ball nicht mit unseren Tanzstundengänschen -abgeben werde. Kann mir nicht passieren!“ - -‚Und wenn einem von euch in meiner Fabrik – das heißt, in unserer Fabrik -– etwas zustößt, dann bekommt er eine Rente sein Lebenlang.‘ - -„Ich halte mich glatt an die Schönheiten, die tadellos tanzen können. -Oder hast du etwas gegen einen Busen einzuwenden? Ich nicht.“ - -Als Adolf sich verabschiedet hatte – „Ich werde Gelegenheit nehmen, dir -heute nachmittag meinen Besuch abzustatten“ –, dachte Jürgen darüber -nach, weshalb er vor einigen Tagen zum ersten Male in seinem Leben -ernstlich über das Dasein und die Not der andern nachgedacht hatte. -‚Weshalb nicht schon Jahre vorher? Weshalb gerade an dem Abend, als ich -nach dem Essen im Garten stand und im Nachbarhause die zornige -Männerstimme und gleichzeitig vereinzelte Töne einer Ziehharmonika -hörte?‘ - -Bisher habe er doch immer nur, und auch dann nur veranlaßt durch ein -qualvolles persönliches Erlebnis, über sich selbst und seine eigene Not -nachgedacht; und in jener Minute, ohne jeden äußeren Anlaß und -unerforschlicherweise plötzlich darüber, warum Phinchen, dieses -gutmütige und nicht dumme Dienstmädchen, ihr Lebenlang in der Küche -stehen, Stiegen, Schuhe und Fenster putzen, Schlafzimmer aufräumen -müsse, häßlich gekleidet und ungebildet sei, zum Beispiel nie lese, gute -Bücher gar nicht verstehe, während die Tante und er die sorgfältig -zubereiteten Speisen verzehren, die von Phinchen sorgfältig geplättete -Wäsche tragen und Shakespeare oder Goethe lesen könnten, wenn sie -wollten; warum die siebzehnhundert Arbeiter von ihrem vierzehnten Jahre -an bis zum Tode täglich von früh bis abends in der Papierfabrik des -Herrn Hommes arbeiten müßten, während ungezählte tausende junger Männer -und Mädchen, die wenig oder nichts arbeiteten, hübsch gekleidet und -gepflegt täglich spazierengehen konnten; warum die Arbeiter so schwere, -täglich und stündlich zu erfüllende Pflichten hatten – und die -Wohlhabenden zum Teil recht angenehme oder gar keine; warum es überhaupt -Reiche und Arme gab, und warum der arm und der reich war; warum die -Armen tun mußten, was die Reichen wollten; ob all das ein Naturgesetz -oder menschliche Willkür war. - -Seit jener rätselhaften Sekunde hing er in einem Gedankennetz und suchte -vergebens den Mittelpunkt, von dem aus die Grundursache der Gemeinheit -des ganzen Lebens, die ihn bedrückte, verstanden werden könnte. - -Die Tante empfing ihn freudig mit den Worten: „Alles liegt hübsch klar -und geordnet vor dir ... Du wirst Staatsbeamter. Amtsrichter in einem -hübschen, kleinen Städtchen. Das ist dein Lebensweg. Ich bin so -glücklich.“ - -Jürgens Kopf nickte. ‚Du taugst zu nichts anderem.‘ Wut wollte -herausbrechen. Und wurde zu einem schiefen, gefährlichen Lächeln, -während die Tante sich feierlich erhob, das Tischgebet zu sprechen. - -„Ich werde nicht Amtsrichter. Ich will keine Urteile fällen über -andere.“ - -Das Dienstmädchen war halbwegs in der Stube stehengeblieben, die Hände -gefaltet. - -„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes ... Bringen -Sie diesmal auch eine Flasche Wein, Phinchen.“ - -Das besonders feine Damasttischtuch, das selten benutzte schwere -Familienbesteck, die Feierlichkeit der Tante und Jürgens Bemerkung -machten, daß das Mahl steif und schweigsam verlief. - -„Und wenn du nachher Amtsrichter bist“, begann bei der Süßspeise die -Tante in gütigem Tonfall, als ob sie Jürgens Weigerung gar nicht -vernommen hätte, „wirst du erst so recht einsehen, daß eben gerade die -strenge Pflichterfüllung dir die Achtung deiner Mitmenschen einbringt. -Du wirst ein geachteter Mann sein. Und das ist die Hauptsache: Ein Mann, -der sein sicheres Auskommen hat! – Auch wenn ich einmal nicht mehr da -sein werde. Die Pflicht vor allem!“ - -Phinchen brachte hervor, das gnädige Fräulein sterbe gewiß noch lange -nicht. Die Tante deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Brosche: „Meine -Brust harmoniert nicht.“ Und Jürgen fragte: „Aber was ist Pflicht?“ - -„Das weiß doch jeder Mensch. Jeder Mensch muß seine Pflicht tun ... -Bringen Sie noch etwas Kompott ... Du willst nicht Amtsrichter werden? -Ich sage: du mußt es werden. Du willst keine Urteile fällen? Du mußt -Urteile fällen. Denn dein Vater hat dich zum Amtsrichter bestimmt. Ich -sage nochmals: Die Pflicht vor allem!“ - -„Erfüllt der Papierfabrikant Hommes seine Pflicht dadurch, daß er seine -täglich in der Equipage spazierenfahrende Gattin zu Pferde begleitet? -Wer bestimmt, daß es die Pflicht der siebzehnhundert Arbeiter ist, in -die Hommessche Fabrik zu gehen? Und wer sagt mir, ob es meine Pflicht -ist, Amtsrichter zu werden und Urteile zu fällen über andere ...“ - -„Dein seliger Vater und ich!“ - -„... oder in der Fabrik zu arbeiten, oder täglich auszureiten und andere -für mich arbeiten zu lassen?“ - -„Das sind Dummheiten.“ Die Tante faltete ihre Serviette genau zusammen. -„Räumen Sie ab!“ Und stieg voran in Jürgens Zimmerchen. - -Er mußte sich auf das Kanapee setzen, über dem, in ovalen Rahmen, -symmetrisch zu einem großen Oval geordnet, die vergilbten Photographien -der Familie Kolbenreiher hingen. In der Mitte ein Jugendbildnis des -Vaters. Die Tante rückte das schon genau in der Tischmitte stehende -Resedasträußchen, das sie zur Feier des Tages im Garten geschnitten -hatte, in die Tischmitte, zupfte ihr Geschenk, das Papageiüberhandtuch, -zurecht. „Du wirst also in eine vornehme Verbindung eintreten. Du trägst -eine Mütze, eine grüne oder eine schöne blaue, lernst Schießen und -Fechten, natürlich nicht zu echt, eben nur, um deinen Mut zu stählen und -weil das dazugehört ... Jetzt nimm diesen Leuchter! Den Partner dazu -bekommst du, wenn ich einmal unter der Erde liege. Das wird bald sein, -und nachher kriegst du alles.“ - -Dann schilderte sie fließend, als lese sie wieder aus ihrem -Haushaltungsbuch vor, wie Jürgens ganzes Leben sich gestalten werde: – -daß er in soundso viel Jahren diesen und diesen, später einen noch -höheren und zuletzt den Beamtengrad eines Amtsrichters erreichen werde, -mit soundso viel Gehalt, gelangte zu dem Lebensalter, in dem er einen -Orden bekommen würde, und ging über zur Pensionierung. „So will es dein -Vater. Wenn du deine Pflicht erfüllst, wirst du als ein Mann begraben, -von dem deine Kollegen sagen werden: er soll uns ein schönes Vorbild -sein und bleiben ... Mehr kann man vom Leben nicht verlangen, Jürgen. -Mein Großvater sagte einmal zu mir: Man kann die Achtung, die ein Mensch -im Leben genoß, an der Länge seines Leichenzuges messen.“ - -Jürgen schoß über das Lebensziel, ein pensionierter Amtsrichter zu -werden, weit hinaus, stieg in wenigen Sekunden zu einer weltberühmten -Leuchte der Wissenschaft empor, nahm eine Brust voll höchster Orden, die -er nicht einmal beachtete, entgegen, wurde nebenbei Bürgermeister, ließ -sich in den Reichstag wählen und übernahm das Ministerpräsidium. Alle -Bürger grüßten ihn tief. Dann sah er sich voller Freude seinen -kolossalen Leichenzug an. - -„Ja, Jürgen, so ist es: seine Pflicht tun und ein geachteter Mann sein -...“ - -Unversehens, wie die Uhr aufhört zu ticken, starb in Jürgen die -Begeisterung. Das grandiose Zukunftsgebäude krachte lautlos zusammen. - -„Das erste gibst du dem Leben und bekommst dafür vom Leben das andere -... Und unsern Garten und mich hast du ja auch noch“, sagte die Tante -und ging. Adolf Sinsheimer war eingetreten. - -Er lag im Großvaterstuhl wie der Lord im Klubsessel. „Mein Alter hat -sich mir erklärt. Wir haben uns geeinigt über die Zukunft, die ich -ergreife.“ - -‚Daß gerade diejenigen, denen ich am allermeisten mißtraue, weil sie -mich am allermeisten gequält haben, von mir fordern, ein geachteter Mann -zu werden, sollte mir eine Warnung sein, ein solcher zu werden. -Vielleicht ist man ganz und gar verloren, wenn man ein geachteter Mann -geworden ist.‘ „Welche ergreifst du denn?“ - -„Industrie, mein Lieber, Industrie! Nur der enorme Aufstieg unserer -Industrie hat Deutschlands Weltgeltung begründet ... Mein Vater ist -übrigens genau derselben Meinung. Ich werde dir nachher beim Spaziergang -die Chose zeigen, in die ich eintrete ... Übrigens, rauchst du? Dieses -Etui habe ich mir heute zugelegt. Du rauchst nicht? Aber das ist ja toll -... Herein!“ rief Adolf schnarrend. - -Phinchen blieb, verlegen lächelnd, im Türrahmen stehen. Die Kaffeekanne -dampfte. Ächzend schlug er das Bein über. „Aber ich bitte, treten Sie -doch näher ... Trinkst du denn dieses Weibergesüff?“ - -„Die ist verliebt, kannst dich darauf verlassen“, sagte er, als Phinchen -gegangen war. Und auf der Treppe: „Ein Mädchen, das immer gleich lacht, -ist verliebt ... Unser Prokurist ist übrigens genau der selben Meinung.“ -Sie gingen die Straße hinunter. - -„Und in wen wäre sie denn verliebt?“ Jürgen sah steif geradeaus. - -„In uns natürlich! In einen Mann, gewissermaßen.“ Er schnallte das -Ohrenband ab. „Dies hier ... weg damit!“ Und schleuderte es auf den -Asphalt. Die Ohren erholten sich. „Es fällt einem verteufelt leicht, bei -einem so jungen Ding Eindruck zu schinden“, sagte er noch und griff an -seinen rosaseidenen Schlips. Da rückte auch Jürgen sein fingerschmales -Schülerkravättchen zurecht. - -„So, dort ists.“ Adolf deutete über den Platz auf das mächtige Eckhaus. - -„Knöpfe“ stand in meterhohen Buchstaben weithin sichtbar zwischen allen -vier Stockwerken. Und auf dem Firmenschild: Simon Eberlein, Größtes -Knopfexporthaus Europas, Alle Sorten Knöpfe. - -„Hier trete ich als Volontär ein. Nun? ... Halt, erst von hier aus -ansehen! Ein ungeheuerer Betrieb, mußt du wissen! Handelsbeziehungen -überall hin! ... Amerika! Jetzt komm!“ - -Am Arm führte er Jürgen über den Platz, bis vor den elektrischen Aufzug, -der an der Außenseite des Gebäudes angebracht war, und las vor: „3000 kg -und Führer. Verstehst du, damit können 3000 kg Knöpfe befördert werden -... Stelle dir das vor!“ - -„Das ist allerdings kolossal“, sagte Jürgen träumerisch. - -„Na, einfach grandios!“ Vorsichtig zog er ihn zu den Parterrefenstern, -die bis zur Hälfte mit grasgrünen Schutzgitterchen beschlagen waren. - -In gleichartig eingerichteten Bureaus arbeiteten junge Schreiber. An -Tafeln, die siebenmal den Arbeitssaal durchquerten, etikettierten flinke -Mädchenhände Knöpfe auf Akkord. Knopfmustertafeln bedeckten alle Wände. -Die Schiebetür in der Rückwand war offen. Dahinter befand sich ein -ebensolcher Saal, und durch ihn durch sahen Jürgen und Adolf in einen -dritten Arbeitssaal hinein, in dem, durch die Perspektive verkleinert, -die Menschen sich wie Insekten bewegten. - -Ein Schreiber sauste durch die Seitentür herein in den ersten Saal, -pfeilschnell durch und hinaus. Unterm Hoftor stand der Lagerist, einen -Pack Frachtbriefe in den Händen, und rief monoton Zeichen und Nummern. -Der Arbeiter wiederholte singend, und die Fuhrleute karrten die -aufgerufenen Knopfkisten zum bereitstehenden Lastwagen. - -„Riskieren wirs und gehen ins Café? Ich habe Geld.“ - -„Übrigens, andernfalls hätte ich dir auch aushelfen können. Ich stehe -dir zur Verfügung. Genügt dir das?“ - -„Ich habe ja.“ - -Adolfs Stirn bekam Falten. „Aber ich bitte dich, unter Freunden! Ich bin -gerade bei Kasse.“ - -Jürgen öffnete seinen Beutel. „Da, sieh selbst! Habe ja genug.“ - -„Jürgen, du bist geradezu beleidigend. Nimm diese Summe ... Ich könnte -sonst unter keinen Umständen den Verkehr länger mit dir aufrecht -erhalten.“ Adolfs Hände und Schultern bekräftigten: „Wir sind doch heute -nachgerade keine Gymnasiasten mehr, gewissermaßen.“ Er öffnete die Tür. -„Bitte, nach dir!“ - -Am Stammtisch qualmten Skatspieler, die alle Glatzen hatten; eine -spanische Wand sonderte ein Kaffeekränzchen – neun, mit farbigen -Kapotthüten geschmückte, papageienhafte Damen – ab von den stillen -Zeitungslesern. Der Ober bediente geschäftsfreudig und schwungvoll, -stand manchmal reglos auf seinem erhöhten Beobachtungsposten neben dem -Büfett, wachsam das Lokal im Blick. Ein Fenstertisch, mit der Aussicht -auf das Knopfexporthaus, war frei. - -Der Pikkolo stand, ein Bein elegant übergeschlagen, reglos in genau der -selben Haltung wie der Ober, und wand sich auf dessen Augenwink hin -schwungvoll und geschäftsfreudig um die Tischecken herum zu den -Freunden; er war erst seit zehn Tagen Pikkolo. - -„Was befehlen die Herren?“ Die schwiegen. Und der Pikkolo rasselte -heraus: „Bier, Wein, Kaffee, Tee, Schokolade ... Eis, Punsch, Glühwein, -Limonade.“ Achtungsvoll betrachtete er die Schweißtropfen, die auf den -Stirnen der Freunde hervortraten. Und fühlte seine Überlegenheit im -selben Maße wachsen, wie die Ratlosigkeit der beiden zunahm, wiederholte -singend sein Gedicht. - -Adolf bestellte zwei Glas Glühwein und zwei Glas Grenadine und sagte, -nachdem der Pikkolo an das Büfett gestürzt war: „Ich habe Glühwein und -Grenadine für uns bewerkstelligt. Du gestattest doch!“ - -Der Pikkolo ließ unterwegs das Tablett, wie von einer Meereswelle -mitgeführt, aus der Tiefe weich in die Höhe steigen, wieder abwärts -schwimmen und knirschend auf die Marmorplatte auflaufen, ohne einen -Tropfen zu verschütten. - -„Die Grenadine schmeckt wie der Buchdeckel der Biblischen Geschichte, -weißt du, wenn man daran geleckt hat“, sagte Jürgen und verzog das -Gesicht. - -Als die Freunde sich am dampfenden Glühwein die Zungen verbrannt und im -Bad des heißen Sonnenscheins die Zigarillos angezündet hatten, erlangte -Adolf die Fassung wieder, lehnte sich zurück, sah zum Knopfgebäude -hinüber. „Du hattest Gelegenheit, die Parterresäle in Augenschein zu -nehmen. Der selbe Betrieb wickelt sich in allen vier Stockwerken ab. Und -unterm Dach sowie im Keller befinden sich ebenfalls gigantische -Knopflager ... Das muß man sich nur vorstellen: Das ganze Riesengebäude -vollgestopft mit lauter Knöpfen. Alle Sorten, notabene!“ - -Von der Sonnenhitze mit Glühwein und Zigarillos war Jürgen übel -geworden: Das Knopflager wurde lebendig, verwandelte sich in ein -ungeheures Meer schwarzer Schwabenkäfer, die an allen Wänden auf- und -übereinander krabbelten. In nebelhafter Ferne hörte er die begeisterte -Stimme Adolfs. - -„Alle, absolut alle Arten Knöpfe! Ich werde mir eine Knopfsammlung -anlegen. Sie wird die größte der Welt sein. Lückenlos! Denn, überlege – -welcher Knopfsammler hätte, wie ich, diese Gelegenheit ... Und meine -zukünftigen Kollegen da drüben, bei denen das gewissermaßen der Fall -wäre, denken vermutlich wieder nicht daran, sich eine Knopfsammlung -anzulegen.“ - -Der Ober schwebte einen halben Meter über dem Fußboden durch das Lokal. -Jürgen wagte Adolfs wegen nicht, die Zigarillos wegzuwerfen. Den Stumpen -im Mundwinkel, das Gesicht von kaltem Schweiße beschlagen, sah er mit -dem verzerrten Ausdruck lächelnden Wohlbehagens seinen Freund an. - -Der entwickelte den Plan seines Vaters, eines großen Knopffabrikanten, -welcher sich mit der Idee trug, seiner Fabrik ein eigenes -Knopfexporthaus anzugliedern, nachdem Adolf bei der Konkurrenz den -Betrieb gründlich kennengelernt habe. „Da hast du meine Zukunft. Mein -Weg läuft pfeilgrad empor ... in logischer Folgerichtigkeit, -gewissermaßen ... Industrie und Handel, mein Lieber! Alles andere ist -Romantik.“ - -Sie sahen zum Fenster hinaus; die Pferde vor dem Exporthaus zogen an; -die hochgetürmten sauberen Knopfkisten rollten fort, dem nahen -Güterbahnhof zu. - -Der Knopflastwagen, das ganze Café, Skatspieler, Messinglüster, -Sammetbänke kreisten wie eine Berg- und Talbahn um Jürgen herum. Er -wollte beiläufig seine schon in wenigen Jahren zu erwartende Wahl zum -Bürgermeister erwähnen und sagte krampfhaft gleichgültig: „Es wäre jetzt -vielleicht gar nicht unangenehm, ein wenig hinaus in die schöne, frische -Luft zu gehen.“ - -Vor dem Café sah Jürgen, wie eine gepflegte Dame auf einen Krüppel -zuging, dem der rechte Arm und das linke Bein fehlten. Die Frau des -Krüppels nahm die Banknote sofort an sich und stellte der sekündlich -aufblitzenden Wut ihres Mannes einen notgestählten Blick entgegen. Der -skrofulöse Säugling auf ihrem Arme unterbrach den stummen Kampf durch -Geschrei. Dann zog die Familie weiter. Langsam, böse, farblos. - -Nachdem der offene Wagen der Trambahn die verkehrsreichen Straßen -durchfahren, die letzten Häuser und den mächtigen Gaskessel hinter sich -gelassen hatte und in nun ungehinderter Fahrt durch sanfthügeliges -Wiesenland der Endstation entgegensauste, von kühler Luft durchzogen, -röteten sich Jürgens Wangen wieder. - -Ein Herr, alt, grau, steif, wie aus grauem Pappendeckel zusammengeklebt, -wackelte steif hin und her. - -„Auch wenn andere Plätze frei sind, fahren alte Leute nicht mit den -Augen zur Fahrtrichtung ... Die Jungen immer!“ - -„Das ist eleganter Blödsinn.“ Adolf saß lässig zurückgelehnt, Bein -übergeschlagen. - -„Die Alten wollen gar nichts Neues mehr sehen. Die blicken immer in die -Vergangenheit.“ - -„Glatter Unsinn! Direkt eleganter Blödsinn!“ - -„Die Jungen wollen sehen, wohin die Fahrt geht.“ - -Die Alleebäume flogen plötzlich nicht mehr nach rückwärts. Der Wagen -hielt bei der Endstation im Knirschen der Bremsen. Stille, in die hinein -ein Vogel zwitscherte. - -Der Führer blieb allein zurück, setzte sich in den Straßengraben. Der -Wagen stand beziehungslos in der Landschaft. Der Tag war heiß und lang -gewesen. - -Jürgen, schnell in Harmonie mit der Natur, wollte durch den Wald -heimwärts gehen, während Adolf, zu abrupt ins Grün gestellt, unwillige -Blicke den Ackerfurchen zuwarf und vorschlug, wieder mit der Straßenbahn -zurückzufahren. - -Die schon versinkende Sonne ließ noch Feuer aus den Fenstern der Stadt -schlagen. Das sanftgewellte Land lag weit hingebreitet. Die fernen -Wälder schienen nur handhoch zu sein. Der herauftönende Pfiff der -Papierfabrik stieß die Arbeiter zu den Toren hinaus. Schon stand ein -grüner Stern am Himmel. Liebespaare, umschlungen, gingen vorüber, der -heraufkommenden Sommernacht entgegen. - -„Kein Zweifel, die sind schwer verliebt. Du natürlich bemerkst das -nicht.“ Adolf setzte sich mit dem Rücken gegen die Fahrtrichtung und -forderte: „Sitze du auch so!“ - -Da fiel Jürgen ein, daß er eigentlich gegen seinen Willen zurückfuhr. -„Ich sitze so.“ - -„Eleganter Blödsinn! Das gibst du doch zu?“ - -„Nein, das gebe ich nicht zu. Das gebe ich nicht zu“, sagte er noch beim -Betreten der Küche vor sich hin und blickte die feuchten, vollen -Schultern Phinchens an, die, im Unterrock und Hemd, glühend am -Bügelbrett stand. - -Sein Kopf blieb klar; das unbekannte Gefühl fuhr ihm nur in die Beine. -Phinchen konnte vor Aufregung die entblößte, aufsteigende Brust nicht -bedecken. - -Da kreischte die Haustür. Jürgen taumelte aus der Küche hinaus. - -„Du mußt von jetzt an immer hübsch vollkommen bekleidet sein. Der junge -Herr ist kein Kind mehr.“ Die Tante demonstrierte an ihrer Brosche. -„Dies da und auch deine Schultern, überhaupt das alles darf man nicht -sehen. So dick und nur einen Unterrock! Das ist nicht schicklich.“ Der -Unterrock könne gewiß einmal aufgehen. Dann stehe sie im Hemd vor dem -jungen Herrn. - -Sie nahm aus dem Küchenschrank eine neue Kerze, zog mit dem Messer -sorgfältig einen Riß herum – drei Zentimeter unter dem Docht – und stieg -in Jürgens Zimmerchen hinauf. - -Wortlos steckte sie die Kerze in den silbernen Leuchter und zündete an. -Dann deutete sie auf den Riß. „Wenn sie bis hierher abgebrannt ist, mußt -du aufhören zu lesen ... Das Bücherlesen im Bett und überhaupt das -Ideale, das, was du Ideale nennst, muß auf ein schickliches Maß -zurückgeführt werden.“ - -Jürgen beobachtete, wie das Flämmchen erstarkte, endlich senkrecht stand -und wieder flackerte, als die Tante weitersprach. „Und morgen zeichne -ich nur zweieinhalb Zentimeter zum Lesen an. Übermorgen wieder etwas -weniger. Und allmählich liest du überhaupt nicht mehr im Bett, siehst du -... Auch deine Mutter las immer im Bett. Dein Vater hat es ihr -abgewöhnt. Wer nicht selbst streng ist gegen sich, gegen den muß es ein -anderer sein ... Deine Mutter hat dich machen lassen, was du wolltest. -Verzogen, verwöhnt hat sie dich. Das soll eine Mutter nicht tun.“ - -„Das kannst du ja gar nicht wissen; du warst ja nie Mutter.“ Staunend -beobachtete er, wie ihr ganzes Gesicht – auch die Stirn – sich dunkel -rötete. Der Mund stand offen. In unbegreiflicher Fassungslosigkeit -verließ sie das Zimmer. - -Jürgen nahm das Bild seiner Mutter von der Wand, betrachtete lange den -angsterfüllten Mädchenblick, den schmerzlichen Mund, der zu lächeln -versuchte, und lehnte die Photographie gegen den Leuchter. - -Im Bücherregal standen nur Reisebeschreibungen und Abenteuerromane in -bilderreichen Umschlägen. Mit der ‚Schreckenvollen Reise in das -Erdinnere‘ stieg Jürgen ins Bett, passierte zusammen mit dem kühnen -Abenteurer auf dem Floße die zerklüftete Felsenspalte, geriet plötzlich -in ein Loch und sauste auf gischtigen Wassermassen beinahe senkrecht in -die Erde hinein. Es wurde nachtstill im Hause. - -Dicke Finsternis umgibt Jürgen und sein Fahrzeug, das mit den immer -gewaltiger brausenden Gewässern in rasendster Geschwindigkeit in die -Tiefe stößt – volle zwölf Tage lang –, unter der ständigen -fürchterlichen Gefahr, zu zerschellen. - -Plötzlich verlangsamt sich die wilde Fahrt: Jürgen flößt aus einer -Felsspalte heraus und, ganz wider Erwarten sanft, hinein in einen -wunderbar stillen See im Erdinnern, an dessen Ufern menschenähnliche -Geschöpfe mit Kuhköpfen stehen. - -Grüne, fremde Helligkeit liegt über dem Tale und den milden Wäldern, -obwohl kein Himmel vorhanden ist. - -Der Abenteurer durchforscht vorsichtig das Tal nach gefährlichen Wilden, -macht ungewöhnlich wichtige Entdeckungen und überlegt endlich, wie er -mit seinem Floß auf dem senkrecht herabrasenden Gewässer aus dem -Erdinnern wieder zur Erdoberfläche hinauffahren könne. - -Heißgelesen, sah auch Jürgen nachdenklich auf. Und bemerkte mit -Schrecken, daß die Kerze still bis über die Hälfte herabgebrannt war. - -Während er dann im Traume papageiengroße, fliegende Edelsteine fing und -mit kuhköpfigen Menschenwesen, die sich plötzlich in lauter geachtete -Männer verwandelten, in bösen Kämpfen lag, streifte Adolf -Glacéhandschuhe über, ging in den ‚Klub junger Kaufleute‘ und wurde vom -Vorsitzenden auch den neuen Mitgliedern, Adolfs bisherigen -Schulkameraden, mit feierlicher Korrektheit vorgestellt. - -Einige Wochen später lag auf Jürgens Nachtkästchen eine Geschichte der -Philosophie, in der schon viele Zettelchen mit Anmerkungen steckten. - -Die Abiturienten hatten sich getrennt in zwei Gruppen, die weiterhin -nicht mehr miteinander in Berührung kamen: Ein Teil studierte und hatte -andere Interessen als die Fabrikantensöhne, die in die Geschäfte ihrer -Väter eintraten. - -Leo Seidel arbeitete im Magistratsgebäude, im städtischen -Wohnungsnachweisbureau, dessen trübe Fenster gegen die Nordseite des -immer sonnelosen Lichthofes standen. - -Das Mißbehagen der Kollegen war von Monat zu Monat größer geworden. -Jeden Morgen hatten sie, beim Eintritt in das Bureau, Leo Seidel schon -heißgeschrieben am Pulte vorgefunden. - -Vor allem Herr Hohmeier, ein Beamter, der sehr langsam arbeitete und -seiner Dienstzeit nach am nächsten daran war, vorzurücken, lebte seit -Monaten beständig in der Angst, daß der bei größtem Fleiße und -unangreifbarer Gewissenhaftigkeit auch noch ungewöhnlich schnell -arbeitende Leo Seidel den Buchstaben M zugeteilt bekommen werde, was der -zahllosen zu bewältigenden Müllers und Maiers wegen eine Beförderung -außerhalb der Reihe, ein Überspringen Hohmeiers bedeutet haben würde. - -Noch besorgte Seidel den ungefährlichen Buchstaben Y, wurde -infolgedessen bei seinen Abschreibearbeiten nie gestört und benutzte, -zusammen mit dem jüngsten Kollegen, der gleichzeitig angestellt worden -war, ein Doppelpult, über dem nur eine Gasflamme brannte. - -Die Herren Neubert und Hohmeier hatten jeder ein Pult für sich – mit je -einer Gasflamme. Über Herrn Anks Pult befand sich, entsprechend seinem -höheren Dienstgrad, ein zweiflammiger Gasarm mit grünen Lichtblenden. -Und vor des Herrn Bureauleiters Pult stand zudem noch ein drehbarer -Schreibsessel, auf dem ein dienstliches Lederkissen lag. Auch war sein -Löschblattbügel bedeutend breiter. - -Dieses festgefügte Dienstschema zu sprengen, die niederen Dienstgrade zu -überspringen, war Seidels Bestreben. Das allmähliche Vorrücken bis zum -breiteren Löschblattbügel wollte er sich ersparen. - -Das war seinen Kollegen nicht entgangen. - -Der Tag, an dem die Katastrophe sich ereignete, begann damit, daß Herr -Hohmeier begann, sich zu schneuzen, indem er Kanzleibogen und den -schmalen Löschblattbügel zur Seite räumte und das Taschentuch erst -sorgsam auf die Schreibtischplatte breitete. - -Unterdessen trat beim Schalter ein Pelerinenkünstler von einem Fuße auf -den andern, rastlos wie ein Mensch, der ein natürliches Bedürfnis -besetztseinshalber meistern muß, und beobachtete, wie Herr Hohmeier das -Taschentuch erst mit einem großen Hausschlüssel, dann mit dem -Löschblattbügel beschwerte. Und als er endlich nach der Adresse seines -Freundes fragen konnte, erfuhr er, daß die Polizei selbst schon lange -nach diesem Kunstmaler Ferdinand Wiederschein fahnde. - -„Wir haben herausbekommen, daß dieser Maler seit vielen Wochen jede -Nacht in einem andern Bett schläft. Indem er nämlich jeden Morgen sein -Handtäschchen wieder mitnimmt und sich, wenn die Schlafenszeit -herannaht, ein neues Unterkommen sucht für die Nacht ... Der meldet sich -nicht einmal an bei uns.“ - -Der Diener entleerte den Neun-Uhr-Kohleneimer in den alten eisernen -Füllofen, auf dem Eva, schon rotglühend, Adam den rotglühenden Apfel -reichte. Des Künstlers Gelächter knallte durch das Bureau. - -„Da gibt es aber nichts zu lachen. Das ist eine ernste Sache. Wenns alle -so machten, welch eine Unordnung hätten wir dann hier.“ Herr Hohmeier -redete noch vor sich hin, als er schon dabei war, das Taschentuch -schneuzfertig über die gespreizten Finger zu hängen, wie ein -Zauberkünstler, der fragt: ‚Wohin soll ich das Goldstück verschwinden -lassen?‘ - -Während der Vesperviertelstunde sammelten sich viele Leute in dem -dunklen Wartezimmer an. Die Beamten aßen ruhig weiter, ungestört vom -Leben, das nur bis zum Schalterfenster herankam. - -Die Ungeduldigen hüstelten, scharrten mit den Füßen, klopften endlich an -das Schiebefenster. Der ganze Schalterraum stand voll Menschen. - -Und als die Uhr Viertel elf schlug und Herr Hohmeier zum Schalter trat, -stellte es sich heraus, daß einige wieder gegangen waren, und die -gebliebenen neun Auskunftsuchenden unter Buchstaben C bis G fielen und -somit Herrn Hohmeier unterstanden. - -Der fragte freundlich, wer zuerst dagewesen sei. Darüber entstand -Streit. Viele waren zuerst dagewesen. Da drückte ein schwarzer -Kohlenhändler alle anderen in die Ecken und verlangte die Adresse einer -Familie, die umgezogen sei, ohne vorher die Kohlenrechnung bezahlt zu -haben. - -Während Herr Hohmeier mit dem Zeigefinger die Fächer des Regals nach dem -Personalakt abtippte, den Akt nicht fand, setzte der Streit im -Schalterraum von neuem ein. Schließlich vereinigte der Zorn alle -Streitenden gegen die Beamten. - -Wieder dachte Seidel darüber nach, ob außer ihm wohl noch ein Mensch auf -der Welt durch so eine teuflische Kleinigkeit wie die, daß es nur wenige -Namen mit dem Anfangsbuchstaben Ypsilon gab, daran verhindert sein -würde, sich auszuzeichnen und vorwärtszukommen. - -Herr Hohmeier trat noch einmal zum Kohlenhändler, fragte ihn, ob er den -Namen denn auch richtig aufgeschrieben habe. Alle schimpften, streckten -die Zettel durch das Schalterloch. - -„Sie erlauben, Herr Hohmeier, daß ich Ihnen helfe.“ Seidel sammelte die -Zettel ein. - -„Nein, ich kann das nicht erlauben. Bitte sehr, Herr Seidel, ich erlaube -das nicht ... Es sind meine Buchstaben.“ - -Die Wartenden schrien dazwischen. Der Bureauvorsteher, der von dem -Tumulte aus seinem Vesperzimmerchen herausgelockt worden war, verfügte, -daß die beiden jungen Herren dies eine Mal mithelfen sollten. -„Ausnahmsweise!“ - -Unter unheilvollem Schweigen des bleichgewordenen Herrn Hohmeier -wickelte sich das Geschäft jetzt glatt ab. - -Herr Hohmeier war nicht fähig, zu arbeiten. Ein ungeheurer innerlicher -Aufruhr machte ihn blind. Die beinahe immer gegenwärtige Vorstellung, -daß er sich am Tage seiner Beförderung eine goldene Brille kaufen und -nach der übernächsten Beförderung sich mit dem neben ihm gealterten -Mädchen einstweilen wenigstens verloben werde, schob sich auch jetzt -hartnäckig in den Vordergrund. Immer wieder sah er sich, goldbebrillt, -vor dem Traualtare stehen. So daß über eine Stunde vergangen war, bevor -er gefunden hatte, was Seidel endlich einmal klar und deutlich gesagt -werden müsse. - -„Der sehr bedauerliche Vorfall von vorhin bedarf dringend der -Aufklärung. Ich, meinerseits, muß Ihnen sagen, daß in diesem Bureau ein -Sichvordrängen – ich könnte mich auch noch schärfer ausdrücken – nichts -nützt ...“ - -„Und ich muß Sie bitten, mich nicht bei der Arbeit zu stören.“ - -„... denn wenn alle Beamten hier in diesem Bureau gewissenhaft ihre -Pflicht tun – und das kann als sicher angenommen werden –, so daß keiner -entlassen wird, werden Sie, Herr Seidel, in acht Jahren an meinem Pulte -sitzen und in zwölf Jahren am Pulte des Herrn Ank ... Unterdessen werde -ich an Herrn Anks Pult gesessen haben. Herr Ank an des Herrn -Bureauleiters Pult. Und der Herr Bureauleiter wird, seinen Dienstjahren -entsprechend, eine höhere Stelle in einem anderen Bureau einnehmen ... -Es gibt in diesem Gebäude sehr viele Bureaus, die wir zu durchlaufen -haben, ehe wir pensioniert werden. Ein Durchbrechen dieser Ordnung gibt -es nicht. Das wollte ich Ihnen gesagt haben.“ Bebenden Mundes ging er an -sein Pult zurück. - -Und Leo Seidel, der schon am Anfang dieser plastischen Darstellung sich -gesagt hatte, daß in einem Magistratsbureau das Wort ‚Freie Bahn dem -Tüchtigen‘ ganz offenbar keine Gültigkeit habe, und daß somit ein -schnelleres Vorrücken nahezu ausgeschlossen sei, schrieb noch am Abend -des selben Tages peinlich sauber sein Entlassungsgesuch. - - * * * * * - -Die meterlange Tabakspfeife wie einen Offiziersdegen geschultert, -kratzfußte der Korpsstudent Karl Lenz abgehackt und streng vor seinem -früheren Schulkameraden Jürgen und fragte ihn, welchem Korps er -angehöre. - -„Ich studiere Philosophie, wie du weißt. Seit einem Jahre!“ sagte Jürgen -stolz. „Einer Verbindung gehöre ich nicht an ... Ich wollte Herrn -Professor Lenz meinen Besuch machen.“ - -Der noch immer in steifer Verbeugung stehende Korpsstudent zuckte mit -dem Kopf nach vorn, und seinem Mund entfuhr, als er die Lippen öffnete, -ein knallender Ton: „Gehören Sie nicht an? ... Vor allem: Ihnen zur -Kenntnis, daß mein Vater vor einer Woche zum Geheimrat ernannt worden -ist.“ Er machte linksum und blickte, dem Gast den Rücken zugekehrt, -paffend zum Fenster hinaus. - -Die wirkliche Welt um Jürgen versank. Alles natürliche Denken und Fühlen -verschwand. Erst nach minutenlanger Pause sagte er: „Da gratuliere ich.“ - -Der Student antwortete mit einer weißen Dampfwolke, die an der -Fensterscheibe hinaufstieg, rührte sich nicht. Und Jürgen saß plötzlich -in einer glänzenden Studentengesellschaft, hatte ebenfalls eine grüne -Mütze forsch im Nacken sitzen, das Couleurband schräg über der Brust. -Alle trinken ihm zu. Er ist geehrt, geachtet, spielt eine Rolle. Kommt -Karl Lenz und starrt ihn herausfordernd an. Jürgen starrt zurück. Und -springt auf. Schweigen. Alle springen auf. Kartenwechsel. Jürgen schlägt -sich tadellos. Phinchen ist totenbleich vor Bewunderung. Und die Tante -läßt sich den ganzen Vorgang erzählen. - -‚Er also starrt mich an. Nun, du kennst mich ja, Tante, und weißt, daß -in diesem Falle die Forderung meinerseits unvermeidlich war. Meine -Kommilitonen und ich zechen erst noch die ganze Nacht durch, als ob gar -nichts geschehen wäre. Dann fährt die ganze Bande per Auto mit hinaus -ins Wäldchen; sie warten im Wirtshaus auf mich. Ich also trete an, -frisch und munter, wie aus dem Bade gestiegen.‘ - -‚Mein Gott, Jürgen, hattest du denn gar keine Angst?‘ - -‚Aber Tante! ... Also, er bekommt den besseren Platz, steht im Schatten -eines Baumes, ich mit dem Gesicht gegen die Sonne ... Na, und schon beim -ersten Gang – schwere Abfuhr natürlich.‘ ‚Nun, und jetzt?‘ ‚Gott, jetzt -natürlich ehrenvolle Versöhnung. Denn wenn einmal Blut geflossen ist ... -Je, das Hallo, als ich zurück in die Kneipe kam! Ja. Nun aber genug -davon!‘ - -Der breitspurig und noch immer reglos am Fenster stehende Student war -von blauem Dampfe eingehüllt. Aus dem Nebenzimmer erklang Gläserklirren. -Er schnellte sofort herum, glotzte seinem Gast ins Gesicht. - -Da knallte auch Jürgen mit den Absätzen. Die ineinander verkrampften -Hände schüttelten sich. Beide Oberkörper zuckten mehrere Male ruckartig -und schiefseitwärts aufeinander zu, bis, durch die Handkuppelung -hergestellt, die wagrechte Zickzacklinie der zwei Ober- und Unterarme in -Stirnhöhe feierlich verharrte. - -Und während Jürgen sich auf das Kanapee zurückverbeugte, verbeugte der -Student sich der Tür zu und ging in sein danebenliegendes Zimmer, wo auf -dem Tisch drei Glas Bier für ihn bereitstanden. - -Der Student hatte die Begrüßungsmaske mit in sein Zimmer getragen. Jetzt -erst fiel sie von seinem Gesicht herunter. Und der Ausdruck dumpfer, -wilder Konzentration nahm Platz, während er, das Bierglas in der einen, -die Taschenuhr in der linken Hand, wartete, bis der Sekundenzeiger die -Zahl Eins erreichte. Schon vorher war sein Mund ein großes Loch -geworden. Plötzlich glotzten die Augen stier und tränten: das Bier -stürzte in den Magen. „Bierjunge!“ Und das leere Glas knallte auf den -Tisch. - -Mit dem Worte ‚Bierjunge‘ spritzte ein Teil des Bieres im Bogen wieder -heraus, während die Augen auf den Sekundenzeiger starrten. Das Gesicht -des Studenten, der auf dem letzten Kommers von seinem Korpsbruder beim -Bierjungen-Trinken besiegt worden war, verzog sich kläglich: er hatte -mehr als eine Sekunde zu lange gebraucht. - -„Ich habe wieder geschluckt. Ich schlucke noch. Das ist mein ganzer -Fehler.“ Energisch trainierte er weiter: Der Sekundenzeiger erreichte -die Eins. Großes Loch. Leeres Glas. Ein furchtbarer Brüllton: -„Bierjunge!“ - -Wieder schnellte der im Nebenzimmer sitzende Jürgen erschrocken von der -Kanapeelehne nach vorn und horchte gespannt. Wenige Sekunden später -langte von oben herab die Hand des Herrn Geheimrat Lenz auf Jürgens -Schulter. „Nun, mein Freund, welchem Korps gehören Sie an?“ - -„Bierjunge!“ - -„Ah, der Junge übt. Ja, schön ist die Jugend.“ Der Geheimrat Lenz trank -gern Moselwein. - -Was wird geschehen, wenn ich gestehe, daß ich keiner Verbindung -angehöre, dachte Jürgen. Und sein Mund sagte: „Ich halte das für -überflüssig.“ - -Die väterliche Hand rutschte von Jürgens Schulter herab und legte sich -in die Hüfte des Geheimrats. Der Unterleib schien in die Brust -hinaufzusteigen. Die Augen fragten: Was wollen Sie dann bei mir? - -Endlich sagte der Geheimrat: „Junger Mann, nur wer einem Korps angehört, -lernt die oberste aller Pflichten, die ihn erst befähigt, später zu den -Ersten, zu den Führern seines Volkes zu gehören: die schwere, aber -schöne und erhabene Pflicht des Gehorsams, das freie Beugen vor der -Autorität, ohne welche nichts in der Welt bestehen kann ... bestehen -kann. Die Narben im Gesicht des Korpsstudenten sind die Bürgschaft -dafür, daß der ganze Mann, der für seine und für des Korps Ehre ohne zu -zucken dem Gegner mit blanker Waffe gegenüber gestanden hat, auch -später, wenns einmal so weit ist und Gott es will, bis zum letzten -Blutstropfen dem Vaterlande die Treue halten wird, wenn es gilt, die -Ehre des Reiches zu wahren ... Aber außerdem: wie wollen Sie -vorwärtskommen? Wie anders wollen Sie es zu einer geachteten, -einflußreichen Stellung bringen? ... Denken Sie an Ihren Vater. Er war -mein Freund. Wir gehörten dem selben Korps an. Er war ein Mann.“ - -Und ist, wie ich jetzt weiß, zusammengebrochen und kaputtgegangen, weil -er nicht erreichte, Vortragender Rat im Ministerium zu werden, dachte -Jürgen. - -Und glitt, während er durch die Straßen ging, noch eine halbe Stunde -lang weiter auf dem glatten Gleis, das der Geheimrat vor ihn hingelegt -hatte. Bei einem kleinen Kolonialwarenladen, in dessen Schaufenster ein -langbärtiger Zwerg aus Gips eine Zigarre rauchte, blieb er stehen. - -Haß und Ekel vor dem Jürgen, der in des Studenten Zimmer das imaginäre -Duell ausgefochten hatte, packten ihn so plötzlich und so heftig, daß er -sich auf das Mäuerchen setzen mußte, auf dem das Schaufenster ruhte. -„Welch ein erbärmliches, widerliches, feiges Schwein bist du!“ rief er -dem Zwerg im Schaufenster zu. Jede Bewegung, jedes Wort, das jener -Jürgen gesprochen hatte, folterte den Jürgen, der, brennend vor Scham, -auf dem Mäuerchen saß. - -Da schwenkte, Lack-, Glacé- und Hosenfalten-glatt, Adolf Sinsheimer um -die Ecke, nahm schon in der Ferne feierlich den Zylinder ab. -Unwillkürlich hatte auch Jürgen feierlich gegrüßt. - -„Große Aufregung im Hause Lenz, was?“ fragte Adolf, nachdem er erfahren -hatte, wo Jürgen gewesen war. „Wirklich nichts bemerkt? Dann wissen die -es einfach noch nicht ... Gestern nämlich ist Katharina von zuhause -durchgebrannt. Schlankweg zu den Anarchisten! Die fabriziert jetzt -Bomben. Auch eine Beschäftigung! ... Übrigens, du gestattest doch, daß -ich mich bedecke?“ - -„Weshalb solltest du deinen Zylinder in der Hand halten!“ Jürgen war -wütend. - -„Ein ereignisvolles Jahr! Man entwickelt sich schneller, als man -geglaubt hat. Ich sitze längst im Direktionsbureau. Rechte Hand des -Chefs! Und was das Leben anlangt, mein Lieber, da akzeptiere ich keine -mehr, die nicht tadellos gewachsen ist. Vor allem die Beine! Kann mir -nicht mehr passieren.“ - -Was ist da zu tun – er entwickelt sich, dachte Jürgen und blickte Adolf -nach, der frisch und glatt davonschritt. ‚Was ist da zu tun.‘ - -Plötzlich stand Adolf wieder vor ihm. „Leo Seidel war bei mir. Total -zusammengeklappt! Mein Alter hätte ihn ja als Schreiber in unserer -Buchhaltung angestellt. Er aber erkundigte sich nach den -Aufstiegsmöglichkeiten. Was sagst du dazu? ... Mein Alter fragte ihn, ob -er ihm vielleicht Prokura erteilen solle. Schwuppdich – war er draußen -... Später erfuhr ich, daß er zu allen früheren Mitschülern läuft, deren -alte Herren, wie er glaubt, ihm einen Posten mit – husch, die Lerche! – -Aufstiegsmöglichkeiten verschaffen könnten.“ - -Auch bei Jürgen war Seidel gewesen. Jürgen hatte ihm vorgeschlagen, er -solle mit ihm zusammen einen Bund der Empörer gründen. Seidel hatte -geantwortet, dazu sei er nicht dumm genug. Und der Rektor hatte Seidel -geantwortet, einem derart unbescheidenen Menschen, der aus -Unzufriedenheit leichtfertig sein Glück verscherzt habe, noch einmal -eine Stelle zu verschaffen, müsse er prinzipiell ablehnen. - -Einige Monate war Seidel bei dem Bankier Wagner in der Buchhaltung -beschäftigt gewesen. Aber auch in diesem großen Bankhause waren die Wege -zu den zäh verteidigten einträglichen Posten zwanzig Jahre lang und -führten, gezogen mit dem Lineal, zwischen unübersteigbar hohen Mauern -durch. - -Seidel hatte bald erkannt, daß hier alle Angestellten nicht nur -unangreifbar gewissenhaft, sondern ausnahmslos auch flink wie die -Kreisel waren; daß es Hohmeiers hier überhaupt nicht gab; und daß -niemand Bankangestellter werden und bleiben durfte, der Bankier werden -wollte. - -Der schwindsüchtige Briefträger und seine Frau waren gestorben, die vier -jüngeren Geschwister in das Waisenhaus gebracht worden. - -Die neue Mietpartei war schon eingezogen in das Hofzimmer, in dem Seidel -sein ganzes Leben vom Tage der Geburt an in immer gleicher Armut -verbracht hatte. Es war ihm erlaubt worden, die altersschwachen Möbel so -lange in der Holzlage einzustellen, bis er einen Altwarenhändler fand, -der auch den armseligsten Gegenstand nicht für ganz wertlos hielt. - -Den nach Begleichung der letzten Vierteljahrsmiete und der Schulden beim -Kolonialwarenhändler und Bäcker von dem Erlöse der Wohnungseinrichtung -übriggebliebenen winzigen Rest des Geldes in der Tasche, das Herz kalt -vor Energie und zielbewußter Willenskraft, von Wehmut, Feigheit und -schwächlichen Überlegungen nicht gehemmt, verließ Leo Seidel um acht Uhr -früh für immer seiner Jugend stinkenden Hof, in dem nie etwas schön -gewesen war, außer einem Büschel Löwenzahn, der, kümmerlich und zäh, -jedes Jahr in der gepflasterten Ecke geblüht hatte. - -Seidels Herz hatte ihn niemals zu den gelben Blüten geführt; es war, -jenseits von Gefühlsüberschwang, ein gehorsam arbeitender Muskel und -wurde vom Gehirn regiert, das Seidel zum Träger eines zielklaren Willens -machte. - -Losgeschnitten von der Vergangenheit, vor sich das Obdachlosenheim, -stand er blank auf der Straße, völlig auf sich selbst gestellt. - -Herabgesunkener Morgennebel, der nur die Dächer der zwei nächsten Häuser -links und rechts von Seidel freiließ, hatte die Straße, die wenigen -Passanten und alle Geräusche verschlungen. Seidel stand grau in grau. -Und erklärte sich selbst, weshalb für ihn Grund zum Jammern nicht -vorhanden sei: Er habe Zeit, sei jung und gesund und bereit, -rücksichtslos seinem Ziele entgegenzugehen. - -Um dieses Zieles Inhalt und Ausmaß einwandfrei abzustecken, sondierte er -vorstellungskräftig die Idee eines Friseurgehilfen, der darauf -spekuliert, in das Geschäft einer Friseurswitwe einzutreten mit dem -Ziele, die Witwe zu heiraten und Geschäftsinhaber zu werden; einen -jungen Handlungsgehilfen ließ er mit der reizlosen Tochter des Chefs zum -Standesamt gehen und ihn in einem dunklen, duftgeschwängerten Laden ein -warmes Drogistenglück bis zum Tode genießen. Unbelasteten Gemütes -folgerte Seidel, daß auch er in irgendein Geschäft eintreten und sich im -Laufe der Zeit ein auskömmliches Dasein in bescheidenen Grenzen -erarbeiten könnte. - -Er trennte sich von dem Ziele des Friseurgehilfen, vom Drogisten, und -wandte sich seiner Laufbahn zu, die zwar noch kleiner und unsicherer als -die eines Drogistengehilfen beginne, aber Lücken und Spalten und Maschen -habe, durch die er durchschlüpfen zu können hoffe, worauf die Laufbahn -in Form einer Spirale unter zäh zu überwindenden Schwierigkeiten aller -Art ansteigen und in der Berliner Börse enden werde. Dann breitete sich -das Leben aus: Jedes Wort des Finanziers Leo Seidel hat Gewicht; eine -von ihm verweigerte Unterschrift verursacht Beklemmung und Katastrophen -in den Bankhäusern. - -Seidels Augen schlossen sich halb. Er flüsterte: „Aus eigener Kraft! -Keiner meiner Mitschüler wird sich mit mir vergleichen können; sie alle -werden hinter mir zurückbleiben, obwohl sie geebnete Wege vorfanden.“ - -Er befand sich auf dem Wege zu dem Platz, wo die Schaubudengerüste -aufgestellt wurden für den am folgenden Tage beginnenden großen -Jahrmarkt. Er dachte, gegen die hier beschäftigten verkommenen -Existenzen werde ein gewissenhafter Mensch ganz besonders scharf -abstechen und, über sie hinweg, bei einem Schaubuden- oder -Karussellbesitzer schnell zu einer Vertrauensstellung gelangen können. -Außerdem sei er hier nicht, wie der Droschkengaul, zwischen zwei -Deichseln gespannt, da allerlei Möglichkeiten, auszubrechen, sich -ergeben würden. - -Seine kantige, gewaltig breite Stirn bildete zusammen mit dem sehr -spitzen Kinn ein beinahe gleichwinkliges Dreieck. Das Dreieck war mit -alten Sommersprossen dicht besetzt. Aber auch in bezug auf seine -Streberei hatte er in der Schule den Spitznamen „Sprosse“ bekommen. „Von -Sprosse zu Sprosse.“ - -Burschen in verblichenen Sweaters, die Zigarette hinter dem Ohr, rissen -Pflastersteine heraus, hockten, in Morgennebel gehüllt, auf den -Gerüsten, nagelten, schrien, schraubten die Holzteile fest. Alles fügte -sich wie immer ineinander. - -Hier ist durch Fleiß und vor allem durch Gewissenhaftigkeit sicher mehr -zu erreichen als in einem Magistratsbureau, dachte Seidel und fing vor -dem grünen Wagen den Schiffschaukelbesitzer ab, zog den Hut. -„Verzeihung, ich möchte fragen, ob Sie noch eine Hilfskraft bei Ihrem -Unternehmen brauchen.“ - -Verdutzt sah der Mann den solid gekleideten jungen Herrn an, die saubere -Wäsche. „Ich verstehe nicht recht. Ich brauche zwar noch zwei Adjunkte -zur Bedienung von vier Schiffen ... Aber Sie? Was wollen Sie?“ - -„Ich leiste jede Arbeit, die Sie verlangen ... Was ist das: Adjunkte?“ - -„So heißen die Burschen bei den Schiffschaukeln ... Zwei sind vorgestern -eingesteckt worden. Acht Wochen Gefängnis! Hatten wieder geklaut. Aber -schon bevor sie bei mir waren“, setzte er schnell hinzu. - -„Demnach können Sie mich also brauchen?“ - -Der Mann hob abwehrend beide Hände in Kopfhöhe: „Freundchen ... haben -Sie Papiere? Waren Sie schon einmal bei so was? ... Zuerst müssen Sie -mir einmal nachweisen, daß Sie nicht von der Polizei gesucht werden ... -Und vor allem möchte ich wissen, weshalb Sie von der Polizei gesucht -werden.“ - -Da reichte Seidel dem Manne sein Abiturientenzeugnis und das -Entlassungszeugnis vom Stadtmagistrat, das den Vermerk über Seidels -Tüchtigkeit, Fleiß und Gewissenhaftigkeit enthielt. - -Der Mann wunderte sich nicht. Ihm waren während seiner vierzigjährigen -Jahrmarktstätigkeit schon alle möglichen Existenzen untergekommen. - -„Auf meine Gewissenhaftigkeit beim Geldeinsammeln könnten Sie sich -verlassen.“ - -„Da wären Sie der erste, auf dessen Gewissenhaftigkeit beim -Geldeinsammeln ich mich verlassen würde. Aber brauchen kann ich Sie.“ Er -stieg, von Seidel, gefolgt, in den grünen Wagen, in dem, transportfest, -die zwölf funkelnden Schiffe standen. - -Der kräftige Bursche mit Ledergurt, rotem Sweater und einem großen, -pflaumenblauen, herzförmigen Mal auf der Backe tat, als habe er beim -Putzen der Messingteile keine Pause gemacht. Der Besitzer schickte ihn -hinaus. „Hier, das Handgeld.“ - -„Handgeld brauche ich nicht ... Ihre Schiffschaukel scheint übrigens -ganz neu zu sein ... Wenn Sie zufrieden sind mit mir, werden Sie mir -meinen Lohn schon geben.“ - -Das hatte der Mann noch nicht erlebt. Beinahe verlegen sagte er: „Ja, -ich habe die modernste Schiffschaukel der Messe. Kostete mich ein -Vermögen! Das will verdient sein. Sie ist einen Meter siebenzig höher -als die der Konkurrenz ... Können Sie morgen früh antreten?“ - -Schnellen Schrittes ging Seidel zu dem Altwarenhändler und holte den -Gegenstand ab, den er nicht mitverkauft hatte. - -„Das einzige noch einigermaßen brauchbare Stück! Der ganze übrige -Plunder ist vollkommen wertlos“, wiederholte der Mann, der am Tage -vorher heftig und erfolglos um den Besitz dieses Gegenstandes gekämpft -hatte. „Elender Plunder!“ - -„Wie kann eine Wohnungseinrichtung, in der eine große Familie -fünfundvierzig Jahre gelebt hat, plötzlich ganz wertlos sein!“ Seidel -nahm den in braunes Packpapier eingewickelten Gegenstand unter den Arm. -Stand eine Stunde später im Studierzimmer vor Jürgen, erklärte, auf -dessen Fragen hin, mit drei Sätzen, welche Arbeit und weshalb er sie -angenommen und welches Ziel er habe. „Ich will zu Geld kommen, reich -werden. Sehr reich! Reicher als ihr alle seid!“ - -„Bei einer Schiffschaukel? Du, ein mehr als gewissenhafter Mensch!“ - -„So verkommen würdest du niemals, wie? Was würden die Leute sagen? ... -Mir jedoch ist das einerlei. Muß mir gleich sein! Gutbürgerliche Gefühle -und Sentimentalitäten kann ich mir nicht erlauben. Ich brauche -Bewegungsfreiheit, um alle Möglichkeiten ausnützen zu können. Im -Magistratsbureau und auch in irgendeiner anderen festen Stellung gibt es -keine Möglichkeiten für mich. Bin kein Fabrikantensohn ... Ich will mein -Ziel erreichen. Und ich werde es erreichen. Und dann werde ich erst -recht rücksichtslos sein.“ - -„Dein Haß ist ja recht schön ...“ - -„Wieso ist er schön?“ - -„Nun, ich kann deinen Haß begreifen; aber Reichtum ist doch kein -erstrebenswertes Ziel. Was bist du, was hast du, wenn du reich bist und -die Armen wie bisher arm bleiben und überhaupt alles so bleibt, wie es -ist? Dann gehörst du bestenfalls zu denen, die gehaßt werden. Wem -nützest du damit?“ - -„Mir!“ Aller Haß, der in einem Menschenkörper Raum hat, sammelte sich in -Seidels Blick, gerichtet auf Jürgen, der immer sorgfältig gekleidet -gewesen war, nie gehungert, regelmäßig gebadet und die Demütigungen der -Armut nie erfahren hatte. „Du machst Worte. Du weißt doch sehr gut, was -Reichsein bedeutet!“ - -„Ich war in anderer Hinsicht immer so arm wie du. In unserer Zeit sind -die Menschen arm. Alle! Auch die Reichen, glaube ich. Furchtbar arm!“ - -Da konnte Seidel nur die Lippen verziehen. „Und was für ein Ziel hast -du?“ - -„Ich weiß nichts. Gar nichts! ... Das Ganze ist unerträglich. Ich sage: -das Ganze muß ganz und gar anders werden.“ - -„Nun, dann wird es ja wohl anders werden.“ Dabei schälte er das -Packpapier herunter von dem poliertem, zartgebauten Nähtischchen seiner -Mutter und bat, Jürgen möge es für ihn aufbewahren. - -„Wenn du schon alle Beziehungen zu deinem bisherigen Leben abbrichst, -was hängst du dich da an das Nähtischchen? Dieser Art Gefühle können dir -– einem Menschen, der solche Ziele hat – doch nur hinderlich sein. Oder -sollten Rücksichtslosigkeit und Sentimentalität einander vielleicht doch -nicht ausschließen?“ Jürgen hätte nicht sagen können, weshalb er Seidel -diesen Hieb versetzte. - -„Mit dem Ding sind meine einzigen schönen Kindheitserinnerungen -verbunden. Wenn die Mutter flickte, saß ich am Boden, durfte mit dem -Einsatz spielen.“ Er schob die Fächerschublade wieder hinein ... „Na, -heb’s auf ... Zweifellos wird die ganze Bande auf die Messe kommen, um -mich als Schiffschaukeladjunkt zu sehen. Mögen sie kommen!“ Die Lippen -bebten. Die Sommersprossen traten stärker hervor, so weiß war das -Gesicht geworden. - -‚Vielleicht wird er ein sehr reicher, geachteter Mann werden; im -Magistratsbureau würde er ein mittelloser geachteter Mann geworden sein -... Rein äußerliche Rangstufen: arm, wohlhabend, reich, sehr reich, sehr -reich und gebildet, Millionär ohne, Millionär mit Geschmack und Kultur, -Großfinanzier – die innere Linie ist bei allen die selbe. So ist heute -das Leben ... Und ich? Wie stehts mit mir? Was soll, was will ich -werden? Was und wie will ich sein? Wie werde ich in zwanzig Jahren -sein?‘ Jürgen fand keine Antwort. - -Das jüngste Mitglied des von Jürgen gegründeten Bundes der Empörer, ein -vor dem Abiturientenexamen stehender Gymnasiast, hatte bei der -Gründungssitzung erklärt, einer sei zuviel auf der Welt, entweder müsse -er sich oder den Geschichtsprofessor vergiften. Und war von seiner -Ansicht nicht abzubringen gewesen durch Jürgens Entgegnung, daß dann ja -immer noch einige tausend Geschichtsprofessoren am Leben bleiben würden. - -Als einige Tage später auch noch die zwei andern Mitglieder, -fünfundzwanzigjährige, halb verhungerte Burschen, die behaupteten, als -Matrosen und Goldgräber schon die ganze Welt gesehen zu haben, in der -Villa erschienen waren, versehen mit einem Drahtreif voll Sperrhaken und -entschlossen, die Wocheneinnahme eines Metzgermeisters, der jeden -Freitag verreist sei, unter Führung ihres Vorsitzenden und mit Hilfe der -Sperrhaken zu holen, war der Vorsitzende Jürgen aus dem Bunde der -Empörer ausgetreten. - -Die Aussprache mit einem schon älteren Manne, der sechzehn im Zimmer -frei umherfliegende Kanarienvögel und eine Bulldogge besaß, aus -Liebhaberei auch vorgedruckte Postkarten täuschend kolorierte und -behauptet hatte, er halte die Fäden der anarchistischen Bewegung der -ganzen Welt in seiner Hand, in Mexiko dürfte, entzündet durch zwei -seiner Chiffretelegramme, die Geschichte demnächst platzen, war von -Jürgen nach drei Minuten abgebrochen worden. - -In der Jahresversammlung des Vereins für Bevölkerungspolitik und -Säuglingsschutz, in der die Damen beschlossen hatten, uneheliche -Wöchnerinnen und Kinder in das Heim prinzipiell nicht mehr aufzunehmen, -war Jürgens Frage an das Leben ebenso unbeantwortet geblieben, wie durch -die Rede des Rektors am Grabe des jüngsten Mitglieds des Bundes der -Empörer, jenes Gymnasiasten, der sich am Tage nach dem mißglückten -Examen erhängt hatte. - -Nach achtmaliger Anwesenheit in den kostbar, geschmack- und weihevoll -eingerichteten Räumen der ‚Schule zur innerlichen Vervollkommnung‘, wo -brillantengeschmückten alten Damen, langhaarigen Jünglingen und -kurzhaarigen Mädchen von sehr gebildeten Menschen empfohlen wurde, das -Beste von Laotse mit dem Besten von Buddha zu vereinen und diese höhere -Einheit zur Richtschnur ihres Seelenlebens zu machen, war Jürgen, der -geäußert hatte, die Weisheit dieser Richtschnur bestehe ganz offenbar -darin, die eigene Seele zu maniküren und sich um die Not der andern -nicht zu kümmern, sei also handfester Egoismus und von irgendwelcher -Hingabe noch weiter entfernt als der Unsinn des Bulldoggenbesitzers mit -den Kanarienvögeln und Chiffretelegrammen, höflich und leise ersucht -worden, den ‚Stillen Stunden innerer Einkehr‘ von nun an fern zu -bleiben, worauf er mit steigender Sympathie wieder an die zwei hungrigen -Goldgräber mit den Sperrhaken gedacht hatte. - -Von einem Philosophiestudenten war Jürgen einem dunklen, sehr schönen -jungen Mädchen asiatischen Gesichtsschnittes vorgestellt worden, das -ungeniert sich sofort fast ganz entkleidet und schreitend zu tanzen -begonnen hatte, die dünnen Finger zu Boden gespreizt und das verzückte -Gesicht emporgerichtet. Noch genau ein Jahr werde sie, hingegeben ihrer -Kunst, ganz abgeschlossen von der Welt leben und dann durch ihren Tanz -die Menschheit erlösen. Sie werde in den Kirchen tanzen. In der Ecke war -ein schwarzer junger Mann gesessen und hatte ihr geglaubt. - -In der Erkenntnis, daß die Weigerung, Leichenteile zu fressen, -vielleicht erst in tausend Jahren Bestandteil einer von jeglicher -Barbarei befreiten Lebensordnung, zur Zeit aber nur Sache des -Geschmackes einzelner und gewiß nicht das tauglichste Mittel sein könne, -den Kampf gegen das Ganze und das Umstürzen erfolgversprechend zu -beginnen, war Jürgen, zur Genugtuung der Tante, schon nach einer Woche -vom Vegetarismus wieder zurückgekehrt zum Fleische. - -Die Entwürfe zweier Dramen, des Inhalts, daß einem anständigen -Zeitgenossen des zwanzigsten Jahrhunderts nur die tragische Wahl bleibe, -Selbstmord zu begehen oder völlig bewußt selbst ein Raubtier zu werden, -hatte er schon vor einem halben Jahre auf der bewaldeten Höhe verbrannt -und war liegengeblieben neben der Asche, lesend in einem Buche, dessen -weltberühmter Autor erklärte, wenn die Besitzenden ganz freiwillig nur -all ihres Besitzes und ihrer Macht über die Nichtbesitzenden, sowie alle -zusammen nur jeglicher Lüge entsagen würden, sei in der selben Stunde -die Menschheit erlöst. - -‚Das dürfte wahr sein; fragt sich nur, welche Maus und auf welche Weise -sie der Menschheit, dieser milliardenfüßigen Katze, die Schelle anhängen -soll, welche bewirkt, daß wir in allem wahrhaftig sein können‘, hatte -Jürgen damals gedacht. - -War auf dem Rückwege, sinnend und suchend und rat- und hoffnungslos und -nur, um nichts unversucht zu lassen, zu den aus Nord- und Süddeutschland -stammenden vier Jünglingen gegangen, die zusammen mit drei Mädchen nahe -der Stadt vor kurzem eine Siedlung gegründet hatten. - -Staunen und Begeisterung über den kameradschaftlich freien Ton zwischen -diesen hellblickenden Mädchen und schwerarbeitenden Jünglingen und über -die geistig großartige Lebensauffassung, die in dem Zeichen -unbekümmerter Jugendkraft und befreiend humorvoller Ablehnung des Ganzen -stand, hatten Jürgen erfüllt. - -Ein Siedler mit großer Rundbrille in einem mageren, noch unfertigen, -nicht ganz hautreinen Gesicht hatte den beglückt durch die -Nacht heimwärts Marschierenden eingeholt und ihm einen Stoß -Aufklärungsschriften mitgegeben, darunter eine von den Siedlern -gemeinsam geschriebene und im Selbstverlage erschienene Broschüre -‚Kapitalismus, Universität und freie Jugend‘ und ein vierseitiges -Werbeflugblatt ‚An die Gesinnungsgenossen‘, dessen erster Satz lautete: -„Wir haben der Universität, dieser kapitalistischen Bedürfnisanstalt, -die Rückseite gezeigt und im Vorfrühling mit zusammengepumptem Gelde -einen verlotterten Bauernhof gekauft, der, obgleich mit Hypotheken -gegenwärtig noch schwer belastet ...“ Der Schlußsatz lautete: „Unsere -Siedlung ist eine kleine Insel im großen Stunk.“ - -Vernachlässigung des Universitätsbesuches, Verzweiflung und Drohungen -der Tante, Ablieferung der Kollegiengelder an die Siedler, die dringend -Saatgut gebraucht hatten, mühevolle Feld- und Gartenarbeit und an den -Abenden stundenlange, heftig geführte Diskussionen, aufregend und -beglückend für Jürgen und oft sehr gefährlich für den Weiterbestand der -Siedlung, waren gefolgt. - -Tag und Nacht offene Fenster. In den Stuben je ein Feldbett, ein -Handköfferchen und sonst nichts. Die Wände, hell gestrichen, leuchteten -blau, grün, rosa. - -„Morgen kommt Lili mit ihrem Kinde aus dem Gebirg herunter.“ - -Wie lebendig das klingt, hatte Jürgen gedacht. ‚... kommt Lili mit ihrem -Kinde aus dem Gebirg herunter.‘ - -Anfangs waren die Siedler in allen Versammlungen als Sprecher -aufgetreten und hatten die anwesenden Bürger verblüfft und gereizt durch -ihre respektlosen Reden gegen Staat und Kirche, Schule, Ehe, Eigentum, -Zins- und Hypothekenräuberei. - -Der kirchenfeindliche Verein ‚Gedankenfreiheit und Feuertod‘, der seit -Jahren erfolglos um die Genehmigung kämpfte, sein schon erbautes -Krematorium in Betrieb setzen zu dürfen, hatte, nachdem in der -öffentlichen Protestversammlung von dem Siedler mit der Rundbrille -erklärt worden war, er persönlich habe ja gar nichts dagegen -einzuwenden, wenn die Anwesenden sich schon morgen einäschern ließen, -nur glaube er nicht, daß dadurch der große Stunk merklich vermindert -werden würde, die Polizei auf Siedler und Siedlung aufmerksam gemacht. - -Kartoffelernte, Hypothekenzinsforderungen, Herbstbeginn, kürzer werdende -Tage, in dem selben Maße verlängerte, immer heftiger werdende -Diskussionen. Und eines Tages waren die Handköfferchen und Lili mit dem -Kinde und die Siedler verschwunden gewesen, unter Zurücklassung der -sieben Feldbetten, die, zusammengeklappt und aufeinandergeschichtet, in -dem offenen Schuppen lagen. - -Der Bauer hatte seine Kommoden, wandbreiten Eichenschränke und -Riesenfederbetten wieder eingestellt, die grünen, rosa und blauen Wände -dunkel schabloniert und die Heiligenbilder aufgehängt. - -Einige Wochen später war von dem Siedler mit der Rundbrille eine -Postkarte aus Berlin gekommen: Die Siedlung sei aufgeflogen. Die Gründe, -eine schwere Menge, könne Jürgen sich ja denken. Lili habe sich noch -nicht entschließen können; aber er sei Mitglied der sozialistischen -Partei geworden. Und damit Punkt. - -Wenn Jürgen an diesen Herbstabenden, da es im vornehmen Villenviertel -schon ganz still war, am Fenster saß und, zurückdenkend an sein -ergebnisloses Fragen und Suchen, hinaushorchte in die Nacht, vernahm er -die fernher dringenden Töne der Drehorgeln. - -Die fünfzig verschiedenen Melodien zusammen erregten bei manchem -Besucher schon Schwindelgefühl, wenn er auf dem Jahrmarkt noch gar nicht -angelangt war. Paukenschläge und Trompetenstöße drangen siegreich durch. - -Alles drehte sich, funkelte und flog. Die Mädchen klammerten sich an -ihre Liebhaber an, schrien auf, wenn die Berg- und Talbahn in die Tiefe -sauste, im rosa beleuchteten Tunnel verschwand. Und an der -farbensprühenden Budenreihe entlang zog die schwarze Menschenmenge. Alle -Ausrufer waren schon heiser, luden hinreißend liebenswürdig ein. Die -Konkurrenz war groß. - -Trotzdem hatte sich Herr Rudolf Schmied in seinem grünen Wagen zu einem -Schläfchen niedergelegt und Seidel die Aufsicht und das Geldeinsammeln -anvertraut. Denn tags zuvor, in früher Morgenstunde, als noch kein -Budenbesitzer, kein Adjunkt dagewesen war, der die Einnahme hätte -kontrollieren können, hatte Seidel kassiert, sich vom Lehrer der -Knabenklasse, die geschaukelt hatte, eine Empfangsbestätigung ausstellen -lassen und Geld und Schein gewissenhaft Herrn Rudolf Schmied -abgeliefert. - -Dieser Empfangsschein hatte wie tödliches Gift auf das Mißtrauen des -Herrn Schmied gewirkt. Die Adjunkten vermuteten in Seidel einen -Verwandten des Herrn Schmied, unterordneten sich ihm, lieferten willig -die Einnahme ab. - -Die immer besetzten zwölf Schiffe der schönen, besonders hohen Schaukel -flogen unausgesetzt. Die sieben der alten, niedrigen Schaukel daneben -hingen fast immer reglos. Die Adjunkte luden brüllend ein; der -Orgelspieler drehte wie besessen: alle drängten vorbei zur hohen -Schaukel. - -Seidel blickte starr ins Publikum und befahl, als er Herrn Hohmeier -entdeckte, gleichgültigen Gesichtes dem Adjunkten mit dem pflaumenblauen -Herzen auf der Backe, der von seinen Kollegen ‚Das Herz‘ genannt wurde, -das letzte Schiff in der Reihe anzuhalten, da die Tour zu Ende sei. - -Schon preßte ein anderer Adjunkt, der ein abschreckend großes, -pferdekopfähnliches Gesicht hatte, das Anhaltbrett gegen den Kiel des -allmählich sich totschaukelnden Schiffes. Eine neue Tour begann. Seidel -sammelte ein. Der Magistratsbeamte ließ ihn nicht aus den Augen, die vor -Hohn und Genuß funkelten. Auch die zukünftige Braut des Herrn Hohmeier -machte große Augen. Sie hatte ein ganz mageres, blasses Gesichtchen. - -„Das Riesenweib! Wie sie ißt! Wie sie trinkt! Wie sie schläft! -Brustumfang 154! Alles andere dementsprechend! Kolossal! Jedem Besucher -erlaubt, nachzuprüfen! Brustumfang 154!“ schrie der Ausrufer links neben -der Schiffschaukel. - -Und ein anderer: „Hopp hopp hopp hopp hopp!“ Der ritt ohne Pferd dem -Publikum einen eleganten Trab vor zugunsten des ‚Hippodrom von Eder, wo -reiten kann ein jeder‘. - -Ein kleiner, verhärmt aussehender Budenbesitzer, auf dessen Schulter ein -abgerichteter Rabe saß, der Kopf und Beine und flügellahme Schwingen -ruhelos bewegte, sagte zu Jürgen: „Treten Sie ein: Hier wird jedes -Menschen Sehnsucht erfüllt.“ - -Plötzlich stand Jürgen, der blicklos den verhärmten Alten anblickte, mit -Katharina Lenz in dem Laubgang beschnittener Korneliuskirschen. Die -Tante führt ihn am Arme weg von Katharina. - -Wüßte ich, was ich will, dachte er, dann würde ich jetzt Katharina -aufsuchen; aber ich weiß heute nicht mehr, als ich damals wußte. - -Bei der kleinen Schiffsschaukel entstand Tumult; sie wurde plötzlich von -Fahrgästen gestürmt: Der Besitzer hatte ein Plakat ausgehängt, auf dem -stand: ‚Hier kostet die Tour den halben Preis‘. Höhnisch blickte er zu -Seidel hinüber, dessen Schiffe jetzt reglos hingen. - -Seidel stürzte zum Besitzer. Der rieb sich entsetzt den Schlaf aus den -Augen, wollte ebenfalls für den halben Preis schaukeln lassen. - -„Wenn Sie das tun, kommt man zwar wieder zu Ihnen, weil unsere Schaukel -höher ist, aber die Einnahme würde fortan nur die Hälfte betragen. Ihre -Schaukel wäre entwertet.“ - -„Und so verdiene ich gar nichts. Schreiben Sie sofort ein Plakat. Das -Herz soll helfen.“ Er tanzte vor Aufregung. - -„Ich mache Ihnen den Vorschlag ...“ - -„Nichts! Nichts! Schnell, Freundchen! Die Zeit vergeht.“ - -„Wollen Sie riskieren, heute abend keinen Pfennig mehr einzunehmen, wenn -Sie dafür an den folgenden Tagen wieder die volle Einnahme haben -würden?“ - -Herr Rudolf Schmied warf die Arme: „Was? Wie? Was? Wie ist das?“ - -„Lassen Sie ganz umsonst schaukeln.“ - -Da schrie Herr Schmied mit vollen Lungen so lange nach dem -Halben-Preis-Plakat, bis Seidel ihm auseinandersetzte, dann müsse auch -der andere umsonst schaukeln lassen, aber es käme darauf an, wer es -länger aushielte. „Sie sind ein wohlhabender Mann; der Konkurrent steht -vor dem Bankerott. Sie warten ganz einfach, bis er zu Ihnen kommt und -bittet, daß beiderseits wieder um den ganzen Preis geschaukelt werden -soll.“ - -Herrn Rudolf Schmieds altes Messegesicht leuchtete. - -Seidel rief Das Herz, das Pferdegesicht und die andern Adjunkte in den -Wagen. Viele hundert kleine, improvisierte Billetts wurden eiligst -geschnitten, gestempelt. Und auf dem gewaltigen Plakat stand: ‚Wer ein -Billett hat, fährt ganz umsonst in Rudolf Schmieds modernster und -höchster Schaukel der Welt‘. - -Das Herz brüllte, schleuderte die Zettelchen ins Publikum. Das nahm die -Schaukel im Sturm. Seidel beobachtete die Konkurrenzschiffe, die sich -entleerten und nicht mehr füllten. - -Ein ungeheurer Tumult erhob sich. Das Hinüber- und Zurückbrüllen der -beiden Besitzer hatte das ganze Messepublikum angezogen. Viele -Budenbesitzer kamen geeilt, zu erfahren, was ihnen das Publikum entzog. -In der ersten Reihe stand Herr Hohmeier. - -Eine Viertelstunde später kostete die Tour wieder den ganzen Preis. -Seidel hatte im Wagen des Herrn Schmied die Verhandlungen geleitet. - -Der Besitzer der Berg- und Talbahn, des größten Unternehmens der Messe, -fing Seidel ab, legte ihm die Hand auf die Schulter: „Ich brauche eine -Hilfe. Wollen Sie Geschäftsführer bei mir werden? ... Das haben Sie -großartig gemacht.“ - -„Ich bin bei Herrn Schmied angestellt.“ - -„Ich zahle Ihnen das Dreifache.“ - -„Ich mache voraussichtlich schon morgen eine eigne Bude auf ... Aber -eine Idee will ich Ihnen verkaufen für Ihr Unternehmen!“ - -„Das wäre?“ - -„Schreiben Sie eine Erklärung, daß Sie mir Zweihundert bezahlen, wenn -Sie meine Idee ausführen.“ - -„Hundert!“ - -„Zweihundert!“ - -Seidel steckte den Zettel ein. „Bei Ihnen fahren hauptsächlich -Liebespärchen, weil sie in den scharfen Kurven gegeneinander geworfen -werden.“ - -„Das stimmt. Darauf spekuliert die Konstruktion.“ - -„Und dann noch wegen des Tunnels. In diesem Tunnel verschwinden die -Pärchen besonders gern. Das habe ich beobachtet.“ - -„Aber sicher!“ - -„Der Tunnel ist mit roten Glühlämpchen erhellt ...“ - -„Natürlich! Rosa!“ sagte der Mann mit großer Gebärde. - -„Lassen Sie morgen von Ihrem Maschinisten eine Vorrichtung anbringen, -die den Kontakt unterbricht, so daß es eine Sekunde dunkel wird im -Tunnel, dann wieder hell, dunkel ... Die Liebespärchen werden sich -danach richten.“ - -Strahlend trat Herr Rudolf Schmied zu den beiden. - -Seidel ging auf seinen Posten zurück, rief Das Herz zu sich. Der war der -Sohn eines bankerottgewordenen Schaubudenbesitzers, dessen Tiere -krepiert waren. Seidel hatte erfahren, daß Das Herz den schwer zu -erlangenden Gewerbeschein besaß und jederzeit eine Bude aufmachen -konnte. „Was für Tiere waren es denn?“ - -Das Herz schrie in großer Erregung: „Eine Riesenschildkröte und ein -Flußpferd. Sie tanzten zusammen Menuett.“ - -Seidel überlegte, ob ein Mensch mit einem Pferdegesicht beim Publikum -Erfolg haben würde. Das Herz erklärte sich bereit, den Gewerbeschein -beizusteuern; das Pferdegesicht stellte sich selbst zur Verfügung; Leo -Seidel die Idee und das Geld. Fehlte noch die Bude. - -Die stand unbenützt neben der Hauptattraktion der Messe: ‚Herrn August -Schichtels Spezialitäten- und Zaubertheater‘, dessen Zulauf enorm war. -Wer das Unglück hatte, seinen Platz neben Herrn Schichtel zu bekommen, -konnte kein Geschäft machen. Deshalb hatte der Besitzer der Bude gar -nicht eröffnet. - -Der verhärmte Alte, dessen von niemand beachtete Bude rechts neben dem -Zaubertheater stand, zeigte, als Jürgen, schon heimwärtsstrebend, noch -einmal vorbeiging, wieder einladend die Handfläche: „Hier wird jedes -Menschen Sehnsucht erfüllt. Treten Sie ein.“ - -Einige Tage später schritt Jürgen, der, aus Neugier, zu erfahren, -welcher Art die Genüsse seiner früheren Mitschüler seien, Adolf -Sinsheimer versprochen hatte, am Monatsersten mit in eine Weinkneipe zu -gehen, auf das verwahrloste Vorstadthaus zu, vor dem Adolf, drei junge -Kaufleute und der Magistratsbeamte Hohmeier schon wartend unter der -roten Laterne standen. - -Aus fünf Brusttaschen stand je ein farbiges Tüchlein empor. Blasse und -gerötete Gesichter. Auf allen die gleiche fiebrige Erregung und -Spannung. Die vier waren im kaufmännischen Klub gewesen, hatten Herrn -Hohmeier auf der Straße getroffen und mitgeschleppt. - -Sie wollten, zur Feier des Monatsersten, die Animierkneipe mit -Damenbedienung besuchen. - -„Aber nur eine Flasche zusammen! Das habt ihr mir versprochen“, sagte -der Magistratsbeamte, schloß den obersten Knopf des Gehrocks. Und folgte -als letzter, während Adolf die Führung übernahm, resolut voranschritt, -hinein in das schmale Kneipchen, das noch vor einer Woche ein -Bäckerladen gewesen war. - -Jetzt waren die drei Glühbirnen mit roten Papierschirmen verhängt, die -Brotlaibregale mit schön verkapselten Weinflaschen spärlich gefüllt, und -der Ladentisch hatte sich in ein nickelbeschlagenes, glanzsprühendes, -mit künstlichen Blumen und Weintrauben reich geschmücktes Büfett -verwandelt, hinter dem der Wirt saß und zum zehnten Male die -Abendzeitung las. - -Jürgen glaubte in ihm den Sklavenhalter zu erkennen, den Held einer -Seeräubergeschichte, die er als Gymnasiast gelesen hatte. Des -Sklavenhändlers tintenschwarzer Bart, die Riesenglatze, die Hakennase -waren da. Nur die Peitsche fehlte; ihre Stelle nahm die Abendzeitung -ein. Unsichtbar von ihm geleitet, gerieten seine drei von Seide und -Schminke bunten Kellnerinnen mit den Weinkarten in Bewegung. - -Der einzige Gast, außer den Kaufleuten, ein schon total betrunkener -Fabrikschreiner ohne Halskragen, schaukelte den Kopf knapp über der -Tischplatte hin und her, riß ihn in den Nacken und schrie in die falsche -Richtung: „Da komm her!“ - -Die Älteste ging zu ihm, ließ ein bißchen an sich herumgreifen, so -lange, bis er einen Geldschein auf den Tisch knallte. Strich ihm über -das Haar, in dem noch die Holzteilchen steckten, und gab ihrer jungen -Schwester einen Augenwink. Die brachte eine neue Flasche. - -Der Magistratsbeamte beugte sich auf die Tischplatte. „Eine zusammen! -Ich denke, wir nehmen die billigste.“ Und er legte den auf ihn kommenden -Teil der Rechnung gleich auf den Tisch. - -Erschrocken nahm Adolf das Geld wieder weg. „Das ist mein Teil“, sagte -der Magistratsbeamte deutlich. - -Der Arbeiter glotzte auf seine neue Flasche, glotzte die Älteste an. -„Jetzt komm aber auch her!“ - -Kopfschüttelnd lächelte sie den Kaufleuten zu, gab den Augenwink ihrer -jungen Schwester, die, noch ungeschickt und verlegen, zum Arbeiter ging -und sich von ihm auf den Schoß ziehen ließ. Er griff ihr an die Brust, -die noch nicht vorhanden war, und brüllte: „Die andere!“ - -„Für uns auch ein Gläschen?“ fragte die Älteste mit einem Blick, der -allen fünfen in die Augen traf. Und Adolf gewann die Fassung wieder. -„Aber selbstverständlich!“ - -Sie entleerte die Flasche in drei Gläser und goß noch fünf Gläser voll -bis zum Rand, so daß plötzlich drei leere Flaschen auf dem Tische -standen. - -Der Magistratsbeamte beugte sich vor und seitwärts über drei Oberkörper -weg, holte sich ein Glas mit Wein aus der ersten Flasche und stellte es -bedeutungsvoll vor sich hin. - -„Schmeckt, was?“ sagte die Älteste, da Adolf den Wein kennerisch mit der -Zunge prüfte. Er schüttete Zigaretten in ihre Hand, und seine Kollegen -gaben ihr Geld, damit sie das Riesenorchestrion spielen lasse. - -Das nahm die ganze Rückwand ein, reichte bis zur Decke. Begann zu -rasseln, knackte: ein farbiger Husarenleutnant aus Holz, den Taktstock -im Händchen, schob sich, ruckweise, wie das rotseidene Vorhängchen -auseinanderging, in den Vordergrund und dirigierte das von Trommelwirbel -umdonnerte Flötensolo. - -Der Wirt stand reglos und groß hinter dem Büfett. Sein Bart ging mit der -Dunkelheit zusammen. Die Glatze hing losgelöst und weiß über dem Büfett. - -Der Arbeiter lallte, goß ein, goß in das überlaufende Glas, bis die -Flasche leer war, stülpte den Flaschenhals ins Glas und schimpfte, in -der Einsicht, mit seinem Wochenlohn gegen die vornehmen Herren nicht -aufkommen zu können, hoffnungslos in eine leere Ecke hinein. „Noch eine -Flasche!“ schrie er verzweifelt. - -Und die Älteste stand augenblicklich hinter ihm, überredete ihn, erst -das Geld zu geben, schob es wieder zurück. „Das langt nicht zu. Geh -heim. Hast genug getrunken.“ - -Schwankend und drohend erhob er sich. Der Wirt stand groß vor ihm, -hinter dem Wirt die Älteste mit der Mütze des Arbeiters. - -Halb geschoben, torkelte er hinaus, ausgebeutelt und betrogen von seiner -Sehnsucht nach Glanz und nach einer Frau, die keinen verbrauchten Körper -hatte und keine schmutzige Flanellunterwäsche trug. - -Die Älteste, noch bei der Tür, breitete die Arme aus. „Jetzt sagt mir, -was hat so ein Arbeiter in einer Weinstube zu suchen.“ - -Das selbe fragten die Kaufleute. Sie zog aus ihrem Busen pornographische -Photographien, auf denen sie selbst in verschiedenen Stellungen nackt -abgebildet war, zusammen mit einem Herrn im Frack. Es standen schon neun -leere Flaschen auf dem Tisch. Die Gläser der Mädchen waren immer beinahe -gleichzeitig voll und leer. - -„Aber natürlich bringen Sie noch Wein!“ rief Adolf und ließ die Bilder -durch seine heißen Hände laufen. „Aber natürlich bringen Sie noch!“ -echoten die andern. - -Hinter dem Büfett hing in einem Ring ein Kübel; vom Boden des Kübels -lief ein Schlauch weg in die jeweilig darunterstehende Flasche. Nachdem -die Mädchen ihre vollen Gläser in den Kübel entleert hatten, besorgte -der Wirt mit diesem Weine das Füllen der Flaschen. Und die Mädchen -stellten den Wein wieder auf den Tisch. - -Das Orchestrion spielte ununterbrochen. Die vier Köpfe, eng -aneinandergepreßt, blieben über die Photographien geneigt, bis die -Älteste die Bilder wegnahm. Das Wort ‚Sekt‘ fiel. Jürgen legte einen -Geldschein in Adolf Sinsheimers Hand und verließ die Weinstube. Die -andern bemerkten es kaum. - -Plötzlich fühlte der Magistratsbeamte sich beim Halse gepackt. Die -ineinander verschlungenen Weiber- und Männerkörper schaukelten hin und -her nach der Melodie des Flötensolos. Der Sekt floß. Die Flaschen -schwebten selbständig vom Büfett herüber auf den Tisch. Floß eine Stunde -lang im Kreislauf: aus den Flaschen in die Gläser, von da in den Kübel, -durch den Schlauch in die Flaschen und wieder in die Gläser, bis der -kühl und reglos neben dem Kübel stehende Wirt den Wink zur Vorsicht gab. - -Da lösten sich die Mädchen allmählich los. Die junge Schwester blieb auf -des Magistratsbeamten Schoß liegen. Sie war betrunken. Der Wirt schickte -ihr einen Blick, der sie ernüchterte. - -Ein Schub Studenten trat ein, setzte sich an den Tisch, an dem der -Arbeiter gesessen hatte. - -Des Magistratsbeamten geschweifter Mund schnappte auf und zu, und -plötzlich warf er die dürren Arme hoch und behauptete: so lebe er, so -lebe er, so lebe er alle Tage. - -Die Älteste stand schon bei den Studenten, lächelte kopfschüttelnd über -die Kaufleute und nahm die Bestellung entgegen. Die Studenten blickten -belustigt hinüber. - -„Pardon!“ drohte Adolf, der seinen früheren Mitschüler, Karl Lenz, nicht -erkannte. Der Wirt kam groß aus dem Büfett heraus. - -„... so leben wir alle Tage“, sang der Magistratsbeamte immer noch. Und -die Älteste präsentierte die Rechnung. - -Die fünf Monatsgehälter reichten nicht. Der halbe Tisch stand voll Wein- -und Sektflaschen. Adolf warf noch eine Banknote auf den Tisch, an dessen -Stirnseite der Wirt stand und die drei Worte sprach: „Das langt nicht.“ - -Alle standen schwankend und ausgeliefert, wollten nach ihren Mänteln -greifen. „Sie müssen mir Ihren Ring zum Pfande da lassen.“ Der Wirt -stellte den Zeigefinger steil auf die Rechnung. Die Studenten -beobachteten gespannt die Szene. - -Adolf zog den Brillantring vom Finger. „Darüber muß ich eine Quittung -bekommen!“ Und blickte, trotz seines Rausches, verblüfft auf die schon -ausgefüllte Quittung, die der Wirt sofort vor ihn hinlegte. - -Schritt für Schritt ging er hinter den Abziehenden nach, schloß die Tür -leise und mit Kraft und zog sich hinter das Büfett zurück, stellte eine -leere Flasche unter den Kübel. Diesmal war es eine Rotweinflasche. - -Die Älteste atmete hoch auf, ließ den Busen fallen: „Diese Kaufleutchen! -Wollen elegante Herren spielen und können dann nicht bezahlen.“ Sie -breitete die Arme aus: „Jetzt sagt mir, was haben solche Bürschchen in -einer Weinstube zu suchen?“ - -Karl Lenz stimmte ihr bei. Daraufhin auch die andern. Sie goß den -Rotwein ein. „Auch für uns ein Gläschen?“ - -„Aber selbstverständlich!“ Und dann ging er ernsten Gesichtes erst -hinaus in das Klosett und nahm das Couleurband ab; die andern hatten, -dem Koment gemäß, ihre Couleurbänder nicht an. - -Die Älteste goß neun Gläser voll: es waren sechs Studenten. Die junge -Schwester richtete den Tisch der Kaufleute für neue Gäste her. Und der -Wirt rückte den Kübel zurecht. - -Daß dies besonders herrliche Genüsse wären, wert, ihretwegen auch nur -den Bruchteil selbst eines blödsinnigen Ideals aufzugeben, kann gewiß -niemand behaupten; aber auch nicht, daß es keine begehrenswerteren -Genüsse gäbe, dachte Jürgen auf dem Heimwege durch die schlafende Stadt. - -Vor dem kleinen Café in der noch belebten Hauptstraße stand wieder der -Krüppel und neben ihm, reglos, grau und böse, die Frau, auf dem Arme den -skrofulösen Säugling. - -‚Daß einer um den Preis, Liebschaften zu haben mit schönen, gepflegten -Frauen, oder um der Macht und des Erfolges willen Verrat übt an allem, -was ihm in der Jugend teuer war, wäre schon eher zu begreifen.‘ - -Und plötzlich entsann er sich des Abends, da er, geladen bei einer der -vornehmsten Familien des Landes, solchen Frauen begegnet und Zeuge -geworden war von Gesprächen zwischen Großbankiers, die über Weltpolitik, -Eisenbahnbauten und den wahrscheinlichen Zeitpunkt eines neuen Krieges -in leichtem Plaudertone gesprochen, und zwischen berühmten -Schriftstellern, die über die Schönheit eines Goethezitates und sogar -über den Satzbau des Zitates länger als eine Stunde äußerst -beziehungsreich und sehr klug und geistvoll diskutiert hatten. Das ist -Macht, das ist Kultur, hatte er damals gedacht. - -‚Aber kann denn durch diese Macht und durch diesen Geist das Meer von -Tränen, kann denn dadurch das würgende, würgende Menschenleid beseitigt -werden? Ich glaube es nicht. Was aber soll man tun?‘ Bedrückten Herzens -schloß er die rückwärtige Gartentür auf, an die er das Schild angebracht -hatte: ‚Hier wird Armen gegeben‘. - -Seine Fragen an das Leben fanden keine Antworten; nur die allzu glatten -der Schulkameraden und der Tante. Oft – wenn er sah, wie die früheren -Mitschüler jenseits aller Zweifel lebten – hatte der Vereinsamte, wie -einmal in der Schule, den Wunsch gehabt, auch so zu werden, wie die -andern waren, das Fragen und das Suchen aufzugeben und sich der -Tantenauffassung anzuschließen. Diese Stunden nannte Jürgen -Schicksalspausen. - -Er saß am Fenster, hatte noch Kopfschmerzen von dem Wein, sah die -Animierkneipe. Schweinerei! dachte er, betrachtete mit inbrünstigem -Hasse der Tante Lebensarbeit: die unverwüstlichen gehäkelten Deckchen, -die alle Möbelstücke drückten. Der Perpendikel tickte ruhevoll das Wort -‚rich–tig, rich–tig‘. - -‚In diesem Zimmer „Schweinerei“ zu sagen, ist unmöglich. Da hört die Uhr -auf zu ticken, die Deckchen gleiten von Sesseln, Tisch, Kommode, und die -Heiligenbilder fallen von den Wänden.‘ - -Eine lange halbe Stunde wurde kein Wort gesprochen. Die Tante häkelte. -Die Älteste zeigt die Photographien. - -„Schweinerei!“ brüllte Jürgen, erwartete die Zimmerrevolution, sah die -böse herausgedrückten Augen der Tante. Die Szene von früher wiederholte -sich: - -„Was hast du gesagt?“ - -„Ich habs doch nur gedacht.“ - -„Du lügst mir wieder ins Gesicht hinein?“ - -„Wenn doch diese verdammte Uhr endlich aufhören würde zu ticken!“ - -Sie machte eine barsch abschließende Handbewegung und stellte die -Häkelnadel senkrecht gegen ihn: „Wenn du erst in Amt und Würden sein -wirst ...“ - -Sein ganzer Körper wurde gemauerter Widerstand. „Niemals! Ich studiere -Philosophie.“ - -Zuerst legte sie die Häkelarbeit weg, griff nach der Stickerei und stach -langsam die Nadel von unten in den Stickrahmen, zog sie senkrecht hoch. -„Du weißt, dein Vater will ...“ - -„Er ist ja tot. Tot!“ - -„... daß du Amtsrichter wirst.“ - -Sein Gesicht verzog sich zu einer Lachfratze. Und in die Pause hinein -gestand er: „Ich studiere seit einem Jahre, studierte von Anfang an -Philosophie. Überhaupt nie eine andere Vorlesung gehört!“ - -Da saß sie aufrecht, faltete übertrieben ruhig die Hände im Schoß: „In -diesem Falle würdest du nicht einen Pfennig mehr von mir bekommen. Von -was also wolltest du leben? ... Philosophie? Was willst du denn werden?“ - -Er sah das Schäfchen auf dem Heiligenbilde an. „Werden?“ Die Uhr tickte: -‚rich–tig, rich–tig‘. - -„Nun, was also? Alle deine Schulkameraden wissen längst, was sie werden -wollen.“ - -Plötzlich schlug seine Ratlosigkeit in Wut um. Er brach in die Knie, -preßte beide Fäuste an den Hinterkopf und brüllte wild: „Nichts weiß -ich! Landstreicher werde ich. Ich gehe auf die Landstraße. Ein Gauner -werde ich, wenn du mich noch länger quälst.“ - -Der Kniende stierte auf die Krüppelfamilie, die grau, elend, schemenhaft -vor der Dunkelheit stand. Auch den skrofulösen Säugling auf der Mutter -Arm sah Jürgen. Kniend rutschte er auf die imaginäre Gruppe zu und zur -Tür hinaus. - -Erst oben in seinem Zimmer kam die Wut voll zum Ausbruch. Zuletzt riß er -die Waschschüssel mit beiden Händen in die Höhe und schmetterte sie auf -den Fußboden. Die Stirn blutete. Das Zimmer war verwüstet. - -Allmählich wurde der vom Weinen Gestoßene still. Er saß, Arme -verschränkt, Kopf darauf, am Tisch. Tränen und Speichel vermischten sich -auf der Tischplatte. So blieb er hocken. - -Plötzlich deutete er durch den Fußboden auf das Heiligenbild im -Wohnzimmer und verlangte ausdrücklich: „Das Lämmchen muß dem -Heiligenbild weggenommen und der Krüppelfamilie vor die Füße gesetzt -werden.“ - -‚Der arme Jürgen! Sie haben ihn so lange gequält, bis er irrsinnig -wurde‘, ließ er Katharina Lenz sagen, ahmte eine Kinderstimme nach, -schmollte trotzig und weinerlich: „Man muß das Lämmchen zur -Krüppelfamilie tun.“ - -‚Wie man ihn gequält hat! Jetzt ist der Arme irrsinnig‘, klagte -Katharina. - -Und er schauspielerte: „Das Lämmchen gehört zu der Krüppelfamilie ... -Bäh, bäh, bäh!“ Müdigkeit drückte des Erschöpften Wange auf die -Tischplatte. Noch einmal hob er das von Tränen und Blut verschmierte -Gesicht, rief trotzig und blöd: „Bäh!“ und schlief ein. - -Da erschien, grün und aufgetrieben wie ein Ertrunkener, der Vater hinter -dem Stuhle, tippte Jürgen auf die Schulter und sagte leise und -lächelnden, weitgeöffneten Mundes, so daß alle Zähne bleckten: „Na, du -schmähliches Etwas.“ Dabei drehte der Vater des Jahrmarktes riesige, -vieltausendstimmige Drehorgel, deren Töne fernher drangen durch den -warmen Herbstabend. - -Der Kontakt im Tunnel der Berg- und Talbahn funktionierte schon. Die -Bude links neben dem Zaubertheater war mit Hilfe von Ölfarbe in einen -alten Stall umgewandelt, aus dessen Luke Heu hervorquoll. Der Kopf des -mit kosmetischen Mitteln hergerichteten ‚Pferdegesichtes‘ sah sehr -abnorm aus. - -Das Herz brüllte in das Riesenhorn, das Seidel hatte machen lassen: -„Hier ist zu sehen der Mensch mit dem Pferdekopf! Die größte Abnormität -der Welt! Er frißt Heu wie Brot! Hafer ist ihm das liebste! ... Man höre -ihn wiehern.“ - -Blies mächtig ins Horn, starrte, Hand am Ohr, ins Publikum: Aus der Bude -erklang das brünstige Wiehern des Pferdegesichtes. - -Auch Jürgen, der außerhalb der Stadt auf der bewaldeten Höhe stundenlang -am selben Flecke reglos gelegen war und sich nach dreißig Schritten, -gepeinigt von Unruhe und Ratlosigkeit, wieder in das Moos hatte fallen -lassen, den Blick fernaus gerichtet, dem Flußlauf nach, in das weite -Land, dem Meere zu, ganz und gar erfüllt von dem Wunsche, aller Last zu -entlaufen, hinaus in ein Leben der Ungebundenheit, wurde auf dem -Heimwege angezogen von den Drehorgelmelodien, die, wie in der -Knabenzeit, in ihm das Gefühl wieder erwachen ließen, daß hier die -Freiheit sei. - -Das ist das selbe Gefühl, das den sechsjährigen Sohn des Geheimrates -sagen läßt: ‚Ich will Droschkenkutscher werden‘, dachte er und -betrachtete den Stall. Rechts stand: Eingang; links: Ausgang. In der -Mitte saß Leo Seidel vor der grünen Drahtgitterkasse. - -Ihn jedoch hat nicht dieses Gefühl vor die Schaubude gesetzt, dachte -Jürgen, wollte schon durch die Menge durch, die drei Stufen hinauf, -Seidel zu begrüßen, erinnerte sich in dieser Sekunde der Weltgeschichte -und seines letzten Gespräches mit Seidel und verließ den Jahrmarkt. - -Seidel hatte Jürgen nicht bemerkt; er war sehr beschäftigt. Wenn die -Leute sahen, wie das aus der Luke heraushängende Heu sich bewegte, -siegte bei vielen die Neugierde, einen Menschen mit einem Pferdegesicht -beim Heufressen zu beobachten, so daß die Bude immer guten Zulauf hatte. - -In der Hand die Rechnungen für Ölfarbanstrich, innere Ausstattung, -Riesenhorn und Stallmeisterlivree, die Das Herz trug, und im Kopfe die -Idee, daß nur derjenige zu Geld kommen könne, der andere für sich -arbeiten lasse, stellte der kapitalkräftige Seidel Herz und -Pferdegesicht am Wochenschlusse vor die Wahl, entweder Mitinhaber zu -bleiben und während der ganzen Messedauer auf jeglichen Verdienst zu -verzichten – denn diese Rechnungen müßten erst gewissenhaft bezahlt -werden –, oder alle Mitinhaberrechte abzutreten und sofort -Angestelltengehalt zu beziehen. - -Das Herz schrie: „Der Gewerbeschein war mein einziges Erbe.“ Das -Pferdegesicht erklärte, nicht jeder könne seine Visage als Pferdekopf -für Geld ausstellen, und jeden Tag bis Mitternacht Heu zu fressen, sei -auch keine Kleinigkeit. Die grüne Drahtgitterkasse, in der die -Wocheneinnahme lag, klappte zu. - -Da wählten die beiden das Geld in die Hand. Seidel war Alleininhaber. - -Während er einlud und kassierte, grübelte er unausgesetzt darüber nach, -wo er eine breitere Basis für seinen spekulativen Geist finden könnte. - -Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem mächtigen Backsteinbau -zurück: dem Zirkus, der den ganzen Winter über in der Stadt blieb und -während der vier Wochen langen Jahresmesse schlechte Einnahmen hatte. - -Seidel benutzte die losen Beziehungen, die zwischen einigen -Budenbesitzern und dem Zirkusunternehmer bestanden, und schlug diesem -vor, Familienbilletts zu ermäßigten Preisen zu verkaufen, solange die -Jahresmesse in der Stadt sei. Auch solle er an Stelle der herkömmlichen -und deshalb nicht mehr wirksamen Zirkusplakate ein von einem guten -Künstler zu entwerfendes modernes Plakat kleben lassen. - -Von einem modernen Plakat wollte der Mann nichts wissen. Die Billettidee -hatte er selbst gehabt und war schon dabei, sie auszuführen. Aber es -gelang Seidel, einige für seine Zukunft wichtige Bekanntschaften mit -Zirkuskünstlern zu machen. - -Bald darauf behauptete Adolf Sinsheimer, er habe Leo Seidel, im Pelz, -den Zylinder auf dem Kopfe, im Vorraume des Berliner Wintergartens -gesehen, in Gesellschaft von eleganten Damen und Varietékünstlern. - -Und so konnten einige Jahre später seine früheren Kollegen vom -Stadtmagistrat und die Schulkameraden, von denen die meisten zu dieser -Zeit schon jung verheiratete Männer waren, nicht allzu sehr darüber -verwundert sein, daß eines Tages Leo Seidel, der nicht lange Impresario -geblieben war, als kaufmännischer Direktor des riesigen Wanderzirkus in -die Heimatstadt zurückkehrte, im ersten Hotel abstieg und im eigenen -Wagen fuhr. - -Zu jener Zeit war Herr Hohmeier eben bis zum breiteren Löschblattbügel -vorgerückt und wollte sich verheiraten. - -Der Besitzer des Zirkusunternehmens kränkelte und hatte nur eine -Tochter. Sie war siebzehn Jahre alt. - -Kurz vorher hatte Seidel, der längere Zeit im Weizen- und dann im -Stabeisengroßhandel mit nicht besonderem Erfolge tätig gewesen und -deshalb noch einmal in das ihm vertraute Fach zurückgekehrt war, an der -Börse sehr gewinnreich mit Baumwolle spekuliert. Er war seit Jahren -Abonnent volkswirtschaftlicher, bank- und börsentechnischer -Zeitschriften. - -Er studierte die Preisschwankungen des Marktes nicht wie der -Großindustrielle oder Börsianer, die, das Risiko zu vermindern, sich mit -ihren Abschlüssen von Tag zu Tag nach den Markt- und Börsenberichten -orientieren; er verglich seit Jahren die an- und abschwellenden Kurven -der Export- und Importziffern aller Länder, verfolgte genau die hieraus -sich ergebenden inner- und außerpolitischen Spannungen, täuschte sich -selten über den Zeitpunkt hereinbrechender Wirtschaftskrisen – eine -Fähigkeit, die ihn nicht nur vor Verlusten geschützt, sondern ihm seine -bisher größten Gewinne eingebracht hatte – und wartete, in jeder -Hinsicht gerüstet, seit langem nur auf die Situation, die es ihm -gestatten würde, unter möglichster Ausschaltung des Risikos die Hand auf -das ganz große Geschäft zu legen. - -Schon jetzt glaubte Seidel begründete Hoffnung zu haben, die -Siebzehnjährige nicht heiraten zu müssen. - - - - - III - - -„Sie sind ja in der Brodstraße.“ Der Portier setzte sich wieder auf das -Bänkchen. - -„Wo Herr Knopffabrikant Sinsheimer wohnt?“ - -„Den hat der Schlag getroffen. Heute mittag. Punkt eins. Kommt von einem -Geschäftsgang zurück, liest die eingelaufene Post, da trifft ihn der -Schlag ... Auch ein Unglück für die Familie!“ - -Jürgen überwand seine Scheu, ein Haus zu betreten, in dem ein Toter lag, -stieg die Treppe hinauf, vorbei an dem farbigen Treppenhausfenster, auf -dem Wilhelm Tell im Ausfall stand, bereit, den Apfel herunterzuschießen -von den blonden Locken. - -Im Vorzimmer kämpfte Gulaschduft mit Medizingeruch. „Herr Adolf kommt -gleich“, sagte das Dienstmädchen und drehte eine schwach und rot -brennende Birne an im Salon. - -Eichenmöbel, reich geschnitzt, schwarz und unverrückbar schwer, füllten -ihn. Zahllose Nippesgegenstände posierten, miauten, sangen, tanzten -Menuett auf allen erdenklichen Plätzchen und Kanten. Jürgen wand sich -bis zu einem Stuhle durch, dessen hohe Lehne, gebildet durch zwei -vielfach geschwungene, schwarzgebeizte Schwanenhälse, mit einer -Wasserrose abschloß, in der ein Frosch saß, das Krönchen auf dem Kopfe. - -Ohne sich zu rühren, musterte er die Gegenstände, begann schließlich zu -zählen: vier meterhohe Petroleumlampen – Geschenke, die niemals gebrannt -hatten –, eine große Anzahl nie benutzter Tee-, Kaffee- und -Likörservice, entdeckte nachträglich noch zwei hohe, glänzende Gestelle, -die er erst auch für Lampen hielt, dann aber als Tafelaufsätze erkannte: -Nachbildungen des Eiffelturmes, auf dessen Stockwerken Birnen, Äpfel, -Trauben, aus farbigem Tuche, lagen. An der Wand hing, zwischen dem -Dackel, der, das weiße Zipfeltuch um den Kopf, an Zahnweh leidet, und -dem Kätzchen, das mit dem Wollknäuel spielt, ein kleiner Elefant, der -den Rüssel hin und her schleuderte. Das Ziffernblatt auf seiner Stirn -stellte Afrika dar. - -Unvermittelt schlug der Gedanke ein, daß vielleicht im Zimmer nebenan -der Tote liege. Um sich abzulenken, nahm Jürgen den Bronzelöwen in die -Hand, der, schleichend zusammengekauert, Tatzen auf dem Rande, die Zunge -dürstend in die Aschenschale streckte. Stand auf, sah umher, drehte am -Schalter. Mit dem Verlöschen der Birne schwankten alle Möbel, wie -betrunken, auf Jürgen zu und versanken in der Finsternis. Er fand den -Schalter nicht wieder. - -Da sah er in einem Blitze der Angst die Leiche im Salon liegen, -schneeweiß aufgebahrt und mit genau der selben Kopfhaltung wie die -seines Vaters. Schnell drehte er sich einige Male um sich selbst, -bemüht, die Leiche des Vaters nicht im Rücken zu haben, und streckte die -Hand frierend hinter sich nach dem Türdrücker aus. - -Der Elefant trompetete. Die Tür knallte gegen Jürgens Kopf: Adolf hatte -eintreten wollen. „Na, sag mal, sitzt du im Dunkeln! ... Lina! -Donnerwetter, Lina!“ Sie kam gesprungen. Jürgen wollte aufklären. - -„Ist ja alles sehr schön! Aber weshalb wird denn nicht der ganze Lüster -angeknipst, wenn Besuch da ist! ... Bringen Sie Tokaier.“ - -Seine Hand hatte den Schalter gefunden. Zornig schritt er auch noch in -die andern drei Ecken: Immer mehr Birnen glühten auf an Kandelabern und -am gewaltigen Lüster. Die tausend Gegenstände standen tot im weißen -Lichte. „So, nun mache dirs bequem.“ - -Jürgen setzte sich wieder auf den hochlehnigen Schwanenstuhl und sprach -das Tokaierglas prostend erhoben, verlegen sein Beileid aus über den -entsetzlichen Unglücksfall, der Adolf betroffen habe. - -„Das passiert meinem alten Herrn öfter. Es geht ihm schon wieder besser. -Er hat schon etwas Gulasch gegessen. Jetzt schläft er.“ - -Nachdem die beiden weggegangen waren, schritt das Mädchen von Schalter -zu Schalter und stürzte den Salon wieder in das schwarze Nichts. - -Auf der Straße zog Adolf mit weißen Litzen besetzte Glacéhandschuhe an -und machte beim Sprechen abgehackte Viertelsdrehungen auf Jürgen zu, wie -ein Leutnant, der mit einer Dame spazierengeht. Sein Vater habe diesen -Morgen Ärger gehabt, wegen einer Zahlung an eine Londoner Bank. Es habe -sich zwar nur um einige zehntausend Pfund gehandelt. „Eine Bagatelle, -gewiß! Aber wenn sie momentan nicht flüssig zu machen sind? ... Geht er -heute früh dieser Sache halber fort, kommt schon aufgeregt nachhause, da -findet er ein Schreiben aus dem Kriegsministerium, des Inhalts, daß wir -...“ Er blieb stehen, hob den Spazierstock wie eine Kerze: „Diskretion?“ - -„Vielleicht sagst du mir lieber nichts.“ - -„Aber bitte, dein Wort genügt mir ... daß wir den Auftrag erhalten -haben, den neuen Armeeknopf zu liefern. Begreifst du, was das bedeutet? -... Ahnungslos öffnet mein Alter das zweite amtliche Schreiben, liest, -daß er zum Kommerzienrat ernannt worden ist: schwuppdich – Schlaganfall -... Bitte, nach dir.“ - -Schwungvoll ließ der schon zum Kellner emporgerückte, seinen Ober jetzt -mit vollkommenster Sicherheit kopierende frühere Pikkolo das Tablett mit -den Wassergläsern auf die Marmorplatte auflaufen. Das Knopfexporthaus -stand wuchtig und still gegenüber in der Abendruhe. - -Ein starker Tourenwagen hielt vor dem Café. Ein blonder Herr trat ein. -Adolf verbeugte sich steif und tief und flüsterte: „Sechzigpferdig! Ein -Klubmitglied! Sohn des Maschinenfabrikanten Heller ... Die haben ihrem -Werke kürzlich noch eine Abteilung angegliedert, in der ausschließlich -Eisenbahnweichen fabriziert werden. Staatsaufträge, mußt du wissen! Auch -die scheinen die nötigen Verbindungen zu haben. Enorm reiche Leute!“ - -Jürgen wurde die Seele schwer bei dem Gedanken, daß seit jenem ersten -Kaffeehausbesuch schon soviel Zeit vergangen war und er noch immer -unklar und ziellos dahinlebe. Abwesend sah er in das glänzende Gesicht, -von der Krawattenperle zum seidenen Tüchlein, das glatt und grün aus der -Brusttasche wuchs. - -„Gestern übrigens – ich unterhalte mich nicht ungern mit dem jungen -Heller – erzählte er mir im Klub, er habe den Ingenieur, der das -Einrichten der Weichenfabrik überwacht und geleitet hat, husch, die -Lerche! rausgeschmissen.“ - -„Fort möchte ich! Weg von Europa! Weg von dem Ganzen! ... Vielleicht -wenn ich Dolmetscher werden könnte in China!“ Und plötzlich erfüllt von -Zorn und Hohn: „Bist du schon weit mit deiner Knopfsammlung?“ - -„Unsinn! Das war ja Kinderei. Hast du eine Ahnung! Es gibt, rein -menschlich genommen, nichts, das mir gleichgültiger wäre als Knöpfe ... -Ich sammle etwas ganz anderes.“ - -Er beugte sich zu Jürgens Ohr, flüsterte und lehnte sich wieder zurück. -„Von jeder, die ich gehabt habe! ... Kannst dir die Sammlung einmal -ansehen.“ - -„Weshalb hat er ihn denn hinausgeworfen?“ - -„Überall liegt ein Zettel bei, mit dem Vornamen der Betreffenden und dem -Datum.“ - -„Wenn er doch das Einrichten der Fabrik leitete!“ - -„Ja, und gleich hinterher hat er die Arbeiter zum Streik aufgehetzt. Ein -Blutroter nämlich, verrückter Weltverbesserer, weißt du, Bombenschmeißer -und so ... Zeichnet, konstruiert, wählt aus, baut um, rennt und -schwitzt, bis das Werk steht – soll übrigens ein brauchbarer Techniker -und Organisator sein –, dann hetzt er die Leute auf ... So etwas gibts -noch, heutzutage, trotz des enormen Aufschwungs unserer Industrie.“ - -„Hast du denn schon einmal darüber nachgedacht, daß trotz des -Aufschwunges unserer Industrie die große Mehrheit aller Menschen zu -schwer arbeiten muß und dabei kaum das Nötigste zum Leben hat, vor allem -aber jeglicher Möglichkeit, ihre geistigen Anlagen auszubilden, -jeglicher Entwicklungsmöglichkeit vollständig beraubt ist? Im Gegensatz -zu anderen, die essen, leben und sich bilden können – wie zum Beispiel -wir –, selbst wenn sie wenig oder nichts arbeiten!“ - -„Deine Sorgen! Übrigens: ich muß auch arbeiten. Und wie wir geschwitzt -haben, mein Alter und ich, betreffs des Armeeknopfes! Du solltest nur -ein einziges Mal eine Kalkulation für solch eine Riesenlieferung machen -müssen, da würde dir das Nichtvorhandensein sämtlicher und noch einiger -Dutzend mehr Entwicklungsmöglichkeiten anderer Leute schnuppe sein.“ - -Wer weiß überhaupt, dachte Jürgen, weshalb der eine denkt und der andere -niemals zu selbständigem Denken, nie zu einer eigenen Meinung kommt und -deshalb auch nie zu einem Proteste gegen das Bestehende? Ist da die -verschiedene Konstitution entscheidend? Oder das Leben, wie es ist, die -Ordnung, die Lebensordnung? Oder alles zusammen? ... Das ist ein tiefes -Problem. Das sind Fragen, schwer zu beantworten ... Und wer jetzt dazu -noch überlegt, daß ganz offenbar diejenigen, die nicht selbständig -denken, die Uneigenen, diese Ordnung bestimmen, dem Leben das Gesicht -geben, der muß zugeben: Alles, das Ganze, ist verkehrt. Das Ganze! - -„Jeder Armeeknopf muß x-mal durch die Maschine laufen. Dazu die -Berechnung des Rohmaterials, der Kapitalsverzinsung, der Arbeitslöhne. -Wenn du zu hoch kalkulierst, bekommst du den Auftrag nicht; und wenn du -dich bei solch einem Riesenauftrag verrechnest, bist du pleite.“ - -Den kleinen Finger weggespreizt, zog er das grüne Tüchlein aus der -Brusttasche und wischte sich die trockene Stirn. „Was sagtest du vorhin? -Dolmetscher in China? Kannst du denn chinesisch? Es gibt meines Wissens -und gewissermaßen nicht ein Dutzend Leute in Deutschland, die chinesisch -können.“ - -„Gerade deshalb glaube ich ja, daß ich leicht einen Dolmetscherposten in -China bekommen könnte“, sagte Jürgen, der bis vor zehn Minuten niemals -daran gedacht hatte, Dolmetscher in China werden zu wollen. - -„Ich kann ja schon ziemlich chinesisch“, begann er auf der Straße von -neuem. „Ich lerne nämlich seit Jahren in einer alten Grammatik, die ich -unter den Büchern meines Vaters gefunden habe ... Zum Beispiel als -Dolmetscher bei der deutschen Gesandtschaft in China! ... Nur weg von -Europa!“ - -„Solltest du nicht Amtsrichter werden? ... Schön, werde du Dolmetscher! -Nichts als Romantik, mein Lieber, sauere Romantik! ... Na, mein Ziel -kennst du ja. In einigen Monaten ist das neue Knopfexporthaus unserer -Knopffabrik angegliedert. Runde Sache! Konzentration, mein Junge! Aber -davon verstehst du ja nichts ... Im übrigen – lebe ich, amüsiere mich -und, um es glatt herauszusagen, vergrößere meine Sammlung weiblicher -Geschlechtshaare. Später ... natürlich heiraten!“ Er war mit der -Bankierstochter Elisabeth Wagner, einer früheren Mitschülerin -Katharinas, verlobt. - -Der schwere Wagen hielt. Der Fabrikantensohn stieg aus und die -läuferbelegte Treppe hinauf. Auch Jürgen und Adolf waren vor dem -Klubhause angelangt. - -„So einfach, wie du dir das vorstellst, erhält man Staatsaufträge -natürlich nicht. Da sind, abgesehen von der Kalkulation, noch ganz -andere Kräfte im Spiel, Kräfte, sage ich dir ... Für tausend Knöpfe -werden bezahlt“, rief er plötzlich mit starker Stimme und nannte die -Summe, „und hundertachtzig Millionen sind bestellt ... Rechne aus! Mein -verflossener Chef wird platzen vor Ärger über den Kommerzienratstitel. -Und obendrein, schwuppdich! schnappten wir ihm noch den kolossalen -Staatsauftrag weg. Kurzum: es geht, husch, die Lerche! schnurstracks in -die Höhe. Merkst du das?“ - -„Schwuppdich!“ murmelte Jürgen; er hatte gar nicht zugehört. - -Da klang, wie damals, Klaviergepauke und Refraingesang durch das offene -Fenster. Und Adolf, beide Arme weit ausgebreitet, Stock in der einen, -Glacés in der andern Hand, sang mit in übersprudelnder Lebensfreude: - - „Es haben zwei ne ganze Nacht - Zusammen in einem Bett verbracht. - Was ham se wohl gemacht?“ - -Während Jürgen die Stadt durchquerte, verlobte auch er sich. Katharinas -Vater, Herr Geheimrat Lenz, löste die Verlobung wieder, weil Jürgen ein -brotloser Philosoph und nicht bei einer schlagenden Verbindung war. - -Am Arme ihres Gemahls – einer berühmten Persönlichkeit – geht Katharina -vorüber an Jürgen, ihrem früheren Verlobten, der, total heruntergekommen -und versoffen, die Straße kehrt. Bleibt stehen, ergriffen von Mitleid. -‚Sieh mal, wie furchtbar traurig! Er war mein Jugendfreund. Schenke ihm -doch etwas.‘ - -Ihr Mann ist sehr edel, gibt seine ganze Brieftasche dem demütig -Dankenden, an dessen abgezehrtem Gesicht die Tränen herunterrollen. - -Auch Katharina schluchzt, legt ihre Hand auf die seine, die den Besen -hält, und sieht ihren Mann an: ‚Jürgen war nicht immer so. Denke das ja -nicht. Wenn du wüßtest, welch wunderbarer Mensch er gewesen ist! Hätte -ich ihn sonst geliebt? Keineswegs immer so! Zum Beispiel ernannte ihn -die Regierung, obwohl er anfangs nur ein untergeordneter Dolmetscher -war, seiner ganz außerordentlichen Fähigkeiten wegen zum deutschen -Gesandten in China.‘ - -Da verschwand Katharinas Mann. Nicht dieser, sondern Jürgen ist mit ihr -verheiratet, empfängt die phantastisch wunderbar gekleideten -chinesischen Würdenträger, von denen vor lauter tiefen Verbeugungen -beständig nur die Rücken zu sehen sind. Der Saal hat keine Decke. Das -Sternenfirmament blitzt über dem glänzenden Feste des deutschen -Gesandten. Der Reichskanzler hat für außerordentliche diplomatische -Dienste an Jürgen ein Danktelegramm geschickt. ‚Empfehlen Sie mich auch -Ihrer Frau Gemahlin.‘ - -‚Katharina, der Kanzler läßt sich dir empfehlen.‘ - -‚Das alles habe ich nur dir zu verdanken, Jürgen.‘ - -Der Aufschrei einer Frau und das Schimpfen und heftige Läuten des -Trambahnführers stießen ihn zurück in die Wirklichkeit. Er befand sich -in einem ihm gänzlich fremden Stadtteil. - -„Wenn diese schweinischen Träumereien jetzt nicht endlich aufhören, -knalle ich mich nieder. Das ist ja Onanie“, schrie er plötzlich -wutentstellten Gesichtes, in dem, ebenso plötzlich, grenzenlose -Verwunderung sich auftat, als er bemerkte, daß er vor dem Hause stand, -in welchem der Ingenieur wohnte. - -Jetzt erst erinnerte Jürgen sich wieder, daß er Adolf nach der Adresse -gefragt und auf dem Wege durch die Stadt zweimal Straßenschilder gesucht -hatte, in diese Seitenstraßen eingebogen und einmal sogar ein Stück -Weges wieder zurückgegangen war, ohne sich des Grundes bewußt geworden -zu sein. - -Außerdem ist Katharina ja von zuhause weggelaufen, wird sich also von -dem Herrn Geheimrat nichts mehr dreinreden lassen, dachte er, schon -wieder traumversunken, beim Hinaufsteigen, las auf einem weißen Kärtchen -den handgeschriebenen Namen des Ingenieurs. ‚Was soll ich ihn denn -fragen? Was soll ich sagen?‘ - -Da hatte er schon geläutet. Die schweigsame Wirtin, deren Unterlippe -mürrisch auf das Kinn herabhing, führte ihn in das große, helle Zimmer. -Der Ingenieur saß am Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür. „Setze dich.“ - -Jürgen setzte sich. Betrachtete die hellgelben, leeren Wände. - -„In den Sessel!“ - -Er stand auf und setzte sich in den modernen, bequemen Ledersessel, vor -das vollgestopfte Bücherregal, neben dem mehrere Stöße fremdsprachiger -Zeitungen auf dem glänzenden Parkettboden standen. ‚Was soll ich sagen? -Verflucht, das ist ja wie in der Schule ... Was will ich überhaupt?‘ - -Lange und nachdenklich sah er den schreibgekrümmten Rücken an. ‚Wenn ich -das wüßte, würde ich nicht hier sein.‘ - -„Genossin, dein Artikel war in einem wichtigen Punkte schlecht. Du -solltest den betreffenden Abschnitt noch einmal bei Marx nachlesen. ‚Die -Klassenkämpfe in Frankreich‘. Auch bei Engels ‚Ursprung der Familie‘ -gibt es darüber eine sehr aufschlußreiche Stelle.“ - -Jürgen nahm sich vor, diese zwei Bücher gleich zu kaufen. ‚Aber so geht -das ja nicht weiter. Schließlich verrät er mir noch Geheimnisse.‘ - -„Bei Marx nämlich ist die Problemstellung folgendermaßen“, sagte der -Ingenieur und wandte sich um. „Entschuldigen Sie! Ich erwartete jemand.“ -Er hatte unveränderlich junge Augen in einem männlich fertigen Gesicht, -das als Abschluß einen kleinen Spitzbart braucht, der auch vorhanden -war. - -Jürgen stand auf. Da klingelte das Telephon. Während der Ingenieur -horchte und sprach und horchte, verwarf Jürgen zehn verschiedene -Gesprächsanfänge. Wünschte sich fort. Vernahm, wie der Ingenieur das -Höhrrohr wieder auflegte. „Also, was wollen Sie?“ - -„Fragen, was ich mit meinem Leben anfangen soll ... Ich bin doch nun -einmal da“, antwortete er in einem Tone, als ob er gestanden hätte: Ich -habe das Verbrechen begangen, nun machen Sie mit mir, was Sie wollen. - -Bleich und rot in einem vor Ärger über seine Verlegenheit, blickte er -den Ingenieur wütend an. - -„Ja. Aber du solltest mich doch nicht wegen jeder Kleinigkeit anrufen, -Genosse“, sagte der Ingenieur, der schon wieder verlangt worden war, in -den Apparat hinein. - -‚Ich frage ihn, ob ich Philosophie oder meinethalben Astronomie -studieren soll, und geh meiner Wege. Denn zu erklären, um was es sich -eigentlich handelt – diese ganze Qual –, ist einfach unmöglich.‘ - -„Und außerdem wurde eben mitgeteilt“, meldete der Hilfsredakteur, der -im fünften Stocke des Druckereigebäudes in dem winzigen -Redaktionszimmerchen saß, ein Stück Brot in der Linken, das Höhrrohr -in der Rechten, „daß die Regierung beschlossen habe, dem -Auslieferungsverlangen der spanischen Regierung nachzukommen.“ - -„Das wäre der erste Fall dieser Art“, entgegnete ungläubig der -Ingenieur. „Der Mann hat aus ganz offensichtlich politischen Motiven den -Polizeipräsidenten erschossen.“ - -Ich kann ihn doch nicht fragen: Was soll ich tun, um die Welt zu -erlösen? dachte Jürgen. - -„Und politische Verbrecher werden bekanntlich nicht ausgeliefert.“ - -Der Hilfsredakteur legte das Brot weg, ergriff ein Papier. „Es ist eine -amtliche Depesche, in der das Attentat als gemeines Verbrechen -dargestellt wird. Übermorgen wird er von hier abtransportiert zur -Grenze.“ - -‚Aber so ersticke ich eines Tages noch in diesem zähen Sumpf, wenn nicht -etwas geschieht.‘ - -„Ich werde noch vor Mitternacht eine Notiz über den Fall in die -Redaktion schicken für die morgige Nummer.“ - -Der ist mitten drin in der Umsturzbewegung, dachte, plötzlich entflammt, -Jürgen und sah leuchtenden Blickes den Ingenieur an. „Vielleicht können -Sie mir doch raten, was ich beginnen soll“, sagte er, als ob er das, was -er nur gedacht hatte, ausgesprochen hätte. „Einen Weg zeigen! Ich tue -alles. Ich bin nicht feige!“ - -Der durch viele Publikationen im ganzen Lande bekanntgewordene -sozialistische Agitator, vor dem schon öfters idealistisch gesinnte -junge Menschen gesessen hatten, im Blick die Frage, was sie mit ihrem -Idealismus anfangen sollten, fragte mit mehr Interesse im Ton, als er -hatte: „Haben Sie schon Arbeiterversammlungen besucht?“ und lehnte seine -Taschenuhr gegen das Tintenfaß. - -„Ich nicht. Aber mein Bekannter! ... Er hatte eine Siedlung gegründet. -Jetzt ist er Mitglied der sozialistischen Partei, und da wird er wohl -...“ sagte Jürgen und errötete tief, als er sah, daß der Agitator ein -Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte. - -„Die Siedlung war vollkommen kommunistisch ... Auch diese Siedler -konnten es einfach nicht ertragen, das Leben, so wie es ist ... Alles -zusammen, das Ganze! ist ja eine einzige ungeheuerliche -Niederträchtigkeit.“ - -„Wenn Sie sich dessen nur auch späterhin bewußt bleiben! Dann ist es -ganz gleich, welchen Beruf Sie wählen. Wichtig ist dieses Bewußtsein. -Möchten Sie das nie vergessen.“ - -„Das Bewußtsein?“ - -„Der Mensch kann auch sein Bewußtsein, nämlich das, was er in der -Jugend, als noch Protestierender, schon erkannt und sogar tief empfunden -und erlitten hatte, mit den Jahren vergessen.“ - -Jürgen lauschte hinein in sein dunkles Gefühls-Ich. „Er kann, ich -verstehe Sie schon, in eine gefährliche Schicksalspause -hineinschlingern, ja? und in dieser Schicksalspause den Kampf aufgeben: -alles verraten, was er erstrebt hatte.“ - -Der Agitator steckte die Uhr ein. „Höchste Zeit! Sie kommt nicht mehr. -Wahrscheinlich ist sie von der Redaktion aus direkt ins ‚Paradies‘ -gefahren ... Ungefähr das meine ich. Schicksalspause ... Wie die das -Mädchen ausnützen! Muß die Artikel schreiben und die Zeitung dann auch -noch verkaufen.“ - -„Dann kommt das Geldzusammenscharren. Und wenn dann einer eine Zeitlang -tüchtig, das heißt: brutal genug und nur auf seinen eigenen Vorteil -bedacht war, ist er – husch, die Lerche! wie mein Schulfreund sagt – auf -Kosten unterdrückter Elendsmenschen ein geachteter Mann.“ - -„Aus solchen geachteten Männern besteht die herrschende Klasse.“ - -„Ich habe nämlich erfahren, weshalb Ihnen gekündigt wurde. Sie sind -Sozialist?“ Und ob er ihn noch ein Stück begleiten dürfe, fragte Jürgen -auf der Straße. „Sie glauben also, daß im Sozialismus alles von Grund -auf besser werden würde?“ - -Der Agitator sprang auf die anfahrende Straßenbahn. „Ich glaube, daß -jede Zeitepoche in sich ihre durch den Stand der Produktionskräfte -bedingte Aufgabe trägt, die zu erfüllen der zeitbedingte Inhalt des -Idealismus aller Kampf- und Opferbereiten ist, und daß die Aufgabe -unseres Jahrhunderts in der Abschaffung des Privateigentums an den -Produktionsmitteln besteht, in der Überführung der Produktionsmittel in -gesellschaftliches Eigentum, in der Verwirklichung des Sozialismus auf -dem Wege des Klassenkampfes ... Und was die idealistisch gesinnte -bürgerliche Jugend unseres Jahrhunderts anlangt, glaube ich, daß sie den -wahren, weil zeitbedingten, Inhalt ihres Idealismus eben auch nur in dem -Kampfe um die Verwirklichung des Sozialismus, Seite an Seite mit der -Arbeiterklasse, finden kann ... Das gilt auch für Sie persönlich. Alle -anderen Befreiungs- und Erlösungsideen sind Nebel und Wolken in -verschiedener Beleuchtung und werden von der bürgerlichen Front glatt -verdaut, ja, von ihr selbst gestartet und als Fangangeln ausgelegt.“ - -Erst in dieser Sekunde, da er das echte Interesse des Agitators fühlte, -erkannte Jürgen, daß es anfangs nicht ganz echt gewesen war. Das -erstemal in meinem Leben, dachte er, gibt ein ernstzunehmender Mensch -mir einen ernstgemeinten Rat, und ich weiß mit diesem Rate nichts -anzufangen. Verstehe ihn gar nicht. Überführung der Produktionsmittel in -gesellschaftliches Eigentum? Er hätte ebensogut sagen können: Der Inhalt -des Idealismus eines jungen Menschen unserer Zeit kann nur darin -bestehen, daß er lernt, ohne Führer den Montblanc zu besteigen oder das -Vaterunser von rückwärts zu beten. Jürgen war ernüchtert. - -„Tatsächlich aber geschieht das Gegenteil: Die idealistisch gesinnte -bürgerliche Jugend steht und kämpft gegen die Arbeiterklasse, gegen die -Verwirklichung des Sozialismus, und damit gegen den nächsten großen -Schritt zur Befreiung der Menschheit, gegen des Menschen nächsten -Schritt zu sich selbst. Diese Jugend erkennt ihre Aufgabe nicht und -gerät deshalb in die tollsten Verirrungen.“ - -So allmählich, wie die Trambahn den Prachtstraßen, dem Prunkviertel -entrückt und in die Elendszeilen der verluderten, nackten Mietskasernen -vorgerückt war, hatten die gutgekleideten Fahrgäste für -schlechtgekleidete den Wagen geräumt, der nun, überfüllt mit Arbeitern -und Fabrikmädchen, seine schmutzige Ladung weiterschleppte durch das -Viertel, wo die Not stand in ihrer ganzen Größe. Hier rollten keine -Gummiequipagen, keine Autos mehr. Der Parfümduft gepflegter Damen war -niedergeschlagen und aufgefressen worden von dem dicken Schweißgestank -der Armut. In dem Wagen, wo noch kurz vorher weiße und frische Gesichter -mondgleich geschienen hatten, hingen jetzt graue Antlitze im Dunst, -hautüberzogene Schädel mit tief in die Höhlen versunkenen Augen, die -blickten. - -Zwei Menschheiten: eine Menschheit war ausgestiegen; die andere -Menschheit war eingestiegen. - -Ein winziger, ganz weißer Schoßhund, von einer vergeßlichen Dame im -Wagen zurückgelassen, bekam irrblickende Augen und bellte die fremde, -die andere Menschheit an. - -Jürgen betrachtete zwei Männerhände, und als er das dazugehörige Gesicht -suchte, sah er, daß diese rissigen, hornhäutigen, übergroßen -Männerfäuste einem jungen Arbeitermädchen angehörten. Neben ihr wackelte -der Oberkörper eines bärtigen alten Briefträgers, in dessen zerklüftetes -Wachsgesicht das Ersteigen von millionenmal vier Stockwerken -eingezeichnet war, steif und haltlos hin und her. - -„Nun sind wir direkt und mitten in das soziale Problem hineingefahren. -Mit der Elektrischen! ... Nur dies allein (auch das gilt für Sie -persönlich), nur den Übertritt zur Arbeiterklasse, nur diesen letzten -Schritt verzeiht der Bürger uns Bürgersöhnen nicht. Denn er weiß, daß -wir erst dann gefährlich werden können ... Geist, christliche -Menschenliebe, Helfenwollen, Ändernwollen, erlaubt der Bürger noch. Da -lächelt er noch. Ja, alles das nimmt er sogar für sich selbst in -Anspruch. Denn er ist sozusagen für den Fortschritt. Aber nur ja nicht -das! Nur ja nicht tatsächlich ändern! Da wird er wild. Da demaskiert er -sich. Da läßt er verfolgen, einsperren und, unter Umständen, erschießen -und erschlagen.“ - -Die drei aneinandergekoppelten Wagen, vollgestopft mit Arbeitern, die -bis auf die Trittbretter herausquollen, überholten lose zusammenhängende -Arbeitertrupps, die sichtbar alle dem selben Ziele zustrebten. Immer -wieder hörte Jürgen den Schrei: „Zum Paradies!“ Der Schaffner kassierte. - -Der Agitator, der schweigend vor sich hingeblickt hatte, machte eine -Bewegung, als schüttle er etwas von sich ab. „Es ist nichts zu machen.“ -Und da Jürgen fragte, teilte er ihm den Inhalt der Depesche mit. - -„Und was geschieht dann mit dem Attentäter?“ - -„Er wird hingerichtet.“ - -„So ... Wird hingerichtet.“ - -Vorüber an einer geschlossen und zielhaft marschierenden Gruppe -Schutzleute. Krachend vorbei an einem Kanalloch, um das herum -Proletarierkinder Ringelreigen tanzten. - -Fabrikmädchen, die halb geschlafen hatten, erwachten im Ruck: Alle -Fahrgäste und die grau herbeiströmenden Arbeitermassen drängten hinein -in das ‚Paradies‘, das schon überfüllt war. - -Galerien und Balkone, von denen die Menschenleiber, übereinandergetürmt, -gleich Gewächsen aufstiegen, stürzten nicht hernieder. An den Tischen: -Oberkörper neben Oberkörper, überragt von denen, die, dicke -Menschenschnüre bildend, dichtgedrängt in den Zwischengängen standen. -Gebärden der Erregung durchschnitten Stimmengeschwirr und Rauch, hinter -dem die Wandmalereien verschwammen: paradiesische Wesen, die alles im -Überflusse hatten. - -Plötzlich hörte und sah Jürgen, der eine Sekunde die Augen geschlossen -hatte, gewaltige, kilometerbreite, gischtige Wassermassen aus blauer -Höhe herabklatschen: sah zehntausend klatschende Menschenhände und in -weiter Ferne, auf dem Podium, einen Mann. - -Da schwoll sein Herz, und das nie empfundene Gefühl rückhaltloser -Hingabe erfüllte ihn ganz. Sympathie für den Mann, der das Vertrauen -dieser fünftausend Hoffenden besaß. Hingabe an diese fünftausend -Vertrauenden. Stürmischen Herzens streckte er die Hand dem jungen -Zeitungsverkäufer hin, der rief: „Die Befreiung! Die Befreiung!“ - -Arbeitsschwarze Hände griffen nach den Blättern, die er über den Kopf -hochhalten mußte. Ein Zögernder fragte: „Was kostet die Befreiung?“ - -„Genossinnen! Genossen! Euer gemeinsamer Kampf, der Klassenkampf, die -Gemeinsamkeit all derer, die durch ihr Klassenschicksal die gegebenen -und unbedingten Feinde des Kapitalismus sind, dieses Gemeinsame, Euer -Klassenbewußtsein, ist der unerschöpfliche Quell Eurer Kraft: Kraftquell -für jeden und für das Vertrauen jedes einzelnen auf seine Kraft“, -erklang fernher die Stimme des Redners. - -Und Jürgen fragte: ‚Ist das so? ... Ich werde dahinter kommen, ob und -weshalb das so ist.‘ Ihm entgegen drängte noch einmal der junge -Zeitungsverkäufer, auf dem Arme den Stoß, der bis zu seinem Ohre -reichte. „Du hast nicht bezahlt.“ Und da Jürgen, verwirrt, ihm in das -Antlitz sah: „Zwanzig! ... Umsonst gibts nichts.“ - -„Zwanzig?“ Der Zögernde blickte wieder den schweißtriefenden Kellner an -und überlegte, ob er ‚Die Befreiung‘ oder ein Glas Bier kaufen solle, -als wäre beides zusammen unmöglich. - -Da erkannte Jürgen an einer Kopfbewegung des Redners den Agitator, der -von Monopolisierung, Akkumulation und Mehrwert sprach, worunter Jürgen -sich nichts vorstellen konnte. - -„Dazu noch das arbeitslose Einkommen, geschluckt von Aktienbesitzern, -die in gar keiner Weise arbeiten in dem Betriebe, von dem sie die -Dividenden beziehen. Ich lasse mein Kapital arbeiten, sagt der -Aktienbesitzer, der auf dem Kanapee liegt, die Kurse studiert, wie die -Spinne im Netz in der Börse lauert, erstklassig durch das Leben -glitscht, aber den Rasen nicht betritt, kein Holz im Walde stiehlt, -sondern für Recht und Ordnung ist.“ - -Die fünftausend saßen reglos, horchten und blickten, als hielten sie mit -ihren Händen den Erdball. - -„In den Betrieben schuften Männer und Frauen jahraus, jahrein, von früh -bis abends an den Maschinen, machen vom vierzehnten bis zum sechzigsten -Lebensjahre immer die selben Handgriffe, aus denen Zahnbürsten, -Lokomotiven, Stecknadeln, Überseedampfer, Schreibmaschinen, Schuhe, -Leintücher entstehen; in behaglichen oder eleganten, geschmackvollen -oder geschmacklosen Wohnungen sitzen Herren und Damen, deren -Lebensarbeit darin besteht, das Dasein zu genießen, ins Theater zu -fahren, über Kunst und Literatur dumm oder klug zu reden, Kulturträger -zu sein, ihr Dienstpersonal zu schikanieren und ihre Kinder falsch zu -erziehen und reich zu verheiraten, Leute, die einen Betrieb nie betreten -haben, es seien denn Modegeschäfte und Sekt-, Tanz-, Bordell- oder -sonstige Nachtbetriebe gewesen, gepflegte Zeitgenossen, die keinen Dunst -davon haben, wie Zahnbürsten fabriziert werden, oder wie ein Webstuhl -aussieht, und beziehen Dividenden von einer Bürstenfabrik oder einer -Leinenweberei, während die Kinder der Bürstenmacher nicht einmal wissen, -daß die Benutzung einer Zahnbürste zur Erhaltung der Zähne beiträgt, und -die Leinenweber für ihre armseligen, stinkenden Betten keine Leintücher -kaufen können.“ - -Auch meine Tante besitzt eine Schatulle, gefüllt mit Aktien, sie, die in -ihrem ganzen Leben nie etwas anderes gemacht hat, als diese qualvollen -Häkeldeckchen, dachte Jürgen. - -„So kommt es, daß euch, wenn ihr an einem Werktag, während der -Arbeitszeit – um elf Uhr früh, um vier Uhr nachmittags – durch die -Geschäftsstraßen einer Großstadt geht, die vor Arbeit brüllt und dampft, -Tausende und Tausende und Tausende hübsch und elegant gekleideter, -gepflegter Mädchen, Frauen und junger Männer begegnen. Das sind die -Töchter – höhere Töchter –, die Gattinnen, die Söhnchen. Sie arbeiten -nicht; aber sie essen dennoch, und nicht Kutteln mit Sauce. Kaufen ein, -geben viel Geld aus, damit die Arbeiter ihr Brot verdienen können, -versteht ihr, wohnen bequem und hygienisch, hören Konzerte, können -ausgezeichnet tanzen und zur Not Gesetzesparagraphen auswendig lernen, -die gegen Arbeiter anzuwenden den künftigen Staatsanwälten und Richtern -dann nicht schwer fällt. Sie sind die Angehörigen ihrer Aktien -besitzenden Gatten und Väter, leben von dem Mehrwert, der den -Werktätigen abgepreßt wird, und haben, im allerbesten Falle, ein -mitleidiges, staunendes Lächeln für demonstrierende Arbeiter, von deren -Schweiß und Not und Tod sie leben.“ - -Aber nicht den schwächsten Reflex des Bewußtseins, daß sie von dem -Schweiße dieser Arbeiter leben, dachte Jürgen. Das weiß ich bestimmt. -Sind weltenweit entfernt von diesem Bewußtsein. - -„Und die Kirche liefert die entsprechende Religion: Du sollst nicht. Du -sollst, sollst nicht, sollst! Kürzer: Das Eigentum ist heilig.“ - -„Im Diesseits“, sagte heiter lächelnd ein neben Jürgen stehender -Arbeiter. „Im Jenseits gibts nämlich keine Rittergüter, Bergwerke, -Webereien und Möbelfabriken.“ - -Wer da war in diesem Saale, plötzlich fühlte Jürgen sich mit jedem -einzelnen und mit allen zugleich wie durch ein unbegreifliches Wunder -verbunden. Der Haß dieser fünftausend war sein Haß, ihre Hoffnung, ihr -Ziel waren seine Hoffnung, sein Ziel. Und da geschah es, daß seine -lebenslange Unsicherheit und Hilflosigkeit der Umwelt gegenüber -urplötzlich verschwanden und das kraftspendende Gemeinschaftsempfinden -so mächtig in ihm entstand, daß er an sich halten mußte, nicht -loszubrüllen vor innerem Jubel. - -‚Da wurde ich vierundzwanzig Jahre alt und ahnte nicht, was -Selbstbewußtsein ist. Fühlte es nicht! Fühlte es nicht, wegen meiner -unfruchtbaren Einsamkeit, angesichts dieses verruchten Geschehens, dem -gegenüber der einzelne sich nimmermehr zurechtfinden kann oder, findet -er sich zurecht, verloren ist. So oder so! Denn das Zurechtfinden -innerhalb dieses Ganzen bedeutet, wie immer es geschieht, menschlich den -Untergang ... Jetzt geht der Kampf an. Kampf bis zum Tode!‘ - -„Der Klassenkampf! Neueste Nummer! Der Klassenkampf! Die Befreiung! -Neueste Nummer: Der Klassenkampf!“ - -Das Herz schlug nicht mehr. In den Fingerspitzen fühlte er den letzten -Schlag, anstürmend, als wolle das Blut herausspringen. So starrte er das -verschwitzte, kompakte Antlitz an, den gebogenen Nacken, den kleinen, -festen Mund, der rief: „Die Befreiung! Der Klassenkampf!“ - -Da war Katharina schon wieder verschwunden im überfüllten Zwischengang. -Er sah nur noch den über ihrem Kopfe schwebenden ‚Klassenkampf‘. Und -noch in diesem selben Augenblick zog ein endlos langer Zug -arbeitsunfähig gewordener alter Männer und Frauen grau und düster durch -Jürgens Sehnsucht, gleichberechtigt neben Katharina zu stehen. - -Sekunden später war das Arbeiterversorgungsheim gegründet. Alles -funktionierte tadellos. Alle Zeitungen schrieben darüber. Jürgen -empfängt eine Deputation des Berliner Magistrats. Die Herren tragen die -Zylinder in der Hand. Vier Herren. Der schmalste, feinste hat einen -Scheitel, von der Stirn bis zum Nacken, und führt das Wort. - -Gewiß, Jürgen sei bereit, auch in Berlin so ein Versorgungsheim zu -organisieren. Warum nicht! Natürlich müsse er erst die besonderen -Verhältnisse an Ort und Stelle studieren. ‚Die Konstellation -gewissermaßen, Sie verstehen! Außerdem haben andere Stadtverwaltungen -sich schon früher bei mir gemeldet, müssen Sie wissen. Und wer zuerst -kommt – nicht wahr ...‘ - -Vier Verbeugungen, die vor Befangenheit und Freude darüber, daß Jürgen -den Herren die Ehre zuteil werden läßt, einen Witz zu machen, schief -ausfallen. Sogar die Münder lächeln schief. Und der schmale, feine -Wortführer sagt: ‚Natürlich, hahaha! gewiß, der mahlt zuerst!‘ - -‚Und jetzt, meine Herren ...‘ Die vier ziehen sich sofort zurück. Auch -die Tante, die respektvoll dabeigestanden war, verläßt leise das Zimmer, -den mit Arbeit Überlasteten nicht länger zu stören. Katharina, am -Schreibtisch lehnend, sieht Jürgen bewundernd an. - -Tausendfaches Händeklatschen. Alle schoben sich der Ausgangstür zu. -Jürgen erreichte, halb getragen, die Straße, schwitzend und begeistert. -Stand vor der Wirklichkeit, die vier Schutzleute vor das ‚Paradies‘ -gestellt hatte, stumm und blickend. Die Proletarierkinder tanzten noch -immer Ringelreigen, herum um das dampfende Kanalloch. - -Senkrecht sauste Jürgen aus seiner Kirchturmhöhe herab auf das reale -Pflaster, empfangen von Ekel und Selbsthaß, weil er wieder geträumt und -sich wieder hatte achten und bewundern lassen. Mit einem innerlichen, -einem wilden Sprunge langte er wieder an bei sich selbst. ‚Ich werde dir -das abgewöhnen. Werde dir das abgewöhnen!‘ - -Die Masse spülte ihn weiter. Jürgen entfaltete den ‚Klassenkampf‘. - -Arbeiter, die den Lesenden überholten, wandten sich um nach ihm. Einige -legten, wenn er aufsah, den Finger an die Mütze. - -Offenbar ein zäher, langwieriger, trockener Kampf; aber das Ziel, das -Ziel – es ist unerhört ... Ob ich herausfinden werde, was schlecht ist -an ihrem Artikel? dachte Jürgen und las Katharinas Artikel noch einmal -von Anfang an. - -Plötzlich vernahm er, stehend im Straßenlärm, deutlich das Summen einer -großen Fliege, blickte erstaunt auf und bemerkte, daß er vor dem -‚Platzwirt‘ stand, einer Zuhälter- und Verbrecherkneipe, vor der er, -sooft er vorbeigegangen war, immer tiefes Grauen empfunden, und die zu -betreten er nie gewagt hatte. - -Als er die Tür öffnete, hatte er zuerst die Empfindung, in einen -riesigen Fabriksaal geraten zu sein, so ungeheuer war der Lärm. Auch die -Töne des alten Klaviers konnten nur vereinzelt durchdringen. - -An den vor Alter bucklig gewordenen Wänden hing gar nichts. Vom -Schanktisch bei der Tür liefen fünf lange Reihen zwischenraumlos -nebeneinander stehender Tische nach rückwärts und verschwanden im Qualm. -Kein einziger Stuhl. Zehn Bankreihen: dicht besetzt von Straßenmädchen, -Zuhältern, verunglückten oder zu alt gewordenen Artisten und Arbeitern, -obdachlosen früheren Angehörigen der bürgerlichen Klasse verschiedenster -Berufe, durch den Konkurrenzkampf heraus- und, ohne Station zu machen -bei der Arbeiterklasse, gleich hinuntergeschleudert ins -Lumpenproletariat, und zum größten Teile Existenzen, die infolge langer -Arbeitslosigkeit rettungslos in Verbrechen versunken und ertrunken -waren. - -Ohne Gesprächsunterbrechung wurde für Jürgen mit selbstverständlicher -Bereitwilligkeit Platz gemacht, noch enger zusammengerückt. Nur ein -kurzer Blick, prüfend, ob Jürgen ein Spitzel sei. - -Schon stand das Bier vor ihm. Und die Hand des Kellners verlangte das -Geld. - -Niemand wunderte sich über den sorgfältig gekleideten Gast; es kam -öfters vor, daß elegante Bummler, Frackherren, oft sogar mit ihren -Damen, nach Ball- oder Barschluß als letzte Sensation diese Kneipe -besuchten. - -Aus den erregten, gespannten und gierigen Gesichtern, aus den -Gesprächsfetzen und wilden Gesten, aus dem ganzen Gebaren stach vor -allem anderen deutlich das eine hervor: Alles ist erlaubt, nur darf man -sich nicht fassen lassen. Hier saßen ausschließlich Existenzen, die das -Grundgesetz der bürgerlichen Ordnung, ‚Das Eigentum ist heilig‘, -verletzt hatten, für immer außerhalb jeder Ordnung des Geschehens -standen und, die drohende Katastrophe unausgesetzt vor Augen, gierig und -eisern bestrebt waren, das Letztmögliche noch aus dem Leben -herauszufetzen, bevor sie von der Faust der Krankheit oder des Gesetzes -gepackt werden würden. Jeder war über jeden orientiert. Mancher konnte -manchen ins Zuchthaus bringen. Keiner tat es. - -Neben manchem stand das Schafott. Es handelte sich nur darum, das -Schafott nicht besteigen zu müssen. Polizeispitzel, auch in der -echtesten Verkleidung von den Gästen erkannt, konnten es nicht wagen, -sich hier sehen zu lassen, es sei denn in großer Anzahl bei einer -Razzia. Entsicherte Revolver. Hände hoch. So wurden von Zeit zu Zeit die -Lokalbesucher ausgekämmt. Der ‚Platzwirt‘ war Lieferant des -Scharfrichters und der Zuchthäuser. In die Privatangelegenheiten seiner -Gäste mischte er sich nicht hinein. Die Grenze des Erlaubten war in -seinem Lokal sehr weit gezogen und durfte nicht um einen Millimeter -überschritten werden. Er hielt auf Ordnung im stürmischen Aufruhr. -Jürgen war betäubt. - -Der ‚Hinausschmeißer‘, ein scheinbar ganz unbeschäftigt neben dem -Schanktisch emporragender athletischer Brustkasten, machte zwei Schritte -auf einen eben eingetretenen alten Mann zu, packte ihn von hinten und -wortlos beim Rockkragen und zwischen den Beinen und trug ihn schweigend -vor sich her, bis zur Tür, stieß ihn hinaus. Und stand sofort wieder -reglos am Schanktisch, den Tumult im Blick: Dem Hinausgeworfenen war das -Lokal verboten. Er hatte einmal die Wurst nicht bezahlt und damit die -Grenze des Erlaubten überschritten. Der Hinauswurf war von vielen -gesehen, von keinem beachtet worden. Das Tosen hatte nicht ausgesetzt. - -Jürgen gegenüber saß neben einem Mann ein junges Straßenmädchen, den -grünen Hühnerflügelhut schief auf dem Kopfe. Beide hatten sich noch -nicht gerührt. Beide stützten beide Ellbogen auf die bierverschmierte -Tischplatte, an der die Eßbestecke angekettet waren. An dem -gleichartigen, bösen Schweigen erkannte Jürgen, daß die beiden -zusammengehörten. - -Rechts neben dem Schweigenden hockte männlich breit eine Frau, deren -ganzes Gesicht – auch die Stirn – schwarzblau war wie eine -Gewitterwolke, und erzählte, ohne sich an jemand besonderen zu wenden, -unaufhörlich, daß sie arbeitslos sei, und weshalb sie arbeitslos -geworden sei. Ein arbeitsloser, schwindsüchtig aussehender junger Mensch -verzog die Lippen, kaum bemerkbar, als habe er schon keine Lust und -keine Kraft mehr, noch verächtlich zu lächeln, richtete langsam den -Oberkörper auf, sah Jürgen an, der sich erst jetzt dieses fahlen -Gesichtes und des haßerfüllten Blickes, dem er kurz vorher in der -Arbeiterversammlung mehrere Male ausgesetzt gewesen war, wieder entsann. - -Ein erst vor wenigen Tagen nach langjährigem Aufenthalte in Amerika -zurückgekehrter, heruntergekommener Aristokrat sagte über die -blauschwarze Frau weg ohne jeden Übergang zu Jürgen: „Da gehe ich -gestern die große Allee hinunter. Was wollen Sie, ich gehe einfach -spazieren. Auf einmal sehe ich eine elegante Equipage stehen. Davor zwei -Pferde. Pferde! Ich verstehe mich darauf. Für Pferde interessiere ich -mich. Auch jetzt noch ... Und wer, denken Sie, sitzt drin? ... Meine -Mutter. Mächtig elegant! Ich habe sie erst gar nicht erkannt. Nun, ich -trete zu ihr an den Wagen. Das ist doch klar. Ist das nicht menschlich? - -‚Woher kommst du?‘ fragt sie mich. Gerade, als ob ich eben vom Waldhaus -vor der Stadt gekommen sein könnte. - -‚Aus Amerika! Am Montag!‘ - -‚Hast du denn Geld. Von mir kriegst du keines.‘ - -‚Ich hab doch kein Geld.‘ - -‚So‘, sagt sie und gibt dem Lakai das Zeichen. Fort ist sie ... Das ist -doch gemein. Ist das nicht gemein? ... Fünf Jahre!“ Er wandte sich -sofort zu einer anderen Gruppe. - -Der Schweigende richtete sich auf, holte wortlos und weit aus und -knallte dem Straßenmädchen neben sich die Faust auf den. Mund. Dann -stützte er beide Ellbogen wieder auf den Tisch. - -Auch das Mädchen, das beinahe rückwärts von der Bank gestürzt wäre, -stützte wieder die Ellbogen auf den Tisch. Beide saßen genau wie vorher. -Schwiegen genau wie vorher. Kein Wort war gefallen. Der Streit lag -weiter zurück. Ihre Oberlippe war sekündlich zu einer schiefen -Geschwulst geworden, daß die Zähne hervorsahen. - -„Da gehe ich gestern die große Allee hinunter ... Elegante Equipage -stehen ...“ - -„Equipage stehen“, hörte Jürgen den Aristokraten am Nebentisch erzählen. -Krachendes Antwortgelächter übertönte für einen Moment den Tumult. - -Der Aristokrat lachte mit. „... Gerade, als ob ich eben vom Waldhaus -zurückgekehrt wäre ... Aber ist das nicht gemein?“ - -„Schlag sie tot! Hau sie nieder!“ - -Noch leichenblaß, sah Jürgen die zwei Schweigenden an. Die Frau mit dem -blauschwarzen Gesicht rief: „Seit zwanzig Jahren trag ich Backstein. Und -jetzt bin ich arbeitslos. Und weshalb? Was meinst du wohl, weshalb?“ Der -Schwindsüchtige verzog die Lippen. Sie bekam keine Antwort. Viele waren -arbeitslos und wußten, weshalb. „Jetzt passen Sie auf, jetzt kommt unser -Fotz-Hobel-Quartett“, rief sie Jürgen zu. - -Und der sah die vier Männer an, die ihre Mundharmonikas auf die -Handfläche stauchten. Der eine Spieler, ein stark schielender, kleiner, -ungewöhnlich breitschulteriger Mann mit kantiger Stirn, machte mit der -linken Faust anfeuernde Bewegungen. Das Getöse im Lokal verminderte sich -nicht. Der Schielende hetzte sich und die drei andern Spieler in das -immer wilder werdende Tempo hinein. Die vier Oberkörper, die -eingezogenen Köpfe spielten hingerissen mit. Die Gesichter flammten. - -Drei zwischen Krücken baumelnde Krüppelkörper zogen langsam vorüber an -Jürgen und am Quartett. Das Tempo stieg unter des Schielenden Führung -rasend an. Sie fanden nicht mehr Zeit, die Oberkörper mitzuschaukeln; -nur die Gesichter zuckten noch knapp im Rhythmus. Der Schielende -stampfte hetzend mit dem Absatz den Takt. Der Vortrag endete wie -abgehauen. Der Orkan stand wie vorher im Lokal. - -Jürgen hörte einen dumpfen Ton: Wieder hatte die Faust des Schweigenden -den hochaufgeschwollenen Mund des Mädchens getroffen. Dann saßen beide -wieder reglos, die Ellbogen aufgestützt. - -Die Frau mit dem schwarzblauen Gesicht spuckte, über den Tisch weg, -scharf an Jürgens Wange vorbei. Eine dünne, weiße Wursthaut flog nach -und platschte glatt auf den schwarzen Fußboden neben den Schleim. - -Der Schweigende schob, als ob nichts geschehen wäre, seiner Freundin die -abgezogene Wurst hin. Das Mädchen rührte sich nicht. Die geplatzte -Oberlippe glich einem daumendicken, blauen Wurm. - -Jürgen war vor dem an seinem Munde vorbeifliegenden Schleim -zurückgezuckt und starrte, plötzlich grau am ganzen Körper, den an -Jahren noch jungen Mann an, der sich bückte, die mit schwarzem Sande -verschmierte Wursthaut vom Fußboden wieder abzog und in den Mund -steckte. Mit der ganzen Handfläche schob er nach, kaute zahnlos und -ging, auf dem Boden nach Abfällen suchend, langsam weiter. Die Menschen -sah er nicht an. Nur den Fußboden. Apathisch, wie ein wandelnder Toter. -Und als ihm vom Schweigenden die verschmähte Wurst zugeworfen wurde, -versuchte er gar nicht, sie aufzufangen; er ließ sie gegen seine Brust -prallen und erst zu Boden fallen. Strümpfe, Weste, Rock, Hemd hatte er -nicht an. Nur Hosen und darüber einen Mantel. Seine Augen waren -verschleimt und tot. Die Unterlippe, nach außen gedreht, hing -unbeweglich, schief und drei Finger breit herab. - -Mit Entsetzen sondergleichen fühlte Jürgen: Dieses kranke Stück Fleisch -will nur noch Essen zugeführt bekommen, während der Wilde und sogar -jeder Hund, auch der elendeste, mit seinem Blicke Zuneigung verlangen -und geben kann. Das ist Kultur, dachte er. Kultur. - -Stunden vergingen, und immer mehr neue Gäste kamen, Hände in den -Hosentaschen, Schultern fröstelnd hochgezogen: Obdachlose. Der -Hinausschmeißer musterte prüfend jedes fahle Gesicht, schob im Laufe der -Nacht zwei Burschen und ein junges Mädchen, das die Arme hoffnungslos -hängen ließ, wieder hinaus. - -Der Schweigende rüttelte die Geschlagene am Arm, forderte sie so auf, -jetzt wieder gut zu sein. - -Was mag sie alles gedacht haben in dieser langen Nacht? dachte Jürgen. -Was ihr geschehen ist, als sie noch ein Kindchen war? Oder was ihr noch -bevorsteht in diesem Leben? ... Und der Attentäter, er wird -hingerichtet. - -Mit einer Schulterbewegung schüttelte die noch immer aufgestützt -Sitzende die Hand ab, lächelte aber dabei schief und entgegenkommend. - -„Dann eben du die Hälfte und ich die Hälfte“, gab er halb nach. „Her mit -dem Geld!“ - -Aufrührerischer, mitreißender Gesang, vom Quartett begleitet, erfüllte -unvermittelt und donnernd das Lokal. Alle brüllten mit. Die nach außen -gedrehte Unterlippe hing unbeweglich auf das Kinn herab. Er suchte, -bückte sich. - -„Das war doch nur menschlich! Ist das nicht gemein?“ fragte der -Aristokrat den Hinausschmeißer, der, das Lokal im Blick, am Bierfaß -lehnte und keine Antwort gab. - -Ich also werde mich nicht dabei beruhigen, daß ich fähig bin, die -Schönheit eines Goetheschen Wortes zu empfinden, dachte Jürgen, als er -gegen Osten schritt, wo schon die zarte Morgenröte stieg. - -Auf eine Gruppe Nachtarbeiter zu, die das Trambahngleis ausbesserten und -eben die Azetylenlampen verlöschten, da das graue Tageslicht schon -erstarkte. Ein Mann im Mantel beaufsichtigte die Arbeiter, die mit -wuchtigen Rundschlägen Eisenkeile in den Asphalt trieben. - -Zwei Herren, die wie Oberförster aussahen und aus einer -Abendgesellschaft zu kommen schienen, blieben stehen. „Wie brav sie -wieder arbeiten!“ Und gingen weiter. Wenige Tage vorher war ein Streik -mit einer Niederlage der Arbeiterschaft beendet worden. - -Auch Jürgen ging vorüber. „In Wirklichkeit sind es ja nur die Hetzer, -während die Arbeiter selbst“, hörte Jürgen, „im großen ganzen ...“ - -Ging aus der Stadt hinaus, am Flußufer hin. Auf der Quaimauer saß ein -junger Mensch. Diesmal erkannte Jürgen sofort das leichenfahle Gesicht -des Schwindsüchtigen, der den Abend vorher in der Arbeiterversammlung -und später beim ‚Platzwirt‘ gewesen war: Ein Gesicht, in dem der Haß -sich schon in Verzweiflung und die Verzweiflung sich schon in -Gleichgültigkeit abgewandelt hatte. - -Der Schwindsüchtige pfiff leise, ließ die Beine über dem fließenden -Wasser baumeln. „Guten Morgen“, sagte Jürgen und setzte sich neben ihn, -die Beine ebenfalls wasserwärts gestreckt. Von der anderen Seite näherte -sich ein einarmiger Invalide, saß auch nieder und begann Geld zu zählen. - -Der Schwindsüchtige pfiff, zwinkerte, den Kopf schief gestellt, die -glühende Morgendämmerung an, zum Bettler hin und spuckte in großem Bogen -aus, pfiff weiter, gleichgültig. - -Auch Jürgen tat gleichgültig: „Schönes Wasser. Sind Sie immer hier?“ - -„Oder wo anders!“ Er lächelte höhnisch. Dann ließ er sich doch herbei: -„Arbeitslos! Seit ... Ah, die Saubande! Ich scheiß auf alles.“ Blickte -wieder gewöhnlich drein. Dann biß er in einen unreifen Apfel. Die Säure -zog ihm das Gesicht zusammen. - -Vorsichtig fragte Jürgen: „Wollen Sie etwas zum Essen holen? Wurst?“ - -Der einarmige Bettler war noch immer mit Zählen beschäftigt. Er -kicherte, nachdem der Schwindsüchtige mit Jürgens Geldschein -fortgegangen war. „Den haben Sie gesehen. Der kommt nimmer. Iiiii! die -Gauner kenne ich ... Und der dort, der jetzt da kommt, den schauen Sie -sich an, das ist Herr Knipp. Der hat ausgerechnet, daß er von seinem -Steinbruch, wenn er immer nur soviel brechen läßt, wie er fürs tägliche -Leben braucht, bis zu seinem achtzigsten Jahr leben kann, ohne selbst -was tun zu müssen. Deshalb läßt er seit Jahr und Tag nur zwei Leute im -Steinbruch arbeiten. Er selber angelt seit Jahr und Tag. Der will nur -angeln. Nichts als angeln! Und pfeifen kann der, sag ich Ihnen! Er hat -nämlich ein Klavier. Darauf spielt er, ganz ohne Noten, und pfeift dazu. -Schon in aller Früh! Sie können sich nicht vorstellen, wie der pfeifen -kann. Das klingt wie Geigen und Flöten. Die Arbeiter, wenn sie früh in -die Fabrik gehen, bleiben stehen und horchen ... Und dann angelt er. Den -ganzen Tag. Sogar manchmal nachts.“ - -Herr Knipp hatte umständlich geschnupft, schäkerte freundlich und ganz -für sich allein mit dem Wurme, der sich am Angelhaken bäumte: „Warte -doch, warte doch ... Er kanns nicht erwarten.“ Dann beobachtete er, -zufrieden mit der Welt, den schaukelnden Schwimmer. Herr Knipp war erst -einundvierzig Jahre alt. - -„Der kommt nimmer ... Ihr Geld ist futsch.“ - -Gleich darauf erschien der Arbeitslose, aus einer anderen als der -erwarteten Richtung kommend, in der Ferne. - -„Jetzt sagt er, er hätts Geld verloren.“ - -„Um zwanzig Brot. Die Wurst kost vierzig.“ Er packte das armlange Stück -aus, zählte das übriggebliebene Geld auf Jürgens Handfläche. -„Pferdewurst! Die ist billiger. Und besser ist sie auch.“ - -Der Krüppel blickte von der Wurst weg schief wasserwärts, in der -Erwartung, daß seine Verdächtigung dem Arbeitslosen mitgeteilt werden -würde, und bekam, als Jürgen, anstatt zu denunzieren, ihn zum Mitessen -aufforderte, in seine bösen, einsamen Augen einen Blick wie ein -Findelkind, dem unvermittelt gesagt wird, seine Mutter sei gefunden und -stehe vor der Tür. Seit Jahren nicht mehr aufgestiegene Schamröte -veränderte das verwüstete Gesicht. Er klemmte das Taschenmesser zwischen -die Knie, zog die Klinke hoch und schnitt sich ein Stück Wurst ab. - -Der schwindsüchtige Arbeitslose kaute langsam, den Blick über den Fluß -weg ins weite, dämmerige Hügelland gerichtet. Herr Knipp, dem noch viele -tausend Tage zur Verfügung standen, atmete zeitlos. - -Die Straßen waren noch menschenleer. Vor dem Gefängnis stand eine -Droschke. Stand schwarz in der Dämmerung vor dem düsteren Gebäude. -Kutscher und Pferd regten sich nicht. - -‚Sicher! Ganz sicher! Sie transportieren ihn heute schon ... Vielleicht -um etwaige Befreiungsversuche unmöglich zu machen?‘ - -Erst nach einer langen halben Stunde schritten zwei dunkelgekleidete -Kriminalbeamte, zwischen sich einen bartlosen jungen Mann in hellbraunem -Anzuge, durch das Tor zur Droschke. Der eine ging um die Droschke herum. -Sie stiegen durch beide Türen gleichzeitig ein, als der Gefangene schon -saß. - -Die einzigen Geräusche, die Jürgen vernahm in der schlafenden Stadt, -waren das Klappern der Räder und das Klopfen seines Herzens. ‚Die -Regierung beschließt: Auslieferung. Die Regierungsmitglieder schlafen -jetzt. Aber in dieser Droschke fahren zwei beamtete Henker und dieser -Mensch zum Bahnhof.‘ - -Vorüber am Hauptportale, Gleis entlang, Richtung Rangierbahnhof, bis zu -einem einzelnen Personenwagen, der auf dem dritten Gleis stand. Hinter -dem Rangierbahnhof ertönten Pufferknall und die langgezogenen Rufe der -Eisenbahnarbeiter, die den Zug erst zusammenstellten. - -Jürgen beobachtete, wie die drei einstiegen, wie der eine Beamte wieder -ausstieg, zwischen dem Gleis auf das Bahnhofsgebäude zuschritt, hinein -in das Restaurant. - -Alles wie im Traume: Hinweg über die Gleise. In den Wagen. Stück durch -den Laufgang. Schiebetür zurück, auf der ‚Dienstabteil‘ stand. Sprung -auf die Bank. Und von oben herab auf den breiten Rücken des Beamten, -der, stehend, durch das geschlossene Fenster geblickt hatte. - -„Los! Renn! Renn! ... Los!“ - -Der schmalgesichtige Attentäter blieb so reglos in der Ecke sitzen, als -ginge ihn diese Sache gar nichts an, schüttelte verneinend den Kopf. - -Der Mund des Beamten zischte vor Kraftanstrengung. Er bekam einen Arm -frei. Griff in die Tasche nach dem Revolver. - -Mit dem angesammelten Zorn seines ganzen Lebens schleuderte Jürgen den -Beamten von sich, daß dessen Kopf und Oberkörper durch die zerkrachende -Fensterscheibe schossen, stürzte aus dem Wagen, über die Gleise, durch -die Bahnhofsanlage, Häuser entlang. Vernahm einen Trillerpfiff, schon -fernher. - -Ruhigen Schrittes ging er in einen offenen Lagerplatz, in dem mehrere -Möbelwagen und viele andere Fuhrwerke standen, und setzte sich auf einen -Handwagen. Eine Schar Hühner eilte sofort auf ihn zu. - -‚Die Rechnung ist einfach: Der eine war im Bahnhofsrestaurant; der -andere konnte mir nicht nach, weil er den Gefangenen nicht verlassen -durfte. Außerdem war ich, bis er seinen Kopf befreit hatte, schon weg.‘ -Dabei zerbrach Jürgen das Brotstückchen, das er in seiner Tasche -gefunden hatte, und streute die Krümel unter die übereinandersteigenden -und -fliegenden Hühner. - -‚Und jetzt? ... Jetzt wird er hingerichtet.‘ - -Erst als Jürgen, heimwärtsschreitend, schon mehrere Querstraßen hinter -sich hatte, rannte der Beamte, der in der Restauration gewesen war, über -den Bahnhofsplatz, in der Hand den Browning. - -Zierlich gekleidete Zofen eilten im gepflegten Villenviertel an Jürgen -vorbei. Gebadete Damen in hübschen Morgenkleidern nahmen das Frühstück -und sonnten sich im Liegestuhl auf den Balkonen. Die Gärten dufteten. - -Ich scheiß auf all das. Das Ganze ist gemein, dachte Jürgen und klinkte -die Tür auf. Die Tante, erzürnt, weil er die Nacht außer Haus zugebracht -hatte, ging grußlos an ihm vorüber. ‚Auf alles!‘ dachte er und schlief -sofort ein. - -„Und ich erkläre Ihnen, das ist ausgeschlossen.“ - -Aber der feine, schmale Frackherr, mit dem Scheitel von der Stirn bis -zum Nacken, ein Herrchen, nur so groß wie ein Tintenfaß, ein winziges -Frackherrchen, verbeugt sich, lächelt höflich und sicher und sagt: „Ich -bin die Achtung. Bin das Ganze. Und ich erkläre Ihnen: Ich sitze in -Ihrem Hinterkopfe.“ - -„Sie stehen ja vor mir.“ - -„Und sitze gleichzeitig verborgen in Ihnen. Bin Ich und bin die Achtung. -Bin das Ganze und bin Sie, weil ich in Ihrem Hinterkopfe sitze.“ - -Da erwachte er. Es war ein Uhr nachmittags. Die Tante stand vor seinem -Bett. Ohne Einleitung und als lese sie wieder den letzten Willen des -Vaters aus ihrem Haushaltungsbuch vor: „Auf das Haus, in dem du geboren -wurdest, und auch auf die drei Miethäuser habe ich deinem Vater schon -vor zwanzig Jahren die Hypotheken geliehen. Die Häuser gehörten schon zu -Lebzeiten deines Vaters ganz und gar mir. Er hat dir nichts -hinterlassen. Du solltest dich also nicht länger, als unbedingt nötig -ist, von mir ernähren lassen. Das ist eine Schande. Steh auf und geh in -dein Kolleg.“ - -Er stützte sich auf, sah die Tante an, schwieg noch zwei Sekunden: „Ich -verzichte auf dein Geld. Ich lebe und bin da. Das Weitere wird sich -finden. Und jetzt geh, bitte ... Also geh schon!“ - -Es waren nicht die Worte selbst, nicht Sinn und Inhalt der Worte, es war -das an Jürgen bisher nie bemerkte einfache, ruhige Kraftbewußtsein, das -hinter den Worten stand und die Macht der Tante über ihren Neffen -verdunsten ließ. - -Er kleidete sich sofort an. Ging aus der Stadt hinaus, auf der -Landstraße hin. Rückblickend auf sein Leben, ziellos weiter durch den -heißen, weißen Staub, mit sich tragend das lastende Gefühl, daß dies die -Stunde sei, die seines Daseins folgenschwerste Entscheidung in sich -berge: die Möglichkeit, daß heute sein Leben in zwei Teile gespalten -werde. - -Die alte Sehnsucht nach der Landstraße, die er seit Jahren in sich trug, -die Sehnsucht nach den Hafenstädten und fernen Erdteilen, der Wunsch, -allen Qualen, allen Pflichten zu entlaufen, schritt hinter ihm her, -schob ihn immer weiter auf der Landstraße hin. - -Der Wiesenabhang links von Jürgen war von der Sonne braun gebrannt. Die -Luft zitterte vor Hitze. Kein Bauer auf dem Felde. Kein Vogel pfiff. Die -Mittagssonnenstrahlen sengten senkrecht herab auf die menschenleere -Landschaft. - -„Und die weiße Straße geht in der Sonne vor Einsamkeit sich selbst -entlang“, flüsterte Jürgen. Und glaubte, in dieser Sekunde den tiefsten -Sinn des Menschendaseins erkannt zu haben und zu fühlen. Tat einen -langen Blick noch auf die weiße Landstraße, weit hinaus. - -Und wandte sich, schritt schnellen Schrittes zurück und in die -Arbeiterversammlung, deren Ankündigung er im ‚Klassenkampf‘ gelesen -hatte. - - - - - IV - - -Jürgen kassierte den Zins ein bei den Parteien der drei Mietskasernen, -zu deren Verwalter die Tante ihn unversehens gemacht hatte, füllte neue -Mietsverträge aus, beaufsichtigte das Tapezieren einer Wohnung, ging -zwischendurch ins Kolleg. An den Abenden in Arbeiterversammlungen. - -Eine neue Partei verlangte, daß die Küche frisch geweißt werde. Nach der -Tante Meinung war die Küche noch weiß genug. Jürgen mußte vermitteln. Er -sah, wie nie vorher in seinem Leben, von Angesicht zu Angesicht die Not. -Wurde gegen seinen Willen Zeuge von Haßausbrüchen zwischen -Proletarierehepaaren, sah machtlos zu, wie abgearbeitete, machtlose -Väter ihren Zorn an den machtlosen Kindern ausließen; wie -Gerichtsvollzieher letzte Stücke pfändeten; mußte Mietzins verlangen von -Arbeiterfrauen, in deren Augen unvertreibbar Gram und Sorge hockten, und -Mietzins für ein Zimmer – nicht vier Meter im Quadrat –, in dem Mann und -Frau, zwei erwachsene Söhne und zwei erwachsene Töchter in drei -stinkenden Betten die Nächte, ihr Leben verbrachten. - -Der Tapezierer war fertig. Jürgen blickte die Wand an. Die knallroten -Rosen der neuen Tapete wurden lebendig, kreisten wie ein Feuerwerksrad. -‚Tragisch – so eine Rosenwohnung! Viele tausend Rosen, und wenn dann die -Leute darin leben ... stinkts!‘ - -Vor dem Hause, herum um das Kanalgitter, drehten sich drei fahle -Proletarierkinder im Ringelreigen. In der Mitte kniete eine Vierjährige -und machte das zum Spiel gehörige Märchengesicht. - -‚Für diese Kinder scheint das Kanalloch der Mittelpunkt zu sein, wie das -reich ausgestattete Spielzimmer der Mittelpunkt für die andern Kinder -ist. Daß die Faust der Armut auch die Kinder würgt, das hat mich schon -als Gymnasiast empört ... Und die Kinder, neben denen die Gouvernante -geht? ‚Mademoiselle Katharina, Sie dürfen nicht mit den Armen -schlenkern. Mademoiselle Katharina, Sie dürfen sich nicht umsehen. Beim -Atmen müssen Sie die Lippen geschlossen halten, Mademoiselle Katharina.‘ - -Es war die Stunde, da die proletarische Jugend, weil sie eigentlich -schon zuhause hätte sein müssen, in der heißesten Spiellust -zusammengetan ist. Geschrei durch Straßen. Erhitzte Gesichter. Gespannte -Knabenkörper, in Fluchtstellung atemlos den Verfolger erwartend. - -‚Die dürfen mit den Armen schlenkern. Umsehen dürfen die sich auch. Und -den Mund können sie aufreißen, so weit sie wollen.‘ - -Abendglocken läuteten, verklangen. Arbeiter marschierten heimwärts. Der -warme Sommerhimmel dämmerte der Nacht entgegen. Laternen funkten auf. -Der Tag war schön gewesen. - -‚Es ist doch schön – man begreifts nur meistens nicht.‘ - -Viele Geschäfte waren noch beleuchtet. Aus anderen strömten schon die -bleichen Ladnerinnen, sahen in den Himmel und streiften dabei die -Handschuhe über. Ein Invalide, der seinen verkrüppelten Fuß, der wie -eine verkümmerte Hand aussah, nackt auf dem Gehweg liegen hatte, hob die -Mütze zu Jürgen empor. „Du wirst nicht wollen, daß ich leide“, sang ein -hemdärmeliger Tenor im vierten Stock tragischen Tones vergnügt zum -Fenster hinaus. - -An dem Theater rollten Autos vor und ab. Toiletten stiegen aus. Ein -zahnloser Menschenmund rief: „...tung mit den neuesten Kursberichten!“ -Der aus den Zugangsstraßen immer neu genährte Zug derer, die aus den -Werkstätten, aus den Fabriken kamen, marschierte vorüber. Alle schritten -im gleichen Tempo, nahmen Jürgen mit. - -Über eine eiserne Kanalbrücke, neben der ein Schiffer auf dem Deck im -Kochtopf rührte. Vorüber an einem Bureau, in dem zwei beleuchtete, -einander belauernde Tuchgrossistengesichter noch einen Abschluß -ausfochten. Aus offenen Kneipentüren schlug schlechter Fettgeruch -heraus. - -Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser kleiner. Unbebaute -Stellen, lange, verfaulende Bretterzäune (eine Ratte verschwand), Ziegen -auf dem Heimtrieb, ein Schuppen, Gestank. Das kleine Fenster hing nah -der Erde rotleuchtend in der Finsternis. Die Haustür war nur angelehnt. - -„... Denn überall haben in Wirklichkeit die Monopolisten die ganze -Macht: eine Macht, so unbeschränkt, daß auch die Schule, Kanzel, Presse, -öffentliche Meinung, Polizei, Militär, Justiz, der ganze Staat ihr Staat -ist und die Regierungen in allen Vaterländern nur die Schatten der -Monopolinhaber sind, Schatten, die, wie der Schatten eines beweglichen -Gegenstandes, jede Bewegung dieser Allmächtigen mitmachen müssen. Schon -stehen die Monopolinhaber aller Vaterländer wieder vor dem Knopf, und -die Schatten blicken unverwandt auf die Monopolinhaber, bereit und -gezwungen, den Krieg – Krieg um Rohstoffquellen, Eisenbahnkonzessionen, -Absatzmärkte, um den Weltprofit – zu erklären in dem Moment, da jene auf -den Knopf drücken“, schloß der Agitator, der unter dem dösenden Gaslicht -auf einem Küchenhocker saß, seinen Vortrag. - -Katharinas Zimmer war sehr niedrig. Der Agitator erhob sich, vorsichtig, -um mit dem Kopfe nicht anzustoßen an den Gasarm. „Nicht nur für einzelne -Menschen, Genosse Jürgen, auch für das Proletariat gibt es, da die -ökonomischen Voraussetzungen zur Ablösung der kapitalistischen -Konkurrenz-Profitwirtschaft durch die proletarische Bedarfswirtschaft -längst gegeben sind, immer wieder das, was du Schicksalspause nennst – -weltpolitische Situationen nämlich, in denen das Proletariat sich -entscheiden kann für die soziale Revolution oder für einen -imperialistischen Krieg, in dem Millionen fallen. Das Weltproletariat -steht immer wieder in dieser Schicksalspause. Wie wird es sich das -nächste Mal entscheiden?“ - -Und während er seine Notizen einsteckte: „Der Genosse Jürgen! ... Unsere -Bezirksführer! Und hier: Unser Vertrauensmann.“ - -Die neun standen an der Wand lang, hockten auf dem Fußboden und dem -Fenstersims. Zwei rauchten aus kurzen Pfeifen den Tabak, dessen -dunkelblauer Qualm, von dem Spaziergänger unverhofft im Freien -eingeatmet, gut riecht und im Zimmer wie Gift beißt. - -Jürgens Augen folgten dem Blicke des Agitators, der lächelnd sagte: „Ihr -beide kennt einander ja schon sehr lange, hast du mir erzählt.“ - -Katharinas Gesicht, das außerhalb des Lichtkreises hinter der -Schreibmaschine im Schatten hing, sah übermüdet aus. Neben ihr stand ein -grauer Emailteller mit kaltgewordenem Kraut und kaltgewordenen -Fettbrocken, an der Rückwand ein Gaskocher und ihr schmales Eisenbett. - -Fühlbar stand die Wirkung des Vortrages im Zimmer und sichtbar in den -Blicken der neun Bezirksführer. - -Ein noch junger Holzarbeiter, dessen Gesicht, eingetrocknet und kleiner -geworden, schon einer gedörrten Frucht glich, sagte, leicht werde es ihm -nicht fallen, an die Genossen in seinem Bezirke alles das klar und -faßlich weiterzugeben. „Aber faßlich muß es sein, sonst verstehts -niemand.“ - -Der Vertrauensmann, ein dunkelgesichtiger, stoppelbärtiger -Metallarbeiter, an dessen rechter Hand zwei Finger fehlten, streckte -diese Hand vor: „Vier Hauptpunkte mußt du festhalten“, sagte er, zählte -an den Fingern her und mußte schon wieder beim Daumen beginnen: „Und -viertens, daß die Arbeiterschaft gegen einen derartig gewaltigen -Machtblock eben nur bei schärfster Disziplin und überhaupt nur durch -eine ganz starke Organisation etwas ausrichten kann.“ - -Unter dem Sims, mit dem Rücken gegen die Fensterwand, saß auf dem -Fußboden ein schon bejahrter Kartonnagenarbeiter. Seine Hand rückte -ununterbrochen und selbsttätig unsichtbare Gegenstände zehn Zentimeter -seitwärts: Die arbeitende Hand machte den Griff, den sie ein Leben lang -von früh bis abends in der Papier- und Kartonnagenfabrik des Herrn -Hommes gemacht hatte. - -„Beruhig du dich nur. Die Genossen in deinem Bezirk werden dich schon -verstehen. Was dir deiner Lebtag auf die Haut brennt, das begreifst du -leicht“, sagte er und setzte sich auf die arbeitende Hand, die sich -Sekunden später wieder befreite und weiter ihre Arbeit tat. - -„Wegen der Frauenlandeskonferenz! Weil sie eben in dieser Woche in vier -Versammlungen das Referat hatte. Und auch sonst viel Arbeit, Sitzungen, -Schreibereien und so ... Jetzt mußt du ein paar Tage ausspannen, -Genossin Lenz.“ - -„Ich brauche nur Schlaf. Fünf Stunden!“ - -„Ja, ja, Schlaf“, sagte der Kartonnagenarbeiter und setzte sich wieder -auf seine tätige Hand. - -Katharina wandte das Gesicht Jürgen zu. Und es schien, als habe sie den -Blick, mit den sie ihn vor acht Jahren im öffentlichen Parke angesehen -hatte, in ihre Augen zurückgeholt. Sie lächelte, und hinter diesem -Lächeln stand die Antwort auf seine damalige Frage: ‚Aber wie? Wie soll -man sich aufopfern?‘ - -„Der ist erst fünf Tage später abtransportiert worden.“ - -Dann hörte Jürgen, wie der Metallarbeiter zu den zwei Pfeifenrauchern -sagte: „Weil der Kriminaler, der mit dem Kopf ins Fenster gefallen ist, -dabei ein Aug eingebüßt hat und deshalb die Reise nicht mitmachen -konnte.“ Und trat zu den Dreien in die Fensterecke. Auch der Agitator -war hinzugetreten. - -„Wenn sie den packen – unter fünf Jahr gehts nicht ab“, sagte der -Metallarbeiter noch. - -Der Holzarbeiter mit dem vertrockneten, kleiner gewordenen Gesicht -sprach schriftdeutsch: „In der Zeitung stand: Ein gutgekleideter, -ungefähr fünfundzwanzigjähriger Mensch, Kaufmann oder Student, -augenscheinlich ohne Kopfbedeckung.“ - -Und der Agitator: „Auch heute waren wieder Kriminalbeamte im -Parteibureau ... In diese romantischen Polizeischädel geht es nicht -hinein, daß die Aufgabe der modernen Arbeiterbewegung nicht darin -besteht, Attentate zu organisieren und Attentäter gewaltsam zu -befreien.“ - -Die Mütze hatte ich in der Tasche, dachte Jürgen und fragte: „Was sagten -Sie eben?“ - -„Das Gefühl der Empörung übrigens, das diesen jungen Menschen zu dem -Befreiungsversuch veranlaßte, ist dasselbe, das in allen Klassenkämpfern -lebendig ist; aber die müssen, so schwer das ihnen auch wird, ihre -Empörung oft in sich zurückhalten“, fuhr der Agitator fort, Blick vor -sich hin gerichtet und in einem Tone, als dachte er, wie sehr viel -leichter das Leben sein würde, wenn der Kampf um den Sozialismus in -derartigen Taten bestehen könnte, anstatt in der jahrelangen, -lebenslangen, zermürbenden, täglichen Hingabe. - -„Ja, aber dazu noch wöchentlich zweimal Bildungskurs in der -Jugendorganisation!“ rief bei der Rückwand ein Bezirksführer. Zwei -andere sprachen über den letzten Lohnkampf, der die Transportarbeiter -sehr geschwächt habe. Im Stock erklang das in sich erstickende Geschrei -eines Säuglings. - -Unter dem Brustbein empfand Jürgen einen immer schwerer werdenden Druck, -als stecke er bis zum Kinn in dickflüssiger Moorerde. - -„Wollen wir anfangen?“ fragte der Agitator. Und Katharina hob den Deckel -von der Schreibmaschine. - -Die zehn schritten durch die Finsternis, vor sich die fensterlosen -Rückseiten schmaler, turmhoher, freistehender Mietskasernen: tote -Silhouetten. Ein langer Güterzug kroch aus dem Arbeiterviertel heraus, -ins flache Land hinein. Wasserglanz in dunkler Ferne und das gedämpfte -Rasseln eines Schleppers, der eine Reihe Frachtschiffe stadtwärts zog. -Der lange Pfiff der Lokomotive schlug einen Bogen durch die Nacht. - -Geschrei brach ihnen entgegen, stieg an: ein Knäuel Wutgebrüll. Über -allem die Frauenstimme, die wie die Verzweiflung selber schrie. Und als -die zehn den Lichtkegel, der aus dem Parterrefenster auf die Straße -fiel, erreicht hatten und ihn durchschritten, war es drinnen völlig -still. Drückende Stille. Und dann Wimmern, Weinen, gestoßen -ausbrechendes Geheul, fessellos, als weine die Verzweifelte alle Not -ihres Lebens und das Leben selbst aus sich heraus. - -Darüber entstand ein Gespräch. Ob der Mann die Frau und weshalb er sie -wohl geschlagen habe, und warum sie gar so arg flenne. „Die Gründe kennt -man“, sagte der Holzarbeiter. - -„Ja, das sind im Grunde immer die selben.“ - -„Wie schön die Nacht ist.“ - -„Ja, wenn man so marschiert.“ - -Die neuen Backsteinhäuser des wachsenden Arbeiterviertels, gleichförmig, -unverputzt, wie über Nacht hingestellt – lineare Straßen, bei den -Feldern endend wie abgehauen –, stießen feuchten Kalkgeruch ab. Kein -Fenster war erleuchtet. Die Arbeiter schliefen schon. Vor einer alten -Villa, die eingeholt und überholt worden war von der wachsenden Stadt, -stand ein Schutzmann mit einem Polizeihund. - -Das Weinen war verendet. Die Schritte hallten im Gleichmaß. - -„Aber Parteimitglied wurde ich – das sind jetzt sechsundzwanzig Jahre -her“, erzählte der Kartonnagenarbeiter. „Seitdem hat sich viel -geändert.“ - -Sechsundzwanzig Jahre, dachte Jürgen. Sechsundzwanzig Jahre. - -Hohe, leuchtende Fenster, fünf lange Reihen übereinander, traten aus der -Dunkelheit heraus. Die zehn schritten hinein in das Klipp-Klapp-Geräusch -der Transmissionen: die Nachtschicht bei der Arbeit. - -„Heut ist die Partei eine Macht ... Wenns auch langsam geht ... -Mitbestimmungsrecht ... Die straffe Organisation ... Ja, viel Arbeit -gewesen“, vernahm Jürgen, der mit dem Holzarbeiter und dem -Metallarbeiter einige Schritte voraus war. - -Schweigend über die kleine Eisenbrücke. Durch den kühlen Teergeruch. Auf -der äußersten Spitze des zugebretteten Frachtschiffes im Kanal stand ein -winziger Hund, der blickte. Schon durchbrach dort und hier das -Lichtermeer die Baumkronen. - -Jürgen konnte nicht durchatmen, als wären seine Lungen luftgefüllt und -hermetisch verschlossen. Konnte nur vom Halse weg atmen. ‚Lebenslang -außerhalb des Lebens zu stehen, bedeutet es. Und nur ein winziges -Teilchen der großen Bewegung zu sein und gewesen zu sein.‘ Der Druck in -seiner Brust wich nicht. - -Sie gerieten in die Menge hinein, die das Theater verließ und dem Korso -zustrebte. Es war erst zehn Uhr. Vor allen Cafés saßen die Gäste im -Freien. Auch vor dem Grandhotel ruhten elegante Herren und elegante -Damen in Korbsesseln und genossen die herrliche Sommernacht. Auf der -funkelnden Weinterrasse, blumenüberhangen, von der Straße leicht -abgesondert durch Lorbeerbäume, rollten die Kellner lautlos die -Servierwagen an und ab, tranchierten Geflügel, öffneten Weinflaschen. Zu -Verbeugungen erstarrte Fragen. Das Streichquartett spielte diskret. - -Die vier Bogenlampen über des Juweliers Schaufenster spritzten weißes -Licht in die Menge – Studenten, junge Kaufleute, Fremde und Offiziere -mit ihren Kokotten und Damen –, die straßauf, straßab bummelte, in so -gemächlichem Tempo, daß die zehn wie ein marschierender Fremdkörper -wirkten. Vor dem Juwelier blieben sie stehen. Alle zehn. Jürgen mit dem -Blick zur Weinterrasse. - -Plötzlich bekam er einen Schlag gegen das Herz. Sagte zweimal den Satz: -„Das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht.“ Sah an sich hinunter, -überzeugte sich, daß er sorgfältig gekleidet war, und drehte sich wieder -um zum Schaufenster. - -„Also, auf morgen!“ rief der Holzarbeiter noch zurück und lächelte -bekannt und dennoch fremd. - -Die erste Geige sprang mit einem unerwarteten, funkelnden Saltomortale -aus der Begleitung heraus, jubelnd empor. Ein übriggebliebener Gedanke -irrte noch in Jürgen umher, wurde immer wieder zurückgestoßen, schrie -lautlos und gellend das Wort ‚Schicksalspause‘. „Das ist es ja nicht. -Das ist ja unwichtig“, murmelte Jürgen und zog die Handschuhe über. - -Erst als er schon vor einem weißgedeckten Tischchen auf der Weinterrasse -saß, gegenüber zwei schweigsamen, schönen Engländerinnen, bemerkte er -Adolf Sinsheimer und noch drei Schulkameraden, die, elegant -zurückgelehnt, ihre seidenen Strümpfe sehen ließen und, die ganzen -Oberkörper langsam vorbeugend, Jürgen grüßten. Er setzte sich zu ihnen. - -Stand sechs Stunden später auf der Straße. Die Vögel pfiffen schon. Die -Menschen schliefen noch. „Nun, und jetzt? ... Ich war betrunken.“ - -Er dachte, von Ekel geschüttelt, an die Szene in dem orientalischen -Salon, in dem er mit den Schulkameraden gewesen war. Sah die Amsel an, -die auf dem Staketenzaun saß. Seine Knie wurden weich. Er mußte sich auf -die Steintreppe setzen. „Das Ganze hat nicht mehr und nicht weniger zu -bedeuten, als mein imaginäres Duell mit Karl Lenz.“ - -Die Amsel sperrte weit den gelben Schnabel auf: „Das stimmt. Und stimmt -doch nicht.“ - -„Denn einmal, meinst du, nicht wahr ...“ - -„Eben das meine ich!“ - -Jürgen hatte das Empfinden, in die Tiefe zu stürzen, und fuhr aus dem -Schlummer. „Wenn das so weiter geht, werde ich einmal nichts mehr selbst -entscheiden können. Das Schicksal wird mir keine Pause mehr gewähren.“ - -Am Nachmittag – sie hatten eben Kaffee getrunken – blickte Jürgen -nachdenklich die im Sessel schlummernde Tante an, lehnte sich auch in -den Sessel zurück, Wange auf dem gehäkelten Schutzdeckchen. - -Die Heiligenbilder an den Wänden hielten die segnenden Hände erhoben -über die beiden. Auch der Vogel im Käfig ließ die Schlafhäutchen über -die Augen herab. Die blauen und silbernen und goldenen, kopfgroßen -Glaskugeln im Garten funkelten in der Nachmittagssonne. Eine Wolke zog -still am Himmel hin. Der Perpendikel sagte: Rich...tig, rich...tig. - -Das fadendünne Drahtseil lief von Jürgens bequemem Backenstuhl weg, in -viel tausend Meter Höhe vorbei an den in Not und Kampf Stehenden dieser -Welt. Jeder hielt sein gepeinigtes Herz in der Hand. Da, wo das Seil -endete – in ungeheuer weiter Ferne –, leuchtete Katharinas Stube. Auf -Jürgen zu, in blauer, gefährlicher Höhe, bewegten sich die neun -Proletarier und erwarteten Jürgen so gläubig, daß er nicht widerstehen -konnte, das fadendünne, schwindelhohe Seil ebenfalls zu besteigen. - -Ein paar Meter vor ihm balancierte, vom Absturze bedroht, ein Mensch auf -dem Seile. Jürgen erkannte in dem gefährlich Schwankenden sich selbst, -rief sich an in kaltem Schrecken. - -Da marschiert er mit den neun Proletariern den Korso hinauf, sieht die -promenierende Menge, die vier lichtspritzenden Bogenlampen über des -Juweliers Schaufenster. Hört die Streichmusik, erkennt die Melodie. - -Die Schicksalspause tritt ein. - -‚Also, auf morgen!‘ sagt der Holzarbeiter. - -Diese photographische Genauigkeit! Ich sah im Traume sogar die gelbe -Rose in Adolfs Knopfloch, deren tatsächliches Vorhandensein mir gestern -nicht einmal in der Wirklichkeit bewußt geworden war, denkt Jürgen, der -träumte, erwacht zu sein. Steckt sich die Rose ins Knopfloch. - -Sitzt mit Adolf Sinsheimer und den drei Schulkameraden auf der -Weinterrasse. Plötzlich verdichten sich die vier Körper in einen Körper, -auf dessen Hals die vier Köpfe stecken. - -Alle vier Gesichter haben den selben zotigen Zug um den Mund, denkt -Jürgen. ‚Wie Männer, wenn sie eine wehrlose Frau auf der Straße ansehen. -Den selben, das Menschenauge schändenden Blick, den kein Tier dieser -Erde hat.‘ - -Alle vier Münder gleichzeitig sprechen ein furchtbares Wort: Ein -Menschenschrei, gefangen im Kellergewölbe. Dann nimmt der Vierköpfige -ein kleines Küchenmesser mit brauner Holzschale aus der Westentasche und -stemmt Jürgens Schädeldecke auf. - -Die Hauptmasse des Gehirns reißt er mit der Hand heraus. Das -Hängengebliebene kratzt er mit dem Küchenmesser sorgfältig ab. - -Dabei hört der zu maßlosem Entsetzen Erstarrte die erste Geige im -Weinrestaurant jubelnd in die Höhe steigen. - -Der Vierköpfige wickelt ein sorgfältig verpacktes, neues Gehirn aus, um -das herum – wie um eine Sektflasche die Steuerbanderole – das -Fabrikzeichen klebt, preßt es in Jürgens offenen Kopf hinein und paßt -die Schädeldecke wieder auf. - -Schmerz und Entsetzen verschwinden augenblicklich. - -Die Schulkameraden sind jetzt wieder alle vier da. Als fünfter sitzt -Jürgen bei ihnen, spricht wie sie, denkt, lacht wie sie, hat den selben -zotigen Zug um den Mund, den selben Blick, weiß das alles und fühlt sich -wohl dabei. - -Nur der Menschenschrei im Kellergewölbe, der wie gefangener Gesang -klagend weiter tönt, stört ihn. Deshalb leert er die bis zum Rande mit -Sekt gefüllte große, weiße Kaffeekanne auf einen Zug. Steht plötzlich in -dem orientalisch ausgestatteten Salon, in dem fünf halbbekleidete -Mädchen auf Ottomanen liegen. Schaudert zurück, weil die Brüste mit -kurzhaarigem Pelze bewachsen sind. Und erwachte wirklich. - -Der Vogel und die Tante schliefen noch. Und die still am Himmel -hinziehende Wolke hatte noch nicht einmal die Krone des Nußbaumes im -Garten passiert. Die selbe Fliege saß noch auf der weißen Kaffeekanne -und saugte an dem selben Tropfen, der an dem Schnabel hing. - -Als ob der Entschluß, der seinem ganzen weiteren Leben eine andere -Richtung geben mußte, sekündlich in Jürgens Empfinden übergegangen wäre, -hatte sich mit dem Entschlusse unversehens sein ganzes Körpergefühl -verwandelt. Gang und Glieder waren schwer geworden. Alles Gewesene und -die Umwelt hatten an Gewicht verloren. - -Jürgen, entschlossen, sich auf sich zu nehmen, verließ, ein schweres -Ganzes, die Villa, um nicht mehr zurückzukehren. - -Sein Gefühl wußte, was er auf sich nahm. Dieses Gefühlsbewußtsein -lastete von dem ersten Schritte an, den er außerhalb des Gartens tat, so -schwer in ihm, als hätte es seit Jahren sein Wesen bestimmt. Das -Bisherige war versunken. Dahin gab es kein Zurück mehr. - -Er möge ein bißchen warten, rief Katharina durch die verschlossene Tür, -trat schnell vom Arbeitstisch weg in die Mitte des dunklen -Balkenkreuzes, das den Fußboden vierteilte. - -Beide Hände in den Taschen des Sweaters, blickte sie prüfend rundum in -ihrem großen Parterrezimmer, ohne sich vom Platze zu bewegen. Die -geblümte Tapete, älter als Katharina, war mit vielen kreisrunden -Rostflecken übersät, an vielen Stellen gesprungen und mit Markenpapier -zusammengeklebt. Nur eine Gasflamme brannte an dem Doppelarm. - -Nachdenklich strich sie sich mit dem dünnen Mittelfinger über die -braune, gebogene Braue, berührte dabei die Lippe mit der Zungenspitze, -wie vor Jahren an dem Abend, da sie, stehend in ihrem Mädchenzimmer, den -Entschluß, für immer das Elternhaus zu verlassen, gefaßt und sofort -ausgeführt hatte. - -Auch jetzt machte sie diese Doppelgebärde, als habe sie einen Entschluß -gefaßt, entzündete den zweiten Glühstrumpf, schloß das Fenster, von dem -aus die fernblinkenden roten und blauen Lichter des Rangierbahnhofes und -der Eisenbahnwerkstätte zu sehen waren, und zog den Vorhang zu. Mehr -Verschönerungsmöglichkeiten gab es nicht. - -Im Zimmer, nun abgeschlossen von der Außenwelt, war es ganz still. Nur -das Herz klopfte. Schon mittenweges zur Tür, kehrte sie noch einmal um, -setzte sich, Hand auf dem Herzen, und staunte. - -Hinter der verschlossenen Tür stand Jürgen in schwerer Ruhe. - -Sie schob, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, beide Hände sofort wieder -in die Sweatertaschen, erkannte an Jürgens Blick sofort, daß der Grund -seines Besuches ein anderer war, und nahm die Hände wieder heraus. - -Er hatte ihr nicht die Hand gereicht. Er saß schwer am Tisch und -erzählte, ohne Einleitung, sachlich und ohne Scham, als schildere er das -Erlebnis eines andern, was sich gestern mit ihm ereignet hatte. Dabei -machte seine Hand, die schwer auflag, kleine verstärkende Bewegungen. -Auch als er, bemüht, sich und ihr das gestern Geschehene verständlich zu -machen, in großen Zügen sein bisheriges Leben erzählte, schilderte er -die Leiden, die Demütigungen und die nicht durchgekämpften Kämpfe des -Kindes und Jünglings so, als spräche er von einem beliebigen anderen. - -So ergab sich, während sie die Abendsuppe bereitete auf dem Gaskocher, -der auf einem niedrigen Kistchen stand, so daß sie öfters in tiefer -Kniebeuge sitzen mußte, ein Gespräch über Einzel-Ich und Umwelt. - -Einst, vor Jahren, als sie noch nicht Sozialistin gewesen sei, habe sie -sich vorgestellt, was geschehen würde, wenn einmal eine ganze Generation -nicht als machtlose Kinder, sondern, ungebrochen durch falsche -Erziehung, Autorität und Umwelt, gleich als Zwanzigjährige geboren -werden und so auf dem Kampfplatz erscheinen würde. Mit der Kraft ihres -unverbogenen Wesens würde diese Generation ohne Schwierigkeit das Ganze -über den Haufen werfen. - -„Leider aber kommt der Mensch als wehrloser Säugling auf die Welt“, -schloß sie und lächelte froh, als sei diese Wehrlosigkeit das -Erfreulichste, das dem Säugling geschehen könne. Das Herz klopfte nicht -mehr. - -Sie gab sich Mühe, besonders gut zu kochen, fragte, ob er die Hafersuppe -lieber dick oder dünn, süß oder weniger süß esse. - -„Das ist mir ganz gleich. Ich habe noch niemals Hafersuppe gegessen.“ Er -beobachtete, wie sie herumhantierte, sich tief zu Boden beugte, wieder -senkrecht stand. ‚Glatt und fest wie ein junges Baumstämmchen, junges -Nußbaumstämmchen‘, fiel ihm ein. - -Sie stand, ein rechter Winkel, über den Gaskocher gebeugt. Von jetzt an -wirst du vermutlich sehr oft Hafersuppe essen, dachte sie, während sie -die zwei dampfenden, zu vollen Suppenteller vorsichtig durch das Zimmer -trug zum Tisch, der am Fenster stand. - -Jürgen, tief dabei, die Summe seines bisherigen Erlebens, Erleidens, -Erkennens zu ziehen, bereitet und gewillt, von nun an klaren Bewußtseins -zu handeln, bedurfte in dieser Stunde, da er im Rückblick auf sein Leben -schon und erst den Aufbruch zu sich selbst begann, noch des Verweilens -bei den Ursachen, bestrebt, ihr Ineinandergreifen fehlerlos zu erkennen. - -Er dachte: Der Sozialismus muß sich auf allen Gebieten des Lebens mit -absoluter Notwendigkeit und Ausschließlichkeit ergeben aus dem Wahnsinn -des Bestehenden. Die Rechnung muß stimmen. Und sagte: - -„Es gibt nicht nur eine herrschende Klasse und unterdrückte Klassen; es -gibt auch eine jeweils herrschende Generation, die durch alle Klassen -durchgeht: Alle Erwachsenen nämlich, die, machtstrotzend, mit Hilfe der -bestehenden Seelenmord-Gesellschaftsordnung, in der sie selbst tödlich -verstrickt und untergegangen sind, die heranwachsenden Generationen -abwürgen, entselbsten ... In diesem Sinne bilden alle Erwachsenen -zusammen eine granitene Einheit, einen Wall, gegen den die -Heranwachsenden vergebens anrennen, so lange anrennen, bis sie selbst -entselbstete, lebende Leichen sind und Teile des Walles bilden gegen die -neu heranwachsenden Generationen.“ - -Sie stand rückwärts und rieb, betrachtete den Löffel, rieb weiter, -hauchte ihn an. Der verzinnte Blechlöffel bekam keinen Glanz. - -„Denn wenn es auch eine Tatsache ist, daß jeder Mensch als ‚Reines Ich‘ -geboren wird, ist es eine ebenso unumstößliche Tatsache, daß das Reine -Ich ganz und gar unentwickelt, ganz und gar versunken und verschüttet -und ertötet ist im Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts ... Aber wie -steht es mit der Entwicklungsmöglichkeit des Ich im Proletarierkinde? -Wie verhalten sich Umwelt und proletarische Eltern zu dem Ich im -proletarischen Kinde und umgekehrt?“ - -Darüber habe sie noch nicht nachgedacht. Katharina stand noch einmal -auf, kramte lange in einer Schublade und legte dann eine Papierserviette -vor Jürgen hin. - -„Das ist aber eine sehr wichtige Frage. Auch hier müßte die Rechnung -stimmen.“ - -Wahrscheinlich könne auch diese Frage nur von dem Standpunkte aus, daß -es eine herrschende und eine ausgebeutete Klasse gäbe, richtig -beantwortet werden, sagte Katharina. „Vielleicht sollte man diese Frage -so stellen: Was erhält das bürgerliche Kind von der Umwelt dafür, daß es -seinen Protest, sein Wesentlichstes: sein Ich und damit sein Schöpfertum -und die Fähigkeit, das Leben auch psychisch zu erleben, aufgibt, sich -unterordnet, sich der Umwelt anpaßt, selbst zu einem Teile der Umwelt -wird gegen noch Protestierende? Und was tauscht das proletarische Kind -gegen die Aufgabe seines schöpferischen Ich ein? Was widerfährt dem -Bürgerkinde, wenn es versucht, zu kämpfen, zu protestieren? Und was -geschieht in diesem Falle dem proletarischen Kinde? Erhalten beide und -geschieht beiden das gleiche?“ - -Sie hörten, wie jemand absprang, das Fahrrad gegen die Mauer lehnte. -Eine Sekunde später trat der junge Arbeiter ein, atmend, verschwitzt und -seelenruhig lächelnd. „Die ganze Belegschaft der Hommesschen -Papierfabrik ist in den Streik getreten, Genossin Lenz.“ Er wischte sich -mit dem Taschentuch rund um den Hals. „Der Genosse Ingenieur läßt dir -sagen, du sollst morgen früh um sieben Uhr in der Redaktion sein.“ Und -da sie nickte, war er draußen. - -Sie rief ihn zurück. Ob die Werkmeister und Vorarbeiter mitstreikten? - -„Ah, wo werden denn diese Arschkriecher mitstreiken! Er will ja auch -auswärtige Streikbrecher heranziehen. Aber unsere Streikposten stehen -schon. Auch am Bahnhof! Die Polizei, selbstverständlich, ist auch schon -aufmarschiert!“ - -„Da möchte ich gleich Streikposten stehen“, sagte Jürgen, „gegen Herrn -Hommes.“ - -„Das besorgen die Betriebsgenossen schon selber.“ Sie setzten sich -wieder. Und da Jürgen mit den Augen fragte, fuhr sie fort: - -„So gewiß es ist, daß die Natur die Trennung der Menschen in Klassen, -das heißt: die Verhunzung des Menschen durch die kapitalistische -Gesellschaftsordnung, immer wieder aufhebt durch das Hervorbringen -körperlich und geistig vollwertiger Kinder bürgerlicher und -proletarischer Eltern, so unzweifelhaft ergibt sich aus dem, was ist, -daß die Trennung in Klassen auf bürgerliche und proletarische Kinder -total verschieden wirkt.“ - -Unversehens war die Gefühlsschwere von Jürgen gewichen. Entlastet atmete -er aus. „Was dem Bürgerkinde, das sich nicht anpassen will, geschieht, -weiß niemand besser als du und ich“, sagte er, im Blicke tiefe Freude -über die schwer errungene persönliche Befreiung. „Ein zeitlebens -seelisch gefährdeter Mensch, Irrenhaus oder Selbstmord! Oder, -bestenfalls, als Dreißigjähriger ein zuckendes Nervenbündel! ... Und für -die anderen, für die übergroße Mehrzahl, für diejenigen Bürgerkinder -nämlich, die den Kampf gegen die Umwelt sofort aufgeben, ist das -Nichtmehrprotestieren, das Sichaufgeben, das Sichanpassen -gleichbedeutend mit Bequemlichkeit, kampflosem Siegen, mit der -uneingeschränkten Möglichkeit, sich zu bilden, mit glattem Emporkommen -in eine bevorzugte Stellung, mit standesgemäßer Heirat, mit Reichtum, -Macht, Geachtetwerden, kurz: mit dem vollen Genusse des Lebens ... Die -geben ihr Ich hin, tauschen aber dafür alles ein, was das Leben bietet.“ -Er schob den nicht ganz geleerten Teller auf die Seite. - -Durch die rückwärtige Tür trat Katharinas Wirtin ein, stellte einen Krug -voll Wasser neben das schmale Eisenbett. „Schläft der Genosse hier? Die -letzte 54 ist nämlich weg ... Dann bringe ich die Decke.“ - -„Er schläft doch nicht hier“, sagte Katharina. „Nein, nein, er schläft -nicht hier.“ - -Und Jürgen fuhr schnell fort: „Das Sichanpassen des Bürgerkindes wäre -demnach gleichbedeutend mit dem vollen Lebensgenusse eines Angehörigen -der herrschenden Klasse. Dieser Angepaßte ist dann zwar in keiner Weise -mehr er selbst, ist eine Ich-Leiche, aber eine geachtete, mächtige, -herrschende, die das Leben, wie es ist, mitbestimmt und dieses Leben -genießt. Eine Leiche, die lebt und gut lebt! Von dieser Seite ist also -gewiß nichts zu erwarten für die Befreiung.“ - -„Wenn aber die Umwelt“, sagte Katharina, „sich Kindern gegenüber sieht, -denen sie, im Gegensatze zu den bürgerlichen Kindern, für das -Sichanpassen nichts zu geben hätte als Not, Qual, Prügel in jeglicher -Form, die Verweigerung aller Bildungsmöglichkeiten und des -Lebensgenusses, nichts als Hunger, Kälte, Schmutz, Arbeitenmüssen für -andere und Demütigungen auf allen Wegen? ... Das Proletarierkind, das -geneigt ist, sich der Umwelt anzupassen, wird von der Umwelt selbst, -wird durch die herrschende Klasse und deren Staat immer wieder in den -Protest gegen die Umwelt zurückgestoßen. Dieser brutale, unaufhörliche -Stoß verleiht und erleichtert dem proletarischen Kinde die Möglichkeit, -etwas mehr von seinem Ich zu bewahren. Die Proletarier kommen aus dem -Proteste nie ganz heraus, können folglich ihr Ich nie ganz verlieren und -sind auch mit aus diesem Grunde als Klasse schöpferisch und dazu -bestimmt, im Gange der Geschichte über die unschöpferisch gewordene -bürgerliche Klasse hochzusteigen ... Aber erst in der klassenlosen -Gesellschaft tritt dein Reines Ich auf den Plan, wird es jedem Einzelnen -verstattet sein, er selbst zu werden und zu sein.“ - -Jürgen sah den Vierköpfigen, hob langsam den Kopf, empor aus dem -Lauschen und seinen Vorstellungen, blickte, den Gedanken erst -formulierend, Katharina an: „Auf der einen Seite also, in der -kapitalistischen Gesellschaft, meinst du: ungeheuerlichste Ungleichheit -in materieller Hinsicht und eine vielleicht noch ungeheuerlichere -blödsinnige Gleichheit aller im Geistigen ...“ - -„Ja, und das wird Individualismus genannt.“ - -„... auf der anderen Seite, in der klassenlosen Gesellschaft: materielle -Gleichheit für alle und infolgedessen, nicht wahr, infolgedessen im -Geistigen absolute individuelle Verschiedenheit jedes Einzelnen von -jedem Einzelnen. Jeder ein Reines Ich! Ein schöpferischer Mensch!“ - -„Und das wird die öde Gleichmacherei der Sozialisten genannt ... -Zwischen diesen zwei Extremen liegt allerdings zunächst die Revolution.“ - -„Wie unsäglich wunderbar das sein wird: Die Seele, die ihr Ich durch den -Körper gewinnt und im Gleichgewicht in sich selber ruht.“ - -Beide schwiegen. In die Stille klang wieder das in sich erstickende -Geschrei des Säuglings. Fernher tönten Pufferknall und die monotonen -Rufe der Eisenbahnarbeiter, die einen Zug zusammenstellten. - -Dieser Befreiungsversuch war ein herrlicher Seitensprung, dachte er -stolz, lächelte gerührt, wie über eine teure Jugenderinnerung. Und trat -in seinem Gefühle wieder ein in die Reihen der Millionen, die sich auf -dem langen, generationenlangen Marsche befanden. - -„Dein Zimmer – diese drückende Decke, das kleine Fenster – ist wie ein -niederstirniges Gesicht“, sagte er, empfand plötzlich wieder Druck über -dem Herzen. - -„Ja, wir leben vergraben, geduckt, nur von uns selbst und der Idee -beschirmt ... Bist du nun sicher, daß die Rechnung stimmt?“ - -„Das solltest doch du am ehesten begreifen, daß ich, da hinter mir nicht -der materielle Druck stand, der die Massen klassenbewußt macht, zum Teil -auch auf dem Wege über den Verstand zum Sozialismus kommen mußte. Das -Gefühl war vorher, war ja immer da.“ - -„Wie wir einander wiederfanden, du und ich! ... Wie schön, wie wunderbar -ist das!“ - -Da schlug das Glück durch ihn durch, legte Jürgens Hand um ihren Nacken. -So stand er, Blick in ihrem Blick, nahe seine Lippen dem kleinen, festen -Mund. Ihr Körper gab nach, antwortete frei. - -Dann sagte Jürgen, halb fragend: „Wo ich heute nacht schlafen werde, bei -wem, das weiß ich freilich nicht.“ - - - - - V - - -„... und auch deshalb, damit Du nicht glauben solltest, ich sei -verunglückt, ertrunken, ermordet worden (ich habe mich, im Gegenteil, -vor dem Ertrinken, vor dem Erstickungstode gerettet), teilte ich Dir -meinen Eintritt in die sozialistische Partei und den Entschluß mit, -nicht mehr zurückzukehren. - -Wie noch vor kurzem kein Mensch, und wäre er der klügste auf der Welt -gewesen, mir hätte begreiflich machen können, daß ich nur durch diesen -Schritt mein Dasein in Einklang zu bringen vermöchte mit den Tatsachen -des Lebens, so könnte ich die Beweggründe dieses Schrittes auch Dir -nicht begreiflich machen, so wenig wie Herrn Papierfabrikant Hommes, -Geheimrat Lenz, Bankier Wagner, den Professoren, Studenten, Söhnen und -Töchtern, das heißt: allen diesen klugen, gebildeten Menschen Deiner -Kreise, für welche die sozialistischen Arbeiter Existenzen sind, die -alles gleichmachen und verteilen, nichts arbeiten, sich täglich -betrinken wollen, und diejenigen, die sich zu den Sozialisten gesellen, -schwachsinnige Schwärmer, Narren oder Verbrecher, ja sogar Verräter an -dem Ideale. - -Wenn ich versuchen wollte, Dir zu erklären, daß der Sozialismus, über -alles Materielle hinaus, auch eine gewaltige Kulturbewegung ist und -verwirklicht werden muß, soll nicht die ganze Menschheit zugrunde gehen, -müßte ich ein dickes Buch schreiben, und auch dann würdest Du nichts -begreifen. Denn sogar Menschen meiner Wesensart vermögen die Größe und -geschichtliche Notwendigkeit des Sozialismus erst dann ganz zu erkennen, -nachdem sie den kleinen, aber entscheidenden Schritt, den Sprung gemacht -haben – hinüber zur Arbeiterklasse, in ihr leben und zusammen mit ihr -kämpfen. - -Ich habe den Sprung gemacht. Gräme Dich nicht darüber. Glaube mir, liebe -Tante, daß dies allein für mich die Rettung sein konnte vor dem -furchtbarsten, dem geistigen Tode. Daß dies allein die Rettung sein kann -für jeden. - -Und glaube mir auch, daß ich, würde ich einmal wieder zurückkehren zu -jenen, die mit Blindheit geschlagen sind und offenbar nur noch durch -eine Art Staroperation sehend werden können, ein Verräter an mir selbst, -Verräter an der Idee geworden wäre: ein verlorener Mensch, gleich allen -Angehörigen der bürgerlichen Jugend, deren Tugenden durch die Erziehung -in Schule und Elternhaus beschnitten werden auf das schickliche Maß, das -ein gutes Fortkommen gewährleistet, und deren solchergestalt noch übrig -gebliebener Idealismus auf der Universität von der tätigen Hingabe an -die fließende Wirklichkeit vollends abgelenkt, mit falschen, -überkommenen, erstarrten Inhalten gefüllt und dem Staate dienstbar -gemacht wird, dessen Institutionen sich mit ganzer Wucht gegen -diejenigen richten, durch deren Hände Arbeit die Existenz dieses -Staates, Reichtum und Zivilisation des Landes und auch die Ausbildung -der entselbsteten bürgerlichen Jugend, sowie deren ausschließliche -Beschäftigung in den Bezirken des, wenn auch verfälschten, -sterilgewordenen Geistes erst ermöglicht wird.“ - -Den letzten Satz strich Jürgen wieder weg und schickte den Brief an die -Tante. - -Er wohnte sei Monaten in dem Loch, das durch eine Tür mit Katharinas -Zimmer verbunden war. Das windschiefe Fenster ging auf einen Rattenhof -hinaus, in dem Küchenabfälle und allerlei Unrat seit Jahren faulten und -stanken und tagsüber zwanzig Proletarierkinder an ihrer Welt bauten. - -Katharina und Jürgen führten gemeinsamen Haushalt. Ein Anzug nach dem -andern, die Uhr, die Hemden waren, auf dem Wege über das Pfandhaus, zu -Holz und Kohle, Kartoffeln, Wurst und Brot geworden. - -Seit dem Tage, da die Tante zum erstenmal den Namen Jürgen Kolbenreiher -in Verbindung mit einer öffentlichen Arbeiterversammlung, gerichtet -gegen den Papierfabrikanten Hommes, im Abendblatt gelesen hatte, -eingepfeilt zwischen Schimpfworte, Hohn, Verleumdungen und verbrämt mit -Bedauern für die hochachtbare alte Patrizierfamilie, die schon im 15. -Jahrhundert der Stadt einen Bürgermeister geschenkt habe, waren die -Bittbriefe, des Inhaltes, Jürgen möge vernünftig werden, sich wieder -darauf besinnen, was er sich selbst, seinem Stande und seiner Erziehung -schuldig sei, ausgeblieben. - -Durch den Streik der Papierarbeiter waren eine kleine Lohnerhöhung und -für die stillenden Kartonnagenarbeiterinnen die Erlaubnis, ohne -Lohnabzug dreimal täglich je fünf Minuten ihre Säuglinge befriedigen zu -dürfen, erkämpft worden. Vier Streikposten, die in eine Schlägerei mit -Polizisten und auswärtigen Arbeitswilligen geraten waren, saßen, -verurteilt wegen schwerer Körperverletzung, in Tateinheit mit Störung -der öffentlichen Ordnung, noch im Gefängnis und zwei schwerverletzte -Streikposten lagen noch im Krankenhause. Herr Papierfabrikant -Hommes hatte eine Summe ‚Für wohltätige Zwecke oder sonstige -Kulturbestrebungen‘ gestiftet. - -Die Zeit ging hin. Jürgen hatte schon in vielen Versammlungen -gesprochen. Leitete seit einem Jahre den Bildungskurs des Bezirkes, in -dem er wohnte. In den Nächten schrieb er an einem Schriftchen: ‚An die -bürgerliche Jugend‘. Denn auch jetzt noch stockte sein Herz, wenn er der -Ereignisse gedachte, die ihn zum Schreiben dieses Aufrufes an die Jugend -veranlaßt hatten. - -Vor dem Staatsgebäude fünfzigtausend Proletarier, demonstrierend für die -Forderung, daß es jedem freistehen solle, seine Kinder am -Religionsunterricht in der Schule teilnehmen zu lassen oder nicht; vor -den demonstrierenden Arbeitern die Polizeikette, und hinter den -Polizisten, aufgerufen von den Professoren, die ganze studentische -Jugend, demonstrierend für die Beibehaltung des Religionszwanges. - -‚Mußte der Student denn nicht zusammen mit der Arbeiterschaft eintreten -für die Freiheit des Gedankens, wenn er nicht sich selbst aufgeben -wollte in seinem geistigen Bestande? Und was sind die Ursachen der -Schande, daß er es nicht tat?‘ - -Suchend nach den Ursachen saß er an dem als Schreibtisch dienenden -Küchentisch. Das Licht von links. Freute sich des Tages über das Licht -von links und in den stillen Nächten an dem Gasarm, den er durch eine -Rohrverlängerung mit Hilfe eines seiner Genossen über den Schreibtisch -montiert hatte. - -Wenn alles schlief und nur das Gaslicht summte, spielten im Hofe die -Ratten, läutete fein das Glöckchen, das ein Proletarierjunge einer Ratte -um den Hals gehängt hatte. - -‚Und im Zimmer nebenan atmet Katharina, die ich liebe. Viel mehr Glück -kann man vom Leben nicht erwarten!‘ Er berührte den Bleistift zärtlich -mit den Lippen. Weil Katharina ihn vielleicht einmal in die Hand nehmen -würde. - -In diesen nächtlichen Stunden, da das Glöckchen in die Stille klang und -die Sätze ihm gelangen, fühlte Jürgen sich und sein Ich organisch -eingereiht in das Geschehen. - -Der Staatsanwalt hatte gegen die drei jungen Genossen und Katharina, -denen es damals gelungen war, durch die Polizeikette durchzuschlüpfen -und, unter Hohn und Prügel seitens der Studenten, Flugblätter zu -verteilen, Anklage erhoben, ebenfalls wegen Störung der öffentlichen -Ruhe, in Verbindung mit Aufreizung zum Klassenhaß. Die drei hatten je -sechs Monate Gefängnis bekommen und saßen schon. Katharina, deren -Vernehmung und Schlußrede als Sensation von den Zeitungen abgedruckt -worden waren, verbrämt mit Bemerkungen tiefsten Bedauerns für Herrn -Geheimrat Lenz, sollte am nächsten Tage in das Gefängnis. - -Jürgen schrieb bis in den Morgen hinein. Erst als er das Klappern des -Waschgeschirres vernahm, klopfte er. Katharina war noch nicht -angekleidet. Und wie beide, stehend, in der Umarmung verharrten, erhob -sich in der Ecke Katharinas schmutziggelber, langhaariger Schnauz, -schritt langsam herbei und blieb, als gehöre er zu allem, was geschah, -dazu, vor ihnen stehen, den Blick zu Boden gerichtet. - -Es war erst fünf Uhr. Schon fiel der erste Sonnenstrahl auf das -Fenstersims, brach sich, huschte schräg an der Wand entlang und verfing -sich in der Ecke. - -Um acht Uhr mußte sie im Gefängnis sein. Sie saß, im Hemd, auf ihren -Händen auf dem Bettrand. Der Schnauz war im Hofe bei den Ratten. - -Später sprachen sie von anderen Dingen. Er solle sorgen, daß für die -drei Genossen gesammelt werde. Des einen Mutter habe nichts zu essen, -solange der Sohn im Gefängnis sei. - -„Nach dem Examen nehme ich sofort eine Stellung an als -Verwaltungsbeamter in einem großen Betriebe. Dann werden auch wir eine -bessere Wohnung haben und regelmäßige Einkünfte. Und ich werde obendrein -noch enger bei den Arbeitern sein als jetzt. Wir werden heiraten, um -unnötige Scherereien zu vermeiden ... Überhaupt – ein Glück haben wir, -ein Glück! ... Es wird ein Jahr vergehen, es werden fünf Jahre, zwanzig -Jahre vergehen, und immer werden wir zusammen sein. Was wir alles -erleben werden! Ungeheuer viel! Wir sind Lebensgefährten. Katharina, -welch ein Glück! ... Sofort nach dem Examen nehme ich eine Stellung an.“ - -Katharina, die schon als Siebzehnjährige, anstatt Blumen malen zu lernen -und für Buddha zu schwärmen, begonnen hatte, das Mehrwertgesetz und die -Kapitalskonzentration zu studieren, sagte, wie er, der als -linksgerichteter Sozialist bekannt sei, dessen Name schon oft in den -Zeitungen gestanden habe, ernstlich glauben könne, in irgendeinem -Großbetriebe angestellt zu werden. - -„Nun, dann eben nicht!“ Sie blickten einander an, bis das selbe Lächeln -in beider Gesichter entstand und sie wieder gleich auf gleich waren. - -„Deine Augen, Katharina, ach, deine Augen!“ - -Wie unsagbar glücklich das eine Frau machen kann, dachte Katharina. - -Auf dem Wege bis vor das Gefängnistor erlebten sie eine Stunde -vollkommensten Verbundenseins, wie nur zwei Menschen es verstattet sein -kann, deren Liebe vertieft ist durch die gemeinsame Hingabe an die selbe -Idee. Sie schritten in ihrem Gefühle. - -„Über alle Begriffe schön kann das Leben sein.“ In ausbrechender Freude -schlug sie die Arme um ihn. Wandte sich, zog die Glocke. Und wurde von -dem schwarzen Tore geschluckt. - -„Wo ist die Einsamkeit? ... Ah, meine Herren, es gibt keine Einsamkeit. -Nicht einmal eine Trennung!“ frohlockte Jürgen und ging an seine Arbeit. - -Ob der Herr in Reichtum oder im Elend lebt, aus einem warmen -Teppichzimmer in eines mit feuchten Wänden und verfaulendem Fußboden -übersiedeln muß, ob er Erfolge erringt oder vom Leben Nackenschläge -bekommt, hohe Ehren einheimst oder in Schimpf und Schande gerät – der -Hund hängt seinem Herrn immer gleich an. So unvernünftig ist der Hund, -dachte Jürgen. ‚Nur eines erträgt er offenbar nicht: getrennt zu werden -von dem, dem seine Sympathie gehört.‘ - -Katharinas Schnauz, bisher ein ausgelassen heiteres Tier gewesen, hatte -am zweiten Tage das unruhvolle Fragen eingestellt; er blickte Jürgen gar -nicht mehr an, fraß nicht mehr, leckte manchmal etwas Wasser und kroch -wieder in seine Ecke zurück. Jürgen mußte ihn gewaltsam füttern. - -Der ‚Aufruf an die bürgerliche Jugend‘ war erschienen. Bei dem letzten -Besuche, den Jürgen im Gefängnis machte, versuchte er, den Schnauz, der -einzugehen drohte, mitzunehmen. - -Der Gefängnisdirektor, der aussah wie ein auf der Schwanzflosse -aufrechtstehender, schwarzer Fisch mit dickem Bauch und kleinem, rotem -Kopfe, ein vollblütiger, fünfzigjähriger Mann, höflich und -zurückhaltend, gab nach minutenlangem, von bedauerndem Achselzucken und -erschrecktem Augenaufschlagen begleiteten Erklärungen und Fragen, -zwischen die er eine Serie korrekten Lächelns gleichmäßig verteilte – -Lächeln nicht eines harten Gefängnisdirektors, sondern eines Menschen -mit Herz und Gewissen, der aber leider an Pflicht und Gefängnisordnung -gebunden ist –, schließlich die Erlaubnis zur Mitnahme des Hundes. -Beugte sich plötzlich herab und tätschelte wehmütigen Mundes das Tier. -Und dann kam, als sei er schon zu weit gegangen und Jürgen schon zu -lange im Direktionszimmer geblieben, unerwartet schnell die knappe -Verbeugung und sofort ein Lächeln wehmütig in die Wangen zurückgezogener -Mundwinkel. Und sofort wieder das erschreckte Augenaufschlagen. - -Jürgen war, wie er mit dem Schnauz die abgetretene Steintreppe -hinaufstieg, der festen Überzeugung, daß der Gefängnisdirektor früher -oder später ins Irrenhaus kommen werde. - -Im Stocke stank es scharf nach Abort. Die Wärterin – lippenloser, -strichdünner Mund im festen Gesicht – schloß eine Tür auf. Sie schritten -durch einen großen Saal, in dem zwanzig zweimeterbreite, dreimeterlange -und zweimeterhohe, engmaschige Drahtgitterzellen nebeneinander standen. -Dazwischen die Gänge, wie in einer Menagerie. In jeder Drahtzelle eine -Gefangene. Frauen, junge Mädchen und, gleich bei der Eingangstür, in -zwei nebeneinanderstehenden Käfigen je eine Siebzigjährige. Alle in -grauen Leinensäcken. Der Raum zwischen den gleichhohen Zellen und der -Saaldecke war leer. - -Einige Gefangene schritten auf das Leben zu: drückten die Gesichter -gegen das Drahtgeflecht. Blickende Augen. Eine Siebzehnjährige mit -verwüstetem Gesicht lockte mit Zeigefinger und Daumen und sagte zweimal: -„Schnauzel!“ Der Schnauz wedelte mit dem Schwanzstumpf. - -„Den ganzen Tag macht sie sichs“, rief die Siebzigjährige der Wärterin -nach. „Immer hat das jung Luder die Finger unterm Rock.“ - -Sie schritten durch die entgegengesetzte Tür hinaus, in einen langen -Gang, an dessen Ende rot ein Gaslicht brannte. Links und rechts: -Zellentür neben Zellentür, jede mit einem Beobachtungsfenster. - -Schon als die Wärterin den Schlüssel suchte, stellte der Schnauz die -Vorderpfoten gegen die Zellentür. Sein Maul öffnete sich, die Zunge -erschien, Spitze nach oben gebogen. - -Wimmernd schlüpfte er, durch die Beine durch, voran. Und es wäre -Katharina unmöglich gewesen, ihn nicht zuerst zu begrüßen. Denn seine -Liebe war stürmischer. So stürmisch, daß er unter Katharinas -Liebkosungen nicht lange stillhalten konnte, sondern hin- und herrasen -mußte, von der Fensterwand zur Zellentür, beim Wenden jedesmal -ausglitschend auf dem glatten Betonboden. - -Sogar der strichdünne, lippenlose Mund ließ Zähne sehen. - -Sie hatten einander nur die Hand gereicht. Setzen konnte Jürgen sich -nicht. Die Pritsche blieb tagsüber an die Wand geschnallt. - -„Heute war bei mir, hergeschickt natürlich von meinem Vater, der -Irrenarzt.“ - -Die Wärterin stand bei der Tür, ohne sich anzulehnen, blickte blicklos. - -„Das ist so zu verstehen, daß meinem Vater eine geisteskranke Tochter -lieber wäre als die Schande, eine Sozialistin zur Tochter zu haben ... -Ich ging auf das Gerede gar nicht erst ein, schickte ihn gleich wieder -fort, was ihn natürlich auch nicht von meinem Gesundsein überzeugte.“ - -Der Schnauz hatte sich etwas beruhigt. Er lag, offenen Maules atmend, -die Vorderpfoten vorgestreckt, blickend auf den Betonboden, überzeugt, -daß seine Leiden nun zu Ende seien: er hierbleiben oder Katharina -mitgehen werde. Auch sie steckte in einem grauen Leinensack, etwas -kleidsamer gemacht dadurch, daß sie die Bluse beim Hals eingeschlagen -hatte. - -Bei dem ersten Tone, den die Wärterin sprach, erhob sich der Schnauz und -bellte. Die Versicherungen Katharinas, daß sie in einer Woche kommen -werde, nützten nichts. Der Schnauz stemmte sich mit allen Vieren und -mußte so von Jürgen hinausgeschleift werden. - -„Das ist nicht erlaubt.“ Die Wärterin deutete auf den schwachen -Schatten, durch dessen Vorhandensein das Vorhandensein von Brüsten -vermutet werden konnte. „Immer wenn der zu Besuch kommt – diese -Dummheit!“ - -Katharina nahm den Einschlag heraus, so daß der Sack wieder rund um den -Hals anschloß. - -„Sie können es gar nicht erwarten, was! ... Direktor melden“, hörte -Katharina noch. Die Tür fiel ins Schloß. - -Schon überquerte Jürgen den Hof, halb springend, um noch vor Ablauf der -Besuchszeit die Männerabteilung zu erreichen. Blieb aber plötzlich -stehen: Durch das Tor rollte, gezogen von zwei schweren Pferden, ein -auch oben zugebretterter Kastenwagen, aus dem rückwärts ein starkes -Gestänge ragte, gleich einem Stück Eisenbahngleis, stabilisiert durch -ein eisernes Querstück an der Stirnseite. Der Fuhrmann pfiff. Der Wagen -rollte durch das sich eben auftuende zweite Tor in den Hof der -Männerabteilung und weiter durch das dritte Tor in den Zuchthaushof, in -dem am nächsten Morgen eine Hinrichtung stattfinden sollte. - -Sekündlich hatten alle Empfindungen Jürgens Körper verlassen. Er wollte -die Genossen mit seinem Zustand nicht zu belasten, umkehren, konnte aber -nichts wollen. Selbsttätig trugen die Beine ihn weiter, der Tür zu. - -So schritt er, in den Knien kraftlos, zusammen mit zwei Wärtern, die -eine Art Tragbahre, beladen mit mehr als hundert Weißblechschüsseln, -schleppten, den Gang vor. - -Der Wärter, der Jürgen führte, ein großer, alter Mann, der, im Rücken -gebogen, mit jedem knieweichen Schritt, den er tat, müden Blickes auf -sein Leben zu treten schien, schloß wortlos die Zellentür auf und -gleichzeitig reichte wortlos ein Essenträger die verrostete Blechschale -Jürgens jungem Genossen, der den Inhalt, eine schwarze Brühe, wortlos in -den Abortkübel goß. Die Brotscheibe legte er auf den Klapptisch. - -„Das Zeug zu saufen hat gar keinen Wert.“ Er geriet beim Erblicken -Jürgens sofort in Erregung. „Die Brüh soll das Abendessen vorstellen. -Mittags gibts einen Mansch, den du frißt, weil du mußt. Und morgens die -selbe Zichorienbrüh und auch ein Stück Brot. Das ist alles.“ - -„Sie dürfen nicht über das Essen schimpfen zu einem Besuch.“ - -„Ein paar Monate hältst du das ja aus. Aber da sind viele ...“ - -„Wenn Sie davon weitersprechen ...“ - -„... die schon lang sitzen und noch viele Jahre sitzen müssen.“ - -„... muß der Besuch sofort raus aus der Zelle.“ - -„Die, also die müssen verhungern. Die müssen glatt verrecken. Du machst -dir keinen Begriff, Genosse, wie die Leute aussehen.“ - -„Sie haben zu schweigen jetzt!“ - -„Darüber mußt du in unserer Zeitung schreiben, Genosse!“ rief er Jürgen -nach, der die Nummern der Zellen nannte, in denen seine zwei anderen -Genossen waren. Der Wärter schritt schon auf die Treppe zu. „Die -Besuchszeit ist vorbei.“ - -Der grüne Wagen, in dem die Gefangenen vom Polizei- und vom -Untersuchungsgefängnis in das ständige Gefängnis überführt werden, war -eben angekommen. Zehn Verurteilte, Frauen und Männer, standen in dem -Bureauraum, wo die Personalien aufgenommen wurden. Die Gefangenen mußten -ihre letzten Habseligkeiten abgeben, die männlichen auch ihre -Hosenträger abknöpfen. Wärter schleuderten den Gefangenen die graue -Anstaltskleidung in die Arme. Gesprochen wurde nichts. - -Die Maschine funktioniert, dachte Jürgen und schritt der Ausgangstür zu. -Da schoß ein schon älterer, stoppelbärtiger Mann mit schwärenbesetztem -Gesicht und verschleimten Augen aus dem Bureau heraus, zuckte suchend -hin und her, spähenden Blickes, der blitzhell offenbarte, daß er die -Hölle, in die er kommen sollte, schon kannte, und schoß Jürgen nach, -bestrebt, auch die aussichtsloseste Situation nicht unversucht -vorübergehen zu lassen, um der Freiheit willen. Denn war er erst in der -Zelle, dann gab es keine Zufallsmöglichkeiten mehr. - -Die Wärter lachten. Unwirsch stieß ihn einer zurück. - -Mit seinem letzten Blick fing Jürgen noch das Lächeln des Sträflings -auf, der damit den Wärtern gegenüber seinem mißglückten Fluchtversuche -die Ernsthaftigkeit nehmen wollte. Und dieses bebende Lächeln schien -Jürgen das Grauenvollste von allem zu sein. Die schwere Tür drückte ihn -hinaus. - -Geblendet stand er im Sonnenschein. Ging langsam weiter. Neben ihm -tappte, Hinterteil und Schwanzstumpf kläglich eingezogen, der Schnauz. -Jürgen hob ihn auf. „Etwas muß der Mensch doch in den Armen haben.“ Der -zitternde Hund bohrte, stürmisch drängend, seinen Kopf unter Jürgens -Rock. - -‚Wieviel Städte gibt es? Und wieviel Gefängnisse in jeder Stadt? Wieviel -Zellen in jedem Gefängnis? ... Und in jeder Zelle ein Mensch! In jeder -Zelle das, was von einem Menschen übriggeblieben ist! Hunderttausende -Menschenreste! Und in der einen Zelle dort hinten einer, der weiß, daß -ihm morgen früh – um fünf? um sechs? um viertelsieben? er weiß die -Minute nicht, weiß sie nicht – der Kopf abgeschlagen wird! ... Kultur!‘ - -Die Machtlosigkeit zog alles Blut aus Jürgens Adern und setzte sich als -dunkler Druck unter das Brustbein. ‚Diese Bestien! ... Aber wer ist -schuld? Der Gefängnisdirektor? Der Richter? Der Staatsanwalt? Oder gar -die Gefangenen? ... Sie so wenig wie der Steinbrucharbeiter, der die -Steine bricht, und wie der Maurer, der sie zum Gefängnis fügt, und nicht -mehr als diese der Schlosser, der vor das Zellenfenster das Eisengitter -einzementiert, hinter welchem den Klassengenossen das Leben vergeht. Es -gibt keinen Verantwortlichen ... Der Staat? Der Staat ist ein -Machtinstrument gegen die menschliche Gemeinschaft. Ist keine Person. Du -findest im bürgerlichen Staate keinen Verantwortlichen. Du greifst in -die Luft ... Die Ordnung der Dinge, sie ist schuld.‘ - -Auf dem Tische lag wieder ein Brief von der Tante. Er schob ihn -ungelesen weg. Auch als Katharina schon zurückgekommen war – Jürgen -hatte den Fußboden geschruppt, ein Buch verkauft, für das Geld ein paar -Blumen gekauft, das kniehohe, eiserne Glühteufelchen geheizt, denn es -war an den Abenden schon kühl –, lag der Brief noch ungeöffnet zwischen -den Papieren. - -Der Schnauz war wieder heiter geworden. Den Winter über schrieb Jürgen -Artikel für das Arbeiterblatt, hielt sozialwissenschaftliche Vorträge im -Bildungskurs, sprach in Versammlungen. Die Kollegs besuchte Jürgen -unregelmäßig. - -So lebte er in seinen sechsundzwanzigsten Frühling hinein, ohne -irgendwelche Beziehungen zu seinem früheren Leben, auch innerlich durch -nichts mehr gefesselt an die Erlebnisse in seiner Jugend. Denn in dieser -Zeit überfielen ihn auch die Angstträume nicht mehr, wie früher fast -jede Nacht, da der Vater, die Professoren, die Tante machtstrotzend ihn -angeblickt hatten und er, der Erwachsene, als Kind bebend in der -Zimmerecke gekauert war, ohnmächtig ausgeliefert; andere Träume, von -Jürgen bisher nie erlebt, schoben sich ein. Kampfträume, aus denen er -siegreich und erfrischt hervorging. - -Aber erst nach der Nacht, da er im Traume, anstatt in Angst zu erbeben, -auch dem Vater ins Gesicht gelacht und des Vaters Hand mit dem drohend -deutenden Zeigefinger furchtlos zur Seite geschleudert hatte, war dessen -Macht ganz gebrochen gewesen. Erst nach diesem Erwachen hatte Jürgen -ganz sicher gewußt, daß alle Ungeheuer seiner Jugend und Erziehung -völlig überwunden waren. Nie mehr war im Traume der Vater erschienen. - -‚Jetzt erst entscheidet nicht mehr ein fremder Wille in mir meine -Handlungen. Und dazu mußte ich sechsundzwanzig Jahre alt werden ... -Jetzt keuche ich einen anderen endlosen Berg hinauf; aber ... ich -selbst, ich selbst keuche ihn hinauf. Ich selbst habe mich dafür -entschieden, frei entschieden, diesen Weg zu gehen; nicht das Fremde in -mir zwingt mich.‘ - -‚Es denken und fühlen die allermeisten Menschen bis zu ihrer Todesstunde -Gedanken und Gefühle, die nicht sie selbst denken und fühlen: es begehen -die allermeisten Menschen bis zu ihrer Todessekunde Handlungen, die -nicht sie selbst tun; die Summe der Ermordungen, an ihrem Wesen verübt -von den Autoritäten, dieser Zwingherren der Seele, denkt, fühlt, -handelt.‘ - -Noch nach Jahren erinnerte Jürgen sich jenes Morgens, da er zum ersten -Male die ruhige Sicherheit empfunden hatte, durch nichts Fremdes mehr -vergewaltigt, sondern ganz und gar Selbstherrscher seines Gefühlslebens -zu sein. Dieser Wendepunkt seines Daseins war begleitet gewesen von der -unbegreiflich lastlosen Empfindung, seine Vergangenheit liege nicht mehr -hinter ihm, sondern vor ihm. - -Kopf in die Linke gestützt, war er seitwärts am Schreibtisch gesessen, -mit dem Blicke zur Verbindungstür, und hatte gedacht: Von nun an gibt es -für mich keine Abwälzung der Verantwortung mehr durch den Hinweis auf -die in Kindheit und Jugend empfangenen Wunden. Es können neue Wunden mir -geschlagen werden von der Umwelt; aber alte Wunden für mein künftiges -Tun und Unterlassen verantwortlich zu machen, geht nicht mehr an. Ich -stehe am Anfang meines Ich. Um so gewaltiger die Verantwortung! Wie -ungeheuer wäre der Verrat erst solch eines Menschen, der sein gewonnenes -Ich verkaufen würde um des Lebensgenusses willen, angesichts allein nur -der einen Tatsache, daß jene hunderttausende Gefangenen nur ein einziges -winziges Feld des millionenfeldigen Schachbrettes der Leiden füllen! - -Kindergeschrei im Hofe. Frühlingssonne, die den letzten Rest des -schmutzigen Altschnees schmolz. Aus der lecken Dachrinne fielen in -Pendelregelmäßigkeit die schweren Tropfen, blitzten vorbei an Jürgens -Fenster und platschten in die Pfütze. Im Zimmer nebenan klapperte die -Maschine. Katharina arbeitete. Sie arbeitete immer. - -Auch Jürgen trug in sich das Gefühl, daß in einer Lebensordnung, in der -fast jeder Genuß des einen nur auf Kosten eines anderen zu gewinnen sei, -der Sozialist alles, was er an Leben gewönne, nur auf Kosten seiner -Hingabe an die Idee gewinnen könne. - -‚Aber was ist Pflicht? habe ich als Abiturient die Tante gefragt ... Wir -stecken, zusammen mit den Entrechteten, tief unten in der Spitze, in der -tiefsten Tiefe eines gewaltig großen Trichters. Oben ist der Trichter -erdenbreit, oben ist das Leben. Und nur zusammen mit den Entrechteten -dürfen wir vorwärtsschreiten, nach oben, wo das Leben ist. Das -Bewußtsein, dieses Bewußtsein ist alles. Weh dem, der seine Pflicht -verletzt; der die verläßt, die in schweren Leiden und Kämpfen nur in -qualvoll langgezogener Spirale aufwärts zu gehen vermögen, im -millionenfältigen Schritt der Massen ... Jetzt weiß ich, was Pflicht -ist.‘ - -Wenn Jürgen zurückdachte an den Abend, da er, Kopf in die Linke -gestützt, diese Gedanken gedacht hatte, schien es ihm, als sei erst eine -Woche vergangen. - -Im Bildungskurs immer die selben Gesichter, die selben Fragen und -Einwände. Der Verlauf der Versammlungen immer der selbe. Ein -halbgewonnener Streik. Einer, durch den eine winzige Lohnerhöhung -erkämpft worden war. Und wieder ein verlorener Streik. Dazwischen eine -Demonstration. (Der Agitator und einige Genossen waren verhaftet -worden.) Bildungskurs. Versammlungen. Kämpfe kleiner und kleinster Art. -Enttäuschungen. Und wieder Bildungskurs. Versammlungen. - -Ein Tag wie der andere, und alle grau. Die Zeit flog, entschwand seinem -Gefühle so schnell, als ob sie stehe, gar nicht vergehe. Es gab kein -Ereignis, von dem, erinnernd, er hätte sagen können: das erfrischte -mich. Es war, als ob seither erst ein Tag vergangen wäre, der in -rasender Schnelligkeit sich selbst immer wieder einhole und so -Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fresse. - -So stand er in der immer gleichen Grauheit des immer gleichen Tages. - -Anfangs hatten sich durch seine Verbundenheit mit Katharina in dieser -Eintönigkeit die großen Stunden aufgetan, Minuten, Blicksekunden von -solcher Tiefe des Glücks, daß die Erfüllung der ältesten Sehnsucht des -Menschen – die Überwindung der schicksalhaften Einsamkeit, die jedes -Lebewesen dieser Erde trennt vom andern – ihm zuteil geworden war. Aber -die Erinnerung daran, daß er dies Unfaßbare des Daseins einmal geschaut -hatte, und auch das Wissen, daß dieses Entrücktsein nur solchen -verstattet sein konnte, deren Verbundenheit vertieft ist durch ihre -gemeinsame Hingabe an die Idee, war verblaßt. - -Jürgen stand am Schreibtisch. Seine Hand legte einen Bleistift hin, nahm -ihn wieder, legte ihn hin, nahm ihn. ‚Immer das selbe zu tun, das selbe -zu tun, selbe zu tun und nichts zu erleben, da verflackert die Flamme -... Jahrelange Hingabe, ausschließlich durch sich selbst genährt! Ist -sie menschenmöglich?‘ - -Er hätte schon fort sein müssen, um rechtzeitig in die Redaktion zu -kommen. „So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage ... Wo war -das? Tatsächlich, ungefähr so leben die. Und wir leben so. Das ist ein -Leben!“ - -Wieder tropfte die lecke Dachrinne. Die Proletarierkinder tobten im -Hofe, wo der graue Haselnußstrauch schon braunviolette Knospen trug. -Wieder war ein Jahr vorbei. - -‚Innere Vertrocknung. Ja, ja, innere Vertrocknung.‘ Er horchte auf das -Klappern der Maschine. ‚Dieses Mädchen, Menschenkind, Menschheitskind -mit dem großen, milden, starken Herzen, lebenslänglich hingegeben der -Idee, ganz und gar!‘ - -Die Erschütterung ging durch den ganzen Mann durch. „Das Leben, sein -Leben hinzugeben, auf einmal, ist ein Nichts ... Da drinnen sitzt die -Größe. Die Größe bei der kleinen Arbeit! Das Kleine, das Tägliche, das -Treue, täglich, durch Jahre, durch Jahre im Dienste der Idee getan, ist -die Größe. Der Held ist tot. Der Held gehört vergangenen Jahrhunderten -an ... Katharina sitzt, wie der Verurteilte, lebenslänglich im -Gefängnis. Hat sich selbst verurteilt ... Verteile, wie sie, ein Leben -lang deine Hingabe auf jährlich dreihundertfünfundsechzig Tage – erst -dann hebe stillen Blickes die Hand in Stirnhöhe, wenn gerufen wird: Wer -noch vermehrte die Zahl der vielen, auf deren dargebrachtem Leben ich, -die Menschheit, in die Befreiung schritt? ... Ich weiß, daß dies, daß -dies die wahre Größe ist“, flüsterte er bebenden Mundes. - -Blickte, umstanden von Grauheit, zurück auf die Grauheit der vergangenen -Jahre, suchenden, tastenden, flehenden Blickes auf die Grauheit -künftiger Tage. Und hatte, Minuten später, unversehens den verluderten -Backsteinwürfel verlassen, durch die Hintertür. - -Schritt, von Lebensgier gestoßen, hinaus. Dem Walde zu. Hinaus über -fette Schollenäcker. Atmete und schritt. Ihm entgegen stürzte das Leben. - -Birken – butterzartes Hellgrün – säumten den Wald, dessen -billionenknospiges Geäste violett im Frühlingsdampfe stand. - -Der grüne Tunnelberg, strotzend von Brombeer und Schlehdorn, Brennessel, -Felsmoos, zugeflogenen jungen Birken, wilden Obstbäumen und allerlei -Grün – ein wild und dicht bewachsener Riesenrücken, in der Sonne -funkelnd und glitzernd –, war schweißnaß. - -Jürgen stand vor dem schwarzen Tunnelloch, blickte hinein, forschend, -wie zurück in seine Vergangenheit. „Bis hierher rannte ich, damals, als -die Tante mich angespuckt hatte. Wollte ich mich überfahren lassen? Da -war ich fünfzehn Jahre alt“, sagte er, ergriffen von Sympathie für den -Knaben. „Spuckt ihm ins Gesicht, dem Jungen. So ein Mistvieh! ... Nun, -diese Ungeheuer in mir sind tot.“ - -Dies war nun schon seine vierte Wanderung in diesem Frühling. Immer war -er vollgesogen, erfrischt, verdreckt und ausgehungert zurückgekehrt. Und -Katharina hatte gesagt: „Das solltest du öfters tun.“ - -Einmal, schon vor Wochen, waren beide zusammen gewandert. Wachstum und -Grün, noch gebunden, erst als Verheißung über den unabsehbaren -Buchenwäldern. Schäumende Bäche, nasse Täler, Nebeldämpfe, die wie Rauch -und Erde rochen, hatten Kälte verbreitet, in der schon die Glut des -Kommenden prickelnd enthalten gewesen war. - -Neugierig, was zu sehen sein werde, waren sie seitwärts aus einem von -noch kahlem Gesträuche überhangenen Hohlweg emporgestiegen und auf die -Landstraße gekommen, die, eben und linealgerade, weit, weit hinaus und -zuletzt wie ein weißer Pfeil in den geheimnisvollen Horizont stieß. - -Die Vorstellung: ein Mensch geht aus der Stadt hinaus, geht auf der -Landstraße hin, läßt alles hinter sich, alle Qualen, alle Pflichten, -geht immer weiter, weiter auf der Landstraße hin – hatte Jürgen, der -Jüngling, jahrelang in sich getragen. - -Katharina saß auf dem Kilometerstein, Jürgen neben ihr auf dem -Baumstumpf. Durchwärmte Körper und kalte Wangen, die vor Hitze -prickelten. - -Während sie Brot und Wurst aßen, hing Jürgen jener alten Sehnsucht nach. -„Wenn wir beide jetzt einfach losgingen, da hinaus, jetzt auf der -Stelle, und ohne jemals umzukehren, immer weiter, du und ich, fort, -immer weiter fort!“ - -„Ohne Zahnbürste, ohne Nachthemd, ohne Ausweispapiere“, hatte Katharina -lächelnd geantwortet. „Ohne Wohin! Nur zusammen!“ - -„Ja, du und ich! Ohne Geld! Ohne Rückblick! Nicht mehr dies und das, -nicht jenes, nicht die Redaktion, der Bildungskurs, nicht Doktorexamen -und Ausweispapiere – nur der Mensch ist die Instanz. Wir, der Mensch, -gehen und lassen, endlich! endlich! den Menschen atmen, fühlen, tun, -erleben. Nur ihn! ... Müde, übermüdet, klopfen wir an ein Bauernhaus und -bitten um ein Nachtlager. - -‚Wer seid ihr?‘ - -‚Der Mensch!‘ - -Wir kommen in eine kleine Stadt, mitten hinein in das verfilzte Mein und -Dein, und sagen: ‚Der Mensch ist da.‘ - -Ungeheures Erstaunen! Alle geben uns, was wir brauchen. Denn in tiefster -Heimlichkeit haben alle den Menschen erwartet, an dessen Kommen sie -schon gar nicht mehr geglaubt hatten.“ - -„Der Mensch ist aber noch nicht da, Jürgen. Den gibt es noch nicht, kann -es noch nicht geben. Mensch zu sein, kann dem Einzelnen erst dann -verstattet sein, wenn es allen verstattet sein wird ... Welch -furchtbaren Verrat an der Idee wir begehen würden!“ - -„Du sprichst so ernst, als ob ich wirklich alles rücksichtslos -abschütteln und auf dieser Landstraße weiterwandern wollte, hinaus in -das Leben ... Würdest du darunter leiden?“ - -Wie seltsam tief ergriffen und dennoch heiter sie mich da angeblickt -hat, erinnerte Jürgen sich und glaubte Katharinas Worte wieder zu -vernehmen, die gesagt hatte: - -„Muß denn nicht gerade der Mensch, der, sein Ich um jeden Preis zu -gewinnen, jeder Pflicht entläuft, indem er, um des Lebensgenusses -willen, rücksichtslos sein eigenes Ich zur obersten Instanz erhebt, sein -Ich ganz und gar verlieren? Muß nicht gerade in dem Menschen, der -ausschließlich seinen Wünschen und Begierden folgt, der Mensch ganz und -gar untergehen? Und wird der Mensch und das in diesem Zeitalter -verstattete Maß an Ich nicht erhalten bleiben nur in dem, der sie -erfüllt: die Pflicht?“ - -Langsam hob er den Kopf, tat, wie damals, noch einen Blick in die -wunderbare Ferne. Wandte sich wie gezogen um, starrte in das schwarze -Tunnelloch: „Das ist die Pflicht ... Wenn ich mich nicht schon -entschieden hätte, müßte ich mich doch wieder, doch wieder ... ich müßte -mich doch wieder für die Pflicht entscheiden.“ - -„Doch wieder! Doch wieder!“ Trotzig wiederholte er im Schrittakt diese -Worte. Während der letzten Jahre war Jürgen seiner Gedanken und Gefühle -so sicher gewesen, daß er sie auch jetzt nicht kontrollierte. - -Vor ihm lag sanft gewellt die Hochebene: Schollenäcker, Frühsaatflächen, -weit hingebreitet, braun und grün. In der Nähe erklang Frauenlachen, dem -eine baßtiefe Lachsalve folgte: Auf dem nächstgelegenen Hügel saßen die -Fabrikantensöhne und -töchter beim Picknick. Am Fuße des Hügels standen -sechs Kraftwagen, darunter der postgelbe des Bankiers Wagner. - -Hand in Hand sprangen zwei weißgekleidete Mädchen herab, die in Jürgen -den Bräutigam der einen, der zu Fuß hatte nachkommen wollen, vermuteten. - -Enttäuschung, Lächeln und ein kurzer Schmerzensschrei in einem. Gestützt -auf ihre Freundin und auf Jürgen, hinkte die Braut, die sich den Fuß -übertreten hatte, zurück. - -‚Und wenn ich ganz abgerissen wäre, würde mir das auch nichts -ausmachen.‘ Die ausgefranst gewesene letzte Hose seines letzten Anzuges -war zu einer kurzen Hose zurechtgeschneidert und von den Abfällen war -ein Hinterteil frisch aufgesetzt worden, in Breechesschwung. - -Adolf Sinsheimer kam lustig entgegen, in der vorgestreckten Hand eine -gebratene Hühnerkeule für den Erwarteten. Sein Mund öffnete sich. - -„Tut schon nicht mehr weh“, sagte die Braut beruhigend. - -Aber die vorgestreckte Hand ließ die Hühnerkeule senkrecht fallen. „Das -ist Jürgen Kolbenreiher; und hier: Elisabeth Wagner, meine Braut“, -stellte er, während er den Knochen wieder aufhob, das andere Mädchen -vor, das auf dem Herwege Jürgen in keiner Weise beachtet hatte und nun, -zu plötzlich überrascht, in unverhohlener Spannung ihn ansah. - -Jürgen war für Elisabeth Wagner so lange vollkommen uninteressant -gewesen, bis sie erfahren hatte, daß ihre Mitschülerin Katharina ihn -liebe. Seitdem hielt sie Jürgen, da Katharina schon im Institut für ein -unzugängliches, wählerisches Mädchen gehalten worden war, für einen ganz -besonders interessanten, bedeutenden Menschen, dessen Bekanntschaft -machen zu dürfen sie seitdem immer wieder Drohungen, Spott und alle -Mittel ihres überlegenen Verstandes dem Bräutigam gegenüber angewandt -hatte. - -Sofort begann sie von Katharina zu sprechen, die zwar zwei Jahre älter, -aber im selben Institut mit ihr gewesen sei. Und auch als sie bewundernd -ausrief, wie Katharina es nur ertragen könne, im Gefängnis zu sitzen, -fühlte Jürgen, daß die Bewunderung ihm galt. - -Erst viel später gestand er sich ein, daß er, nur um Elisabeths -Interesse noch zu steigern, versucht hatte, sich gleich wieder zu -verabschieden. - -Mit leisem Schmollen, das ihrem kühlen Wesen fremd war, bat sie, er möge -doch mit zur Gesellschaft kommen. „Adolf, bitte du ihn!“ Sie hielt -Jürgens Hand fest. - -„Na, so komm doch mit ... Aber wenn du nicht willst ...“ Jetzt erst -bemerkte Adolf, daß er den staubigen Hühnerfuß wieder aufgehoben hatte, -und schleuderte ihn seitwärts ins Feld, blickte dabei wütend seine Braut -an. - -Das angenehme Machtgefühl ließ Jürgen mitgehen. Die drei setzten sich, -etwas abgesondert von den andern, auf die Wolldecke. - -„Gebratenes Huhn und Rotwein, im Freien genossen – darüber hinaus gibt -es nichts.“ Die andere Braut sagte dem Genießer, wer der Gast sei, dann -wurde es auch auf dieser Wolldecke stiller. - -Die fünfundzwanzig gepflegten, gesunden Menschen gehörten den reichsten -Familien der Stadt, die Männer fast alle Jürgens Generation an: -Fabrikantensöhne, die in den Geschäften der Väter arbeiteten oder sie -schon selbständig führten, wie Adolf die Knopffabrik und das -angegliederte Knopfexporthaus. - -„Tüchtige Kerle! Daß der dort sich schon einen Namen in der Wissenschaft -gemacht hat, weißt du ja. Unser Abiturientenjahrgang kann sich sehen -lassen. Einer ist sogar schon Reichstagsabgeordneter. Der war ja immer -einer der besten Schüler.“ - -Elisabeth begann von Literatur zu sprechen, lobte ein jüngst -erschienenes Buch. Jürgen, ausgehungert, aß schweigend und viel. - -Streitsüchtig nannte Adolf eine Anzahl so schlechter Bücher, die er für -weit besser halte, daß Elisabeth lachen mußte. Und zu Jürgen, mit einem -Blick des Einverständnisses: „Davon versteht er gar nichts.“ - -Die sechs Kraftwagen rollten langsam hügelaufwärts. Nachdem Elisabeth -erzählt hatte, daß sie erst vor ein paar Tagen wieder Jürgens Tante -besucht habe, die bedenklich krank sei, sprach Adolf sehr orientiert von -der Wirtschaftslage des Landes. „Die ganze Dichterei ist mir, offen -gestanden, natürlich recht gleichgültig, und was du treibst – Arbeiter -verhetzen, Bomben fabrizieren, wie? – ist gar der reine Blödsinn ... -Sieh dir an, was unsere Industrie auf dem Weltmarkte gilt, und werde -vernünftig! Das ist der Rat eines Menschen, der kein Jüngling mehr ist, -sondern die Verantwortung für das Wohl und Wehe von sechshundert -Angestellten und Arbeitern ganz allein zu tragen hat. Meine Freunde -hier, sieh dir sie an – lauter tüchtige Menschen! Der eine im Bankfach, -andere in der Industrie oder in der Wissenschaft, in der Politik, -Menschen, die sich und ihr Vaterland vorwärtsbringen ... Und Leo Seidel -– erinnerst du dich noch an den Sohn des Briefträgers? Die -Weltgeschichte, weißt du! Der ist heute, nachdem er eine Zeitlang -Impresario und weiß der Teufel was alles gewesen war, Bankier in Berlin. -Sitzt im Aufsichtsrat von einem Dutzend großer Aktiengesellschaften. -Eine tolle Karriere! In ein paar Jahren kann er durch das Geben oder -Verweigern seiner Unterschrift die Börse beeinflussen. Würde mich nicht -wundern ... Wirklich, solltest meinen Rat befolgen und die Augen auch -aufmachen.“ - -Jürgen lächelte das Lächeln eines Menschen, der seiner Sache sicher ist, -diesen Rat nicht nötig hat, und gab keine Antwort, reichte beiden die -Hand, schlug Elisabeths Bitte, im Wagen mit zurückzufahren, ab und -schritt, nach einer knappen Verbeugung zur Gesellschaft hin, waldwärts. - -‚Wie schloß Adolf seinen Hymnus auf sich und auf die Stellung unserer -Industrie in der Welt?: Nur wer auf irgendeinem Gebiete etwas leistet, -hat Macht. Und nur dem Mächtigen gehört das Leben.‘ - -‚Das stimmt. Aber wer sind die Mächtigen und was für Eigenschaften -müssen sie besitzen, um mächtig werden zu können? ... Es gibt eine -bestimmte große Anzahl solcher, die schon oben geboren werden und sich -eben weiter vorwärtsbringen, wie geölt; eine kleine Anzahl Leo Seidels, -die nicht nur über Verstand, Begabung und eiserne Gesundheit, sondern -auch über eine ganz besonders große Portion Brutalität, -Rücksichtslosigkeit und Gemeinheit verfügen müssen, um durch die -erdenbreite Eisenplatte, die auf den Rücken der Millionen lastet, durch- -und hinaufkommen zu können. Außerdem gibt es noch einige Jürgens, die -oben sein könnten, aber heruntergehen und nur auf der Leiter des Verrats -an der Idee wieder hinaufzusteigen vermöchten ... So liegt die ganze -Drahtleitung.‘ - -Innerlich grau geworden, starrte er den sechs Kraftwagen nach, die, -schon in weiter Ferne, eben um den Fuß eines bewaldeten Hügels -herumsausten, auf der Höhe wieder erschienen und, ein sich -schlängelnder, dünner, schwarzer Strich, im Blau verschwanden. - -‚Im Auto würde man aus der tiefsten Tiefe des Trichters, in dem das -Proletariat kämpft und krepiert, sehr schnell heraus und nach oben -kommen, wo das Leben ist ... Ja, ich brauchte sogar nur einen einzigen -Gedanken zu denken, den Gedanken: Jeder für sich! Oder: Vervollkommnung -der Persönlichkeit! Und schon würde ich oben sein.‘ - -Erfüllt von Widerwillen gegen alles, gegen das Leben und gegen sein -Leben, gegen die Ausflügler und gegen den Bildungskurs, den er heute -abend noch abzuhalten hatte, langte er vor der Haustür an. ‚Die Jugend -scheint bei mir vorüber zu sein. Die Jugend! Man wird älter und alt!‘ Er -nahm dem Postboten einen Brief ab. Die ungelenke Handschrift war ihm -nicht bekannt: Phinchen flehte, er solle kommen, die Tante sei noch -immer sehr krank. Und weshalb er auf den letzten Brief nicht geantwortet -habe. - -„Jetzt wirst du großen Hunger haben.“ - -„Nicht einmal! Ich habe ja ... Ich habe eigentlich wenig Appetit ... -Hier, lies den Brief!“ - -„Fühlst du dich nicht wohl? Ich meine, weil du nicht hungrig bist.“ - -„Doch, ich bin ganz gesund ... Aber, was meinst du, soll ich da tun?“ - -„Weshalb solltest du sie nicht besuchen!“ - -Während des ganzen eineinhalbstündigen Vertrages, den Jürgen im -Bildungskurse hielt, fühlte er sich gepeinigt von dem Bewußtsein, seine -Begegnung mit den Ausflüglern Katharina verschwiegen zu haben. Erst -gegen Morgen, nach einer in unruhigem Halbschlafe verbrachten Nacht, -schlief Jürgen ein. - -Und stand um zwölf Uhr vor der Villa, die er vier Jahre nicht mehr -gesehen hatte. Die Tante saß, in Decken gehüllt, im Lehnstuhl. Phinchens -Gesicht, glücklich lächelnd, war tränennaß geworden beim Erblicken -Jürgens. - -Es sei, wie immer, die Brust, antwortete die Tante. Sie trug, wie immer, -ihr schwarzseidenes Spitzenkopftuch, sah ganz unverändert aus. Bei dem -linken Ohre beginnend, über Schläfe und Stirn, bis zum rechten Ohr, -lagen, platt angedrückt wie immer, die mit der Brennschere sorgfältig -gedrehten schwarzen zwölf Fragezeichen. - -Erst in diesem Zimmer, wo der Fußboden so rein war wie der Vorhang und -so funkelte wie die Fensterscheiben und die polierten Möbel, fühlte -Jürgen, sitzend an dem einladend gedeckten Tisch, wie heruntergekommen -er in seinem letzten Anzuge aussehen müsse. - -Die Tante sprach nicht, fragte nicht. Und bemerkte alles. War entsetzt -über Jürgens Aussehen. ‚Seine Manschetten sind ausgefranst, die -Hemdbrust und der Kragen ungewaschen. Diese Stiefel! Die Absätze sind -schiefgetreten bis zur Kappe.‘ - -Und ohne Überleitung, als ob sie, während Jürgen aß, an nichts anderes -gedacht hätte: „Ich würde ... wir würden noch einen zweiten Stock -aufsetzen lassen. Ihr würdet oben wohnen. Die Grundmauern der Villa sind -stark.“ - -„Wer soll oben wohnen.“ - -„Wenn du heiraten würdest.“ - -Jürgen schüttelte den Kopf. ‚Es ist doch zu toll!‘ Antwortete nicht, aß -weiter. Er saß mit dem Rücken zur Tante. Der Lehnstuhl stand am Fenster -in der Sonne. - -„Und wenn ich sterbe, könnt ihr unten Wohnzimmer, Eßzimmer und Salon -haben, im Stock Empfangsräume, und oben schlafen ... Phinchen würde ja -auch bei euch sein ... Und der Garten. Der schöne Garten!“ - -Phinchen versuchte, das Weinen zu verschlucken, heulte los und rannte -mit der vollen Schüssel wieder hinaus. Es war still. Die Tante blickte -Jürgens Rücken an, sah durchs Fenster auf den blühenden Magnolienbaum, -wieder Jürgens Rücken an. „Aber wissen müßte ich, wem ich mein sauer -erworbenes Vermögen hinterlasse. Denn so schwer es mir auch fallen würde -...“ - -Er legte die Gabel, mit der er ein Stück Fleisch von der Platte hatte -nehmen wollen, wieder zurück, wandte sich langsam um. „Du müßtest mich -enterben, was?“ - -„So furchtbar schwer mir das auch fallen würde!“ - -„Und du glaubst, daß ich mich ... Glaubst du denn wirklich, daß ich mich -mit so etwas bestechen lasse?“ - -Die Tante strich sich über die Augen, legte die Hand an das Kinn, sah -weg. Und Jürgen drehte sich wieder um zum Tisch. So stehts denn doch -noch nicht mit mir, dachte er. Und, plötzlich im Tiefsten betroffen: -‚Was war das? Was war das? Was?‘ - -„Ich sage dir nur, was mein Herz mir eingibt.“ Die Tante redete weiter. -Er hörte nichts mehr. ‚Was war das? ... Wie also stehts denn mit mir?‘ - -So sitzt sie immer, wenn sie einem Plane nachhängt, dachte er auf der -Straße. Er wußte nicht, wann und wie er die Villa verlassen hatte. ‚Wie -ging ich denn weg? ... Was war das? Wie also stehts mit mir? ... -Streicht sich mit der Hand erst über die Augen und dann bleiben ihre -Fingerspitzen am Kinn haften. So macht sie es immer. Da sitzt dieses -winzige, gelbgesichtige Persönchen im Lehnsessel und macht Pläne: über -das morgige Mittagessen, oder ob sie ihr Vermögen, ihr sauer erworbenes, -vergrößern kann, wenn sie dieses oder jenes Wertpapier kauft oder -verkauft, oder über den Tag der nächsten großen Wäsche, oder über mein -zukünftiges Leben. Wenn sie Schlitzaugen hätte, würde sie ganz so -aussehen wie eine alte Chinesin.‘ - -Plötzlich blieb er stehen. ‚Alles das stimmt. Ist aber ganz unwichtig; -wichtig ist, zu wissen, was eigentlich mit mir los ist ... Was will ich -denn?‘ Die weiße, linealgerade Landstraße schoß wie ein Pfeil in den -geheimnisvollen Horizont. ‚Das ist Unsinn. Das Fortlaufen ist Unsinn ... -Aber das Gefühl, das hinter diesem Wunsche steht, ist kein Unsinn. -Dieses Gefühl bin ... ich, ist der Mensch in mir, so wie er ist ... Wie -er offenbar nun einmal ist!‘ - -Und dann geschah es, daß Jürgens Körper selbsttätig auf die Bank in der -Anlage zuschritt, sich setzte. Und nun: Hände weg von allem! Alle -Muskeln entspannt! Alles Denken und jede Selbstbeobachtung aufgegeben! -Den Willen ausgeschaltet! Weg mit dem Bewußtsein! Der Mensch, er allein! -soll sagen, was er will, dachte Jürgen noch und schloß, bereit, zur -Kenntnis zu nehmen, was auch kommen möge, ganz entspannten Wesens die -Lider. - -Anfangs kam nichts. Knapp vor den Augen farbige Pünktchen im Grau. Er -saß in der Mitte seines Lebens, in dem nichts war. Saß so still, so -leblos, daß ein Vogel anflog, auf der Banklehne zwitschernd hüpfte, -wieder abflog. - -Menschen und Gesichtsausdrücke, Menschengruppen, eine Flußlandschaft: -Lebensbilder, die vor langer Zeit Jürgens Gefühl getroffen hatten und -deren Sinn ihm unerkennbar blieb, tauchten auf, schemenhaft, verblaßt, -und versanken wieder. „Das ist nebensächlich“, flüsterte er einige Male. - -Ferne Stadtgeräusche, kaum hörbar von Hupentönen durchstoßen: Das Leben -der Gegenwart, die Arbeit, die ihren Gang ging, laut und leise. Bei der -Bank war es still. - -Ein schwarzgekleideter Herr dreht die Schulter halb rückwärts, grüßt, -etwas hochmütig, nach der Seite hin. Viele Herren und dekolletierte -Damen bewegen sich unter den lichtblitzenden Riesenkronleuchtern im -großen Saale. Alle grüßen den Schwarzgekleideten. Blicke, achtungsvolle, -neidische, prüfende, folgen ihm. - -‚Der Schulkamerad, der sich in der Wissenschaft schon einen Namen -gemacht hat ... Mag er!‘ - -Sie essen nicht, trinken nicht; sie gehen umher, blicken dem -Schwarzgekleideten nach, sprechen über ihn und warten. ‚Nein, Musik ist -keine da.‘ - -Jürgen, in knappsitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte Kraft in -Schultern und Brust, beherrschtes, natürliches, berechtigtes -Selbstbewußtsein in Blick und Worten, tritt ein, spricht leicht und -freundlich mit seinen Partnern, die schnell wechseln, sich unauffällig -an ihn heranmachen. Keiner hat ein eigenes Gesicht. Der auf der -Anlagenbank sitzende Jürgen sieht und fühlt nur sich, nur den seines -Geistes und seiner Kraft und Macht bewußten Frackherrn-Jürgen, der -höflich zuhört, knapp und freundlich antwortet. - -Der andere Schwarzgekleidete schrumpft zusammen, drückt sich unbeachtet -an der Seite umher. Der Mittelpunkt ist Jürgen. Denjenigen, die sich an -ihn nicht heranwagen, geht er selbst entgegen, begrüßt sie -liebenswürdig, nicht herablassend, nicht hochmütig. ‚Wer eine Leistung -vollbracht hat, wer etwas leistet, ist nicht hochmütig, hat es ja auch -nicht nötig, hochmütig zu sein.‘ - -Alle sprechen von ihm. Aller Blicke sind auf ihn gerichtet. Jürgen ist -so sehr Mittelpunkt, daß er sich bemüht, weniger Mittelpunkt zu sein, -das Interesse etwas auf den anderen Schwarzgekleideten abzulenken, wofür -er verhaltenes Lächeln der Bewunderung erntet. Sein Wille, sein Geist -wirken in allen, bestimmen Gedanken, Gefühle und Mienen aller -Anwesenden. - -Jürgen lehnte nicht mehr, entspannt, Augen geschlossen, in der Bankecke; -gleichzeitig mit dem Eintritt des Frackherrn-Jürgen in den Saal hatte er -sich aufgerichtet, war mit seinen Gefühlen in den Eingetretenen -hineingeschlüpft. Seine Schultern und seine Hände, sein Gesicht hatten -alle Bewegungen und das Mienenspiel des andern mitgemacht. - -Er saß, alle Muskeln gespannt, vorgebeugt, starrte auf den grünen -Bretterzaun, in den er das Bild seines Wunsches hineingesehen hatte. Und -als er plötzlich nur noch den grünen Bretterzaun sah, strich seine Hand -über die Augen und blieb, wie die der Tante, am Kinn haften. - -‚Das also wünsche ich ... wünscht er: der Mensch in mir.‘ - -Langsam lehnte er sich wieder zurück. ‚Aber welcher Art ist denn seine -Leistung? Was hat er ... was habe ich ... also, ich meine, was möchte -ich denn eigentlich leisten? ... Ist ja ganz gleich, was einer leistet, -wenn er nur überhaupt auf irgendeinem Gebiete, ganz gleich welchem, -etwas leistet und Macht und Einfluß gewinnt.‘ - -Eine Stunde später saß er untätig an seinem Küchentisch. Der Artikel, -den er zu schreiben hatte, langweilte ihn. ‚Immer wieder der selbe -Artikel!‘ Seine Hand legte den Bleistift hin, wurde zur Stütze für den -Kopf. Der Frackherr-Jürgen tritt in den großen Saal. Das Bild verschwand -sofort wieder. - -Denn im Nebenzimmer begann das Klappern der Maschine. Der Haß gegen das -Klappern sickerte in jeden Herzschlag hinein. Im besonnten Hofe war es -vollkommen still. Die Proletarierkinder trieben sich im Walde umher. Von -den alten, faulenden Küchenabfällen stiegen Dämpfe auf. Das Fenster -stand offen. - -Plötzlich vernahm der reglos Sitzende das feine Klingeln. Horchte. -Blickte. Vernahm es wieder. Maßlose Wut stieg in ihm auf. Mit äußerster -Vorsicht griff er nach dem Schotterstein, der ihm als Papierbeschwerer -diente, schlich auf den Zehenspitzen unhörbar zum Fenster, stand, die -Hand wurfbereit erhoben. - -Da hörte die Maschine auf zu klappern. Katharina trat ein. „Wollen wir -... Was machst du denn da?“ - -„So sei doch still!“ brüllte er ihr ins Gesicht, drehte sich wieder um -und schleuderte voller Wut den Schotterstein in die Richtung, wo er die -Ratte vermutete. „Das verdammte Vieh! Dieses unerträgliche Geklingel!“ - -„Das Klingeln war dir doch immer so angenehm in den Nächten, wenn du -schriebst, und jetzt, auf einmal ...“ - -„Ja, jetzt, auf einmal! Siehst du, jetzt, auf einmal!“ - -„Ich wollte dich eben fragen, ob wir heute, weil der Tag so schön ist – -einen Spaziergang in den Park, hatte ich gedacht. Aber wenn du so bist -... So warst du noch nie zu mir ... Dann tippe ich lieber weiter.“ Sie -schritt zur Verbindungstür. Er, vornüberstürzend, ihr nach. - -Später saßen sie, versöhnt, im öffentlichen Parke, in dem sie vor elf -Jahren das erstemal miteinander gesprochen hatten, von Duft und Farben, -Blumen, spielenden Kindern, Himmelsbläue und Gouvernanten umgeben, wie -heute. - -„Seither ist jene Generation groß geworden und schon in die Privilegien -der damaligen Väter nachgerückt“, sagte Katharina. „Und die Last liegt -heute wie damals auf den andern.“ - -„Ja, wo sind die Erfolge der Arbeiterschaft! Nichts! Der Sozialismus -schwebt nach wie vor in blauer Ferne.“ - -„Das wollte ich damit nicht sagen“, entgegnete ruhigen Tones Katharina. - -Auf dem Reitwege, nur durch eine brusthohe Buchshecke von dem Parke -getrennt, galoppierte eine Gruppe Damen und Herren vorüber. Die beiden -saßen reglos und schwiegen. Auf der breiten Fahrstraße rollten -Equipagen, überholt von einzelnen Reitern. - -„Es ist am besten, wir kriechen wieder in unser Loch zurück“, sagte -Jürgen, dessen Wesen zweigeteilt war wie eine Schleudergabel. - -Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich sich selbst. Das lange, -postgelbe Automobil des Bankiers Wagner rollte vorüber. Die zwei Damen, -in die Polster zurückgelehnt, machten eine Spazierfahrt durch den Duft. -Eine dunkle Riesenfaust preßte Jürgens Herz zusammen, als er Elisabeth -erkannte, die sich umwandte und prüfenden Blickes die beiden ansah. Sie -war eben bei der Tante zu Besuch gewesen. - -„Das ist Elisabeth Wagner“, sagte Katharina. „Elisabeth war im Institut -eines der klügsten Mädchen gewesen ... Gestern wurde erzählt, das -Bankhaus Wagner stehe vor dem Zusammenbruch. Ich habe es von den -Genossen in der Hommesschen Papierfabrik erfahren. Der Betrieb würde im -Falle eines Zusammenbruches geschlossen werden müssen. Elisabeths -Bräutigam hat die Verlobung gelöst. Ein konsequenter Herr!“ - -Schwuppdich, dachte Jürgen. - -„Aber hast du das andere Mädchen gesehen. Sie ist wunderschön. Eine -Jugendfreundin von mir. Der Garten ihrer Eltern stößt an den Garten -meiner Eltern. Von ihr kann ich dir eine traurige Geschichte erzählen. -Die traurigste Geschichte, die ich kenne!“ - -„Nein, nein, nicht umkehren!“ bat Katharinas schöne Jugendfreundin und -legte scheuen Blickes ihre Hand auf Elisabeths Hand. Aber der Chauffeur -hatte die Schleife schon genommen. Das Auto rollte sehr langsam auf die -beiden zu. - -„Kennst du sie denn? Elisabeth hat dir zugenickt.“ - -„Wieso denn mir!“ sagte Jürgen. „Nun, und die traurige Geschichte von -der andern?“ - -Da wandte auch diese sich um und blickte, wie zurück in ihre Kindheit, -gefühlsschwer Katharina an, die erzählte: - -„Bis zu unserem siebzehnten Jahre waren wir immer zusammen, jeden Tag -viele Stunden. Wir haben einander das Versprechen gegeben, uns ganz -aufzuopfern, auch nie einem Manne anzugehören. Wir wollten die Welt -erlösen. Um jeden Preis!“ - -„Das wollen sehr viele in ihrer Jugend.“ - -„Ja, und später lächeln sie darüber ... Wenn sie nur über die Art, wie -sie helfen oder die Welt ändern wollten, lächeln würden, hätten sie ja -ganz recht; aber sie lächeln, weil sie es überhaupt tun wollten. Sie -lächeln nicht nur über den Inhalt ihres Idealismus; sie lächeln über den -Idealismus ihrer Jugend überhaupt.“ - -Und dann sagte Katharina, rätselhaft tief bewegt, den Satz vor sich hin: -„Viele Menschen tragen als Kinder in den Augen ein Ideal, das erstrebt -zu haben sie später lächeln macht; und doch wiegt vielleicht allein die -Tatsache, daß sie dieses Ideal einmal wenigstens erstrebt hatten, -schwerer als alle Ziele, die sie später tatsächlich erreichten.“ - -„Wie du das sagst! Es wird einem kalt. Wie du das sagst!“ - -„Dieses Mädchen ... du machst dir keinen Begriff, welch leidensfähiges, -mildes Herz sie hatte. Und jetzt – wie lebt sie! Sie ist mit dem -Oberstaatsanwalt verlobt.“ - -„Ist das die Geschichte? Ist sie das?“ - -„Eigentlich ist das schon die ganze Geschichte.“ Und dann erzählte sie -doch: Die Mutter ihrer Jugendfreundin, eine sehr gebildete, reiche Frau, -habe ihre Tochter ganz bewußt zur Wohltätigkeit erzogen. Immer habe das -Kind den Armen die Gaben reichen müssen. - -„Und da geschah es einmal – und dies ist die Geschichte –, daß das Kind -von seiner Mutter in den Garten geschickt wurde, einer alten -Bittgängerin ein abgetragenes Kleidungsstück zu bringen. Da bricht das -Kind, wie es unter dem Blicke der Alten steht, vor Trauer und Scham, daß -es geben und die Weißhaarige von ihm empfangen muß, in Schluchzen aus, -läßt das Geschenk fallen, läuft weinend zurück, kann und kann nicht -beruhigt werden, schluchzt sich in eine Krankheit hinein ... Von dieser -Zeit an hat es sich nie mehr zu solchen Wohltätigkeitshandlungen -brauchen lassen. Denk an, da war sie sechs Jahre alt. Ihr Herz wußte -schon alles ... Und jetzt? Wie furchtbar, wie tragisch ist das Leben, -daß selbst solch ein Wesen so erkranken, solch ein Herz so verhärten -konnte.“ - -Eine ungeheuere Erregung, die er mühsam zu unterdrücken versuchte, hielt -Jürgen gepackt. Nur um etwas zu sagen, fragte er: „Und wenn ihr einander -begegnet, grüßt ihr euch nicht?“ - -„Wie sollten wir! Jeder lebt auf einem anderen Planeten.“ - -Lebt auf einem anderen Planeten, flüsterte Jürgen innerlich. In weniger -als einer Sekunde war der Saal mit dem Frackherrn-Jürgen aufgetaucht und -wieder verschwunden gewesen. - -Und plötzlich glaubte Jürgen, seine Schädeldecke hebe sich ab vor -Grauen. Denn er wußte nicht, ob er selbst oder ob ein anderer in ihm -gedacht, gefühlt und gesagt hatte: ‚Wie entsetzlich! Dann ist er -unüberbrückbar auch von Katharina getrennt! ... Wer hat das gedacht?‘ -fragte er. ‚Das habe nicht ich gedacht.‘ - -„Es ist im Grunde die Geschichte aller in ihrer Jugend idealistisch -gewesenen Menschen“, hörte er Katharina sagen. „Du folgst deinen -Wünschen und Begierden gegen das bessere Wissen deines Herzens, betrügst -dein Bewußtsein, dein Ich, indem du nach Besitz, Macht, Erfolg, Genuß -und Achtung strebst, dann kann es geschehen, daß du viel erreichst oder -auch zugrunde gehst, in bürgerlicher Schande oder in bürgerlichen hohen -Ehren ertrinkst, oder vielleicht in der Familienbequemlichkeit und einer -– mittleren Stellung untergehst ...“ - -‚Das nun sollte mir nicht passieren.‘ - -„... daß du Automobile, betreßte Diener, eine Villa, verschönt durch -edle Kunstwerke und Bücher, die du nicht nur hast sondern auch -verstehst, daß du Fabriken, Ruhm, Achtung, Frauen, einen Kassenschrank -voll Aktien und Gewalt über Tausende von Menschen eroberst ...“ - -‚Das will er, der Mensch, der Frackherr in mir.‘ - -„... aber in jedem Falle mußt du – und dies ist die Tragik des Menschen -unseres Zeitalters – das Bewußtsein von der Wirklichkeit, wie sie sein -könnte und wie sie ist, mußt du dein Bewußtsein, die Leidensfähigkeit -und Güte deines Kindheitherzens und damit dein Ich, deinen Idealismus -verlieren, der in unserem Zeitalter nur in dem hingabebereiten Kampfe um -den Sozialismus seinen Inhalt haben kann.“ - -Und das weiß mein Bewußtsein, dachte Jürgen. Und hatte plötzlich gesagt: -„Dagegen kann ich nicht einmal etwas einwenden.“ - -Zuerst schwieg Katharina. Dann wich sie mit dem Oberkörper seitwärts, -sah Jürgen betroffen an: „Weshalb solltest denn du dagegen etwas -einwenden?“ - -Zum zweitenmal empfand Jürgen in seinem Herzen Zorn gegen Katharina und -schwieg. - -Erst auf dem Heimwege – die freistehende Mietskaserne kam schon in -Sicht: „Die Tante hat gesagt, es hänge noch ein ganz guter Anzug von mir -im Schrank.“ - -„Den solltest du dir holen, wenn sie ihn dir gibt ... Ich habe damals, -als ich wegging von zuhause, fast nichts mitgenommen. Aber wenn ich die -Sachen jetzt holen wollte, die würden mir nichts geben.“ - -„Ach nein, so ist sie nicht. Enterben, vielleicht ja; aber sonst ...“ - -Einige Tage sprachen sie selten miteinander; Jürgen hatte in Gegenwart -Katharinas das Gefühl, auf Luft zu gehen, und wich ihr aus, sooft er -konnte. - -Eines Abends, als er diesen Zustand qualvoller Spannung nicht länger -mehr ertragen konnte, sagte er: „Wer bis zu seinem dreißigsten Jahre -noch nichts geleistet und erreicht hat, wird auch später nichts mehr -erreichen.“ Er stand am Schreibtisch, Katharina neben ihm, mit dem -Rücken gegen das Fenster. Sie antwortete nicht. - -„So wird man schließlich vierzig. Und was kann dann noch viel -Erfreuliches kommen! Dann ist das Leben in der Hauptsache vorüber ... -Natürlich, wer ganz bedingungslos glaubt an den Sozialismus ... Wer -einfach glaubt!“ - -„Was willst du denn erreichen, Jürgen?“ - -„Das ist es ja eben. Ich bin kein Jüngling mehr. Man wird doch immer -älter – und älter ... Eh man sich versieht, ist das Leben vorbei, nicht -wahr?“ - -Katharina antwortete nicht mehr. Sie ging langsam auf die Verbindungstür -zu, ging durch, schloß die Tür. Sie stand in ihrem Zimmer. Sie legte die -Hand aufs Herz. Sie wußte alles. - -Jürgen sah, durch die verschlossene Tür durch, Katharina stehen, so wie -sie stand. Preßte die Hand auf das rasend klopfende Herz. Zuckte auf die -Tür zu. Wollte nachstürzen. - -Zuckte zwischen der Verbindungstür und der Ausgangstür wie ein von -Verfolgern eingekreister Flüchtling im Zickzack hin und her. Und stürzte -mit einem innerlichen, furchtbaren Todesschrei aus dem Hause. - -Rannte aus der Stadt hinaus, querfeldein, über Schollenäcker zum -Bahndamm, zwischen den Schienen weiter, bis vor das schwarze Tunnelloch. - -Diesmal blieb er nicht stehen und kehrte er nicht um. „Fort! Fort! -Fort!“ befahl der Herzschlag, jagte ihn den Schienen nach, hinein in die -Finsternis. - -Er stolperte. Seine Hände streiften den Boden. Er empfand darüber -Befriedigung. Raste weiter, stieß mit dem Kopf gegen die Mauer. Und -blieb keuchend stehen. In undurchdringliche Nacht gestellt, erblickte er -plötzlich seine Genossen, klein und weiß. Katharina blickt verächtlich -ihn an, deutet mit dem Finger auf ihn. - -„Fort! Fort!“ schrie der Herzschlag. Vor sich, weit in der Ferne, sah -Jürgen ein rotes Tunnellämpchen. Nach zwei Sprüngen war er schon daran -vorbei, stolperte, stürzte. Und blieb hocken, dicht neben dem Lämpchen, -das jetzt weit hinter ihm in der Finsternis schwebte. - -Glotzend hob er den Kopf, sah die schneeweißen, starren Gesichter seiner -Genossen. Duckte den Kopf zwischen die Schultern, schloß die Augen. Sah -die schneeweiße Gruppe der Genossen. Katharina dreht sich kalt und -gleichgültig weg. - -‚Wie sie mich verachtet!‘ - -Die Schienen im Tunnel begannen zu lispeln. - -Gierig suchte Jürgen nach jemand, der ihn nicht verachtete. Sitzt sofort -bei der Gesellschaft auf dem besonnten Hügel, neben Adolf und Elisabeth. -Die Tante und der Vater treten hinter dem Busch vor, blicken ihn -achtungsvoll an. - -Plötzlich steht Phinchen vor Jürgen im Tunnel, große Liebe im Gesicht. - -‚Phinchen, bin ich ein Verräter? Ja oder nein? Wer hat recht: Katharina -oder ich? Sage mir nur ruhig die Wahrheit. Ich halte alles aus.‘ - -‚Sie haben recht, lieber Herr Jürgen. Sind ein unendlich guter Mensch. -Ich weiß, wie sehr Sie schon als Kind und Jüngling gekämpft und gelitten -haben.‘ Phinchen kniet nieder. - -‚Brauchst nicht zu knien vor mir. Ach nein, vor mir braucht kein Mensch -zu knien.‘ Und er steht im großen Saale, beherrschte Kraft in Blick und -Miene, begrüßt seine Bewunderer ohne Herablassung und Hochmut. - -Katharina, schneeweiß, schreitet im Tunnel vorüber, auf die schneeweiße -Gruppe der Genossen zu. Des Hockenden Kopf sank wieder zwischen die -Schultern, tief auf die Brust. - -Das Lispeln der Schienen war vernehmlicher geworden. Die Luft im Tunnel -zitterte leise. Jürgen schluchzte. Warme Tränen rollten. - -Die Schienen sangen lauter und stählern. Ganz plötzlich bebte der Tunnel -so stark, daß Wassertropfen von der Decke fielen. Einer patschte kalt -auf Jürgens Hand. - -Er horchte in sekündlichem Entsetzen auf das rapid stärker werdende -Geräusch, sprang auf. - -Da knallte der Donnerschlag in den Tunnel. Der ganze Berg wankte. Die -glänzenden Schienen wurden zu roten Fühlern eines Riesentieres, die -Fühler wurden immer länger, strahlten sausend auf Jürgen zu. - -Er rannte ihnen entgegen, den Ausgang zu gewinnen. Ein ungeheurer Tumult -erfüllte zerstörerisch den Tunnel, umtoste Jürgen und zwang ihn, -stehenzubleiben. „... Bin ich verloren?“ - -Die Lokomotive krachte auf ihn los. - -Jürgen fühlte, wie seine Haare weiß wurden, gab sich auf und starb. - -Unabänderlich donnerte der Zug auf seiner vorgeschriebenen Bahn weiter. -Das Geräusch wurde mit einem Schlage hell. - -Noch eine Weile sangen die Schienen. Sandkörnchen fielen in die betäubte -Stille. - -Ein Mensch lag im Tunnel auf dem Gesicht. Für ihn hatte sich zwischen -Leben und Tod ein Drittes eingeschoben, das nicht Leben war und nicht -Tod. - -Jürgen war bei vollem Bewußtsein und wußte dabei nicht, ob er noch -existiere. Seine Augen starrten und erblickten nichts. Der Angstgedanke: -‚Wenn ich jetzt schreie und höre meinen Schrei nicht, bin ich tot‘, -verhinderte ihn, zu schreien. - -In dieses zeit-, raum- und vorstellungslose Nichts hinein erklang, da -Jürgen als einziges erdhaftes Ding plötzlich das rote Tunnellämpchen -erblickte, sein tierisch wilder Schrei nach dem Leben. - -Von den Flammen des Lebens emporgerissen, drehte er sich, den Ausgang zu -gewinnen, einigemal im Kreise und begann schreiend zu rennen, in -gieriger Sehnsucht nach dem wilden Nußbaum, der beim Tunneleingang -stand. - -Galoppierte in rasendem Tempo die Dunkelheit hinter sich und hinein in -eine fremde Gegend: Er war auf der anderen Seite des Tunnels -herausgekommen. In der Höhe stand still die zerfallende Burgruine, Erker -vornübergeneigt, als müsse er jeden Augenblick stürzen. - -Jürgen blickte in das schwarze Tunnelloch zurück, klopfte dabei -automatisch den Kohlenstaub von seinem Anzug, strich sich über die -Haare. ‚Sie werden weiß geworden sein ... Daran wird Katharina erkennen, -wie ich gekämpft und gelitten habe. Möge sie nur sehen, wie sehr!‘ - -Blickte noch einmal hinein in den Tunnel. „Entronnen!“ sagte er. -„Entronnen!“ Und wandte sich um. Da war die Welt, fern und nah. Sonne, -Blau, Grün und Fluß. - -Der Herr solle nur über das Großdorf machen. Von dort aus führe der Weg -direkt in die Stadt, sagte die verhutzelte Häuslerin und schob den -ächzenden Schubkarren weiter, auf dem eine hohe Ladung Fallholz lag. - -Jürgen wußte den Weg; er hatte nur gefragt, um eine Menschenstimme zu -hören. ‚Nur wer dem Tode entronnen ist, der, nur der weiß, was leben -heißt ... O, Anfang! O, Leben! O, Grashalm! O, Glück des Atmens!‘ - -So schritt er aus. ‚Komme, was will – ich lebe!‘ Als der hohe -Backsteinwürfel in Sicht kam, dachte er: Was sie sagen wird, daß ich mit -dem Leben davongekommen bin? - -„Wunderst dich, wie ich aussehe, was? Der Anzug, das Loch im Knie!“ Und -er erzählte. - -Sie aber hatte die schwerste Stunde ihres Daseins erlitten und -durchlitten und hatte aufgegeben und hinweggehen lassen, was nicht zu -halten war. - -„Kommt der Zug auf mich zugerast“, wiederholte er. „Es ist total -finster. Zermalmt er mich?“ Gierig suchte er Liebe und Schreck in ihrem -Gesicht. - -Sie war in dieser Stunde innerlich so grau und alt geworden, daß sie -geglaubt hatte, für den Geliebten nicht einmal mehr Verachtung empfinden -zu können. Und nun schlug sie, verletzend gleichgültigen Gesichtes, doch -verachtungsvoll zurück: „Wenn man sich eng gegen die Mauer preßt, was -kann da passieren!“ Auch dies noch ist ja überflüssig. Weshalb sagte ich -es. Weshalb rede ich noch, dachte sie. Und fühlte ihr wimmerndes Herz. - -„Verstehst du denn nicht ...“ - -„Ich verstehe dich schon, ich verstehe dich.“ Entschlossen, auf sich zu -nehmen, was unabänderlich war, sah sie ihn an, und ihr Blick fragte: -‚Was soll also jetzt geschehen? Was suchst du noch hier?‘ - -„Wie ich nur zugerichtet bin!“ Er zeigte auf das Loch in der Hose. Und -da sie schwieg und weiter fragte: - -„Jetzt wird es Zeit, daß ich mir den andern Anzug hole ... Wir könnten -uns später in der Stadt treffen, dann in die Redaktion gehen und -zusammen nachhause.“ - -Und als er fort war, dachte sie doch darüber nach, ob es keine -Möglichkeit gebe, ihn zu halten, ihn zum Ausharren zu bewegen. ‚Dadurch -vielleicht, daß ich mit rücksichtsloser Klarheit ausspreche, was ist?‘ - -Sie setzte sich an ihren Arbeitstisch, blickte blicklos in das Zimmer, -in dem, mächtig wie nie vorher, unvertreibbar die Vereinsamung stand. -‚Aber er ist sich ja klar; er kann ja nicht genommen werden wie ein -unklarer Mensch mit phantastisch idealistischen Vorstellungen und -Zielen, dessen Idealismus zersplittert, sobald er mit der harten -Wirklichkeit zusammenstößt. Jürgen kennt ja die Wirklichkeit, denn er -hatte den Inhalt seines Idealismus in dem Kampfe um den Sozialismus -gefunden.‘ - -„Das Bad ist fertig. Die Wäsche habe ich auf den Stuhl gelegt. Die -Schuhe stehen darunter“, sagte, glückstrahlend, Phinchen zu Jürgen. -„Unterdessen bügle ich den Anzug auf. Er ist noch sehr schön.“ - -‚Immer wieder sagte er: Man wird alt ... Und etwas erreichen will er. -Etwas werden. Einfluß gewinnen und Macht. Er will geachtet sein ... von -denen, deren Achtung entwürdigend ist für den, der sie genießt ... -Genießt. Er will genießen, leben ... Dies sind auch bei allen anderen -die Motive des Abfalls, des Verrates an der Idee, ob die Verräter nun -klar oder unklar, Sozialisten oder Phantasten waren. ‚Jeder für sich‘ -wird, uneingestanden, ihre Weltanschauung.‘ - -Auch als Jürgen, gebadet, in frischer Wäsche und in dem gutsitzenden, -schwarzen Anzug, die Treppe herunter auf das Wohnzimmer zuschritt, saß -Katharina noch am Tische, reglos. ‚Auch das alles weiß Jürgen selbst. -Deshalb muß und kann nur er selbst entscheiden ... Er hat entschieden.‘ - -„Ja, ich erwarte Besuch. Elisabeth Wagner und ihre Freundin. Wenn ich -gewußt hätte, daß du kommst, würde ich abgesagt haben.“ - -Er stand vor dem gedeckten Kaffeetisch. Ich kann ja gehen ... Die -Freundin wird wohl das schöne Mädchen sein, das in seiner Jugend ... -dachte er und fragte. - -„Ja, sie ist sehr schön und mit dem Herrn Oberstaatsanwalt verlobt ... -Auch dein Schulfreund, Karl Lenz ... Ist er älter als du?“ - -„Zwei Jahre. Er war nämlich so blöd, daß er im Gymnasium zweimal -sitzenbleiben mußte. Aber was ist mit ihm?“ - -„Schon Staatsanwalt geworden! Vor vierzehn Tagen. Denk an, so jung!“ - -‚Das sollte ja auch ich werden. Oder Amtsrichter! Dem bin ich -entronnen.‘ - -„Deshalb glaubte ich, Karl Lenz müsse ein besonders fähiger Schüler -gewesen sein.“ - -„Das nicht; aber Angehöriger der vornehmsten Verbindung.“ Jetzt -verschwinde ich, dachte er, als die Wohnungsglocke läutete. Und fragte: -„Geht es dir besser?“ Warf einen Blick in den Spiegel, der einen knapp, -sorgfältig und schwarzgekleideten Herrn zeigte. „Die Wäsche, die von mir -noch da ist, könntest du mir schon spendieren“, sagte er, schalkhaft -lächelnd. - -‚Das Geld hätten wir schon aufgetrieben. Wenn ihm unser Leben zu -ärmlich, zu leer war, wir hätten etwas besser wohnen, manchmal ausgehen, -mehr Bücher kaufen, im ganzen etwas besser leben können. Der Ingenieur -tut es ja auch. Gewiß ein guter Genosse! Eine Grenze nach unten, eine -Grenze nach oben – in der Mitte genug Spielraum, nicht so erlebnisarm zu -sein. Verkehr mit einigen sympathischen, klugen Menschen. Auch eine -kleine Reise hin und wieder. Innere Erfrischung. Jeder braucht sie. All -das würden keine unüberwindlichen Schwierigkeiten gewesen sein ... Aber -das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht. Er hat den Kampf aufgegeben. -Er paßt sich dem Leben an ... Aber mir, mir, warum hat er mir das -angetan. Warum hast du mir das angetan.‘ - -Gesicht neigte sich langsam auf die verschränkten Arme. Der ganze Körper -verzuckte im Weinen. Sie wimmerte immer den selben Ton. Ließ sich -versinken, ganz und gar preisgegeben dem Schmerze. - -Nach einer Weile tappte der Schnauz zu ihr, berührte sie mit der Pfote. -Und da sie reglos blieb, legte er sich in die Zimmermitte, Kopf auf den -vorgestreckten Pfoten. Drehte hin und wieder, ohne den Kopf zu heben, -die Augen zu ihr hin. - -„Plötzlich kommt der Zug angerast ... angerast. Zermalmt er mich? Wohin -springe ich? Es war total finster.“ - -„Allmächtiger!“ rief die Tante. Und Elisabeth: „Ich wäre vor Schreck -gestorben.“ Dabei lächelte sie und horchte gespannt; ihre grauen Augen -schienen zu sehen, wie das Eisenungetüm den Menschenkörper zermalmte. -Unter der zarten Haut ihres Halses tickte der Herzschlag. - -Jürgen unterdrückte die Genugtuung und sagte leichthin, auch er habe -geglaubt, seine Haare seien weiß geworden. - -„Und das erzählt er so, als ob er selbst gar nicht daran beteiligt -gewesen wäre“, sagte Elisabeth, mit anerkennendem Wechselblick zwischen -Jürgen und der Tante, die sich aufrichtete, einen geradeliegenden -Kaffeelöffel geradelegte und glatt heraus sagte: „An allem ist nur -dieses Mädchen schuld.“ - -„Aber Tante, sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst.“ - -„Und wenn du überfahren worden wärest!?“ - -„Nun, nun, ich brauchte mich ja nur eng gegen die Mauer zu pressen, was -konnte da viel passieren ... Natürlich“ – und er sah heiter lächelnd -Elisabeth an – „denkt man in so einem Augenblick nicht an das -Nächstliegende.“ - -„Das eine weiß ich: dein ganzes Unglück ist dieses Mädchen.“ - -Geschmacklos ist sie nicht, dachte Jürgen, da Elisabeth sich sofort auf -Katharinas Seite stellte durch ein Lächeln des Einverständnisses mit -ihm. „Das sollten Sie nicht sagen; Katharina ist doch immerhin ein -ungewöhnlicher Mensch, den man nicht mit dem gewöhnlichen Maße messen -darf.“ - -„Davon versteht die Tante nichts“, sagte Jürgen in dem selben Tonfall, -wie damals auf dem Hügel Elisabeth zu Jürgen gesagt hatte, von Literatur -verstehe Adolf nichts. - -Warme Sympathie und Achtung für Katharina erfüllte ihn und wohltuender -Stolz auf sie, die zusammengesunken und versunken in Schmerz und -Vereinsamung am Tische saß und weinte und nur und immer wieder das eine -dachte: Warum, warum hat er mir das angetan. - -Die Tante wurde mutig: „Daran kannst du sehen, wohin dich diese -Beziehung noch bringen würde ... hätte bringen können. Einfach in den -Tod! ... Ein zu verrücktes, ein ... unordentliches Mädchen, finden Sie -nicht auch?“ - -„Sie sollten nicht so streng sein gegen Katharina, die doch wirklich -nicht so beurteilt werden kann wie irgendein dummes bürgerliches -Mädchen.“ - -Jürgen zeigte die Miene eines Menschen, der es sich erlauben kann, -Dummheiten anzuhören, ohne zu widersprechen. Übrigens, auch Elisabeth -scheint keine bürgerliche Gans zu sein, dachte er. - -„Nichts als Unruhe, ewige Unruhe kommt dabei ... würde dabei ... wäre -dabei herausgekommen.“ - -„Die ist zäh“, sagte Jürgen, kräftig lachend, als die Tante aus dem -Zimmer war, sich umzuziehen für den Kirchgang. „Die gibt den Kampf nicht -so leicht auf. Jetzt glaubt sie, schon gesiegt zu haben in dieser Sache, -in der sie nie siegen kann. Niemals!“ - -Mit einem Blicke nahm Elisabeth den Kampf offen auf. So daß Jürgen nach -langem Blick- und Wortgeplänkel schließlich fragen konnte: „Und Adolf?“ - -„Er ist mir zu dumm. Einfach zu dumm!“ sagte sie, strahlend vor -ehrlicher Überzeugung. Und ob Jürgen sie begleiten wolle, sie müsse -Einkäufe machen. - -Auch Katharina ging, in der Hand das in Papier eingewickelte belegte -Brot, das sie abends in der Redaktion essen wollte, durch die -Geschäftsstraße. Der Schreck schlug durch ihren ganzen Körper durch. So -stand sie, gedeckt von der kauf- und schaulustigen Menschenmenge, die, -ein geschecktes, langes, vielhundertfüßiges Tier, langsam an den -Auslagen entlang kroch, und sah, wie Elisabeth Jürgen an der Schulter -faßte, ihn vor ein Spielwarenschaufenster führte. - -An der Art des Nebeneinanderstehens erkannte Katharina, daß sie schon -eine Gegnerin bekommen hatte, berührte mit der Zungenspitze nachdenklich -ihre Lippen und ging weiter. - -Immerzu sah sie die zwei vor dem Schaufenster stehen, sah Elisabeths -zartgegliederte, weiße Hand auf Jürgens schwarzem Rücken liegen und -dachte sich den deutenden Zeigefinger dazu. ‚Was sie ihm wohl gezeigt -haben mag? Eine Puppe? Ein Schaukelpferd?‘ - -Die ganze Straße hinunter interessierte Katharina sich dafür, auf was -wohl Elisabeth Jürgen aufmerksam gemacht habe, stellte sich die -Gegenstände eines Spielwarenschaufensters vor. Erst als sie mit dem -innern Blick plötzlich des Geliebten Gesicht sah, stellte sie sich der -Hauptsache. Der schneidende Schmerz zwang sie, Hand auf dem Herzen, -stehenzubleiben. ‚Und jetzt? Was ist jetzt? Soll ich ... soll ich -kämpfen um ihn?‘ - -Aber das Bewußtsein, daß Jürgen ja nicht ihr, sondern sich selbst und -seiner Hingabe entlaufen sei, und daß sie, was sie durch den Kampf um -ihn gewönne, nur auf Kosten ihrer Hingabe gewinnen könne, stieß -Katharina hinein in die graue Hoffnungslosigkeit. - -Dennoch stand sie zur verabredeten Zeit an der Straßenecke, gepeinigt -von dem Bewußtsein, daß sie, in ihrem persönlichen Leben nun so ganz und -gar verarmt, noch die Gebende sein müsse. Denn der Fraueninstinkt sagte -ihr, daß Jürgen nur deshalb für Elisabeth interessant und begehrenswert -sei, weil er mit der als merkwürdig und unnahbar geltenden Katharina -befreundet war. ‚Wenn sie seine Frau wird, hat er das mir zu verdanken. -Wie entsetzlich!‘ Katharina fror bei diesem Gedanken. - -Sorgfältig gekleidet, durch Bad, reine Wäsche und durch das -Beisammensein mit Elisabeth erfrischt, schritt er, beherrschte Kraft in -den Gliedern, lebensfroh dem verabredeten Orte zu, sah Katharina stehen, -sah sekündlich den unüberschreitbaren Abgrund, den seine momentanen -Gefühle zwischen ihm und Katharina aufrissen, blieb stehen, stand an dem -Rande des Abgrundes, der nur gleichzeitig mit diesen neuen Gefühlen -verschwinden konnte, die schon nicht mehr verschwinden konnten, tappte -über den Rand des Abgrundes hinaus, stand und schritt auf Luft. Wildes, -besinnungsloses Aufsiezustürzen kam in seinen Gang und falsche -Wiedersehensfreude und gleichzeitig Scham in sein Gesicht. - -Sie aber stand, ein Mensch, grau und wissend und bewußt, und nahm auf -sich ihr Schicksal. So blickte sie ihn an. - -„Wie die leben, die Bürger! Die, ah, die wissen schon, was sie wollen -... Aber was alles sie zusammenredet, die Tante, du machst dir keinen -Begriff ... Für die ist alles höchst einfach.“ - -„Deine Tante will, daß es dir gut gehe; sie will, daß du Elisabeth -Wagner heiratest.“ Sie horchte auf sein falsch-herzhaftes Lachen und -fühlte: Wie weit, wie weit ist er schon weg. - -„Wahrhaftig, du sagst es. Genau das will sie ... So ein Unsinn! ... Hab -mich aber ganz gut mit ihr unterhalten. Sie ist nicht dumm, weißt du, -und eigentlich gar nicht bürgerlich ... Ein liebenswürdiges Geschöpf.“ - -„Ja, Jürgen, sie ist ein kluges Mädchen, ein liebenswertes Mädchen.“ - -„Kennst du sie denn so gut, weil du sagst, sie sei ein liebenswertes -Mädchen?“ - -„Weshalb denn kein liebenswertes Mädchen, Jürgen, weshalb nicht -liebenswert“, sagte Katharina in schwerem Leid und dachte: Wie wiegen -die Worte so schwer ... fallen wie Blei. - -„Sie hat sogar deine Partei ergriffen, hat dich verteidigt.“ - -‚Wie ist es möglich, daß er mich so beleidigt.‘ Die Häuser neigten sich; -die Straße drehte sich um Katharina herum. Sie mußte sich festhalten an -Jürgen, nicht zu versinken in dem schwarzen Nebel vor ihren Augen. - -„Du arbeitest zuviel; solltest dich schonen, etwas mehr schonen.“ - -Da riß ihr Blick, in dem nicht Zorn und nicht einmal mehr Verachtung -war, alle Masken und jede Selbstbelügung weg und traf ihn so, daß er -plötzlich vor der Tatsache stand. - -Seine Stimme war rauh: „Entscheide du!“ ‚Laß mich leben oder knalle mich -nieder; aber entscheide du!‘ schrie, völlig preisgegeben, sein Wesen. -Die Augen glotzten. - -Sie schwieg, bewegte den Kopf nicht. Nichts rührte sich an ihr und in -ihr. Ihr Blick blieb blicklos. - -Und Jürgen wußte, daß auf der Welt nur er allein entscheiden konnte, -gestand zum erstenmal sich ein, daß er sich schon entschieden hatte. -„Geh, Katharina, geh, geh du nachhause jetzt, Katharina.“ Seine Stimme -ertrank in innerlichem Weinen. „Schlafe gut.“ - -„Schlafe du auch gut.“ - -Das war der Abschied. - -Ihr Leben öffnete sich bis in die frühen Kindheitstage. Sie sah die -lange Kette des Leides und der Hingabe. Sah, was ihr noch verstattet und -beschieden sein konnte. Sie nahm ihr Leben an die Brust. - -„Du auch, schlafe du auch gut“, flüsterte Jürgen immerzu und mußte dem -Zwange folgen, immer in die Mitte der Steinplatten zu treten, mit denen -der Gehweg belegt war. Um nicht auf eine Ritze zu treten, mußte er drei -ganz kleine Schritte machen. „Schlafe du auch gut.“ Und einen Sprung, da -eine große Platte kam. „Du auch gut.“ - -Überquerte halb die Straße, lief zwischen den Schienen weiter. Die -Straßenbahn kam auf ihn zugesaust. „Entscheide dich! Entscheide dich!“ -schrie er, gepackt von dem Zwange, die Schienen erst verlassen zu -dürfen, nachdem er bis zehn gezählt hatte. „... zwei ... fünf ... acht, -neun, zehn ...“ - -„Noch bis fünfzehn!“ schrie er. Zählte: „... zwölf, dreizehn, vierzehn -...“ - -Und erwachte zwei Tage später im Schlafzimmer der Tante, Kopf und Beine -in dicken Verbänden. Elisabeth saß bei ihm. - - - - - VI - - -Duftlose Blumen standen im Krankenzimmer. Phinchen trug ihr Glück auf -den Zehenspitzen, auch wenn sie im Keller oder im Dachboden war. ‚Die -Pflege muß besser sein, als im besten Sanatorium‘, stand auf -unsichtbaren Tafeln. In der Villa wurde nur noch geflüstert. Wenn die -Tante einen Auftrag zu erteilen hatte, schlich sie, balancierend, auf -Phinchens rund sich öffnenden Mund zu. Jürgen war unumschränkter Herr -und zugleich das Kind im Hause, wohlbehütet Tag und Nacht. - -Im Garten schaffte der Frühling. Wenn Jürgen auf dem Sonnenbalkon im -Liegestuhl ruhte, an warmen Tagen stundenlang wachträumend vor sich -hindöste, sah er, wie das Sein, das Leben, die Sträucher in sich leise -zuckten, wie ein Blättchen sich aufrollte, der Sonne entgegen. - -Halb fühlte und halb dachte er: Mein Leben steigt noch einmal von Grund -auf an. Eine zweite Kindheit! Mein Leben rollt sich auf, so sanft, so -mild. - -Im Halbschlafe ging er über Brücken, immer wieder von neuem und immer -weiter über Brücken. ‚In dieser Gegend gibts nur Brücken. Nichts als -Brücken!‘ - -Keine Schärfe war in dem Geschwächten. Kein Wunsch berührte ihn. Alle -Kämpfe, alle Leiden lagen weit zurück. Katharina lebte ganz verblaßt in -blauer Ferne. - -Seine weichen, beglückenden Seelenstimmungen, die Wohlgefühle der -Gesundung und seine unbestrittene Macht über die Tante, die den -Zurückgekehrten wie einen tausend Gefahren entronnenen, -schwerverwundeten Krieger betreute, erhielten ihren Grundgehalt von dem -Gefühle: ‚Ich habe diese Ruhe mir verdient!‘ Alles fügte sich -widerstandslos ineinander. - -„Ich verabschiede mich von Katharina“, konnte Jürgen ohne -Erinnerungsschwierigkeit erzählen, als er, frei von den Verbänden, -heiler Haut und Elisabeth am Arme, dem weißgedeckten Kaffeetisch unter -dem Nußbaum zuschritt, „verabschiede mich wie immer: Gute Nacht, -Katharina, schlafen Sie gut. Wie man eben so sagt, nicht wahr. Schlafen -Sie auch gut, antwortet sie mir. Und ich gehe die Straße hinunter, -beschäftigt mit einem Gedanken, allerdings mit einem jener -entscheidenden Gedanken, – ich nenne sie Mittelpunktgedanken – die uns -das ganze Leben plötzlich von einer völlig neuen Seite sehen und -verstehen lassen.“ - -Auch an dem Unglücksfall ist dieses entsetzliche Mädchen mit ihren -verrückten Ideen schuld, hatte die Tante, als Jürgen ins Haus gebracht -worden war, zu Phinchen gesagt. Jetzt ließen Angst und Scheu vor dem -Zurückgekehrten nicht einmal die Erinnerung daran, daß sie dies gesagt -hatte, in ihr aufkommen. - -Bereit, den Satz nicht zu Ende zu sprechen, sagte sie vorsichtig: -„So tiefsinnige Gespräche sind vielleicht nichts für einen -Rekonvaleszenten.“ - -„Die Tante hat ein Kind bekommen. Das päppelt sie“, spottete Jürgen, der -in Gegenwart Elisabeths nicht als Kind behandelt und nicht bemitleidet -sein wollte. - -„Du hast viel gelitten, Jürgen.“ - -Sein Blick, in dem Zorn sich schon ankündigte, ließ die Tante sofort -verstummen. Sie häkelte schweigend weiter an dem Sesselschoner und -häkelte weiter an ihrem Plane. Ihr Bankier hatte sie lachend beruhigt -über den Stand des Bankhauses Wagner; dieses Gerücht sei nur ein -Börsenmanöver der Konkurrenz gewesen. - -Zwar ist die Familie Wagner sehr jung, der Vater des Bankiers noch -Häusermakler gewesen, dachte die Tante. ‚Die Geschichte der Familie -Kolbenreiher dagegen kann bis in die Anfänge des fünfzehnten -Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Aber mit der Zeit werden auch junge -Familien alt.‘ Dabei horchte sie auf die Stimme Jürgens, der selbst das -Gefühl hatte, selten so mühelos geistvoll gesprochen zu haben. - -Von den Zehenspitzen bis zur Schädeldecke voller Ruhe, blickte sie -Jürgen und Elisabeth nach, der kein Mensch ansehen konnte, daß noch ihr -Großvater ein kleiner, schmieriger Häusermakler gewesen war. - -„Und jetzt zeigen Sie mir Ihr Knabenzimmer.“ - -„Das liegt aber sehr versteckt, oben, unter dem Dach. Dort vermutet uns -niemand.“ - -Sie gab ihm seinen Erobererblick zurück. - -„Ich selbst habe es seit vier Jahren nicht mehr betreten“, sagte Jürgen -und betrachtete die ovalen Photographien der Familie Kolbenreiher, die, -zu einem großen Oval geordnet, über dem schmalen Kanapee hingen. - -Vom Fenster aus sahen sie den Nußbaum und den Kaffeetisch, wo die Tante, -ein winziger, schwarzer Punkt, häkelnd saß. - -Wortlos blickte er Elisabeth an, schritt zur Tür, schloß ab. - -Sie trug ein blaßblaues Seidenkleid, stand mit dem Rücken gegen das -Fenster, die Hände auf das Sims gestützt. Der Herzschlag tickte unter -der zarten, weißen Haut am Halse. Ihr Haar war blond, heller an den -Stellen, die Luft und Sonne ausgesetzt blieben, und in den Tiefen -gelblichgrün, gleich unreifem Getreide. - -Einen kaum bemerkbaren rosa Schimmer im ganzen Gesicht und den blendend -klaren Blick fest auf Jürgen gerichtet, sagte sie, selbstbewußt die -Schulter leise zuckend, ihm wortlos, daß es nur geschah, weil auch sie -es wolle. - -Und als sie wieder am Fenster stand, Hände aufgestützt, genau wie -vorher, und fragte: „Liebst du Katharina noch?“ dachte er: Daß sie das -nicht vorher gefragt hat, ist großartig von ihr. „Unsinn! Katharina lebt -sozusagen auf einem anderen Planeten ... Jetzt müssen wir aber -hinuntergehen, sonst merkt die Tante, was los ist.“ - -„Und wenn auch!“ sagte mit aufrichtiger Geringschätzung dieser -Möglichkeit Elisabeth: ein Wesen, das, ohne viel eigenes Bemühen -lebensklug geworden, ein glatt funktionierendes Gehirn fertig -mitbekommen zu haben schien, Fragen an das Leben, Zweifel, Gefühls- und -Gewissenskonflikte nie gekannt hatte und, jenseits aller Selbstbelügung, -sich und anderen offen eingestand, daß sie für nichts anderes Interesse -habe als für sich selbst, ihr Leben und ihre Genüsse. - -„Du bist großartig. Wer und was immer sich uns beiden in den Weg stellt, -wir werden siegen.“ Sie gingen in gleicher Höhe auf der selben Fläche -einander entgegen und standen, Körper an Körper, Mund auf Mund gepreßt, - -während Katharina, zusammengerollt wie ein krankes Tier, in den Kleidern -auf dem Bette lag. Der Fensterladen war geschlossen, das Zimmer -nachtfinster. Nur ein schneidend dünner Sonnenstrahl lag auf dem -Fußboden und auf dem Strahle der Schnauz. Ihr Gefühls-Ich, -auseinandergerissen, offen, zuckte bei der leisesten Berührung, bei -jedem Gedanken an Jürgen: wenn sie irgendeinen Gegenstand sah, der ihm -gehörte, den Bleistift, den Schotterstein, ein paar unbrauchbare Schuhe, -die wie immer in der Ecke standen. - -Als gäbe der Instinkt ihr ein, daß sie nur dann nicht Schaden nehmen -würde an ihrer Seele, wenn sie dem schweren Leid ganz rückhaltlos sich -preisgebe, ließ sie niemand zu sich, keinen Trost; sie betäubte sich und -ihren Schmerz nicht mit Leben, nicht mit Arbeit. Lag Tag und Nacht auf -dem Bett, hineingewühlt in das Leid, kämpfend um die Genesung, um ihr -Leben. - -Jürgen war der erste, war der einzige Mensch gewesen, dem sie -rückhaltlos vertraut und mit dem zusammen sie der Einsamkeit den Raum -verstellt hatte. - -Nach drei so durchkämpften Wochen strich Katharina, an dem Tage, da sie -sich schwanger fühlte, zum ersten Male wieder über den Kopf des -bettelnden Kameraden, der wegen der wochenlangen schlechten Behandlung -sofort vorwurfsvoll zu bellen begann und, da Katharina ihn schon wieder -nicht mehr beachtete, sich niederlegte, Schnauze auf den Vorderpfoten, -in vergrollendem Vorwurfe. - -Noch ein paar Wochen – der Fensterladen war wieder offen, sie hatte -wieder begonnen, zu arbeiten – hoffte Katharina, Jürgen werde, nachdem -er erkannt habe, daß die Siege, die in dem anderen Lager errungen werden -konnten, entwürdigend und wertlos seien, zurückkehren zu der Pflicht, -die sein Bewußtsein ihm zum Schicksal mache. - -Mit den Monaten und den Tagen immer gleichen treuen Leidens und immer -gleicher treuer Arbeit entstand in ihr der neue Anfang. Schon konnte es -geschehen, daß Katharina ein Lächeln tiefempfundener Freude in den Augen -trug, wenn sie in eine Arbeiterversammlung kam und die Sympathie ihrer -grüßenden Genossen fühlte. - -Schon als er noch bettlägerig gewesen war, hatte Jürgen, einig mit der -Tante, daß dies das zunächst Allerwichtigste sei, sich auf das -Doktorexamen vorbereitet. - -Weihnachten war die kirchliche Trauung. Jürgen hatte der flehenden Tante -endlich mit den Worten: „In des Teufels Namen!“ nachgegeben. Und -Elisabeth hatte sich ihre Einwilligung zu einer kirchlichen Trauung von -ihrem Vater abkaufen lassen durch ein Brillantgehänge. - -Lorbeerbäume bildeten eine Gasse vom Hochzeitswagen bis zum Altar, vor -dem die Brautleute knieten, in großem Halbkreise umgeben von den -Verwandten und Bekannten beider Familien. - -„Verdammte Komödie!“ flüsterte heiter der Kniende, und Elisabeth drückte -zum Einverständnis Jürgens Arm und senkte das Haupt, das Lächeln zu -verbergen. Das sah aus, als horche sie ergriffen den Worten des -Geistlichen. - -Während der Trauung sang ein Gemischter Chor mit Orgelbegleitung: -„Himmel erhöre, erhöre das Flehen: Liebe laß walten im Heime der -Gatten.“ - -Fast alle Damen und Herren, die damals auf dem Hügel Rotwein und -Brathuhn genossen hatten, auch zwei Universitätsprofessoren, der junge -Wissenschaftler, ein Chefredakteur und einige Künstler, mit denen -Elisabeth Verkehr pflegte, saßen an der Festtafel, die, in Hufeisenform, -die ganze Breite des Wagnerschen Gesellschaftssaales einnahm und mit -zwölf, aus Treibhausveilchen nachgebildeten, riesigen Hufnägeln -geschmückt war. Diese Idee stammte von Jürgens Schwiegermutter. - -Die Neuvermählten saßen, mit dem Blick in das Halbrund hinein, genau in -der Mitte des Hufeisens, so daß ihre Beine den mittleren Haken bildeten, -mit dem das Pferd Funken aus dem Pflaster zu schlagen vermag. - -Wurde am seitlichen Haken von Presse, Wissenschaft und Kunst ein Witz -gemacht in bezug auf die Neuvermählten, dann langte er, zwinkernd -weitergegeben, sehr schnell beim rechten Seitenhaken an, wo er in das -Gespräch über das mögliche Fallen oder Steigen eines Börsenpapieres ein -Loch riß, das sich nach zwei Sekunden wieder schloß. - -„In bezug auf das Bankfach bleibt meine Weltanschauung: Jeder Arbeiter -ist seines Lohnes wert“, wiederholte Jürgens Schwiegervater, der ohne -erhobenen Zeigefinger nicht sprechen konnte. - -Das Streichquartett spielte auf Wunsch von Jürgens Schwiegermutter zum -zweitenmal die Träumerei von Schumann. Die servierenden Diener hatten -weiße Handschuhe an. Das Hufeisen dampfte. Nur der reichste Mann, ein -Hütten- und Walzwerkbesitzer, aß beinahe nichts; er war leberkrank, -dottergelb, trank Brunnen und hatte noch kein Wort gesprochen. Seine -knapp vor dem Sprunge in das volle Leben stehende, sehr begehrte schöne -Tochter legte ihm die sorgfältig ausgewählten winzigen Bissen vor. - -Den beiden gegenüber saß der unförmig dicke Papierfabrikant Hommes. Der -sah beständig aus, als müsse er jeden Augenblick niesen, und hörte dabei -aufmerksam einem Gummifabrikanten zu, welcher bewies, daß und warum -infolge der schon nicht mehr schönen Preissteigerung des Rohmaterials -ein glattes Geschäft überhaupt nicht mehr möglich sei. Man müsse sich -winden, nichts als winden. - -Herr Hommes griff langsam nach dem Westenknopf des Gummifabrikanten, als -wolle er sich anklammern, um beim Niesen nicht vom Stuhle zu fallen, und -sagte: „Wer etwas wirklich Großes erreichen will, der muß borniert -sein.“ - -An der Börsianerecke stieg das Wort ‚Montanaktien‘ und konnte, wie die -auf dem Springbrünnchen tanzende, silberne Kugel, nicht mehr fallen, bis -der reiche Leberkranke den Wasserstrahl abdrehte: „Mit den -Flitzautomobilaktien könnte in nächster Zeit eine schnittige Veränderung -eintreten.“ - -„Schnittig“, murmelte Jürgen. Um ihn herum ging etwas vor, das das Leben -zu sein schien. „Das Ganze ist unerträglich ekelhaft. Wir machen das -nicht länger mit“, flüsterte er. „Ich mache das nicht bis zum Schluß -mit.“ - -Der Ausspruch des reichen Leberkranken wurde an der Börsianerecke auf -Hintergründe und Fallen untersucht. „Wer andern eine Grube gräbt“, -vernahm Jürgen. „Natürlich, erst wägen, dann wagen, das ist klar.“ - -„No, was sag ich!“ rief der Schwiegervater. „Eine Hand wäscht die -andere. So stehts eben auch mit diesem Papier.“ - -Schweinezucht, das wolle er Jürgen gestehen, sei das einzige, aber auch -das einzige, mit dem noch verdient werden könne, versicherte ein -Landwirt, der wegen seines jugendlichen Aussehens Mühe hatte, -respektabel zu erscheinen. Es ginge ja auch alles so weit ganz gut. -Nicht umsonst habe er die Landwirtschaftshochschule durchgemacht. Er -bringe System in die Sache. „Aber, sehen Sie, es fehlt einem doch etwas. -Ich weiß selbst nicht recht, was. Man ist unbefriedigt. Die Seele, -wissen Sie, die Seele, möchte ich sagen, kommt zu kurz.“ - -Der Gummifabrikant versuchte vergebens, den Leberkranken über die -Flitzautomobilaktien auszuholen. Auch an der Börsianerecke wurde noch -gedeutet und geforscht und behauptet, doppelt genäht halte besser. - -„No, was sag ich!“ - -„Das Volk will keine Freiheit; das Volk will Brot. Fressen und Saufen -will das Volk, glauben Sie mir“, sagte Herr Hommes, hinein in Jürgens -wutbleiches Gesicht. - -Der gab keine Antwort. ‚Dieser Fettwanst, dessen Leben in Fressen, -Saufen und Huren besteht, könnte, auch wenn er seine Meinung revidieren -müßte, ja doch keinerlei Konsequenzen ziehen.‘ - -Herr Hommes hielt sich an der Tischplatte fest, warf, geöffneten Mundes, -den Kopf in den Nacken, stieß ihn nach vorn, nieste aber nicht, sondern -sagte: „Sie, ah, Sie werden sehr bald meiner Ansicht sein.“ - -Jürgen umklammerte das Handgelenk Elisabeths, den Wutausbruch zu -unterdrücken, während ihr ganzer Körper vor unterdrücktem Lachen zuckte. -Und dann, hilfsbereit: „Wenn du willst, verschwinden wir jetzt -unauffällig.“ - -Da erhob sich Herr Wagner. Er begann seine Rede mit einer Verbeugung zu -dem Platze hin, wo die Tante, die plötzlich wieder krank geworden und -schon lang nachhause gefahren war, anfangs gesessen hatte. - -Er sei sich der hohen Ehre wohl bewußt, die darin liege, daß seine -Tochter dem letzten Sproß der alteingesessenen Patrizierfamilie -Kolbenreiher angetraut worden sei, sozusagen eingeheiratet habe in die -Familie Kolbenreiher, die schon einmal im fünfzehnten Jahrhundert der -Stadt einen Bürgermeister geschenkt habe. Seine Familie hingegen sei -noch jung, aber zukunftsreich. Wie ein junges, gutes Papier! - -„Jung und alt verbindet sich miteinander.“ Dabei käme das Richtige -heraus, was unser Vaterland nötig habe. „Solidität, in Verbindung mit -jungfrischem Wagemut ... Die Fusion ist vollzogen.“ Der Erfolg werde -nicht ausbleiben. - -„Und die Ehe? ... Es ist mit der Ehe wie mit der Spekulation an der -Börse. Licht und Schatten! Sonne und Wolken! Die Aktien steigen und -fallen. Das ist nun einmal so. Es kommt eben darauf an“, rief mit -starker Stimme Herr Wagner, der schon etwas zu viel getrunken hatte, „in -treuer Liebe auszuharren, auch wenn einmal eine Baisse den Ehehimmel -bewölkt ... Es kommt auch wieder eine Hausse.“ Ja, es sei sogar -besonders wichtig, gerade aus der Baisse Gewinn und Lehren zu ziehen. - -Er hatte sich so in den Vergleich verfilzt, daß auch das Schlußhoch auf -die Neuvermählten zur Hälfte der Börsenspekulation galt. Alle standen. - -Jürgens Gesicht war leinenweiß. Lieber ein gebrochenes Rückgrat, als ein -gebogenes, dachte er, entschlossen, nicht zu antworten auf die Rede -seines Schwiegervaters. Und da er sich als erster setzte, Elisabeth mit -hartem Griffe neben sich zog, setzten sich auch die andern. Die Diener -reichten schwarzen Kaffee, Likör und lange Zigarren. - -Plötzlich gab Jürgen, ohne zu wissen wem, vielen Menschen die Hand. -„Leben Sie wohl.“ Sein Körper bewegte sich automatisch von einem zum -andern, endlich auch auf Elisabeth zu. Er reichte ihr die Hand: „Leben -Sie wohl.“ - -Alle brachen in Gelächter aus. Auch Elisabeth war verblüfft über ihren -Mann, der in der Eile und Verwirrung es fertig brachte, seiner Frau vor -der Hochzeitsreise Lebewohl zu sagen. - -Noch einen Augenblick blieben die beiden unter dem Türrahmen stehen. Da -näherte sich Jürgens Ohr ein rundes Gesicht mit rundgestutztem Bart, -goldbebrillten, zwinkernden Augen und gespitztem Munde, der flüsterte: -„Viel Vergnügen!“ Mit den Armen balancierend, schlich der Rundkopf auf -den Fußspitzen zum Hufeisen zurück. - -Sie reisten zuerst nach dem Süden, wo es im Winter Frühling ist. - -Einige Tage später wurde Katharina von einem Knaben entbunden. - -Nach zehn in Paris und Rom verbrachten Wochen kamen die Neuvermählten in -die südliche Hafenstadt, die mit ihren Orangenbuden, Bazaren und -Säulenkolonnaden, durchschwirrt von Matrosen, Chinesen, Negern, -vornehmen Fremden, müden Auswanderern und dem Geschrei in zwanzig -verschiedenen Sprachen, mit dem Salz- und Teergeruch, Sirenengebrüll und -dem Mastgewirr der Ozeanriesen gelb in der Sonne lag, wie ein dem -unendlichen Meere entstiegener, wahr gewordener Traum eines Knaben, der -Eltern, Lehrern, allen Qualen der Jugend, allen Fesseln und Berufen -entfliehen möchte, hinaus in die unbändige Herrlichkeit. - -Sie fuhren in der Droschke, überdacht von einem rot- und weißgestreiften -Riesensonnenschirm, hotelwärts, vorüber an einer langen, immer neu -genährten Reihe Arbeiter und Arbeiterinnen, die aus der Tabakfabrik -kamen. Blusen und Umschlagtücher waren farbig, die Gesichter schlaff und -fahl. - -Jürgen sah weg. Und konnte dennoch nicht verhindern, daß er, als sie -schon im Zimmer waren, plötzlich dachte: Da besitzt irgendein Herr -Hommes eine Fabrik. - -„In sechsundfünfzig Stunden könnten wir in Afrika sein.“ Jürgen bekam -keine Antwort. Elisabeth war auf der Ottomane eingeschlafen. - -‚Durch dieses Wesen gehen Welt und Dasein in immer gleich unendlich -breitem Strome durch, von ihr genossen in jeglicher Sekunde, ohne Vor- -und Rückblick, ohne Rücksicht und Bedenken.‘ - -Elisabeth atmete tief und ruhig und war schön und jung und gesund. Die -Sonne, gebrochen durch die herabgelassene Jalousie, zeichnete ein -leuchtendes, gestreiftes Fell auf das Morgenkleid der Schlafenden. Es -war warm. Fernher brüllte die Sirene. Die Mimosen dufteten. - -‚Wie sie atmet! ... Gut, fahren wir nach Afrika! Nach New York! Nach -Indien! Telegramme um Geld! Einstweilen überhaupt nicht zurückkehren! -Komme, was kommt! Elisabeth würde zu allem Ja sagen, ohne Besinnen. Ein -herrliches, wunderbares, einfach organisiertes Tier, das lebt, einfach -lebt. Bedenkenlos, glatt und kühl wie ein Fisch. Durch und durch kühl!‘ -„... Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht“, summte -Jürgen. ‚Nur in der Nacht wird sie heiß. Da kennt sie keine Grenzen ... -Sie ist ein vorgeschobener Posten der Lebenskraft.‘ - -„Es haben zwei ne ganze Nacht zusammen in einem Bett verbracht – was ham -se wohl gemacht?“ - -Da sah Jürgen einen Herrn in der Vorhalle eines großen Pariser Hotels -stehen. Der Herr stürzt auf Elisabeth zu, sitzt mit ihr, beständig -schwebend in einer Wolke von Lebenslust, im Theater, in Restaurants, -Boulevard-Cafés, Kabaretts. Tritt in Elisabeths Schlafzimmer. - -Abneigung erfaßt plötzlich den im Sessel lehnenden Jürgen gegen den -Jürgen, der durch Paris und Rom schwirrt, sich um nichts kümmert, als -nur um sich und seine Genüsse, im Schlafanzug in das Schlafzimmer -Elisabeths tritt, heiter in der Hafenstadt ankommt. - -„Er betäubt sich ... Widerlich! ... Wo kommt der hin, was wird aus dem, -wenn er so weiter macht ... Das bin nicht ich. Das ist ein ganz -anderer“, flüsterte der im Sessel Sitzende. „Sonderbar. Sonderbar.“ - -Bewußt wechselte Jürgen die Blickrichtung, sah durchs Fenster auf das -glitzernde Meer hinaus, um den andern nicht mehr zu sehen. ‚Auch er ein -vorgeschobener Posten! Das ist die Natur, das Tier, die Lebenskraft, die -den treibt, die ... mich treibt, sie, die um der Fortpflanzung, der -Arterhaltung willen, die Geschlechter zueinander treibt und, ihr Ziel zu -erreichen, bereit ist, uns Menschen zu ausnahmslos jeder Schufterei zu -veranlassen.‘ - -Elisabeth bewegte sich: ihre Hand fand im Schlafe durch das Morgenkleid -durch zu der sich entblößenden Brust. - -‚Und sie hat Erfolg, die Lebenskraft. Denn sie zahlt als letzten Preis -dieses einzigartige Gefühl. Zahlt es Tieren und Menschen, Frauen und -Männern, Katzen und Katern, Elisabeth und mir. Mögen die andern, die -vielen, verrecken, sie kümmert sich um nichts. Der Mensch ist noch nicht -da. Sie kann nicht warten, bis der Mensch da ist. Das ist die ganze -Erklärung. Eine naturwissenschaftlich einwandfreie Erklärung!‘ - -Die Hotelglocke rief zum Mittagessen. Auf den Zehenspitzen schlich er -über den Teppich, berührte sanft Elisabeths Schulter. Sie erwachte ohne -jeden Schreck, schlug die Augen auf, so einfach, so klar. ‚Sie hat gar -keine Untiefen in sich. Sie ist so, wie sie ist. Im Schlafen, wie im -Erwachen und im Wachen.‘ - -Aber das ist noch viel sonderbarer. Wie seltsam! Das ist unheimlich, -dachte der an der Tafel sitzende Jürgen, weil er jetzt auch den an der -Tafel sitzenden, sich unterhaltenden, lachenden Jürgen beobachtete, -scharf und genau beobachtete. - -‚Wir sind also zwei. Ich sehe mir zu. Mir selbst! ... Aber das bin ja -gar nicht ich. Ich sehe ja ... ihm zu. Bin ich, der zusieht, ich? Oder -ist er ich?‘ - -„Gut, machen wir!“ Elisabeth hatte gewünscht, am Abend auf die Höhe zu -steigen und zuzusehen, wie die Sonne ins Meer sinkt. - -‚Auf die Dauer natürlich halte ich das nicht aus. Wir müssen uns -vereinigen, eins werden. Wenn wir uns nicht einigen können, dann muß -einer weichen: der andere oder ich.‘ - -‚Du standest schon am Anfang deines Ich.‘ - -Wer hat das gedacht? dachte erschauernd Jürgen und goß dabei Wein ins -Glas. „Dir auch?“ ‚Das habe eben nicht ich gedacht. Hat das der andere -gedacht? Oder ein Dritter?‘ - -Er fror im Rückenmark. Gierig leerte er pausenlos hintereinander zwei -Glas Wein. - -‚Ich befinde mich offenbar in einem Übergangsstadium. In einem -Entwicklungsstadium. Ich entwickle mich. Das soll in meinem Alter noch -vorkommen. Ich muß trachten, in ein erträgliches Verhältnis zu mir zu -kommen. Denn ich muß ja leben mit mir.‘ Auch die Stirn hatte sich -gerötet. - -Nach Sonnenuntergang saßen sie auf der Terrasse des Hafenrestaurants. -Zwei Männer schleppten einen wassertriefenden Bastkorb voll Austern -zwischen den Tischen durch in die Küche. Straßenhändler boten den Gästen -Kämme, Stickereien, Elfenbeinschnitzereien an. Der Himmel, die Luft, das -Meer, das Leben des Hafens und der Straße fluteten durch das vornehme -Restaurant durch. Alle Grenzen waren verwischt. Musik spielte. An der -Hausmauer gegenüber wechselten die kinematographischen Bilder, genossen -von der dicken Menschenmenge. - -Sie aßen Austern. Die kosteten nicht viel mehr als Brot. Tranken eine -Flasche Champagner dazu. Ein kleines, dickes Mädchen, achtjährig, -Kastagnetten in den Händchen, schmale Papierschleifen – blau, rot, grün -– im Haar und auf dem Röckchen, das die nackten, dicken Schenkelchen -freiließ, trat an den Tisch und begann zu tanzen, sang ein Bordellied -dazu, hob das Röckchen hinten hob das Röckchen vorne, spreizte im -Tanztakt die Beinchen auseinander, mit obszöner Gebärde. - -Ein nach dieser Seite vorgeschobener Posten der Lebenskraft, dachte -Jürgen. ‚Ihr sind alle Mittel recht, wenn sie nur zum Ziele führen.‘ Er -fühlte in den Gelenken eine Lähmung, die nicht unangenehm war. Elisabeth -strich zärtlich über den Kopf der Kleinen. - -Eine Stunde später saß sie, den Rücken Jürgen zugekehrt, schon -entkleidet vor ihren Kämmen und Bürsten. Das offene Haar leuchtete gelb. -Durch den Spiegel nickte sie Jürgen zu, gab ihrer Schulter einen Kuß, -der ihm galt. - -‚Ich habe eine schöne Frau.‘ Er streckte sich. ‚In das Leben soll man -Grübeleien über Entwicklung und Dasein nicht hineintragen. Das Leben -entwickelt sich ganz von selbst.‘ - -Der Hafen schlief. Das Meer sang gleichtönig, ruhevoll und groß. Die -Mimosen dufteten stärker in die warme Nacht. Wie in allen Nächten sang -auch in dieser Nacht in der Ferne ein Mädchen. - -Eine Fabrikstraße, nebelgrau und doch trostlos deutlich. Gestalten, -einzeln, in Gruppen, in endlosen Reihen, schritten im Morgengrauen in -unabänderlich vorbestimmter Richtung auf das riesenhafte, graue -Fabriktor zu. Immer neue Millionen marschierten heran, grau, -gespenstisch-lautlos, und verschwanden im Fabriktor der Welt. - -‚Und du standest schon am Anfang deines Ich.‘ - -Elisabeth wandte sich um nach Jürgen, der schwer atmete. Seine -Gesichtshaut zuckte und war gespannt, als habe sie, wie eine -Ballonhülle, einen ungeheuren Atmosphärendruck auszuhalten. Ein Mensch -schlief. - -Elisabeth berührte den Stöhnenden. Wie ein vom Tode Erweckter richtete -er sich auf. Eine ewige Sekunde lang war letzte Bereitschaft in seinem -Antlitz. - -„Dein Gesicht sah gar nicht aus wie ein Gesicht. Sah aus wie ein -Gefängnis, wie eine Faust.“ Sie schlüpfte zu ihm unter die Decke. „Was -träumtest du?“ - -„Weiß nicht. Weiß nicht.“ Er wußte es nicht. „Wie du duftest!“ Er riß, -aus der Tiefe seines Wesens zurückgekehrt, wild das Leben an sich. - -Erst viele Monate nach der Rückkehr – in seinen Tagen tat sich schon die -leere, tote Einsamkeit auf, die weder durch Genüsse, noch durch Arbeit -zu überwinden war – wurde Jürgen in einer großen Gesellschaft an -Katharina erinnert. Adolf Sinsheimer zog ihn in eine Nische. „Warst du -wieder einmal da? ... Nun, in dem orientalischen Salon! Ich sage dir, da -sind jetzt vier Mädchen! Die sind mit 99½ Salben gerieben. Die eine -sieht übrigens Katharina Lenz verblüffend ähnlich. Also verblüffend! ... -Sie hat ein Kind bekommen.“ - -„Wer hat ein Kind bekommen?“ - -„Katharina. Einen Sohn! Die Familie tut, als ob sie das gar nichts -anginge. Frau Geheimrat Lenz soll vor Gram gestorben sein ... Wann gehen -wir in den Salon?“ - -Eine endlos lange Sekunde hatte Jürgen das Empfinden, in seinem Kopfe -kreise mit vertausendfachter Schnelligkeit Schläfen-sprengend ein kalter -Blitz. Das ganze neue Leben lag in Scherben. Jürgen stieg heraus aus den -Trümmern, die Freitreppe hinunter, schritt, gestoßen von etwas, das in -gleichem Schritt und Tritt hinter ihm her ging, durch die Stadt. - -Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser kleiner. Unbebaute -Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. Das kleine Fenster hing nah der -Erde rot leuchtend in der Finsternis. - -Die Nacht war warm, das Fenster geöffnet. Er hörte Stimmen, mehrere -Männerstimmen, eine Antwort Katharinas, sah, wie sie, in der Hand einen -weißen Teller, vom Gaskocher zum Waschkorb ging, in dem der Sohn lag. - -Jürgen glaubte den Agitator zu erkennen, der, die Hand vorgestreckt, -etwas zu dem Metallarbeiter sagte. Vernahm Katharinas Lachen. Das klang -so geheimnisvoll mild in die Sommernacht. - -Die Schreibmaschine begann zu klappern. Der Agitator diktierte. - -‚Das ist eine Welt für sich ... Welch ungeheuere innere Veränderung in -mir wäre nötig, einzutreten ... Die Haustür ist nur angelehnt.‘ - -Drei Arbeiter traten aus der Tür. Jürgen war verschwunden. - -Erst nach Tagen gelang es ihm, sich zu beruhigen mit dem Gedanken, daß -es Katharina vielleicht besser gehe als ihm. ‚Sie hat nicht diese -Scherereien wie ich. Muß sich nicht mit diesem Gesindel herumbalgen. Sie -hat ihre Genossen. Sie lebt ihrer Idee.‘ In dieser Zeit faßte er den -Plan, ein großes Werk zu schreiben, betitelt: ‚Volkswirtschaft und -Einzelseele‘. - -Jürgen hatte den ganzen Vormittag in dem gut durchwärmten -Direktionsbureau gearbeitet. Als er hinaustrat in den schneidend kalten, -schneidend hellen Wintertag, tränten seine Augen, so daß er einen -Laternenpfahl und den Oberkörper und den Kopf eines Spaziergängers -doppelt und dreifach sah. - -In dieser Sekunde hatte Jürgen das erstemal den Gedanken, daß nicht nur -er selbst sondern jeder Mensch aus mehreren, innerlich tatsächlich -vorhandenen Menschen bestehe, die, wie der mit tränenden Augen gesehene -verdreifachte Spaziergänger, hintereinander und ineinander geschalt, in -den Menschen steckten, dachten, wahrnahmen, fühlten und gegeneinander -kämpften. - -Während er der Trambahnhaltestelle zuschritt, sah er auf die zwanzig -Monate seines neuen Lebens und seiner neuen Tätigkeit zurück. War von -Jürgen, dem Teilhaber des Bankhauses Wagner und Kolbenreiher, in -Erfüllung seiner Pflicht und Aufgabe, die Interessen des Hauses und der -Kunden zu schützen, die Weisung erteilt worden, an der Börse Papiere zu -kaufen oder zu verkaufen, dann hatte ein anderer Jürgen klaren -Bewußtseins gesagt: Es bleibt eine in alle Ewigkeit unverrückbare -Tatsache, daß dieser Gewinn ein Teil des Mehrwertes ist, abgepreßt dem -Proletariat, zugunsten des Rentiers Hummel und des Bankhauses Wagner und -Kolbenreiher. - -‚Also auch zu meinen Gunsten. Ich also lebe von dem Mehrwert, bereichere -mich an dem Mehrwert, den andere hervorbringen. Und ich bin mir dessen -voll bewußt.‘ - -‚Nicht du bist dir dessen bewußt, sondern ich.‘ - -‚Wer ich? Wer ist sich dessen bewußt?‘ - -‚Ich! Ich bin schon nicht mehr du.‘ - -Es hatte sich anfangs sehr oft ereignet, daß der bewußte Jürgen ganz -über den Teilhaber-Jürgen vorgetreten war, ihn hinter sich gedrückt, die -Schreibfeder auf das Tintenfaß zurückgelegt und glatt herausgesagt -hatte: „Aber das ist ja Raub, lieber Schwiegervater. Ich mache das nicht -mit, Herr Hummel.“ - -‚Und jetzt machte der leberkranke Hütten- und Walzwerkbesitzer das -Geschäft.‘ Auf diesen Worten schiebt der Teilhaber sich wieder in den -Vordergrund, stemmt die Faust auf den Schreibtisch, gibt seine -Direktiven und denkt: Das Leben ist Kampf. Wer die Waffen fallen läßt, -über den geht es hinweg. So ist das Leben. Und dem Proletariat, das -sowieso der Leidtragende ist, kann es gleichgültig sein, wer den Gewinn -hat. - -‚Aber dir kann es nicht gleichgültig sein.‘ - -‚Es ist sogar immer noch besser, ich habe den Vorteil als der -Leberkranke, der nicht einmal weiß, was er tut, keine Ahnung davon hat, -daß er sich bereichert an dem Schweiße und an dem Blute der -Arbeitenden.‘ - -‚Was der Hüttenbesitzer tut, ist kein Freibrief für dich. Außerdem wäre -es auf jeden Fall für dich, für dein Selbst, für dein Menschentum immer -noch besser, der andere, der gar nicht weiß, daß er ein Schuft ist, zöge -den Gewinn, als du, der du auf diese Weise rettungslos erst zum bewußten -Schuft und schließlich auch zu einem ahnungslosen, selbstgerechten -Schuft werden, endlich nur noch Teilhaber, nichts anderes mehr als ein -Teilhaber sein würdest.‘ - -Das soll mir nicht passieren. Aber es könnte allerdings passieren, -dachte Jürgen. Und ich müßte auch dies auf mich nehmen. Das Leben ist -hart. - -Und plötzlich vernahm er deutlich den Satz: „Die Massen, eingespannt in -das graue Joch, müssen noch die Lerche hassen, die emporsteigt ins Blau -... Und dich kümmert es nicht. Das ist es, verstehst du, daß es dich -nicht kümmert.“ - -„Hinter dem steckt etwas“, wurde in bezug auf Jürgen gesagt, wenn er, in -knappsitzendem Frack, beherrschte Kraft in Schultern und Gliedern, -beherrschten Geist in Wort und Blick, in großer Gesellschaft war, aller -Augen auf sich ziehend, genau so, wie er sich damals in den grünen -Bretterzaun hineingesehen hatte. - -Nachdem er im Parteiblatt gelesen hatte, daß nur durch freiwillige Gaben -die Zeitung noch gehalten werden könne, spendete er eine große Summe und -bekam einen Dankbrief von der Bezirksleitung. - -Den Dankbrief in der Hand, wendet er sich um zu seinem Bewußtsein, das -keine Antwort gab. Es war in dieser Zeit schon etwas getrübt gewesen. - -‚Ich werde der Arbeiterbewegung auf andere Weise als früher nützen. -Zweifellos kann ich, mit meinem Einfluß und meinen Verbindungen, der -Bewegung weitaus mehr nützen, als es der Student konnte, der nichts -hatte, nichts war und nichts bedeutete.‘ Und er legte den Dankbrief in -die Schublade. - -Der Schwiegervater war eingetreten. Erhobenen Zeigefingers. „Sowohl der -Rentier Hummel als auch wir haben einen großen Verlust erlitten. Dabei -lag dieses Geschäft doch vollkommen klar. Und wir hatten unsere -Informationen früher als die andern.“ - -„Mir war dieses Geschäft zu unsauber.“ - -„Die Bank besteht seit fünfunddreißig Jahren. Von Unsauberkeit keine -Spur!“ - -Der Teilhaber lehnte sich zurück in den Sessel und ließ ganz bewußt das -Bewußtsein vortreten. Das war schon trüb wie eine Wasserfläche, auf der -ölige Flüssigkeit irisiert, rückt über den Teilhaber vor und spricht von -Recht, Moral und Gerechtigkeit. „Das Geschäft war mir zu unmoralisch. -Viele kleine Leute würden durch unsere Schuld ihr Geld verloren haben. -Ich stehe auf dem Boden der Gerechtigkeit.“ - -Erst nach einigen Sekunden konnte der staunende Herr Wagner den -Zeigefinger heben: „Der gute Ruf unseres Hauses wurzelt in der -Gerechtigkeit. Aber sichere Geschäfte einfach nicht zu machen, geht -nicht an. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Du kennst meine -Weltanschauung. Wir haben eine beträchtliche Summe und obendrein Herrn -Hummel, der seit zwanzig Jahren mit uns arbeitet, als Kunden verloren, -weil du diese scheinbar entwerteten Papiere nicht gekauft hast. Die -‚Leber‘ natürlich hat sie sofort und samt und sonders aufgekauft. Der -lacht.“ - -„Das allerdings stimmt“, sagte der Teilhaber, „daß die kleinen Leute nun -trotzdem um ihr Geld gekommen sind.“ - -„No, was sag ich!“ - -Es war aber auch schon vorgekommen, daß Herr Wagner erhobenen -Zeigefingers zu seiner Frau hatte sagen können: „Der Schwiegersohn hat -eine Nase, eine Nase ... Wir Alten können uns zur Ruhe setzen. Kein -Mensch hätte aus der Presse und aus den Reden im Reichstag herauszulesen -vermocht, daß an ein Gesetz über neue Schutzzölle auch nur gedacht -werde. Hast du etwas von einem Gesetz gelesen, von Schutzzoll? Nicht die -leiseste Andeutung. Aber er, der Junge, dieser Junge, mit seiner -Vergangenheit und seinem Interesse für Politik, seinen Beziehungen zur -Arbeiterbewegung, die unsereins überhaupt nicht beachtet, hat -zugegriffen zu einem Zeitpunkt, als die geriebensten Füchse sich noch in -Baisse festlegten ... No, was sag ich.“ - -Am ersten Mai des vergangenen Jahres war Jürgen im Auto in den -Demonstrationszug hineingeraten und steckengeblieben, beschossen von -Blicken noch gefesselten Hohnes und Hasses. - -‚In der Straßenbahn kann ich mich ebenso mit meinen Gedanken -beschäftigen. Brauche nicht im Wagen zu fahren.‘ - -Das schon weit nach rückwärts gedrückte Bewußtsein fand die Sekunde -Zeit, zu sagen: Das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht. - -Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, dachte er, stieg aus, ging -die zweihundert Schritte bis zur Villa. Und teilte der Tante, während er -die eingelaufene Post durchsah, nebenbei mit, daß in den zwei Jahren, -seitdem er ihr Bankier sei, ihr gesamtes Vermögen sich schon fast -verdoppelt habe. - -‚Da irrt er sich. Das gesamte nicht.‘ Sie hatte ihm nur die schwer zu -verheimlichenden Papiere anvertraut und den größeren Teil ihrer Aktien -bei ihrem alten Bankier gelassen. „Du hast dein Erbe verdoppelt“, sagte -die gelb, zerfallen und schweratmend im Lehnsessel Versunkene. - -Und er erlebte wieder, wie immer, wenn die Tante das Wort ‚erben‘ -aussprach, in Gedanken diese merkwürdige Viertelstunde in dem roten -Plüschsalon der Konditorei, sah deutlich die drei erregt durcheinander -sprechenden Damen, den kleinen Hut der Jungen, der nur aus Veilchen -bestanden hatte. - -„Glaubt, sie sterbe, beichtet nach heftigem Widerstreben endlich doch -dem Geistlichen, daß sie als zwanzigjähriges Mädchen einen einzigen -Fehltritt ...“ - -„Wer kann das heute noch kontrollieren, ob es der einzige war.“ - -„... begangen und heimlich einen Sohn geboren hat. Fragt auch ihren -Rechtsanwalt, ob das Kind Erbanspruch habe.“ - -„Wie das Geheimnis dann unter die Leute gekommen ist ...“ - -„Die Pflegerin im Nebenzimmer soll die Beichte mitangehört haben.“ - -„... weiß man nicht genau. Die Menschen können ja kein Geheimnis für -sich behalten.“ - -„Sonst würde man diese Geschichte vielleicht überhaupt nie erfahren -haben, wenn die Pflegerin ...“ - -„Ganz genau kenne ich die Einzelheiten auch heute noch nicht“, hatte die -Junge gesagt. - -„Denken Sie an, siebzig Jahre ist sie jetzt. Und nie hat ein Mensch auch -nur den leisesten Verdacht gehabt, müssen Sie wissen. Das Kind wird ins -Ausland in heimliche Pflege gegeben, müssen Sie wissen ...“ - -„Eines Tages entläuft das Kind, geht durch.“ - -„Wahrscheinlich, weil es schlecht behandelt wurde, Sie verstehen.“ - -„Die Pflegemutter stirbt.“ - -„Auf diese Weise hat man ... Ist verschollen ... nie etwas ... Kein -Lebenszeichen mehr! ... von dem Fehltritt erfahren ... Als ob sie -Jungfrau wäre! ... Ja, was sagen Sie dazu ... Wo mag das arme Kind jetzt -sein.“ - -Ein fünfzigjähriger Mann torkelt betrunken, verdreckt, heruntergekommen -auf einer amerikanischen Landstraße, wirft die Arme, schimpft auf die -Welt. Wird erstochen. Erleidet als Matrose Schiffbruch, ertrinkt. -Krepiert im Berliner Obdachlosenheim. Schuftet nach dem Taylorsystem -in Chicago. Ist Gelegenheitsarbeiter im Newyorker Hafen. -Magistratsschreiber in einer kleinen deutschen Stadt. Während diesen -drei Damen das Kind gegenwärtig ist wie ein Schweißausbruch, hatte -Jürgen heiter gedacht. - -„Das arme Kind muß doch ... Diese Schande für die bisher so -hochgeachtete ... gefunden werden ... alteingesessene Familie -Kolbenreiher.“ - -Und war, getroffen von diesem unverhofften Stoß, beinahe vom Stuhl -gefallen. - -Nie in ihrem ganzen Dasein hatte die Tante, die nach der Beichte völlig -unerwarteterweise wieder gesund geworden war, etwas so tief und -schmerzlich bereut wie diese Beichte. Nicht einmal das Jugenderlebnis -selbst. Nie in seinem Leben war Jürgen vor einem Menschen gestanden, der -so bis in die tiefsten Tiefen erschüttert, so fassungslos gelacht hätte -wie Elisabeth. Und nie in seinem Leben hätte Jürgen es für möglich -gehalten, dieses Gefühl der Rührung und Sympathie für die Tante -empfinden zu können. - -Auch sie wollte leben. Und wurde nur ein einziges Mal vom Leben -gestreift, dachte er auch jetzt, wie er die Tante ansah, die einer -uralten, zähen, endlich zerfallenden Eichbaumwurzel glich. ‚Wie hat sie -mich gepeinigt! Wie ganz und gar ist das Geschöpf, ist der Mensch, der -sich damals von dem Geliebten umfangen ließ, versunken und ertrunken. -Welch Dasein!‘ - -Seit dem Schlage, den sie selbst der Familienehre zugefügt hatte, war -die Kraft der Tante gebrochen gewesen. Ihre zwölf Fragezeichen waren -weiß geworden. „Bald erbst du alles“, sagte sie, flackernden Blickes, -richtete den gelben Totenschädel auf. - -Und Jürgen dachte: Wenn nicht das Kind eines Tages doch noch erscheint -und sagt: Da bin ich. Der Erbe bin ich. - -Er stieg in den Lift, der eingebaut, fuhr in den zweiten Stock hinauf, -der aufgesetzt worden war, und dachte dabei an sein Kind. - -Immer, wenn er an den Sohn der Tante erinnert wurde – und dies geschah -häufig, denn Elisabeth brach auch jetzt noch oft in Lachen unvermittelt -aus –, dachte er an den Sohn Katharinas, der Geld zu schicken er nicht -wagte. - -‚Zu dem Sohn der Tante, der wahrscheinlich gar nicht mehr lebt, und, -lebte er noch, nicht die leiseste Ahnung hätte, wessen Sohn er ist, eine -Verbindung herzustellen, wäre leichter als zu meinem Sohne, der eine -Gehstunde von hier entfernt im Waschkorb liegt ... Oder kann er schon -laufen? ... Sie lebt ja tatsächlich auf einem anderen Planeten.‘ -„Merkwürdiges Mädchen“, murmelte Jürgen und trat, da er Elisabeths helle -Stimme vernahm, in den Salon, dessen Tapete farbig schmetterte. - -Zwischen ornamental geschwungenen, riesigen Schwertlilien und -Wasserrosen – blau, rot, violett – und giftgrünem Schilf auf Goldgrund, -der den See darstellte, versuchte alle Quadratmeter der selbe Faun die -selbe Nymphe zu fangen und konnte sie nie erwischen. Dreiunddreißig -Nymphen hatte Jürgen gezählt. - -Der Salon erinnerte ihn an den der Frau Knopffabrikant Sinsheimer, wo -ihn die Furcht vor der Leiche des Vaters angesprungen hatte. Denn außer -den reichgeschnitzten schwarzen, unverrückbar schweren Eichenholzmöbeln -– zum Platzen dicke schwarzgebeizte Putten schleppten, himmlisch -lachend, ohne jede Anstrengung riesige Füllhörner von links nach rechts, -oben um die Prachtstücke herum, und die in der Mitte obenauf sitzenden -Putten spielten dazu die Flöte – standen und lagen auch hier viele -singende, musizierende, miauende, tanzende Hochzeitsgeschenke und -Gebrauchsgegenstände, die nicht benutzbar waren, darunter ein -Riesenkäfig, in dem ein ausgestopfter Papagei saß, der alles hatte, was -er zum Leben brauchte: Wassernapf, Futternapf, gefüllt mit Wicken aus -Holz, und – beladen mit nagelneuen Birnen, Trauben, Äpfeln und -Pfirsichen aus farbigem Tuch – die zwei silbernen Tafelaufsätze in -Eiffelturmform, von Frau Sinsheimer als Hochzeitsgeschenk geschickt, -genau so gut erhalten, wie sie sich bei ihrem eigenen Hochzeitstag -eingestellt hatten. Zwei große künstliche Palmen, auf Ständern mit -gelben Storchenbeinen, verdunkelten das Fenster. - -„Ich wiederhole: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“, -erklärte gekränkt Frau Wagner, die, während die Neuvermählten auf der -Hochzeitsreise gewesen und die Tante, wegen der unaufhaltsamen -Verbreitung des Klatsches sterbenskrank geworden, im Bett gelegen war, -ganz allein das Einrichten der Wohnung besorgt hatte. - -„In dieser Wohnung gibt es vielerlei Tiere und eine große Anzahl -Fabelwesen, aber keinen Gaul“, versicherte launisch Elisabeth und sah -umher: Vom nie benutzten Kohlenkasten, schwarz lackiert, auf dem die -heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, bis zu dem zwei -Meter hohen seidenen Wandschirm, auf dem ein gestickter, lebensgroßer -Storch das Wickelkissen mit den drei Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog, -schwang der Elefant den Rüssel feierlich-langsam hin und her. Das -Ziffernblatt in seiner Stirn stellte Afrika dar. Diese Uhr hatte Frau -Wagner, nachdem sie bei Frau Sinsheimer zu Besuch gewesen war, -telegraphisch in der Fabrik bestellt. - -Arm in Arm verließ das Ehepaar den Salon. Und das Bewußtsein, das hinter -Jürgen herschritt, in gleichem Schritt und Tritt, sah Katharina, die, in -der Hand einen weißen Teller voll Brei, vom Gaskocher zum Waschkorb -ging, in dem der Sohn lag. - -Katharina befand sich in weiter Ferne, aber überaus deutlich sichtbar; -nicht so verblaßt wie damals, als Jürgen gesundend im Liegestuhl gelegen -hatte. „Das wechselt.“ - -„Was wechselt?“ fragte Elisabeth. - -„Die Stimmungen wechseln. Einmal ist man ernst, dann wieder heiter. Ein -andermal, ich möchte sagen: in gespaltener Stimmung.“ - -„Das Leben würde ja auch zu langweilig sein, wäre dies anders.“ - -Frau Wagner durchblätterte noch das in gepreßtes Schweinsleder gebundene -und mit einem winzigen goldenen Hängeschlößchen versehene Album, das die -repräsentablen Ahnen der Familie Wagner enthielt. Herren ließen den -Schnurrbart, Bräute das Hochzeitskleid bewundern. Die Photographieaugen -blickten. Wünsche waren erfüllt. Männer standen aufrecht im Leben, die -Faust auf der Kante des zerbrechlich zarten Tischchens. Damen, die -Frisuren schulterwärts geneigt, Augen halb geschlossen, zeigten, daß sie -ohne Ideale nicht leben konnten. Kinder standen noch im Kampf mit der -Natürlichkeit. - -Frau Wagner schloß das Album: Das zerhackte Gesicht eines -degenüberquerten Studenten in Wichs kam auf das Gesicht einer alten Frau -im Totenbett zu liegen. ‚So viel Geld und so viel Mühe, und jetzt sind -sie nicht zufrieden mit der Einrichtung.‘ Frau Wagner sah umher, den -Kopf aufgestützt. - -Eine halbe Stunde später, als Jürgen vorbeiging, sah er Frau Wagner noch -immer sitzen im Salon, den Kopf gestützt wie vorher, reglos und traurig. -Der kostbare Reiherhut hatte sich etwas verschoben. - -‚Das würde ein zu schwerer Schlag für sie sein. Wir werden uns eben an -die tausend Zentner schwere Einrichtung und an die Menagerie gewöhnen -müssen; haben uns ja schon daran gewöhnt. Das ist ja auch unwichtig. Das -Leben stellt andere Aufgaben.‘ - -Ganz andere Aufgaben! dachte er. Und fand sie nicht. Fand nichts, das -wert gewesen wäre, sich dafür einzusetzen. Auch heute hatte die tote -Einsamkeit, die um und in ihm stand und das ganze Haus durchdrang, ihn -eine Stunde früher als nötig fortgetrieben. - -Die Tante war ins Bett gebracht worden. Sinnend blickte sie in die -Richtung der Mutter Gottes; die gelben, dünnknochigen Finger hielten die -geöffnete Schatulle, in der sie das Verzeichnis ihrer Wertpapiere -aufhob. - -Jürgen liebte es, in die Schreinerwerkstatt neben der Haltestelle -einzutreten und, plaudernd mit dem alten Meister, den Gesellen bei der -Arbeit zuzusehen, bis der Trambahnwagen kam. Eine Schreinerwerkstätte, -die Hobelspäne, der Holz- und Leimgeruch waren für Jürgen der riechbare -und sichtbare Ausdruck eines einfachen, lebenswarmen Daseins, wie er es, -seitdem er Teilhaber war, für sich gewünscht hätte. - -„Ihre Mutter war noch gar nicht auf der Welt und von Ihnen selbst, mein -Gott, keine Spur, damals, als mein Vater die Möbel für Ihre Großeltern -gemacht hat. Ich war seinerzeit Lehrjunge, und Ihre Tante war so ein -huschiges Springerchen von zehn Jahren.“ - -„Wie war denn meine Tante als Kind?“ fragte Jürgen, plötzlich wieder von -Sympathie ergriffen. - -„Da, sehen Sie ihn an: der Sägbock war ihr Reitpferd. Auf dem selbigen -Sägbock ist sie geritten jeden Tag. Und so manches Mal war sie einfach -verschwunden. Nicht zu finden! Da haben wir sie gar oft aus den -Hobelspänen rausgezogen. Hat sich hineinvergraben, ganz und gar -zugedeckt und ist dann plötzlich wie ein kleiner Teufel rausgefahren. -Wollt nie nachhaus. Hat gestrampft und geheult ... Wild war sie. Ein -Wildes Kind! Schwer zu erziehen.“ - -„Was Sie sagen!“ - -„Das Leben hat nachher das seine getan ... Da kommt Ihr Wagen.“ - -Jürgen zeigte die Abonnementkarte dem Schaffner, der lächelnd abwinkte: -„Gilt schon! Wir kennen ja einander.“ - -‚Nie hätte ich das gedacht. Ich hätte das überhaupt nicht für möglich -gehalten.‘ - -„Mir wenigstens brauchen Sie die Abonnementskarte nicht mehr zu zeigen. -Jetzt fahren Sie seit zwei Jahren täglich viermal.“ - -‚Wenn ein wildes, unbändiges, eigenwilliges Kind so werden kann, wie die -Tante geworden ist, vom Leben so ruiniert werden konnte, da kann man von -Verantwortung des einzelnen ja überhaupt nicht mehr reden. Die -Verhältnisse sind schuld. Sicher auch bei Katharinas schöner -Jugendfreundin mit dem leidensfähigen, milden Herzen, daß sie so lala -eine Gesellschaftsdame und die Frau des Oberstaatsanwaltes wurde ... -Oder doch nicht die Verhältnisse? ... Wer könnte entscheiden, ob ein -Mensch die Kraft gehabt hätte, weiter zu kämpfen und zu leiden, oder ob -stärker als seine Kraft die Verhältnisse und die in ihm lebenden -Begierden waren? Es gehört heutzutage schon sehr viel Kraft dazu, sich -selbst im Leben vorwärts zu bringen. Wieviel mehr erst, die Sache der -Allgemeinheit auf sich zu nehmen und vorwärts zu bringen! ... Man setze -erst sich selbst durch und stelle dann sich und seinen Einfluß und seine -Macht in den Dienst der Allgemeinheit.‘ - -‚Und was wird unterdessen, während du dich durchsetzt, so lala mit dir, -mit dem Bankier Kolbenreiher, geschehen?‘ fragte mit schon kaum mehr -vernehmbarer Stimme das weit zurückgedrückte Bewußtsein. Und stieß -plötzlich eine grauenvolle Drohung aus, die aber, von Jürgen nur dunkel -vernommen und empfunden, nicht gleich vordrang bis an den Bezirk des -neuen Bewußtseins, das in diesen Jahren immer häufiger Sieger geblieben -war. - -Noch einmal entwand sich die Drohung der tiefsten Tiefe seines Wesens, -stieg empor als Hinweis auf eine unentrinnbare Todesgefahr, und Jürgen -wurde sekundenlang innerlich gelähmt, so ganz und gar wie in der -vergangenen Nacht, da eine fremde Macht im Albtraum ihn gelähmt und -unwiderstehlich gezwungen hatte, den Sarg zuzunageln, in dem, noch -lebend, er selber gelegen war. - -„Wie lange fahren Sie schon auf dieser Strecke?“ - -Und während der Schaffner sinnend „Zehn, nein, schon elf Jahre!“ sagte, -wiederholte in verzweifeltem Ansturme das zurückgedrückte Bewußtsein zum -dritten Male seine grauenvolle Drohung. Jürgen fröstelte im Rückenmark, -wie damals in der Hafenstadt. - -„Bastgeflecht ist sehr praktisch, hält lange, was?“ - -„Ja, das gibt aus.“ Auch der Schaffner prüfte mit seiner starken Hand -anerkennend das Bastgeflecht der Sitzlehne und schritt dabei hinaus auf -die hintere Plattform, legte den Zeigefinger an die Mütze, und das junge -Bureaumädchen schob ihre Abonnementkarte wieder in das Handtäschchen, -sah ernsten Blickes ihr Leben an. Die Alleebäume flogen nach rückwärts. - -Das sind nur die Nerven, dachte Jürgen, mit bezug auf die Drohung ... -Zwei Jahre! Muß endlich auf ein paar Wochen ausspannen. Mich erfrischen. -Eine Reise! Das habe ich mir verdient ... Diese warmen wunderbaren -Herbsttage! Das wird schön sein. - -Als die Allee endete, die Straßen enger, der Wagenverkehr und der Lärm -stärker, die Luft schlechter geworden waren, setzte das Bureaumädchen -sich in den Wagen, dankte mit ernstem Nicken für den Gruß ihres Chefs -und begann in einem Buche zu lesen. Sie war die Tochter eines in der -Papierfabrik des Herrn Hommes beschäftigten Hilfsarbeiters und seit -ihrem sechzehnten Jahre in der Buchhaltung des Bankhauses Wagner und -Kolbenreiher angestellt. - -Am Vormittag hatte er persönlich die Jahresabrechnung über das Vermögen -der Tante in der Buchhaltung geholt und dabei das Mädchen zum erstenmal -gesehen. ‚Jetzt sitzt sie genau so in sich verschlossen da und liest, -wie die fünfzehnjährige Katharina im öffentlichen Parke gesessen hatte. -Der selbe stillbewußte, ernste Blick, wie Katharina ihn heute noch hat. -Nur jünger ist sie. Selbstverständlich viel jünger! Äußerlich überhaupt -ganz anders. Die Gestalt ist etwas voller. Aber dieser Blick! ... Neue -Jugend wächst heran und nimmt den Kampf auf‘, hatte er plötzlich -gedacht. - -‚Hübsch ist sie. Sehr hübsch! ... Nur eine Geldfrage ... Allerdings ein -ernstes Geschöpf ... Gerade deshalb ungewöhnlich anziehend ... Ihrem -Chef würde sie nicht widerstehen können.‘ Er entkleidete sie. - -Eine zwei Zentner schwere, weißhaarige Frau mit gewaltigem Busen stieg -ein, setzte sich Jürgen gegenüber. - -‚Der Hilfsarbeiter hat nichts als diese Tochter, die ihrem Chef -gegenüber wehrlos ist.‘ - -‚Dafür – für die Verhältnisse – bin nicht ich verantwortlich ... Das -Leben brennt, ist wild und schön und da, gelebt zu werden.‘ Und er -überlegte, wo und wie er seine hübsche junge Angestellte verführen -könne. „Weshalb lachen Sie?“ fragte er freundlich die dicke Frau. - -„Das ist jetzt einunddreißig Jahre her“, sagte die Alte und streckte -lächelnd beide Hände vor. „Herr Kolbenreiher, ich war die erste, die Sie -in den Händen gehabt hat. So groß waren Sie.“ - -Alle Fahrgäste lächelten über die alte Hebamme. Das Mädchen wandte ein -Blatt um, sah auf und Jürgen an, lächelte auch. - -„Was tat ich denn? Wie war ich?“ ‚Es geht doch nicht. Das könnte einen -öffentlichen Skandal geben. Und auch die Autorität ginge flöten.‘ - -„Gebrüllt haben Sie. Gebrüllt, sag ich Ihnen, nicht anders, als ob Sie -am Kreuz hingen. Sie wollten nicht. O, Sie wollten absolut nicht.“ - -Auch der Schaffner grinste. „Endstation! ... Genossin, heut abend ist -Bezirksversammlung. Erinnere auch deinen Vater“, sagte er zu dem -Bureaumädchen. - -„Es ist aber doch ganz gut gegangen. Sind ein schöner, großer Herr -geworden. Ein prachtvoller Herr!“ - -Leider muß ich auf meine Stellung Rücksicht nehmen. Ich bin der Chef. -Die Autorität muß gewahrt bleiben, dachte er, während er hinter dem -Mädchen auf die Bank zuschritt. Der livrierte Portier riß die Tür auf. - -„Niemand kann alle seine Wünsche und Begierden erfüllen. Außerdem ist -die Sache die“, sagte, blätternd im Telephonbuch, Jürgen und bat um die -Nummer Adolf Sinsheimers, „daß ich das selbe ungefährlicher haben kann -und sogar ganz bedeutend reizvoller, falls dieses Mädchen in dem -orientalischen Salon tatsächlich Katharina ähnlich sieht.“ - -Heute abend könne er nicht zum Essen nachhause kommen, teilte er -telephonisch Elisabeth mit, die daraufhin ihrem gegenwärtigen Geliebten, -einem Maler, sofort telephonisch mitteilte, daß sie heute abend wieder -auf eine Stunde zu ihm ins Atelier kommen werde. - -Wie damals vor der Animierkneipe, standen die vier Schulkameraden schon -wartend vor dem Portal, das auf den Nacken zweier marmorierter -Gipsherkulesse ruhte. Adolf hob den Spazierstock wie eine Kerze. „Ich -habe uns schon angemeldet ... Noch die selbe Wirtin, eine alte Hure! Du -erinnerst dich, Jürgen, wir sind damals vom Korsorestaurant aus -hingegangen. Aber andere Damen! In jedem Zimmer zwei Waschschüsseln! -Dabei doch dezente Aufmachung! Schon wie in Berlin!“ - -Jürgen erkannte das von Säulen getragene, mit Gipsmarmorplatten -ausgeschlagene Stiegenhaus wieder. Eine flackernde Kerze, eine hohe -Frisur, zwei schwarze Riesenaugen und ein violetter Schlafrock kamen -lautlos die Treppe herunter. Die geschminkte Wirtin legte sofort den -Zeigefinger an den Mund, stieg voran. - -„Hols der Teufel, diese Leisetreterei! Warum knipsen wir denn die -Nachtbeleuchtung nicht an!“ rief in dem Poltertone seines alten -Batteriechefs, der ihm Vorbild war, der Artillerieoffizier. - -Die Wirtin legte den Zeigefinger an den Mund. Der Referendar versteckte -seine Brieftasche in der Geheimtasche des Westenfutters und lächelte. - -„Weil eben ein Menschengesicht zu lächeln vermag“, sagte Jürgen vor sich -hin und gedachte mit Erinnerungszärtlichkeit des Jürgen, der damals, um -über seine knabenhafte Unsicherheit wegzutäuschen, die Mädchen wie ein -erfahrener Lebemann begrüßt hatte. Heute trat er so gelassen in den -orientalischen Salon, wie er als Chef in das Direktionsbureau der Bank -trat. - -Alles spielte sich nahe den Teppichen ab. Niedrige Tischchen. Die -Mädchen saßen und lagen auf Ottomanen und auf Polstern am Boden. - -„Na, ihr Racker! Brust heraus!“ rief der Artillerieoffizier in dem Tone -seines Batteriechefs und schnallte gewichtig den Säbel ab, mit den -Gebärden eines Mannes, der nur mit Pferden und Rekruten zu tun haben -will. - -„Sagen Sie mal, wie gehts denn! Sind ja ne richtiggehende Schönheit.“ -Adolf hatte sich, seitdem er Alleininhaber des Knopfexporthauses war, -angewöhnt, schnoddrig wie ein Berliner zu sprechen und sich ganz so zu -benehmen wie seine Vorbilder: die Berliner Großexporteure, mit denen er -in Geschäftsverbindung stand. - -Das auf der Ottomane liegende Mädchen streckte ihm die Patschhand hin. -Auch sie – schwarzhaarig und bernsteingelb – sah orientalisch aus, -kokettierte lässig mit ihrer weichen Hüfte, die sich aus dem -orangefeurigen, geschlitzten Schlafrock langsam herauswölbte. - -„Sind ne süße Krabbe!“ - -Jürgen schüttelte den Kopf: ‚Nicht Adolf Sinsheimer, sondern der -Berliner Exporteur spricht.‘ - -Der Artillerieoffizier stand, batteriecheffest, auf gespreizten Beinen, -nahm die Mütze ab und wischte sich ächzend die Stirn, die ganz -schweißfrei war und zweigeteilt: unten tiefbraun, wie das Gesicht, oben -knabenweiß. - -Sieht aus wie ein alter Kinderschänder, dachte Jürgen, als der livrierte -Diener – stilles, glattes Fuchsgesicht – den Champagner brachte. Der -Diener hatte zusammen mit der Wirtin die Pension gegründet und -finanziert und bezog die Hälfte des Reingewinnes. - -Sie saßen in der gepolsterten Ecke. „Ich komme dir“, sagte, Schultern -zurückgezogen, Kopf vorgestreckt, das Sektglas unter der Achselhöhle, -der Referendar zu Adolf, dessen Orientalin, Hüfte hochgewölbt, -zusammengerollt in der Ecke lag und mit den mächtigen, weichen Schenkeln -lockte. - -„Ein Dutzend Flaschen Rotspon wäre mir lieber als dieses Weibergesüff.“ -Der Batteriechef trank ex, hieb das zarte Glas auf die Tischplatte, hob -mit rauhbeinig-väterlicher Gebärde die erst siebzehnjährige Blondine auf -seinen Schoß und drückte das Köpfchen an seine breite Brust. - -Der Referendar wählte die Älteste und Schönste, ein -vierundzwanzigjähriges kühles Wesen, das ein Bankkonto besaß und erst -vor zehn Minuten zu einem Mann, der gerne noch eine Stunde geblieben -wäre, gesagt hatte: „Ich muß tüchtig sein.“ Beide saßen zurückgelehnt, -Arm in Arm. - -Der Referendar sprach von Staatsanwalt Karl Lenz. „... Und nächste Woche -hat er einen Mordprozeß. Wenn es ihm gelingt, ein Todesurteil zu -erzielen, ist seine Karriere gesichert. Dann gehts aufwärts.“ Er zuckte -nach vorne, Sektglas unter der Achselhöhle: „Ich komme dir.“ - -‚Solch ein Staatsschafskopf zu werden wie der, hat auch mir geblüht.‘ -Jürgen mußte lächeln über das Gebaren seiner Schulkameraden. ‚Nicht der -Referendar A., sondern der Referendar überhaupt, nicht der -Knopfexporteur S., sondern der Exporteur und der Artillerieoffizier -überhaupt sitzen hier und haben Gefühle‘, dachte er. ‚Und später werden -nicht einmal Referendar, Exporteur und der rauhe Artillerieoffizier -überhaupt die Mädchen umarmen, sondern sie allein, die Lebenskraft, sie -ganz allein wird die Umarmende sein.‘ - -Die Flügeltür tat sich auf. Und Jürgen, der sich soigniert und dabei -freimütig benommen hatte wie einer, der das Leben kennt und ihm seinen -Lauf läßt, wich zurück. - -Herein schritt Katharina, reichte spitzig die Hand und setzte sich neben -Jürgen. - -Verblüfft betrachtete er den gebogenen Nacken, den kleinen, festen Mund. -Fürchtete sofort, daß er, wenn sie zu sprechen begänne, diese -vollkommene Illusion verlieren würde. - -„Hab ich zu viel versprochen?!“ rief Adolf Sinsheimer, dessen Hand auf -der gewölbten Hüfte der Bernsteingelben lag. „Na, was hab ich gesagt!“ - -Gedankenschnell, plötzlich, ganz plötzlich verwandelte sich seine Furcht -in die atembeklemmende Furcht, sie könnte auch im Ton der Stimme -Katharina sein. Dann müßte ich diese Schweine niederschlagen, dachte er -erbebend, stellte sich in seinem Gefühle schützend vor Katharina. Und -gleichzeitig brach in die Gefühlsleere und tote Einsamkeit der letzten -Jahre die Sehnsucht ein mit solcher Gewalt, daß sein ganzer Körper -sekundenlang von Lähmung befallen war. - -Die Augen waren nicht mehr in dem orientalischen Salon; sahen Katharinas -Mädchengestalt. - -Sie steht unter dem Gasarm. Sie bewegt sich. Wendet ihm voll das Gesicht -zu. Ihre Lippen bewegen sich. Auch Jürgens bebende Lippen bewegten sich. -Es war, als hätte er in dieser Sekunde wieder das Unfaßbare des Daseins -geschaut. - -Die Bernsteingelbe schnellte empor, wiederholte lachend und so laut, daß -alle es hörten, was Adolf Sinsheimer von ihr verlangt habe für seine -Sammlung. - -Nicht der bewußte Gedanke, daß er dann Teilhaberschaft, Stellung und -Macht, alles, was er seither erreicht hatte, aufgeben müsse, führte -Jürgens Hand; die Hand griff ganz selbsttätig zum Champagnerglas. Er -leerte und füllte, leerte und glotzte, leerte. - -Auch die andern tranken viel und schnell. Hände griffen. Mädchen -schrien. Wehrten sich und gaben sich. - -Jürgen, total betrunken, empfand nichts mehr. Füllte. Leerte. Glotzte -die Doppelgängerin an, deren Mund beständig in kaum bemerkbarer Ironie -verzogen blieb. Sie trug die Haare kurz. - -Plötzlich schoß ein spitzes Etwas in ihm empor. Die beiden Wesen -verdichteten sich in eines. Schwankend stand er auf. - -Die Paare verschwanden in die nur durch dünne Kunststeinwände -voneinander getrennten Zimmer der Mädchen. - -„Katharina, Wunderbare!“ lallte, plötzlich tränennaß, der Betrunkene und -griff nach der Doppelgängerin, in deren Gesicht die Ironie unverhohlenem -Widerwillen gewichen war. - -Gleichgültigen Blickes ließ sie das Hemd fallen. - -„Deine Augen, ach, deine Augen!“ - -Körper stürzte sich auf Körper. Vergewaltigtes Gefühl brach durch und -brüllte: „Katharina!“ - -Der Artillerieoffizier im Zimmer nebenan polterte auch jetzt: „Na, du -kleiner Racker!“ Als ob nicht er und nicht sein Batteriechef, der ihm -Vorbild war, sondern der schon seit Hunderten von Jahren verweste -Urbatteriechef bei der siebzehnjährigen Blondine liege. - -Das Fuchsgesicht trat in den verlassenen orientalischen Salon, horchte -unbewegten Antlitzes auf die Geräusche in den vier Zimmern, öffnete das -Fenster und betrachtete die in weiter Ferne im Sternenhimmel hängenden -großen, leuchtenden Glasquadrate der Malerateliers, die alle im selben -Stadtviertel waren. - -Hinter einem dieser leuchtenden Quadrate lag, blond und schon -entkleidet, Elisabeth auf dem breiten Renaissancebett ihres Geliebten, -eines kleinen, geschmeidigen Südländers, blauschwarz behaart. - -Als das Fuchsgesicht die Mokkatassen in den Salon trug, stand der -Referendar im Zimmer schon vor dem Spiegel und zog sich ihn wieder, -genau in der Mitte, von der Stirn bis zum Nacken. Das Mädchen -betrachtete ihre polierten Nägel, interesselos und eiskalt den -Referendar. Und er, durch den Spiegel, interesselos und eiskalt sie. - -Eine halbe Stunde später schloß das Fuchsgesicht, Zeigefinger am Munde, -leise die Haustür auf und ließ die Schulkameraden hinaus. Adolf griff an -seine Krawatte, die tadellos gebunden war. Ohne eine Flasche Rotspon -intus zu haben, lege er sich nicht in die Falle, sagte der -Artillerieoffizier. Und Jürgen, wieder nüchtern, in soignierter Haltung, -verbarg ein Lächeln über das Gehaben des Artilleristen. - -Elisabeth lag im weißseidenen Schlafrock lesend auf der Ottomane, -reichte ihm frei und liebenswürdig die Hand, offenen Blickes. Wo er denn -herkomme. Sie war so einfach und frisch wie die große Birne, die, von -Phinchen am Nachmittag im Garten gepflückt, in Reichweite auf dem Tische -lag. Das spitzige Messer lag daneben. - -Diese reine Atmosphäre in meinem Hause, dachte Jürgen. - -„Ich war auch weg heute abend. Eine Stunde bei den Eltern“, sagte -Elisabeth frei und ungezwungen, so ganz erfüllt von sich und ihrem -Selbstrecht auf Genuß, daß auch diese Lüge wie die reine Wahrheit ihr -von den Lippen ging. Prüfte dabei mit den Fingern ihre Brustspitzen, die -noch rosig waren. Und fragte wieder: „Weshalb bekomme ich kein Kind?“ -Sie wünschte, viele Kinder zu bekommen. „Und jetzt habe ich gebadet.“ - -„Gut unterhalten? Wie wars bei den Eltern?“, ‚Das übrigens soll mir -nicht wieder passieren, daß ich zusammen mit solchen an Fäden gezogenen -Hampelmännern so wohin gehe ... Alle Menschen werden an Fäden gezogen. -Wer oder was ist es, das im Mittelpunkt des Lebens hockt und die Fäden -zieht?‘ „Nun?“ - -„Immer das selbe! Der Vater sprach von Geld und von der Börse, von Geld, -von der Börse ... Weißt du, es ist keine Luft mehr dort in der großen -Wohnung. Er kann nichts greifen. Alle Gegenstände weichen zurück. Er -langweilt sich fürchterlich, seitdem er sich vom Geschäft zurückgezogen -hat. Sein Leben hat keinen Inhalt mehr.“ - -„Wie wir das letztemal zusammen dort waren, äußerte er doch, er möchte -ein kleines Gut kaufen und es selbst bewirtschaften. ‚Natur, Natur, -Gras, Rüben‘, sagte er. Weshalb tut er das nicht?“ - -„Papa würde auf dem Lande in acht Tagen vor Langeweile schwermütig -werden. Und auch so wird er schwermütig. Für Bücher, Kunst, Musik, was -unsereinem oft über leere Stunden hinweghilft, interessiert er sich -nicht; davon trennt ihn sein ganzes Leben, das er auf der Börse -zugebracht hat. Für Frauen ist er zu alt. Bleiben noch die Mahlzeiten. -Aber er darf nur das wenigste essen. Bleibt die Langeweile. Ich sage -dir, bald wird er wieder ins Geschäft kommen. Er hälts nicht aus.“ - -„Altgewordene amerikanische Kapitalisten, die sich in dieser Lage -befinden, verstehen es, sich einen Lebensinhalt zu verschaffen: Sie -werden moralisch. Was sie jedoch nicht hindert, ihr Vermögen auch -weiterhin sehr geschickt und ertragreich zu verwalten!“ sagte ironisch -lächelnd Jürgen. - -Mit einem elastischen Ruck setzte Elisabeth sich aufrecht. „Vor ein paar -Jahren war ich mit den Eltern in einem Sanatorium. Da war ein großer -Arbeitshof. Die alten Herren Exporteure, Bankiers und Geheimräte, in -Badekostüm, scheußlich fett oder abschreckend mager und behaart, solche -Hängebäuche! mußten Holz sägen, Sand in Schubkarren schaufeln. Sie -karrten ihn über den Hof in die andere Ecke, leerten ihn aus, -schaufelten den selben Sand wieder ein, schafften ihn zurück. Aus, ein, -hin, her! Immer den selben Sand! ... Schrecklich! Bei dieser Arbeit -würde ich verrückt werden.“ - -„In China wurden Schwerverbrecher damit bestraft, daß sie derartige -sinnlose Arbeiten verrichten mußten ... Viele, scheinbar ganz normal -gewesene Bürger werden ja auch verrückt. Schwermütig und so! Wissen -nichts mit sich anzufangen, treiben sich in Sanatorien und -Nervenheilanstalten herum oder kehren, wie du sagst, ins Geschäft zurück -und treten weiter die Geldmühle, bis sie an Arterienverkalkung sterben. -Diese alten Verdiener! ... Das soll uns nicht passieren, wie?“ - -Er ließ sich vor der Ottomane auf ein Knie nieder. „Glaubst du“, fragte -er, Blick in ihrem Blicke, langsam und lächelnd, „daß ich jetzt noch -baden kann?“ - -Im Schlafzimmer hing über dem Doppelbett eine rote Ampel, auf der ein -gläserner Amor kniete. Den Bogen hielt er noch in den Händchen. Den -Glaspfeil – Richtung Liebespaar –, der bei brennender roter Ampel -blauleuchtend geworden war, hatte Jürgen schon vor Jahren, gleich nach -der Rückkehr von der Hochzeitsreise, in der ersten Nacht abgebrochen. Es -gäbe Grenzen. - -Elisabeth lag schon im Bett, Hände unterm Kopf, als Jürgen aus dem Bade -kam. Lächelnd so im Spiel des Lebens drehte sie die helleuchtende -Nachttischlampe ab, lächelnd er die andere. Die Ampel glühte rot auf. - -Was ist ein Jahr, wenn jeder Tag dem andern gleicht und das Leben ohne -Härten ist ... Ein Tag nur! Ein unbewußter Atemzug! dachte Jürgen nach -einem Jahre, das, ausgefüllt mit Arbeit im Bureau, mit Theaterbesuchen, -Bilderkäufen, Mahlzeiten, roter Ampel, Bureau, im Fluge vergangen war. -Die Zeit stand, so schnell verging sie. Das Vermögen wuchs. Jürgens -Ansehen stieg. - -„Du sitzt im Lehnstuhl oder liegst im Bett, und über Nacht bist du um -soundso viel reicher geworden“, sagte Jürgen scherzend zur Tante, die -antwortete: „Du erbst alles.“ - -Herr Wagner erschien wieder jeden Tag pünktlich im Bureau. Grund zum -Klagen gab ihm sein Teilhaber schon lange nicht mehr. „Unser Schwieger -ist ein braver, tüchtiger Mensch. Die Interessen des Hauses und der -Kunden gehen ihm über alles“, konnte er oft zu seiner Frau sagen, die -immer wieder erwähnte: „Aber, daß sie mit der Wohnungseinrichtung nicht -zufrieden sind, das ist ... also das versteh ich nicht. Nun, wenn er nur -wenigstens im Geschäft tüchtig ist.“ - -Und dies hatte sich wie von selbst gemacht. Allmählich und unversehens -war das Leben zum Gleis geworden, auf dem Jürgen durch die Jahre rollte. - -Er war bekannt als großzügiger Philantrop und Mäcen, hatte mit -unfehlbarem Stilverstande schon eine ganze Anzahl Antiquitäten und -Bilder gesammelt und sie einstweilen in einem unbewohnten Raum der Villa -verwahrt, denn er wollte das alte Palais, das auf dem stillen, größten -Platze der Stadt stand, erwerben und nach seinem Geschmacke einrichten. - -„Einer sammelt, sein leeres Dasein auszufüllen, Pfennige, die älter -sind, als er selbst, oder kostbare Werke alter oder hervorragende neuer -Kunst, oder macht Bastelarbeiten, die im Laufe von Jahren ein -faustgroßes Schweizerhäuschen mit Alm, Sennerinnen, Kühen und -fensterlnden Burschen werden“, sagte er zu einem befreundeten -Fabrikanten, der eine Riesenvilla voll alter, gotischer Holzplastiken -besaß. - -„Ja, mein Lieber, etwas muß der Mensch doch haben. Außerdem: ich kaufe -billig“, rief der Fabrikant. „Dann machts Freude. Wer nicht aufs Geld -sieht, der natürlich bekommt heutzutage eine tadellose Sammlung, ganz -gleich welcher Art, auch fix und fertig ins Haus geliefert.“ - -„Einer macht Buddhas Wort ‚Geh an der Welt vorüber, es ist nichts‘, zu -seiner Weltanschauung, und bleibt in seiner Prachtwohnung mit Bad, -Warmwasser, Dampfheizung und allem Komfort. Ein anderer gibt, vielleicht -gar um das Stimmchen zu beruhigen, Summen für Wohltätigkeitszwecke oder -unterstützt begabte junge Künstler. Ich tue beides und sammle -obendrein“, schloß er in Selbstironie. - -Und wenige Monate später sagte er zu dem selben Fabrikanten: „Die -Lebensauffassung des Bürgers ist folgende: Jeder tue seine Pflicht. -Dadurch arbeitet jeder für jeden. Das greift ineinander. So entstehen -Reichtum und Kultur des Landes, numerierte Häuser, in denen die Menschen -leben, Küchen, Geschirr, Schränke voll Wäsche, asphaltierte Straßen, -Schulen, Ruhe und Ordnung. Weil jeder seine Pflicht tut. Und -Obdachlosenheime, Polizei, Gerichtshöfe und Zuchthäuser sind da für -diejenigen, die ihre Pflicht nicht tun ... Schön. Mag sein, daß er recht -hat. Unsereiner aber unterscheidet sich von denen, die geradezu platzen -vor Selbstgerechtigkeit. Denn Wissen und Geist und Besitz verpflichten -zu mehr.“ - -Und er legte die Hand auf die Krokodilledermappe, in der die Notizen zu -seinem geplanten Werke ‚Volkswirtschaft und Einzelseele‘ lagen. Nach dem -Essen las er die Abendzeitung. - -Seine Tage rückten auch weiterhin, gesichert und getragen von Gewohnheit -und Achtung, ohne schmerzliche Ereignisse durch ihn durch und hinter -ihn, wie eine verkehrsreiche Straße vorbeirollt und zurückbleibt. - -Nur noch in den Träumen stand manchmal das vergewaltigte Ich auf, schrie -seine grauenvolle Drohung, die nicht mehr bis in das neue Bewußtsein -vordringen konnte. Die Entfernung war schon zu groß, und zwischen dem -drohenden Ich und dem inneren Ohre Jürgens stand das Erleben vieler -Jahre, das, zusammen mit der Millionenfältigkeit des unausgesetzten -Strebens nach Erfolg, Genuß und Achtung, das neue Bewußtsein gebildet -hatte. Ein fugenloser Schutzwall. - -Das Ich drohte. Der Träumende stöhnte. Sah die graue Straße, auf der die -Millionen dem Fabriktore der Welt zuschritten, grau und -gespenstisch-lautlos. Sah den Gaskocher, neben dem Katharina steht, kaum -bemerkbare Ironie im Blick. Und fleht sie an: „Laß deine Haare wieder -wachsen. Was ist dir denn geschehen, sag, mir, was ist dir geschehen.“ - -Elisabeth blickte kopfschüttelnd das wildverzerrte Gesicht an, hinter -dem das vergewaltigte Ich erfolglos um sein Dasein rang und Tränen durch -die geschlossenen Lider schickte, weckte den Stöhnenden, der nicht mehr -wußte, was er geträumt hatte. - -Erleichtert aufatmend, lächelte er das Leben an, das neben ihm lag. Im -Garten schrien die Vögel. Auch die tausend Tapetenvögelchen des sonnigen -Schlafzimmers zwitscherten. - -„Was bist du für ein Mensch, du lächelst mit Tränen in den Augen.“ - -Und Jürgen, wie er ihren duftenden Kopf sanft zu sich zog: „So ist das -Leben: zum Lachen und zum Weinen in einem.“ Der Druck war ganz gewichen. - -Nach dem Frühstück und dem Bade ging er in den Garten, sog genießend die -warme, aromatische Luft ein, betrachtete über den Zaun weg des Nachbars -frisch gegossene Salatbeete, die funkelnd unter der Sonne lagen, blieb -vor jedem Rosenstämmchen stehen, freute sich über die kopfgroßen, -farbigen Glaskugeln, die, von der Sonne getroffen, sein Gesicht -daumengroß widerspiegelten, und bekam Lust, an der Wasserleitung -weiterzuarbeiten, die anzulegen er vor einiger Zeit begonnen hatte, um -seinen Garten mit einer Wasserkunst zu schmücken. Der Arzt hatte Jürgen -körperliche Arbeit anempfohlen. - -Das Graben und Schaufeln tat ihm wohl. Die zwölf auf Stangen steckenden -Glaskugeln bildeten einen Kreis, in dessen Mitte die Wasserkunst steigen -sollte. Die Brunnenfigur, ein lebensgroßer Jüngling in Bronze, erworben -von einem jungen, unterstützungsbedürftigen Bildhauer, kniete schon, -Kopf geneigt, Hände im Rücken, als wäre er gefesselt, unter dem -Schneeballenbusch. - -Im Garten nebenan sang der Nachbar die Nationalhymne. Elisabeth, in -leichtem Sommerkleide, sah vom Liegestuhl aus ihrem gesunden, starken -Manne zu. Phinchen servierte Butterbrote auf dem Tisch unter dem -Nußbaum, unter dem die Tante häkelnd gesessen hatte. Sie lag im Bett und -konnte nicht sterben. - -Hemdärmel bis zu den Schultern aufgekrempelt, die Zigarre im Munde, -betrachtete Jürgen zufrieden seine Arbeit. „Nächstes Jahr werden auch -wir ein Stück Nutzgarten anlegen: Gemüse- und Salatbeete, etwas -Beerenobst. Körperliche Arbeit erhält gesund. Man muß vorbeugen, weißt -du.“ - -Vögel huschten von Busch zu Busch. Die Amsel schnappte einen Wurm aus -der frisch aufgeworfenen Erde, überquerte, nah dem Boden, den ganzen -Garten und verschwand unter dem Schneeballenbusch. - -Das Zwölfuhrläuten zahlreicher Kirchenglocken vereinigte sich über der -Stadt, strahlte auseinander, hinaus zu den Gärten. Jürgen legte – wie im -Bureau den Federhalter – pünktlich den Spaten aus der Hand. Nach dem -Mittagessen schlief er. Die Zeitung war seiner Hand entfallen. - -Saß dann am Schreibtisch vor der geöffneten Krokodilledermappe. Rechts -stand eine Miniatur-Schillerbüste, geschmückt mit einem winzigen -Lorbeerkranz, links der Tintenwischer – ein farbiges Tuchhähnchen mit -Glasaugen – und in der Mitte das Tintenfaß: ein sich hochaufbäumender -Bronzehirsch, auf dessen Geweih sieben Federhalter lagen. „Nun aber an -die Arbeit!“ rief er und rieb die Hände. - -In der Ferne ertönte eine Kindertrompete. Vorsichtig nahm er den -eheringgroßen Lorbeerkranz vom Haupte Schillers herunter, betrachtete -ihn genau, schob ihn auf seinen Finger, streckte sich, daß der Körper -knackte und der Mund ein eigroßes Loch wurde, ergriff wieder den -Federhalter und sah hinaus, wo der Sonntagnachmittag stand, der, -zerteilt in Billionen Teilchen, durch das Fenster und durch alle Ritzen -und Wände hereindrang. - -„Sogar die Sonne scheint anders als an Werktagen, und alle Geräusche -haben einen anderen Klang. Einen ekelhaften Klang! Unerträglich! Man ist -wehrlos ... Da stehe ich also sozusagen auf der Höhe des Lebens, habe -keine Sorgen, keine Schmerzen, und weiß nichts anzufangen mit dieser -Höhe ... Sogar die Spatzen zwitschern Sonntags anders als in der Woche“, -sagte, dunklen Druck in der Brust, Jürgen und öffnete ein Buch, legte es -wieder weg, ergriff den Federhalter. Plötzlich glaubte er, deutlich -gesehen zu haben, daß das Tintenfaß höhnisch gelächelt hatte. „Unsinn!“ -rief er zornig sich selbst zu. - -Der Wunsch nach dem Montag, nach der gewohnten Bureauarbeit und dem -gewohnten Aufenthalt in der Börse huschte durch ihn durch. Jürgen hätte -nicht sagen können, weshalb und wann er an das Fenster getreten war. Die -Fichtengruppe im Garten stand reglos. Ein hängender Ast störte die -Symmetrie. ‚Auch morgen wird dieser Ast genau so wegstehen und -übermorgen auch und auch noch in zehn Jahren. Dieser stupide Sonntag -bringt einen um jeden Gedanken. Ah! und diese mörderische -Zimmereinrichtung!‘ - -Der Himmel war gleichmäßig blau und sah aus, als ob er nie mehr -nachtdunkel werden würde. In fernen Geräuschen schwammen die Töne der -Kindertrompete. Im Garten sang der Nachbar. Jürgen hob die linke -Schulter, hob die rechte Schulter, das linke Bein, das rechte. Die -Bewegungen wurden zu einem gedrückten Tanz. Die Glaskugeln standen -reglos. - -Der hin- und herschwingende Elefantenrüssel im Salon zog weiße Fäden und -blieb schief hängen. Jürgen sah deutlich den schiefhängenden -Perpendikel. Gähnend und die Hände über dem Kopfe erhoben, wie ein -Gefangener, der unter entsichertem Revolver abgeführt wird, ging er in -den Salon, sah blöd auf den funktionierenden Perpendikel. - -Die Sonntagsgeräusche drangen auch durch das offene Fenster in das -Wohnzimmer, wo Elisabeth sich langweilte. „Nun, also was? Zu den Alten? -Oder im Park spazierengehen? ... Daß du aber auch diese unverständliche -Abneigung gegen das Autofahren hast!“ - -„Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, Herzchen“, sagte er -gähnend. „Übrigens, wenn du willst, können wir auch fahren. Laß euer -Auto kommen ... Auch langweilig!“ - -„Die rosa Studie und mein Porträt hängen schon seit Donnerstag. Außerdem -noch zwanzig seiner besten Arbeiten.“ Und sie sprach von den großen -Fortschritten, die ihr Geliebter gemacht habe. „Gehen wir in die -Ausstellung!“ - -„Warum nicht gleich zum Zahnarzt!“ - -„Oder sonst jemand besuchen?“ - -Der Schlund der grauen Leere verschlang alle Vorschläge. - -„Wen denn besuchen! Die sitzen sicher auch alle zuhause und wissen -nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Ein Glück, daß nicht alle Tage -Sonntag ist ... Gehen wir in den Zirkus! Da tritt heute zum erstenmal -eine Akrobatin auf, die, Kopf voran, weißt du, aus sechsundzwanzig Meter -Höhe herunterspringt in ein Bassin, das nur vier Meter lang und -hundertfünfzig Zentimeter breit ist. Denk an: dieses winzige Loch in der -Manege und dabei diese riesige Höhe! Unbegreiflich! Das sollte gar nicht -erlaubt werden. Das Bassin ist mit scharfkantigem Winkeleisen eingefaßt. -Wenn das Mädchen nur um fünf Zentimeter fehl springt, schlägt es sich -Schulter und Arm vom Körper weg. Aber aufregend wird die Sache sein. -Jedenfalls besser, als hier zu sitzen.“ - -Die Zauntür drückte die beiden hinaus. Jürgen sah zurück in den -gepflegten Garten, betrachtete das glänzende Messingschild, auf dem nur -‚Kolbenreiher‘ stand, und zog den Hut vor der Tante, die, starr -blickend, wie ein altes Bild im Fensterrahmen schwebte. - -Nachdem die Akrobatin von dem zehn Meter und von dem fünfzehn Meter -hohen Standplatze aus gesprungen und wieder am Seil emporgezogen worden -war zu dem sechsundzwanzig Meter hohen Standplatz dicht unter der -Zirkuskuppel, von der aus gesehen die Manege einem am Boden liegenden -Kinderreifen und das Bassin einem schwarzen Bleistiftstrich glichen, -erklärte Jürgen ausführlich, jetzt liege die Gefahr sogar noch weniger -darin, das schmale Bassin zu verfehlen, als vielmehr darin, daß das -Mädchen sich durch die gewaltige Wucht des Sturzes den Kopf auf dem -Grunde des Bassins zerschellen müsse, wenn sie nicht, im Wasser -angelangt, im entscheidenden Bruchteil der Sekunde blitzschnell die -Drehung zurück zur Wasseroberfläche ausführe. - -Die Musik schwieg. Das Publikum verstummte. Die Akrobatin blickte -hinunter auf den Bleistiftstrich, in den hinein sie sich stürzen mußte, -breitete die Arme aus. Frauen sahen weg. Auch Elisabeth sah weg. - -„Langweilig ist das nicht. Du siehst, sogar ein Sonntagnachmittag kann -ausgefüllt werden“, sagte Jürgen, - -während die Tante mit einer ihr ganz fremden Bangigkeit die Bibel -aufschlug und Sätze las, die, vor grauen Zeiten ersonnen, oft von ihr -gelesen, gehört, ausgesprochen und gesungen, ihr auch jetzt nichts -sagten. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, litt unter der -Angstbeklemmung, daß dann alle sie betrachten würden und sie vielleicht -ein ganz anderes Gesicht haben werde als sie habe. - -Und während der Mädchenkörper in der Luft eine weiche Drehung machte -und, Kopf voran, Hände wie betend zusammengelegt, gleich einem bleiernen -Fische an der obersten Galerie und an der erhöht sitzenden Musikkapelle -vorbei senkrecht in die Tiefe stürzte, dem schwarzen Strich und dem -rapid größer werdenden Sägmehlkreis in verzehnfachter Schnelligkeit -entgegen, blickte die Tante noch einmal auf das breit vor ihr liegende -Land hinaus, das in der Ferne schon von der rötlichen Dämmerung genommen -wurde, und schaukelte plötzlich in sich zusammen. - -„Die hocken immer zuhause, die Alten. Sicher würden auch sie sich hier -unterhalten und zerstreuen“, sagte Jürgen in den Beifallssturm hinein, -während die Tante, unveränderten Gesichtes, bewußtlos auf dem Boden lag. - -Der Arzt wurde geholt, machte einen Aderlaß. Die Tante erholte sich. Um -zehn Uhr lagen alle drei im Bett. Elisabeth stand noch einmal auf, ein -frisches Nachthemd anzuziehen. Und als sie aus dem alten herausgestiegen -und in das frische noch nicht hineingeschlüpft war, ließ Jürgen, an die -Gewohnheit gespannt wie ein Pferd an die Droschke, die rote Ampel -aufleuchten. - -Am andern Tage, einige Stunden vor ihrem Ableben, bekam die Tante noch -Besuch. Auf dem Tablett lagen schon siebenundzwanzig Orangen. -Atembenommen, schon schwarz beschattet vom Tode, hatte die Tante -hocherfreut für die Früchte gedankt. - -Auf fünf Uhr war der Geistliche mit den Ministranten bestellt, die -letzte Ölung zu erteilen. Die Sterbende überwand ihre tödliche Schwäche -und richtete sich noch einmal auf im Bett. „Vielleicht spreche ich jetzt -das letztemal mit dir, Jürgen.“ - -„Du stirbst nicht, Tante, Unsinn!“ - -„... letztemal mit dir. Ich habe immer meine Pflicht getan. An dir, -Jürgen, und überhaupt. Vor allem an dir! Du bist ein geachteter Mann -geworden. Das hast du zum Teil auch mir zu verdanken. Weißt du noch, wie -das kam? ... Ein sehr geachteter Mann!“ - -Alles Blut verließ Jürgens Gesicht. Sie bemerkte seine Blässe und -Verwirrung nicht, schilderte, mühsam stammelnd, wo er hingekommen wäre, -wenn er das, was er Opferbereitschaft und Hingabe genannt habe, weiter -verfolgt hätte. „So aber kann ich ruhig sterben.“ - -Jürgen hörte nichts mehr. Sie zog seinen Kopf neben sich auf das Kissen, -nahm ihm das Wort ab, daß er auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen -werde. „Merke dir: was man einem Sterbenden in die Hand verspricht, muß -man halten.“ - -Jürgen wußte nicht, was er versprochen hatte. Vergangenheit und -Gegenwart stürzten ineinander. Er hörte auch nicht, daß die Tante von -ihren bisher verheimlichten Aktien sprach. - -„Diese Wertpapiere darfst du nur dann verkaufen, wenn mein Bankier dazu -rät. Vor allem: Lasse die Hypotheken auf den großen Häusern stehen! Und -lasse nicht so viel herrichten! Reparaturen und Handwerker kosten Geld.“ - -„Da muß ich ja Hypothekenzinsen bezahlen“, sagte Jürgens Mund vom Kissen -weg. - -Ihre Hand blieb auf seinem Kopfe. „Aber die Grundbesitzsteuer ist viel -höher als die Zinsen, die man für Hypotheken bezahlen muß. Deshalb -belastet man ein Haus so hoch wie möglich mit Hypotheken“, erklärte sie, -unterbrochen von Atemnot, „legt das Geld in Wertpapieren an und bezahlt -mit den Zinsen die Hypothekenzinsen. Dafür hat man keine -Grundbesitzsteuer zu zahlen, weil einem die Häuser gar nicht gehören.“ - -„Unsere Häuser gehören mir nicht?“ - -„Nur scheinbar nicht! Man besitzt sie nur scheinbar nicht.“ Sie konnte -vor Schwäche nicht mehr sprechen. - -Die Flurglocke hatte geläutet. Weihrauchduft drang ins Zimmer. Jürgen -wollte die Tante beruhigen, war aber so verwirrt, daß er sagte: „Also -mit den Zinsen von den Wertpapieren bezahle ich die Grundbesitzsteuer.“ - -„Nein, die Hypothekenzinsen!“ - -„Aber es gibt doch viel bessere Kapitalsanlagen. Weshalb soll ich denn -...“ - -„Laß dirs von meinem Rechtsanwalt erklären.“ - -„... soll ich denn unbedingt Hypotheken aufnehmen, wenn ich Geld und -Wertpapiere besitze, die viel besser ...“ - -„Rechtsanwalt“, flüsterte die Tante. - -Der Geistliche und die Ministranten traten ein. Das Weihrauchfaß -überquerte dreimal das Bett. „Vor der Pforte der Hölle bewahre ihre -Seele. Dominus vobiscum. Et cum spiritu tuo.“ - -Die ganze Villa roch noch nach Weihrauch, als Jürgen, im Gehrock und -schwarz behandschuht, von der Beerdigung zurückkam. Das weiße -Taschentuch in der einen, den Zylinder in der rechten Hand, so am Rande -gefaßt, daß er einen Gummiball hätte auffangen können, stand er im -Sterbezimmer. - -Auch eine Woche später, nachdem ihm vom Rechtsanwalt schon eröffnet -worden war, daß die Tante das dreifache an erwartetem Barvermögen -hinterlassen hatte, stand noch ein schwacher Weihrauchduft in den -Zimmern und erinnerte Jürgen an des Vaters Todestag, an die Seelennot, -Unsicherheit, an die Kämpfe der Jugend, auf die er, stehend nun auf dem -festen, breiten, gefahrlosen Boden der Gegenwart, lächelnd -zurückblickte. - -Da unten taumelt ein empfindsamer Jüngling umher, getroffen von einem -Worte, in Verzweiflung und Leid versetzt durch einen Blick. In -ununterbrochene Qualen gestellt durch das Leben, wie es ist. Durch eine -jugendliche Sehnsucht nach unerfüllbaren Idealen und nach der Wahrheit, -die es nicht gibt, streift den Jüngling sogar öfters der Tod ... Hier -sitzt der Mann im Sessel. In Sicherheit. Unverwundbar. Und nicht eine -Sekunde der Gegenwart wird ihm, wie früher, vergällt und gestohlen von -der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. - -‚Und sogar aus dem Sozialismus, aus dieser grauen Sackgasse, in der ich -vier Jahre steckte, habe ich wieder herausgefunden ... Jetzt wenn der -Vater mich sehen könnte, er würde nicht mehr sagen: Na, du schmähliches -Etwas!‘ - -An dem großen Gesellschaftsabend des Herrn Papierfabrikanten Hommes, der -ersten Festlichkeit, die Jürgen nach dem ereignislos vergangenen -Trauerjahr besuchte, ließ ein früherer Mitschüler, der als -naturalisierter Engländer zwanzig Jahre ununterbrochen in den englischen -Kolonien gelebt und eine große Baumwollexportfirma gegründet hatte, sich -dem Bankier Jürgen Kolbenreiher vorstellen, der auch auf diesem Feste -für viele der Mittelpunkt war. - -„Wie erging es Ihrem Herrn Bruder? Ich habe nämlich zusammen mit Ihrem -Herrn Bruder das hiesige Gymnasium besucht ... Verzeihung, ich weiß ja -nichts. Bin ja ohne jeden Kontakt gewesen“, setzte der Engländer sofort -hinzu, als er Jürgens betroffen fragenden Blick bemerkte, und -entschuldigte sich, da er durch seine Frage offenbar eine schmerzliche -Erinnerung wachgerufen habe. - -Jürgen hob die Schulter. Seine Augen suchten. „Ich habe keinen Bruder.“ - -Aber solch einen Streich könne sein Gedächtnis ihm doch nicht spielen; -er sei ja jahrelang mit einem Mitschüler Kolbenreiher in dem selben -Klassenzimmer gesessen. „Ich sehe ihn heute noch leibhaftig vor mir. Ein -schwärmerischer Jüngling, höchst eigenartig! Ein liebenswerter, ein sehr -gefährdeter Mensch, dachte ich noch oft in späteren Jahren ... Er war -also nicht Ihr Bruder? Offenbar eine Namensgleichheit!“ - -Die glänzenden Toiletten, der Kronleuchter, Streichquartett, -Champagnertischchen schwankten. Jürgens Gesicht fiel ein, war grau -geworden. „Habe ich mich denn so verändert, so furchtbar verändert, daß -Sie in mir ... in mir jenen gar nicht mehr zu erkennen vermögen?“ - -„Also Sie selbst!“ rief, freudig erstaunt, der Engländer. „Das hätte -ich, das allerdings hätte ich nie vermutet. Ich gratuliere, gratuliere -wirklich von Herzen ... Wie man sich irren kann! Ich habe nämlich -gedacht – in den Kolonien ist unsereiner ja recht einsam und denkt viel -an die Jugendzeit zurück – habe oft gedacht, dieser Mensch wird entweder -ein ganz abseitiges Leben führen, vielleicht auch irgendeine große Tat -vollbringen, wenn die Situation das zuläßt – im Krieg und so – oder er -wird zugrunde gehen. Und nun – wie ich mich freue! ... Übrigens nur ein -Beweis mehr dafür, wie sehr die Menschen, alle Menschen, sich mit den -Jahren verändern, sich innerlich sozusagen festigen!“ - -An diesem Abend betrank Jürgen sich so, daß er in das Fremdenzimmer des -Herrn Hommes gebracht werden und Elisabeth allein nachhause fahren -mußte. Nach einer mehrwöchigen Reise, ziellos in Europa umher, saß er -wieder im Direktionsbureau. Im Nebenraum unterhielten sich zwei -Bankbeamte. - -Vor einem Jahre sei er an den Alimenten noch unverhofft vorbeigekommen. -Das Kind sei gestorben. Aber kürzlich sei sein Mädchen wieder Mutter -geworden. - -Auch Elisabeth war schwanger. Jürgen freute sich auf das Kind, stellte -sich vor, wie es aussehen, ob es ihm oder ihr gleichen werde. Blauäugig? -Oder braun? dachte er. Und horchte auf die Worte des Beamten, der seinem -Kollegen genau vorrechnete, wie wenig ihm von seinem Gehalte bleiben -werde, nach Abzug der Alimente. „Das halte ich nicht aus.“ - -Gewandt schlüpfte der Beamte in sein elegantes Mäntelchen. „Heute feiere -ich Abschied von der Jugend. Ich heirate. Sie hat nichts, ich habe -nichts. Sechs versilberte Kaffeelöffel sind der Grundstein unseres -Glückes.“ - -Er steckte ein Veilchensträußchen ins Knopfloch. „Extra für heute -gekauft. Leichtsinnig, was? ... Vor diesem Glück habe ich jetzt schon -Angst. Du schläfst Nacht für Nacht neben und mit deiner Frau. Immer mit -der selben! Du siehst sie halb angezogen, unfrisiert, im Schlafrock – -wenn sie einen hat –, ißt mit ihr, sprichst mit ihr. Und nicht nur von -Veilchen und Tanz, mein Lieber! Das Prickelnde ist bald dahin. In jeder -Ehe! Man gewöhnt sich. Dann liebt man eben außerhalb herum, wie? ... -Aber kann denn ich mir das leisten, bei meinem Gehalt? Du mußt Blumen -kaufen, die Zeche bezahlen. Am Ende bestellt sie sich auch noch etwas zu -essen. Das kostet dann ein Heidengeld ... Unserem Chef natürlich, dem -jungen Chef mit der gespickten Brieftasche und dem Scheckbuch, dem kann -die Gewohnheit nichts anhaben. Der kann sich jede kaufen. Unsereiner -aber muß, wenn er heiratet, glatt Abschied nehmen von der Jugend.“ - -Mir also, meint er, kann die Gewohnheit nichts anhaben, dachte Jürgen -noch in der Straßenbahn, suchte zuhause Elisabeth in allen Räumen und -fand sie endlich im Schlafzimmer, wo sie erblaßt auf dem Bettrand saß. -Ihr Leib stand stark vor. - -Tagelang schrie Elisabeth in Schmerzen, schrie die lange Nacht durch, in -den trüben Morgen hinein, bis der Arzt sie von einer toten Frühgeburt -entbunden hatte. - -Die blutigen Messer und Geburtszangen lagen noch auf dem Tisch. Der -schweißtriefende. Arzt wollte ein letztes Mittel anwenden, die -Entbundene zu retten, da stieß sie ihn weg von ihrem zerrissenen Leib. -Ein neuer Blutstrom schoß ins Bett. Der Arzt breitete ein Tuch über die -verwüstete Tote und ließ die Arme sinken, ging hinaus in den -herbstlichen Garten zu Jürgen. Der Himmel hing voll Regen. Der Garten -war naß, die Luft kalt. - -Einige Tage später – Elisabeth war schon begraben, Jürgen umwickelte -Rosenstämmchen mit Stroh – sagte er leise vor sich hin: „Das Geld ist -mir doch sicher ganz gleichgültig. Wie kam ich nur auf diesen -abscheulichen Gedanken?“ - -Der Gedanke war, flüchtiger als ein Vogel, der den Blick schneidet, -gleichzeitig mit anderen Gedanken aufgetaucht und wieder verschwunden. -‚Da das Kind tot ist, fällt die Mitgift mir zu.‘ - -‚Ein böser Gedanke. Enthält aber eine juristisch einwandfreie Tatsache -... Kein Mensch hat die Macht, das Entstehen eines Gedankens zu -erzwingen oder zu verhindern.‘ Er sah empor zur beschädigten Dachrinne, -von der dicke Tropfen schnell hintereinander herunterfielen, immer auf -die selbe Stelle, wie damals im Rattenhof. Hing die Bastfäden über einen -Ast und rief Phinchen zu, sie müsse den Spengler holen. „Die Dachrinne -ist leck. Siehst du, dort oben.“ - -Jahrelang trug Jürgen sich mit dem Gedanken, wieder zu heiraten. Auch -der Schwiegervater redete ihm zu, nannte sogar einige Töchter vornehmer -Familien. Er solle endlich das Palais kaufen, hübsch einrichten. -Repräsentieren. - -„Ich finde aber“, sagte Jürgen lachend zu Phinchen, „faktisch nicht die -Zeit, eine Frau zu lieben.“ Kundenkreis und Finanzaktionen des -Bankhauses Wagner und Kolbenreiher vermehrten und vergrößerten sich in -immer schneller werdendem Tempo. - -Jürgen verkehrte in Familien, wo nur von Geld gesprochen wurde. Und in -Familien, die so reich geworden waren, daß es schon wieder für unvornehm -galt, von Geld zu sprechen, anstatt von Humanität und Wohltätigkeit, -Kunst, Mystik, Kultur und Goethe. Hohe Räume, stilvoll, von erlesenstem -Geschmacke. Wertvolle Gemälde, märchenhafte Bedienung. Junge Künstler, -die unterstützt wurden. Geistvolle Gespräche. Und Beklemmung für die -Gäste, die noch nicht so reich waren. - -Zu diesen gehörte der Berliner Bankier Leo Seidel nicht; seine Worte -wurden an dem Herrenabend, den Jürgen zu Ehren seines für wenige Tage in -die Heimatstadt zurückgekehrten früheren Mitschülers gab, von den -Börsianern ebenso vorsichtig gewogen und auf Fallen untersucht, wie die -des reichen, leberkranken Hütten- und Walzwerkbesitzers auf Jürgens -Hochzeit gewendet und gewogen worden waren. - -Der noch nicht vierzigjährige Seidel, tadellos unauffällig gekleidet, -sah viel älter aus, und als könne er von nun an nicht mehr älter werden. -Es schien, als sei das winzige sommersprossige Dreieck mit dem -erreichten Ziele von nun an stationär. - -Seidel, im Ziele sitzend, sichtlich uninteressiert an den Meinungen -dieser von ihm weit überholten Fabrikanten und Bankleute, die einzuholen -vor zwanzig Jahren sein größter Ehrgeiz gewesen war, zeigte nicht, daß -diese Stunden für ihn nur ein Opfer an Zeit bedeuteten, und sprach -dennoch nicht einen Satz mehr, als die Höflichkeit gebot. - -Er entsann sich, daß er vor zehn Jahren, erst auf dem Wege zum Ziel, -erfüllt von altem Hasse gegen diese vornehmen Bürgerfamilien, noch -Befriedigung gefunden hatte in der Vorstellung, daß er, der gedemütigte -Briefträgerssohn, sich eine dieser Töchter seiner Heimatstadt zur Frau -wählen werde. - -Mit dem Erreichen des Zieles war dieser Haß vergangen und -Interesselosigkeit entstanden. Außerdem hatte er, wie Jürgen, längst die -Erfahrung gemacht, daß jede verheiratete Frau dieser Kreise zu gewinnen -war, wenn auch nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt. - -In Pensionen ging auch Jürgen, obwohl er seit Jahren verwitwet war, -nicht mehr. „Diese Mädchen sind entweder arme Tierchen, nur auf Geld -aus, also erotisch an uns völlig uninteressiert, folglich langweilig; -oder sentimentale Unschuldslämmer, verglichen mit unseren Damen der -Gesellschaft, die voller Nervenraffinements und zu allem imstande sind“, -hatte er auf Adolf Sinsheimers wiederholte Bitte, wieder einmal mit in -den orientalischen Salon zu gehen, geantwortet. - -Nach dem Mahle standen Jürgen und Seidel, in der Hand die Mokkatassen, -abseits, zwischen sich die hohe Standuhr, deren Ticken das Gespräch für -die noch an der langen Tafel sitzenden Börsianer unverständlich machte, -und Seidel nannte kurz den Grund seines Hierseins. Er sei gezwungen, den -schon eingeleiteten Zusammenschluß einiger großer Bankinstitute zu -paralysieren: seinerseits einen großen Finanzkonzern zu organisieren. - -Jürgen hatte einige Male genickt. „Ich selbst erwäge schon seit geraumer -Zeit diesen Plan, habe auch schon vorgearbeitet. Ein nicht -unbeträchtlicher Teil der betreffenden Werte ist schon in meinen -Händen.“ Er sah seine Gäste an, sah Leo Seidel an. „Man wird reicher und -reicher ... Wozu?“ - -„Man muß die Urprodukte, die Erdschätze, in die Hand bekommen. Die -Kohle! Wer sie hat, kontrolliert schließlich die ganze Produktion.“ - -„Sag mal“, begann nach einer Pause Jürgen entschlossenen Tones, zuckend -mit der Schulter, als habe er sich selbst versichert, daß es ihm gleich -sei, was Seidel über ihn wegen des folgenden denken werde, „weshalb -eigentlich ist es nun dein Ziel, die Urprodukte, die Kontrolle über die -ganze Wirtschaft in die Hand zu bekommen, oder, mit andern Worten, der -mächtigste Mann des Landes zu werden? Welche Idee – hinaus über den -Wunsch, persönliche Begierden jeglicher Art stillen zu können, was zu -tun du ja schon längst imstande bist – verfolgest du dabei?“ - -Seidel blickte nachdenklich vor sich hin. - -„Macht um der Macht selbst willen? Oder die Erkenntnis, daß geschluckt -wird, wer nicht selbst schluckt? Oder um deiner Kinder willen, wenn du -welche hast? Das alles hat doch mit einer positiven Idee nichts zu tun.“ - -„Aber auch zur Erlangung der Kontrolle über Kohle, Brennstoffe, Erze -wäre der geplante Zusammenschluß eine wesentliche Voraussetzung.“ - -„Und das Sichabfinden damit, daß infolge der Konkurrenzjagd von Zeit zu -Zeit ein Krieg und der Tod einiger Hunderttausend oder Millionen eben -naturnotwendig, die Schattenseite sei, der aber die moderne Zivilisation -als Plus gegenüberstehe, ist doch ebenfalls keine tragfähige Grundlage -für eine Idee, für eine Lebensordnung, mit der auf die Dauer der Mensch -sich abfinden könnte, sondern, scheint mir, nicht mehr als eine -peinliche Mischung von Fatalismus und Zynismus.“ - -Seidel, der gar nicht mehr zugehört hatte, zeigte ein flüchtiges -Höflichkeitslächeln und schrieb etwas in sein Notizbuch. - -„Willst du mir nicht antworten? Oder weißt du keine Antwort auf meine -Frage?“ - -Rückwärts an der langen Tafel war es plötzlich still geworden. „Ein -Straßenmädchen ging mit einem Juden ...“ - -„Das Nähtischchen deiner Mutter steht noch in meinem Bodenraum. -Erinnerst du dich? Das sind jetzt zwanzig Jahre her.“ - -„Ich erwarte dich also morgen im Hotel oder bringe dir die Unterlagen in -die Bank.“ - -Das Lachen des Herrn Hommes platzte wie das dunkle Brüllen einer -Autohupe in die Stille. „Kenn ihn schon! Aber erzählen Sie nur weiter.“ - -„Auch einen großen Teil der Produktion chemischer Artikel würden wir -kontrollieren, falls die Fusion zustande käme.“ Seidel nannte die -Fabrik, Gesamtzahl und Kursstand der Aktien, von denen die in Frage -stehenden Banken nach der Fusion die Mehrheit haben würden. - -Jürgen blickte nach rückwärts auf die acht grauweißen Hinterköpfe, denen -gegenüber acht weinrote Gesichter im Zigarrenqualm hingen. „Ja, wir -könnten für viele chemische Artikel, Farben und vor allem für die -wichtigsten Arzneimittel die Preise bestimmen ... Gewiß keine -Kleinigkeit!“ - -Herr Wagner ergriff den Arm des Herrn Hommes, deutete mit dem Daumen -über die Schulter zurück auf Seidel: „Er hat verdient.“ - -„Ich weiß eine andere Fassung: Der selbe Jude kommt in ein Bordell ...“ - -„Kenn ich!“ rief Herr Hommes und brüllte los. - -Seidel erwähnte die Krankheit, von der die Arbeiter dieser chemischen -Fabrik befallen wurden. Es sei sehr schwer, Leute zu bekommen. Nur durch -hohe Gefahrprämien seien sie an die Siedkessel heranzubringen. Diese -Geschichte habe sogar schon auf den Kurs gedrückt. - -„Ich hörte davon. Die Leute werden gelb. Es ist aber keine Gelbsucht. -Auch alle Schleimhäute entzünden sich. Schwere Augenkrankheiten! Die -Arbeiterinnen bekommen keine Kinder mehr, werden vollkommen steril.“ - -„Und eines Tages war die Pleite da“, schloß der Fabrikant, der die Villa -voll gotischer Holzplastiken besaß. „Eben eine zu gewagte Spekulation!“ - -„No, was sag ich!“ - -„Es sind ja Erfindungen gemacht worden“, sagte Seidel und schrieb und -las dabei weiter in seinem Notizbuch. „Die Fabrikleitung hat diese -Erfindungen auch erworben. Aber die Konstruktion und Erhaltung dieser -Schutzapparatur würde riesige Summen verschlingen. Auch wertvolle -Nebenprodukte und Abgase würden durch die Einschaltung dieser -Schutzapparate verlorengehen.“ - -„Nein, nein, uns fehlt nichts“, antwortete Herr Wagner beruhigend auf -Jürgens Frage. Und zu Herrn Hommes: „Womit? Das mußt du dir von ihm -selber verraten lassen. Ich sag nur: er hat verdient.“ - -„Daß die Leute diese unheimliche Krankheit bekommen, weil Schutzapparate -nicht in Betrieb gesetzt werden, ist ein bißchen drückend für -denjenigen, der die Aktien besitzt und die Dividenden bezieht.“ - -Seidel zeigte sein flüchtiges Lächeln. „Möchtest du zusammen mit mir -wieder einen Bund der Empörer gründen? ... Noch eine Sekunde!“ bat er -und zog Jürgen wieder neben die Standuhr. „Weshalb ich außerdem -hierhergekommen bin. Kannst mir vielleicht einen Rat geben. Ich möchte – -es leben ja auch noch viele Leute hier, die meine Eltern gekannt haben; -aber auch sonst! – ich möchte eine Stiftung machen. Säuglingsheim, -Krankenhaus oder ein Kunstmuseum. Meiner Heimatstadt, weißt du!“ - -Jürgen griff sofort mit beiden Händen rückwärts nach dem Rauchtischchen; -dennoch fiel er, beinschwach geworden vor eruptivem Lachen, in den -Sessel. Er hielt die Hand hoch, Zeigefinger und Daumen zusammengepreßt, -als ob er ein Ungeziefer gefangen hätte. „Ein Krankenhaus für ... für -die Heimatstadt!“ - -Hände an die Seitenlehnen angeklammert, Oberkörper zurückgeworfen, -starrte er, durchschüttert von Lachen, atembenommen Leo Seidel an, -dessen Gesicht so weiß geworden war, daß die alten Sommersprossen -stärker hervortraten, wie damals, da er Jürgen das Nähtischchen seiner -Mutter zum Aufbewahren übergeben und gesagt hatte: „Zweifellos wird die -ganze Bande auf den Jahrmarkt kommen, um mich als Schiffschaukeladjunkt -zu sehen.“ - -„Und obendrein ist das auch die Antwort. Das ganze Systemchen ist steril -geworden. Wie die Arbeiterinnen, die nicht mehr gebären können ... Für -die Heimatstadt!“ Des Lachenden zuckende Schulter stieß an die Standuhr, -die metallisch tönte. - -An der Tafel erklang vielstimmiges, speckiges Gemecker. Sechzehn rote -Gesichter drehten sich den beiden zu. Sechzehn Paar Augen fragten. Und -Herr Hommes rief: „Wir wollen ihn auch hören.“ - -„Gut, du stiftest ein Säuglingsheim für die Kinder, die von den -Arbeiterinnen nicht geboren werden können, ich ein Krankenhaus für -diejenigen, die gestorben sind, weil sie die teueren Arzneimittel nicht -bezahlen konnten, und zusammen stiften wir ein Kunstmuseum, von wegen -der Kultur.“ - -Seine linke Gesichtshälfte lachte noch. Er hakte ein, zog ihn zur Tafel. -Dort legte er die Hand auf Seidels Schulter. „Soeben sagte mir Herr Leo -Seidel, der bekanntlich ein Kind unserer Stadt ist, daß er seiner -Heimatgemeinde ein mit allen hygienischen Errungenschaften -eingerichtetes Säuglingsheim in beliebiger Größe stiften wird ... Aus -... aus Anhänglichkeit.“ - -Er leerte sein Glas. Füllte und leerte. Begann wieder zu lachen. Trank. -‚Dieser harte, mächtige Mann – ein kleines Schuftchen, ein winziges -Ungeziefer, das in seiner Heimatstadt noch ganz besonders geachtet -werden will ... als Wohltäter!‘ - -Herr Hommes bedeckte Mund und Nase mit der Hand, warf den Kopf in den -Nacken und dann tief zur Tischplatte, als müsse er niesen, nieste nicht; -er sagte zu Herrn Wagner: „Da muß er aber groß verdient haben.“ - -„No, was sag ich!“ - -‚Entzündete Augen, entzündete Schleimhäute, Eierstöcke, Knochen, Lungen, -entzündete Maschinengewehre und Schwergeschütze, entzündete Seelen, -eiternde Seelen – und ein Krankenhaus für alle, finanziert mit Kapital, -das entstanden ist durch das Systemchen, welches diese planetare -Entzündung verursachte. Das ist die Antwort. Hoppla, das ist sie ... Und -die Fusion wird zustande kommen. Und die Kontrolle über die wichtigsten -Arzneimittel. Und ich werde noch mächtiger werden. Und das ist nicht zu -ändern. Es gibt keinen Ausweg. Mir kann nichts passieren – denn ich bin -schwerlich zu entlausen, denkt mit Recht die Laus.‘ - -Er saß abseits rittlings auf dem Stuhle und glotzte vergnügt. Stellte -das geleerte Glas auf den Fußboden. ‚Eiternde Seelen‘, begann er wieder, -diesmal von rückwärts, und zählte an den Fingern her, wie der -Metallarbeiter mit der verstümmelten Hand. Sah plötzlich eine -Riesenebene, auf der Millionen Menschen reglos blickten. Die Gesichter -derer, die am allerweitesten, die kilometerweit zurückstanden, waren -größer als die der Nächststehenden. Alle Gesichter waren gelb. - -„Gelb! Gelb! Gelb! ... Bin ich denn in China? ... Wollte ja Dolmetscher -in China werden.“ - -Er stürzte vom Stuhle. In seinem Hinterkopfe klopfte dunkel ein Hammer -aus Gummi. - - - - - VII - - -Phinchen mußte sich strecken, um mit der Bürste den Rockkragen erreichen -zu können. Wie jeden Morgen trat Jürgen, als probiere er eine neue Hose -an, einigemal am Platze, sich richtig in den Anzug hineinzudrücken, nahm -den Spazierstock aus Phinchens Hand und verließ pünktlich die Villa. Der -Schaffner, im Laufe der vierzehn Jahre auf dieser Strecke ergraut, half -dem schwer gewordenen täglichen Fahrgast in den Wagen. - -Unwillkürlich rückte Jürgen etwas ab von einem dürftig gekleideten -Manne, dem die Nase fehlte. Außer diesem Arbeiter saß im Wagen ein -kleines Mädchen, das, die Augen angstvoll vergrößert, seine Hausaufgabe -im Katechismus repetierte und immer wieder begann: „Aber Jesus sprach: -Lasset die Kindlein zu mir kommen ...“ - -Der Schaffner kassierte. Der Nasenlose hatte kein Geld. - -„Aber Jesus sprach ...“ - -„Dann müssen Sie aussteigen.“ - -Der Nasenlose, entschlossen, sitzen zu bleiben, geriet in Erregung. Er -sei monatelang arbeitslos gewesen. Wenn er nicht mitfahren dürfe, komme -er zu spät und erhalte die Aushilfsstelle nicht. Alle Qualen seines -Lebens sammelten und verwandelten sich in Widerstand und Zorn gegen den -Schaffner. - -Auch der war wütend geworden, gab das Haltesignal. „Wie kann einer -einsteigen, wenn er das Fahrgeld nicht hat! So etwas gibts nicht.“ Der -Wagen hielt. „Wenn ich Sie ohne Schein mitfahren lasse, verliere ja ich -meine Stelle.“ - -„Wenn einer arbeiten will!“ schrie verzweifelt der Mann und schimpfte -los auf die reichen Nichtstuer, die nicht nötig hätten, zu arbeiten. - -„Auf! Sie müssen aussteigen.“ Er mußte den sich Wehrenden am Arme packen -und aus dem Wagen hinausdrücken. - -„Aber Jesus sprach ...“ lernte das Mädchen in so großer Angst, die -Hausaufgabe in der Schule nicht hersagen zu können, daß es von der -ganzen Szene nichts bemerkte. - -Auch Jürgen, der die Kursberichte gelesen und dabei, tief beunruhigt, an -den Traum der letzten Nacht gedacht hatte, wußte nicht, weshalb des -Schaffners Lippen und die Hand, die die Zange hielt, bebten. Automatisch -zog er die Abonnementskarte, in die seine Jugendphotographie eingeklebt -war. ‚Welch ein fürchterlicher, fürchterlicher Traum!‘ - -Der Schaffner war noch zornig. „Sie sollten auch einmal ein neues Bild -einkleben. Das sind ja gar nicht mehr Sie.“ Er hielt die Photographie -prüfend von sich weg. „Das ist ja ein ganz anderer, könnte man glauben.“ - -Jürgen blickte auf die Augen des Jünglingsbildes, die aus ungeheurer -Ferne groß und ernst zurückblickten. Das Gesicht des Nasenlosen tauchte -neben dem Fenster mit Sprungregelmäßigkeit auf und nieder. - -‚Träume seien nun einmal nichts als Schäume, sagt der Hausarzt ... Ist -aber auch dieser entsetzliche Traum nur flaumleichter Abfall des Lebens -und ohne tiefere Bedeutung?‘ Selbst jetzt noch, während der Fahrt durch -den sonnigen Tag, stockte Jürgens Herz: - -Er steht, befrackt, weiß behandschuht und im Halbkreise umgeben von den -zwölf schwarzgekleideten Zeugen, in der Mitte des festlich erleuchteten -Gesellschaftssaales vor dem Hinrichtungsblock, tritt zurück, hebt das -Beil - und läßt es hineinsausen in den Nacken. Der Kopf geht nicht -herunter. Und jetzt erst sieht er, daß er selbst, als Student, am Blocke -kniet und von sich selbst hingerichtet werden muß, im Namen des Lebens, -wie es ist. Gezwungen von den Blicken der zwölf stummen Zeugen, muß -Jürgen noch einige Male in die furchtbare Nackenwunde hineinschlagen, -bis der Kopf Jürgens, des Studenten, herunterfällt. Die Streichmusik -endet. - -Tirolerinnen, die schiefe Münder haben, reichen lebendes Fruchteis. Um -nicht essen zu müssen von diesem schauerlichen, lebenden Eise, wühlt -Jürgen sich durch die empört nachblickenden Damen und Herren durch, -flüchtet die Treppe hinunter und stürzt in fliegender Eile durch die -menschenleeren Mondstraßen heimwärts, durch den schimmernden Garten. - -Da kniet, an Stelle der Brunnenfigur, der Rumpf in der Mitte des -Bassins, Hände im Rücken gefesselt, symmetrisch umstanden von den zwölf -auf Stangen steckenden, farbigen, kopfgroßen Glaskugeln, die jetzt die -zwölf Hinrichtungszeugen sind, und aus dem Halsstumpfe steigt das Blut -als Springbrünnchen empor. Die Symmetrie wird gestört durch Jürgens -Jünglingskopf, der anstelle der gelben Glaskugel auf der Stange steckt -und die grauenvolle Drohung ausspricht. - -„In Vollmondnächten sollten Sie nicht bei unverhängten Fenstern -schlafen. Auch abends keine schweren Speisen essen. Die verursachen -gleichfalls Albträume“, hatte der Hausarzt gesagt. - -Das Schulmädchen stieg aus, schlug auf der Straße den Katechismus wieder -auf und lernte weiter. Jürgen saß allein im Wagen. Er überlegte, welche -Weisungen er heute dem Prokuristen zu geben habe für die Börse. -Plötzlich fletschte er, Mundwinkel in die Wangen zurückgezogen, die -zusammengebissenen Zähne, drehte den Kopf seitwärts und bewegte die -Lippen, als verhandle er mit einem hinter ihm Stehenden, der Befehle -erteile, die Jürgen nicht befolgen könne. - -Erst als er hinaus auf die rückwärtige Plattform trat und mit dem -Schaffner eine Unterhaltung begann, entspannte sich sein Gesicht wieder. - -Angefangen hatten diese Zustände vor einem Jahre. Er geht spazieren und -muß plötzlich stehenbleiben, hat Atembeschwerden, ist nicht imstande, an -einem Ecksteine oder an einem Baume oder an einem Laternenpfahle, der -sich durch nichts von anderen Laternenpfählen unterscheidet, -vorüberzugehen. Kopf seitwärts gedreht, Zähne gefletscht, kämpft er -gegen das Unsichtbare, das unausführbare Befehle erteilt. - -Schnell tritt er in den nächsten Laden, setzt sich, studiert die -Gesichter der Kunden, unterhält sich mit der Verkäuferin und bittet sie, -ihm sechs besonders hartborstige Zahnbürsten in die Villa zu schicken. -In dem unbewohnten Raume der Villa, wo auch die Antiquitäten und Gemälde -für das Palais aufbewahrt waren, hatte sich im Laufe des letzten Jahres -auf diese Weise ein großes Lager verschiedenster Artikel angesammelt. - -Gleich vielen Menschen, kann auch Jürgen es nicht ertragen, daß auf der -Straße jemand hinter ihm geht. Auch am hellen Tage muß er stehenbleiben, -interessiert eine Fassade betrachten oder schnell in einen Laden -eintreten. - -Außerhalb der Stadt, wo keine Leute sind, spazierenzugehen, wagte Jürgen -schon lange nicht mehr. Jemand geht hinter ihm her. Jürgen dreht sich um -und wieder um und ganz um sich selbst. Immer steht in seinem Rücken der -Andere. Und da Jürgen nicht in einen Laden flüchten kann, wirft er sich -zu Boden. - -Einmal hatte er sich durch Adolf Sinsheimer retten können vor dem -Verfolger. Er steht, Zähne gefletscht, in menschenleerer Landschaft -unter den unausführbaren Befehlen des Unsichtbaren. Da erblickt er den -Jugendfreund, der, in der Hand ein Notizbuch voll Rechnungen, an einem -Baume lehnt und gedankenversunken die ferne Hügelkette betrachtet, als -dichte oder zeichne er. Damals war das Unternehmen des Knopffabrikanten -dem Konkurse nahe gewesen. - -Jürgen macht einige Fluchtsprünge auf den Jugendfreund zu und bittet -flehend den Erschreckenden: „Verkaufe mir deinen Bleistift.“ - -„Weshalb verkaufen? ... Hier, nimm ihn!“ Und er will ihm den goldenen -Patentbleistift in die Hand drücken. - -„Unmöglich! Das ist ganz unmöglich!“ Jürgen zwingt den Schulfreund, die -Banknote zu nehmen, und steckt, befreit aufatmend, den Bleistift ein. - -Die Straßenbahn hielt. Der Wagenführer drehte die Kurbel heraus. -„Endstation“, sagte der Schaffner zweimal zu Jürgen, der verzerrten -Gesichtes über die Schulter zurücksprach und nicht aussteigen konnte. - -Junge Beamte eilten durch die Gänge, grüßten den Chef. Er ahmte die -Stimme des Hausarztes nach: „Abends nur ein paar weichgekochte Eier -essen. Wachsweich! Auch schadet es nicht, wenn Sie täglich dreimal etwas -Brom nehmen.“ - -Das Bromsalzglas stand auf dem Schreibtisch. Sooft Jürgen die Feder in -die Tinte stach, sah er das Salzglas, das herauszuwachsen schien aus dem -Nacken des verheirateten Beamten, der, reglos wie ein Eingeschlafener -auf das Pult gebeugt, vor seinem Chef saß, schon Vater dreier Kinder -war, Sorgenfalten im grauen Gesicht hatte und keine Veilchen mehr im -Knopfloch trug. - -Auf das Bankgebäude wurde ohne Betriebsunterbrechung ein Stockwerk -aufgesetzt. Während des Vergrößerungsumbaues mußte Jürgen mit drei -Angestellten zusammen in einem Raume arbeiten. Ringsum, fern und nah, -auf dem Dache und in allen Stockwerken wurde gehämmert, geschrien, -gekratzt, gesägt, gehobelt. - -In dem Bureau selbst stand katastrophenferne Ruhe. - -Jürgen tauchte die Feder ein. Und wie er schreiben will, steht auf dem -Pulte anstelle des Tintenfasses ein winziges, lebendiges Herrchen, das -sich höflich verbeugt und lächelnd auf das Bromsalzglas deutet, mit -einem feingegliederten Zeigefingerchen. - -Jürgen kann nicht atmen, fletscht die Zähne, taucht die Feder noch -einmal ein. Sticht sie auf den Kopf des Herrchens, das zum Tintenfaß -zusammenschrumpft. Und wie Jürgen schreiben will, steht es wieder -lebendig da, höflich vorgebeugt. Das Zeigefingerchen deutet, das -Mündchen lächelt und sagt: - -„Mit Bromsalz kann eine Menschenseele nicht zum Schweigen gebracht -werden. Ich versichere Ihnen, so wahr es ist, daß sehr viel mehr als -neunundneunzig Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele reden, -durch ihre Seele in gar keiner Weise mehr gestört werden, weil sie sie -schon längst eingetauscht haben gegen Dinge, die ihren Marktwert haben -...“ - -Das ist wahr, dachte Jürgen. Das ist wahr. - -„... so wahr ist es, daß bei gewissen Individuen die Seele spielend -leicht durch den allerstärksten Schutzwall durchschlüpfen und ihr -vorbestimmtes Recht verlangen kann.“ - -Das Herrchen legte das Händchen an den Mund, als habe es ein tiefes -Geheimnis zu offenbaren: „Die Seele will fließen. Und fließt unter -Umständen bei gewissen Individuen selbst auf die Gefahr hin, -überzufließen und alles in Verwirrung zu bringen. Denken Sie nur an die -vielen, vielen Irrenhäuser, die es gibt auf dieser Erde. Voll! -Überfüllt! Wer bezahlen kann, kommt in die erste Klasse und kann seine -Seele preisentsprechend behandeln lassen ... Nun, das ist ja Nebensache, -der Preis nämlich, wenn er auch in unserem Zeitalter bei allem die -Hauptsache ist. Aber verzeihen Sie die Abschweifung.“ - -Jürgen strich sich über die Augen, blickte zum Fenster hinaus. „Was -heißt Abschweifung! Das ist eine Halluzination. Nein, es ist nur eine -Sinnestäuschung. Und das nicht einmal, ich habe nur, wie der Arzt sagte, -zu viel gegessen. Oder ich bin übermüdet. Es sind nur die Nerven. Dieser -Umbau macht einen ja ganz verrückt.“ - -Er schielte auf das Tintenfaß. Das stand leblos, schwarz, breit und -niedrig an seinem Platze. Dennoch ertönte eine Stimme: „Wenn die Seele -überfließt und spricht, nennen das die Ärzte eine Halluzination.“ - -„Ich werde mich aber jetzt doch einmal von einem Nervenarzt untersuchen -lassen!“ - -„Das hilft Ihnen nicht“, behauptete, schülterchenzuckend, das Herrchen. -Es saß auf dem Löschblattbügel, ein Beinchen übergeschlagen, und sah -nicht aus, als ob es bald weggehen würde. - -Der verheiratete Beamte wechselte die Schutzärmel, damit sie sich im -Laufe der Jahre gleichmäßig abnützen sollten. Er war aus Erfahrung klug -geworden. Ihm konnte es nicht mehr passieren, jahrelang einen schwarzen -und einen grünen Schutzärmel tragen zu müssen, wie einmal in seiner -Jugend, da er es unterlassen hatte, den schneller sich abnutzenden -rechten Schutzärmel Öfters mit dem linken zu wechseln. - -Die beiden noch farbig schillernden, eleganten jungen Beamten, die vor -Jürgen an einem Doppelpulte saßen, machten einander mit den Beinen -aufmerksam auf die Pedanterie ihres älteren Kollegen. - -Jürgen übergab seine Weisungen für die Börse dem Prokuristen, einem -runden Manne, dessen Lippen immer aussahen, als habe er eben eine fette -Speise gegessen. - -„Sagte es denn eben wirklich: Sie standen schon am Anfang Ihres Ich. -Oder sagte ich selbst das?“ Jürgen konnte nicht ermitteln, ob er selbst -sprach. - -„Ich, natürlich, ich bins, der spricht! Niemand anderer als ich sagte: -Sie standen schon am Anfang Ihres Ich.“ - -„Dieses Wort ist doch von mir. Ich selbst habe diesen Gedanken in genau -der selben Formulierung vor Jahren einmal ausgesprochen.“ - -„Wie meinen?“ fragte der Prokurist. - -Drei schreibgekrümmte Rücken und zwei starr blickende Augen, die einmal -des Verheirateten Nacken, das Salzglas, dann wieder das Tintenfaß -doppelt sahen. „In meinem Hinterkopf geht etwas vor sich; nicht in der -Stirn.“ - -„Ich bins, der vor sich geht.“ - -„Und was wird mit mir geschehen?“ - -„Sie sind nicht mehr vorhanden.“ - -Die Stirn knallte auf die Schreibtischplatte. Die Bureauwände neigten -sich lautlos auf ihn zu. Er sah die ineinander verschwimmenden -Gegenstände vervielfacht und hatte das mit Übelkeit verbundene -Empfinden, alles Blut vergehe in seinem Körper. - -Der Prokurist sprang herbei, das Wasserglas in der dicken Hand, richtete -den Haltlosen auf. - -„Kaufen Sie! Kaufen Sie!“ - -„Selbstverständlich! Wird geschehen! Seien Sie ohne Sorge ... Hier, ein -Schluck Wasser.“ - -„Nein, irgend etwas! Für mich! Kaufen Sie ... Vielleicht Orangen. Was -Sie wollen!“ - -Der Prokurist eilte zur Tür. Jürgens Lippen waren weiß. In seinem -Hinterkopfe klopfte dunkel der Hammer aus Gummi. „Möglichst schnell“, -schrie er, Zähne gebleckt, dem Prokuristen nach. - -„Das hilft Ihnen nicht mehr.“ - -„Die Stimme klingt, als spräche jemand mit mir aus weiter, weiter Ferne -und doch aus nächster Nähe. Sie klingt wie ein telephonisches -Ferngespräch. Mir ist, als spräche ich mit einem Wesen, das ich in -Qualen liebte ... Bitte“, sagte Jürgen, bebend in Angst vor der -Erfüllung seiner Bitte und so laut, daß die Beamten aufblickten, „legen -Sie jede Verkleidung ab.“ - -Da sah er nichts Gegenständliches mehr, keine Augen; er sah einen Blick, -nicht von Augen entsandt. Nur den Blick selbst, der unversehens zu dem -ernsten Blicke des Jünglingsbildes in der Abonnementskarte wurde und, -vergehend, weit zurückwich. - -Heiß durchzogen und atembenommen starrte er dem vergehenden, ergreifend -ernsten Blicke nach, beobachtete, Zähne gefletscht und Kopf seitwärts -gedreht, wie der Blick sich in das Herrchen verwandelte, das sich so -schnell erhob, daß der Löschblattbügel schaukelte. - -„Das war mein erster offizieller Besuch.“ Es blickte auf die Bureauuhr. -„Fünf Minuten vor zwölf.“ (Der Verheiratete nahm schon die Schutzärmel -ab). „Existenzen Ihresgleichen gibt es in dieser Sekunde auf der Erde -...“ Das Herrchen nannte eine Zahl, die riesengroß und winzig klein in -einem war und wie ein anklagendes Wort klang, gesprochen in der -Nachtstille. - -„Sie sind in allen Schichten und Lagern zu finden. Ich besuche sie alle. -Jeden zu seiner Zeit. Es sind Universitätsprofessoren darunter, die als -Studenten noch die Bereitschaft zur Hingabe in den Augen trugen. -Industrielle, die als Jünglinge Gedichte gemacht haben. Hohe Geistliche, -die in das falsche Christentum reisten. Dichter, die um des Erfolges und -des Ruhmes willen von dem Protest und der Gesinnung weg in den Erfolg -und Ruhm und immer tiefer in das Publikum hineinreisten. Männer, die -sich der Wissenschaft hingegeben hatten und aus ihr später ein Geschäft -machten, ein Namensschild mit Titel, angeschlagen an der Haustür. Und -Existenzen Ihresgleichen, die Sozialisten waren und Bürger wurden. -Verruchte Existenzen! Denn sie konnten, kraft naturverliehener Kraft, -sich durch das heucheleidurchwirkte, blutnasse, dicke, dichte Dickicht -dieses Jahrhunderts durchschlagen zu dem Bewußtsein, daß die im Zeichen -befreiter Arbeit stehende menschliche Gemeinschaft, in der die Seele ihr -Ich durch den Körper gewinnen und im Gleichgewicht in sich selber ruhen -kann, erkämpft werden muß, sollen die lebenden und kommenden -Generationen bewahrt bleiben vor Krieg und Hungerbarbarei, dem Wahnsinn, -vor dem großen Tode!“ - -‚Ich muß mir das Ganze notieren, so kann ich es nicht behalten‘. „... -Unmöglich! Unmöglich!“ rief er, ohne den Blick vom Stenogrammblock zu -erheben, die Linke abwehrend ausgestreckt, dem Prokuristen zu, der einen -Stoß Papiere in den Händen hielt, erstaunt sich die Lippen leckte und, -auf den Zehenspitzen rückwärtsgehend, wieder verschwand. - -„Jeden zu seiner Zeit. Einmal bin ich ein Herbsttag, ein welkes Blatt, -das vom Baume fällt und bei einem ruhmverkalkten Dichter plötzlich die -Frage auslöst: Habe ich alles verraten, was in der Jugend mir teuer war? -Die Frage, die zugleich die Antwort und der Beweis ist. Manchmal -schreite ich in ein Buch hinein, werde zu einem Satze, der in dem -Lesenden blitzhaft die Gewissensfrage auslöst. Manchmal bin ich ein -Traum. (Wie bei Ihnen zum Beispiel. Auch kann ich der Umbau eines -Bankgebäudes sein).“ - -Oder ein Engländer, der fragt: Wie geht es Ihrem Herrn Bruder? dachte -Jürgen und stenographierte auch diese Erinnerung. - -„Ich bin ein zwanzigjähriges Mädchen, das im Kampfe gegen die Umwelt -steht und durch ihre Verachtung in dem Abtrünnigen die Sekunde aufreißt, -in der er den tragischen Rückblick tun muß. Manchmal werde ich durch -einen Ton in grauer, leerer Stunde zur Gewissensfrage. Durch den Ton -einer Kindertrompete! Ich bin ein regnerischer Tag, verhindere einen -Ausflug in den Genuß und werde so zum Tage des Versinkens in den Ekel -vor sich selbst. Oft bin ich ein Sonntagnachmittag. Ich werde als Bild -an der Wand zur Gewissensfrage und als Spaziergang in menschenleerer -Landschaft, wo es keine Läden gibt. Ich steige als Weinrausch in das -Herz eines Satten, und er sinkt in die Selbsterkenntnis hinein. Es kann -einer seinen Teppich ansehen und plötzlich aus dem Muster, das ich bin, -die Gewissensfrage herauslesen, grauenvoll deutlich. Manchem wird der -Rückblick zum Konflikt, der ihn ins Irrenhaus bringt.“ - -Das Herrchen deutete: „Das ist Ihr Fall.“ - -Jürgen schauerte im Rückenmark. - -„Andere glauben, sich in Selbstgerechtigkeit hineinretten zu können. -Viele ertrinken völlig in ihr und erleiden die Strafe erst in spätem -Alter, wenn sie eines Tages, veranlaßt durch mich, die Nichtigkeit ihres -Lebens einsehen müssen und, entsetzt über ihr verdrecktes, mit Achtung, -Gemeinheit, Lüge, Erfolg, Ruhm und Selbstgerechtigkeit poliertes Dasein, -an einer Kugel, an einem Stricke oder an Ekel vor sich selbst sterben. -Auch die feinste Selbstbelügung schützt den Verräter nicht. Keiner kann -in Selbstgerechtigkeit sein Leben beschließen. Dies vermögen nur -diejenigen, die schon als wehrlose Kinder ganz entselbstet, enticht, -entseelt werden konnten, sich der Umwelt anpaßten und dafür das Leben, -wie es ist, eintauschten, im Gegensatz zu Ihnen, der Sie die Kraft -hatten, sich das Kostbarste und Leidvollste auf Erden zu erkämpfen: das -Bewußtsein.“ - -„Wer vermöchte zu entscheiden, ob stärker als die Verhältnisse und -größer als meine Begierden die Kraft in mir war, weiter zu kämpfen! Was -ist der Beweis meines Verrates?“ - -„Wer fragen muß: Bin ich ein Verräter, der ist es; Ihrem Schwiegervater -fällt dies gar nicht ein. Die Frage enthält schon die Antwort und den -Beweis des Verrates.“ - -Diese Worte trafen ihn mit solcher Beweiskraft, daß er minutenlang die -Fähigkeit, zu denken, vollkommen verlor. Auch das Klopfen im Hinterkopfe -hatte geendet. - -Die Bureauuhr schlug zwölf. Die drei Beamtenoberkörper richteten sich -auf. Drei Federhalter wurden weggelegt. - -Auch Jürgen legte den Federhalter weg, richtete sich auf. Vor seinen -Augen schwebten rundum und durcheinander blitzweiße, goldumränderte -Sternchen, als ob er mit dem Kopfe nach unten aufgehängt gewesen wäre. -Eine Fliege glitt auf weißem Papier schnell vom Tintenfaß zum -Löschblattbügel. - -„Wieviel Beine hat eigentlich eine Fliege? Vier oder sechs? ... Da wurde -ich zweiundvierzig Jahre alt und weiß nicht, wieviel Beine eine Fliege -hat. Was bin ich doch für ein Dummkopf! Sitze da und grüble seit Stunden -über diesen Unsinn nach. Kann mir doch vollkommen gleichgültig sein“, -sagte er und horchte befreit auf den stärker gewordenen Straßenlärm, den -die dem Suppenteller Zueilenden verursachten. Die Glocken der Trambahnen -läuteten stärker. - -„Es muß ja nicht gleich morgen sein, aber bei Gelegenheit sollten Sie -sich einmal neu photographieren lassen. Sie sind zu verändert“, sagte -freundlich der Schaffner und gab die Abonnementkarte zurück. „Das hier -ist ein junger Mensch, während Sie doch schon in die besten Mannesjahre -kommen.“ - -Der grauhaarige Bürger, der neben Jürgen saß, schob den -zusammengerollten Fahrschein unter den Ehering. - -Ja, die liegen Gott sei Dank noch vor mir ... Kann mich ja -photographieren lassen, bei Gelegenheit, dachte er, stieg aus. Und ging, -im selben Tempo wie jeden Tag, die zweihundert Schritte bis zur Villa. -Summend durch den Garten, auf die farbigen Glaskugeln zu. - -Den Bruchteil einer Sekunde stutzte er vor den Glaskugeln. Es war ein -grauer Tag. Die Glaskugeln standen öd in ihren eigenen Farben. Im Garten -regte sich nichts. - -Der Mantel hing sich von selbst an den Haken. Die bereitstehenden -Hausschuhe schlüpften über Jürgens Füße. Gewohnheitsmäßig zupfte er das -Tischtuch zurecht. Die Schüsseln entleerten sich. - -Das Kanapee gab mit den vertrauten Tönen dem Körper nach. Die Augen -lasen die Mittagszeitung. - -Bis sechs Uhr im Bureau. Dann im Garten. Wachsweiche Eier zum -Abendessen. Von neun bis zehn Uhr die Abendzeitung. Auf den Rat des -Arztes hin punkt zehn Uhr ins Bett. Am langen Sonntagnachmittag die -gewohnte Billardpartie mit dem befreundeten Fabrikanten, der die -Sammlung gotischer Plastiken besaß. Montag ins Bureau. - -So verging noch eine kurze Zeit, bis eines Tages die Abendzeitung -ausblieb. - -Punkt neun erklang das Stöhnen des Kanapees, zusammen mit Jürgens -wohligem A-Seufzer. Seine Hand griff automatisch nach der Abendzeitung, -die seit Jahren immer an der selben Stelle auf dem Tische bereit gelegen -war, und griff in die Leere. - -Die Zeit bekam ein Loch, das sich durch das Rufen nach Phinchen vorerst -noch einmal schloß. „Wo ist das Abendblatt?“ - -„Die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen.“ - -„So, die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen. Das Blatt wurde nicht -eingeworfen, wie? Du hast nichts gehört?“ - -„Nein, es wurde nicht eingeworfen. Die Zeitungsfrau ist wahrscheinlich -am Hause vorübergegangen.“ - -„Du meinst also, die Zeitungsfrau sei vorübergegangen.“ - -„Sie hat zweifellos vergessen, die Zeitung einzuwerfen. Ging am Hause -vorüber.“ Als er das Wort ‚vorüber‘ aussprach, schlug er sich, das -Gähnen zu verdecken, einige Male leicht auf den Mund, so daß das Wort in -mehrere Laute getrennt wurde. Dieses Geräusch erinnerte ihn an das -Geräusch, das der leerlaufende Motor verursacht, wenn die Trambahn hält. -(Der Schaffner gibt ihm die Abonnementkarte zurück.) - -‚Gut, kann ja ein neues Bild machen lassen, bei Gelegenheit ... Den -Fahrschein zusammengerollt unter den Ehering zu schieben, ist übrigens -ganz praktisch. Man hat ihn gleich, wenn der Kontrolleur kommt.‘ Seine -Hand griff nach dem Abendblatt. „... Ah so!“ - -Er versuchte, das Loch, das die Zeit bekommen hatte, auszufüllen, indem -er das linke Bein über das rechte schlug und heiter zu summen begann. -Sobald er still lag, war das Loch wieder da. Groß, schwarz, endlos. - -Der grüne Hügel, wo vor vierzehn Jahren die Fabrikantensöhne und --töchter Huhn und Rotwein genossen hatten, schob sich in das Loch, -verschwand wieder. Er dachte: Was jetzt, zwischen neun und zehn Uhr, in -der Welt alles vor sich geht ... Gewiß sehr viel. - -Warf das rechte über das linke, legte den Kopf auf die harte Sofalehne, -dann auf das weiche Kissen. Betrachtete die Tapetenblumen. (‚Einer sieht -seinen Teppich an, und das Muster, das ich bin ...‘) Er warf sich herum. -Das Kanapee ächzte. Er begann zu pfeifen. - -Plötzlich wurde er, bei dem Gedanken, hier zu liegen und eine Stunde zu -pfeifen, von solchem Grauen gepackt, daß er, mit noch pfiffgespitztem -Munde, versteinert die Decke anstarrte. - -„Sie hätte nur die Zeitung einwerfen brauchen, dann könnte ich mich -zerstreuen. Zerstreuen ... Früher konnte ich in Gesellschaft gehen oder -ins Varieté, in den Zirkus, ins Theater, in die Oper. Andere gehen in -ihr Stammlokal, in die Gesangvereinsprobe, zum Kegeln, spielen Karten -... Das ist eine Zerstreuerei! Ganz Europa zerstreut sich.“ Er pfiff -wieder. - -„Aber die andern, die schon als wehrlose Kinder – Sie wissen schon: die -leben, wenn sie kegeln.“ - -Da öffnete sich der pfiffgespitzte Mund; Jürgen glaubte zu fühlen und zu -sehen, wie hinter seiner Stirn die schwarzen Buchstaben zu der Frage -entstanden: „Wer hat das gesagt?“ - -Er schnellte in Sitzstellung empor und brüllte ins totenstille Zimmer -hinein: „Wer hat das gesagt? Wer?“ - -Die Amsel verließ, heftig flatternd, auf einem scharfen Pfiff den -Mauerefeu beim Fenster. „Wer? Die Amsel? Wer hat das gesagt?“ - -Von den an der Decke kreisenden Fliegen fiel eine auf die Tischplatte. -Und Jürgen, Oberkörper lauernd vorgebeugt, Hand fangbereit gekrümmt, -flüsterte: „Muß doch einmal ...“ Die Gefangene drückte gegen das -Faustinnere. - -Schneller als eine Fliege vorbeizuckt, wich das Interesse, zu erfahren, -wieviel Beine sie hat, der Frage, was ihn noch retten könne. - -„Für Sie gibt es keine Rettung mehr. Sie werden wahnsinnig werden.“ - -Langsam ließ er sich auf das Kanapee zurücksinken. „Wahnsinnig? -Weshalb?“ Fuhr sofort wieder in Sitzstellung auf. „Was? Wer hat gesagt, -ich würde wahnsinnig werden? Wer? Das habe nicht ich gesagt. Wer hat das -gesagt? Wer! Wer!“ Plötzlich brüllte er wild: „Die Abendzeitung! Ich -will die Abendzeitung. Alle haben ihre Abendzeitung. Die Abendzeitung! -Die Abendzeitung!“ Wut entstellte sein Gesicht. - -„Auch die Zeitung würde Ihnen nichts mehr nützen.“ - -Pünktlich auf die Minute trat, wie jeden Abend, Phinchen ein und zog die -Wanduhr auf: Die zwei Bleigewichte berührten den Rand des -Ziffernblattes. - -„Dann ist es jetzt genau halb zehn“, sagte Jürgen, als Phinchen wieder -draußen war. „Ich brauche gar nicht hinzusehen. Genau halb zehn ... Und -morgen abend um halb zehn ist die Uhr abgelaufen und die Gewichte hängen -unten. Dann ist ein Tag vorbei. Die Uhr wird aufgezogen. Und übermorgen -um halb zehn hängen die Gewichte wieder unten. Dann ist wieder ein Tag -vorbei. Sie wird aufgezogen ... Aufgezogen ...“ - -„Und dann ist das Leben vorbei.“ - -„Ja, dann ist das Leben vorbei ... Und doch fahre ich morgen ins Bureau -und übermorgen. Und dann kommt der Sonntag. Und dann der Montag. Der -Samstag. Ich arbeite, mache Pläne. Fusion. Werde reicher und reicher. -Die Jahre vergehen ...“ - -Und dann kam die Frage nach dem Sinn und nach dem Ziele, die Frage nach -der Idee, nach dem Zwecke, für den zu arbeiten und zu kämpfen sein -Lebensinhalt sei. - -Sein Inneres und die Umwelt – alles war grau und leer. Er wartete. -Lange. - -„Aber ich bin ein geachteter Mann.“ - -„Einmal sagten Sie, dies sei die größte menschliche Katastrophe.“ - -„Kann sein! Kinderei! Lassen wir das einstweilen. Jetzt will ich erst -einmal Bilanz machen. Dann werde ich überlegen, was zu tun ist. Ich will -methodisch vorgehen. Reich, sehr reich und geachtet, gebildeter und -wissender, kultivierter als die meisten und imstande, mir jeden Genuß, -den das Leben bietet, zu verschaffen.“ - -„Sie haben also alles schon erreicht, was den andern von Jugend an als -Ziel vorschwebt und zum Sarg wird für diejenigen, die das Ziel erreicht -haben. Was also ist der Zweck? Was Ihr Ziel?“ - -„Auch bin ich nicht schmutzig, nicht geizig. Im Gegenteil; ein Zehntel -der Summe, die ich für Wohltätigkeitszwecke gegeben habe, würde genügen, -daß ein halbes Dutzend Männer mit Frauen und Kindern ein vollkommen -sorgenloses Leben in eigenem Hause führen und selbst in kleinerem -Ausmaße wohltätig sein könnten.“ - -„Das stimmt. Zum Teil wahrscheinlich auch daher die große Achtung, die -Sie genießen und vor sich selbst haben.“ - -„Auch möglich! Aber das ist, wie gesagt, jetzt Nebensache, die Achtung.“ - -„Nee, die ist mit die Hauptsache.“ - -Jürgen machte eine ärgerliche Abwehrbewegung mit der Hand. „Nun, wenn -Sie wollen, ich pfeife auf die Achtung. Ich könnte, wenn ich auf der -selben Linie weiterschreiten würde, noch mächtiger, einflußreicher und -in noch weiteren Kreisen geachtet werden.“ - -„Das können nur die Bewußtseinslosen, deren Weltanschauung in den drei -Worten besteht: Jeder für sich; Sie aber können das nicht. Denn Ihr -Bewußtsein sagt Ihnen, daß Sie nicht das geringste zur Verwirklichung -des unverrückbaren Menschheitszieles beizutragen vermöchten, auch wenn -Sie, weiterschreitend auf dem Jeder-für-sich-Wege, der mächtigste Mann -des Landes werden würden.“ - -„Ich will ja auch gar nicht fortschreiten auf diesem ziellosen Wege.“ - -„Nicht Sie wollen nicht, sondern ich will nicht. Ich! Ich lasse nicht -zu, daß Sie in dem bisherigen Trott weitermachen. Sie selbst können gar -nicht mehr wollen oder nicht wollen. Sie sind nur noch eine -Willensmaske.“ - -Jürgen preßte beide Fäuste an den Kopf. „Seit einiger Zeit führe ich -fortwährend Selbstgespräche. Nun, und wenn auch! Viele Menschen führen -Selbstgespräche.“ - -„Sie aber führen Gespräche mit Ihrem Selbst.“ - -Jürgen sah auf. „Wie dem auch sei, Tatsache ist, daß ich ohne Ziel, ohne -Idee, ohne Zweck nicht weiterleben kann. Das halte ich nicht aus. Ich -halte diesen Zustand einfach nicht mehr aus.“ - -„Dies ist es, was Sie von dem Vollbürger unterscheidet. Der hält diesen -Zustand sehr gut aus. Denn sein Ziel ist: Haben, haben, haben und immer -noch mehr haben. Und er bleibt in der Regel gesund dabei. Fragt sich -nur, ob diese seine Gesundheit nicht die Krankheit ist, an der die -Menschheit zugrunde geht.“ - -„Daß an dieser Gesundheit die Menschheit zugrunde geht, scheint mir gar -keine Frage mehr zu sein. Ich habe da“, flüsterte Jürgen, „zweifellos -einen richtigen Gedanken ausgesprochen ... Wie steht es aber damit, daß -trotz dieser tödlichen Gesundheit es offenbar keinen Menschen gibt, der -ohne Ideal zu leben vermöchte. Ausnahmslos jeder, den ich kenne, und sei -er der übelste, habgierigste, härteste Schuft, hat sein Ideal, und wenn -es auch nur Selbstbelügung ist. Mittel zur Beruhigung des Gewissens.“ - -Zuerst blickte Jürgen mit zugekniffenen Augen mißtrauisch seitwärts, wie -einer, der sich vergewissern will, ob er nicht beobachtet wird. Langsam -richtete er sich auf. Die Hand wurde auf der Tischplatte zur Faust. Auf -der Stirn entstand die Energiefalte. So saß er, reglos, alle Muskeln -gespannt, plötzlich ganz erfüllt von dem Entschlusse, mit der -Niederschrift seines seit langem geplanten Lebenswerkes ‚Volkswirtschaft -und Einzelseele‘ zu beginnen. „Das ist meine Rettung.“ Freude rötete -sein Gesicht. - -Und wie er den Kopf hob, sah er auf der gegenüberstehenden Wand ein -winziges, höhnisches Lächeln. - -Senkte sofort den Kopf. Durch dieses Werk werde ich zu meinem kleinen -Teile dem Fortschritt und der Erkenntnis der Menschheit dienen können, -dachte er, schielte zur Wand, wo wie ein Bild das höhnische Lächeln -hing. - -„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Ihr tönendes, tiefes Gefasel -über Moral, Gerechtigkeit, Humanität, Ideal und Seele in bezug auf die -Volkswirtschaft nicht zulassen, sondern während der Niederschrift mit -einer Hartnäckigkeit ohnegleichen immer wieder darauf hinweisen werde, -daß es sich um die Moral und die Gerechtigkeit der herrschenden Klasse, -der Nutznießer des bestehenden Produktions- und Verteilungssystemes -handelt, welches den entscheidenden mörderischen Einfluß hat auf das -Wesen und das Sein, das Kranksein und das Nichtsein auch der -Einzelseele.“ - -Jürgens hervortretende Augen starrten rettungsuchend umher. Schlaff -geworden, sank er in die Kanapeecke. „Keine Möglichkeit der Hingabe? Ich -sehne mich so sehr danach.“ - -„Diese Sehnsucht entspringt schon dem Konflikt, der Sie ins Irrenhaus -bringen wird.“ - -„Ich will, ich will zurück zu mir ... Ich fühle, ich fühle ...“ - -„Sie ... denken Gefühle. Sie können weder vor- noch rückwärts.“ - -„Eine tote Mitte? Das halte ich nicht aus. Ich werde wahnsinnig.“ - -„Wahnsinnig! Sie sind gestellt.“ - -„Eingekreist?“ - -„Eingekreist! Das, was Sie während der letzten vierzehn Jahre waren, -können Sie nicht länger mehr sein; so, wie Sie als Kämpfender waren, -nicht mehr werden. Sie sind nicht mehr vorhanden. Sie sind nicht mehr -Sie.“ - -„Das hat auch der Trambahnschaffner gesagt.“ - -„Aus dem heraus habe ich gesprochen.“ - -„Sind Sie auch die Abendzeitung, die nicht gekommen ist?“ - -„Ich bin das Nichtgekommensein der Abendzeitung und habe auch aus dem -Trambahnschaffner herausgesprochen. Der sogenannte normale Bürgersmann -hört aus des Schaffners Worten ‚Das sind ja gar nicht mehr Sie‘ nur -heraus, daß sein Bart länger oder grauer geworden ist.“ - -„Wenn Sie ich sind und aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen haben, -dann habe ja ich selbst aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen und -zugleich als Fahrgast seine Worte vernommen. Seine? Ihre? Oder meine? -Ich weiß nicht. Bin ganz verwirrt.“ - -„Sie haben Ihre eigenen Worte vernommen, die der Trambahnschaffner, aus -dem ich sprach, gesprochen hat.“ - -Angsterregung riß Jürgen vom Kanapee auf. „Wer denkt das alles? Ich Will -wissen, wer da denkt.“ - -„Ihr Bewußtsein.“ - -„Wer spricht die ganze Zeit mit mir? Ich höre Stimmen.“ - -„Wahnsinnige hören Stimmen.“ - -„Und ich bin nicht wahnsinnig. Bin nicht wahnsinnig! Ich bin der Bankier -Jürgen Kolbenreiher. Und ich brauche nur nicht mehr in das Bureau zu -gehen, brauche nur da wieder anzuknüpfen, wo ich vor vierzehn Jahren -abgebrochen habe, dann werde ich wieder ein Ziel haben, werde -hingebungsvoll kämpfen, und alles wird gut sein.“ - -„Auch dieser Wunsch entspringt dem Konflikt, der Sie ins Irrenhaus -bringen wird.“ - -„Suchet, so werdet Ihr finden, heißt es in der Schrift.“ Jürgen -lauschte, das Gesicht seitwärts gedreht. Im Nachbargarten ertönte eine -Lachsalve. - -„Ich muß Schluß machen, Schluß! und sofort neu anfangen. Auf der Stelle! -Vor allem: ich gehe nicht mehr in die Bank. Schluß!“ - -Er war aufgesprungen, lauschte nach innen, was der Strom der Gefühle ihm -zuerst bringen werde: - -Schreibmaschinen klapperten. Der Mahagoniaufzug stieg lautlos empor. -Angestellte eilten durch die Gänge des Bankgebäudes. Der Prokurist -verbeugte sich, reichte Jürgen die wichtigen Telegramme. - -Angewidert von dem eigentümlichen Geruch des Bankgebäudes, schob er das -ganze Geschäft von sich weg, wartete auf den Strom der Gefühle. Die Frau -des befreundeten Fabrikanten, eine junge, schöne Blondine, die zu Jürgen -in die Villa gekommen und von ihm verführt worden war, tritt ein, nimmt, -wie damals, den Schleier ab. Das sah, wie damals, aus, als ob sie sich -entkleidete. Jürgen schüttelte abwehrend den Kopf. - -Das Billardbrett tauchte grün auf. Jürgen hatte nur noch einen -schwierigen Stoß zu machen. Der gelang ihm. Er hatte die Partie -gewonnen. Der Freund mußte bezahlen. - -Jürgen lächelte zu Boden. „Das war eine interessante Partie“, flüsterte -er erfreut und machte seinem Freunde noch eine Serie schwierigster Stöße -vor. - -Die Billardbälle wurden immer größer, kopfgroß, wurden zu den farbigen -Glaskugeln. Erst als er im roten Ball seinen abgeschlagenen -Studentenkopf erkannte, der lächelte, so daß nicht ein Billardball, -sondern ein gefährliches Lächeln kopfgroß über das grüne Tuch hopste, -ließ er das Queue sinken. - -In tiefster Bestürzung flehte er um ein Gefühl aus der Vergangenheit. Er -empfand nichts, ließ sich, gebrochen und ergeben, in den Sessel sinken. -‚Ich gehe eben morgen wieder ins Bureau und übermorgen und in zwanzig -Jahren auch noch.‘ „Unmöglich!“ rief er. „Unmöglich!“ - -Da stieg die Wut hoch in ihm. Um die innere Leere zu füllen, stieß er -starke Worte aus: „Blutig ans Kreuz geschlagen! Proletarier aller Länder -...! Sturm! Untergang!“ Er empfand nichts dabei. Brüllte wahllos: -„Kinderbewahranstalt! Apfelknecht! Reifeisen!“ - -„Was, Apfelknecht? Nun, weshalb nicht auch Apfelknecht! Jetzt erst -recht: Apfelknecht! Apfelknecht! Apfelknecht!“ - -Entstellt vor Wut, raste er durch alle Zimmer durch in den Salon. -Zwischen dem schwarzlackierten, nie benutzten Kohlenkasten, auf den die -heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, und dem -gestickten Wandschirmstorch, der das Wickelkissen mit den drei -Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog, schwang der Perpendikel hin und her. - -Vor übergroßer Wut ganz ruhig geworden, schritt er zur Uhr und riß mit -einem Ruck den Perpendikel heraus, schleuderte ihn durchs Fenster in das -Springbrunnenbassin. Die Amsel zuckte aus dem Garten hinaus. „Das wäre -das“, frohlockte er, hob die meterhohe Vase über den Kopf empor und -schmetterte sie zu Boden. Die Nippsachen flogen an die Wand. Die Fenster -klirrten. Er demolierte die ganze Einrichtung. Rückte den schweren -Eichenholzschrank von der Wand, betrachtete die Zerstörung. „Nun, nun“, -sagte er ratlos und schob den Schrank wieder zurück. - -Schluchzen stieß ihn. Da fühlte er sich innerlich berührt und ließ sich -führen, hinauf in das Zimmerchen, das er als Kind und Jüngling bewohnt -hatte. In der Hand den silbernen Leuchter, den nach bestandenem -Abiturientenexamen die Tante ihm mit den Worten geschenkt hatte: ‚Wenn -ich tot bin, bekommst du alles‘, betrat er scheu die Kammer, in der seit -vielen Jahren kein Mensch mehr gewesen war. - -Über dem versessenen Lederkanapee hingen noch, oval gerahmt und -symmetrisch zu einem großen Oval geordnet, die vergilbten Photographien -der Familie Kolbenreiher. Und auf dem Bücherbrett standen verstaubt die -Reisebeschreibungen in bilderreichen Umschlägen. Die Luft war stockig -wie in einer Totenkammer. - -Der große, schwer gewordene Mann blickte, tief erschüttert von dem -Besuche bei seiner Jugend, atembenommen die verblaßten Wände an und -seinen riesenhaften Schatten. Und begann, traumwandlerisch, sich wie ein -Jüngling zu benehmen, räumte, durchbebt von innerlichem Weinen, die -Bücher heraus, ordnete sie wieder hinein und schlich, den Zeigefinger am -gespitzten Munde, mit der ‚Schreckensvollen Reise ins Erdinnere‘ zum -Kanapee. Ein irr-schlaues Lächeln im Gesicht, erhob er sich noch einmal, -zog mit seinem Taschenmesser einen Riß um die Kerze herum, zwei -Zentimeter unter dem Docht, und begann zu lesen. - -„Nein, nein, ach, nein, das hilft Ihnen nicht.“ - -Jürgen blickte auf. Die Stimme hatte so traurig und mitleidig geklungen. -„Das hilft mir nicht“, flüsterte er weinend. „Das hilft mir nicht.“ - -Vor ihm lag, weit hingebreitet, ein fremdes Stück Land, entzweigespalten -durch einen gewaltigen Abgrund. Rechts war eine blanke Asphaltfläche. In -deren Mitte stand ein gelbes Streichholzschächtelchen. Alle -Schulkameraden, Geschäftsfreunde und Bekannten Jürgens schritten auf das -gelbe Schächtelchen zu, in dem eine Banknote lag. Auf dem Schächtelchen -stand das Wort ‚Achtung‘. Von allen Seiten kamen sie herbei und -verbeugten sich vor dem Streichholzschächtelchen, stießen einander weg, -verbeugten sich. - -Auf der andern Seite des Abgrundes: eine milde Wiese. Darauf weidet -ruhig ein altes Pferd. Weiter rückwärts ist die Wiese wild, und da, wo -sie mit dem Himmel zusammengeht, sind Jugend, Begeisterung, Ziele, -feurig beleuchtete Gesichter: Jünglinge, die unter Hingabe ihres Lebens -sich bemühen, das Pferd, das die Liebe ist, über den gewaltigen Abgrund -weg zu den Bürgern zu schaffen. - -„Die bemerken es ja gar nicht. Und aus diesem unheimlichen Grunde ist es -den Jünglingen ganz unmöglich, das Pferd über den Abgrund -herüberzuschaffen“, sagte Jürgen. - -Da wurde seine Hand gezwungen, ein Streichholzschächtelchen zu entleeren -und eine Banknote hineinzulegen. Er stellte das Schächtelchen auf den -Fußboden, verbeugte sich. Die Fäuste zur Brust hochgehoben, sprang er in -gleichmäßigem Trabe um das Schächtelchen herum. Die Villa zitterte. -Jürgen keuchte und schwitzte, verbeugte sich, rannte weiter im Kreise. - -Die Uhr schlug zehn. Die Macht der Gewohnheit beendete sofort den Tanz. -„Schlafen“, sagte er, verzerrten Gesichtes gähnend und keuchend in -einem. Griff nach dem Leuchter. - -Stand bei der Tür, als ob er eben eingetreten wäre. Sein Kopf war frei. -„Ich muß die Kammer einmal gründlich durchlüften lassen“, sagte er und -ging in das Schlafzimmer. - -Punkt acht Uhr betrat er am andern Morgen das Bureau. - -Erst nachdem er einen halben Kanzleibogen vollgeschrieben hatte, hörte -er mitten im Worte auf. „Ich wollte ja nicht mehr ins Bureau gehen ... -Aber ist denn das möglich? Halte ich das aus? Oder halte ich das nicht -aus?“ - -„Weder – noch!“ - -Da wurden die drei Beamten von einem Knall in die Höhe gerissen: Jürgen -hatte das Tintenfaß durch das zerbrechende Fenster hinunter in den -Lichthof geschleudert. Ein Tintentropfen rollte langsam an der Stirn -herunter, am tobsüchtig glotzenden Auge vorbei, über die dicke Backe. - -„Wenn Sie solche Sachen machen, zieht man Ihnen ja die Zwangsjacke an. -Nun sind Sie selbst aber schon eine Zwangsjacke von Ihrem Selbst. Sie -würden also über die Zwangsjacke eine Zwangsjacke angezogen bekommen. -Bedenken Sie, welch entsetzliche Hilflosigkeit.“ Die Stimme hatte -vorwurfsvoll und dabei sehr milde geklungen. - -„Jawohl, da ist es schon besser, ich gehe wieder“, sagte Jürgen und -griff nach seinem Hute. Die zwei jungen Beamten machten unabgewandten -Blickes mit den Beinen einander aufmerksam. - -Von einer fremden, hinter seinem Rücken stehenden Macht wurde Jürgen -durch die Straßen geschoben zum Nervenarzt. - -Bein übergeschlagen, beide Ellbogen so auf die Sessellehnen gestützt, -daß die gefalteten Hände und das Kinn vor der Brust zusammentrafen, -hörte der schweigende Neurologe dem Patienten zu. Und Jürgen empfand -Dankbarkeit diesem Manne gegenüber, der offenbar alles schon zu wissen -schien und sich dennoch alles erzählen ließ. - -„Na“, unterbrach der Professor und schnellte, ein abschließendes, -vertrauenerweckendes Lächeln im Gesicht, vor, griff nach Jürgens Puls. -Der Sprungdeckel des goldenen Chronometers gab mit einem beruhigenden -Knacken das Ziffernblatt frei. Die Arztaugen blickten zur Decke. - -Das Herrchen saß schwarz auf dem Tintenfaß aus schwarzem Marmor und -schüttelte verneinend und mitleidig das Köpfchen. - -„Und jetzt die Zunge!“ Jürgen streckte die Zunge heraus. - -„Sie sind vollblütig und haben leider trotzdem, ich sage es Ihnen auf -den Kopf zu, täglich Suppe gegessen, Fleisch, auch Eier! Stimmt das?“ - -„Wachsweiche Eier zu essen, hat mein Hausarzt mir geraten.“ - -Das überhörte der Professor. „So viel über Ihren körperlichen Zustand. -Und was Ihren seelischen Zustand betrifft, über den, wie Sie sich -ausdrückten, Sie keine Kontrolle mehr zu haben glauben, so ist dazu zu -sagen, daß es, streng naturwissenschaftlich gesprochen, einen seelischen -Zustand in Ihrem Sinne gar nicht gibt, aus dem einfachen Grunde, weil -es, streng naturwissenschaftlich gesprochen, verstehen Sie, eine Seele, -in dem Sinne, wie Sie sie auffassen, nicht gibt.“ - -Er blickte Jürgen ermunternd an, als wolle er sagen: Sehen Sie, so -einfach ist diese Sache, wenn man sie wissenschaftlich betrachtet. - -„Es gibt nur Körper, Herr Kolbenreiher, Körper, angefangen bei dem mit -Vernunft und Bewußtsein bedachten, höchst entwickelten Tier, nämlich dem -Menschen, zurück über den Affen, das Pferd, den Esel, den Hund, den -Wurm, die Schnake, die Laus (wenn Sie gestatten), die Pflanze und den -leblosen Dingen, die, ebenso wie die Pflanzen, die Tiere und wir, aus -Atomen bestehen. Das ist, von der Naturwissenschaft aufgebaut und bis in -die letzten Winkel durchleuchtet, der für uns glasklar gewordene Kosmos, -in dem die mittelalterliche Hypothese ‚Seele‘, wie Sie sie auffassen, -keinen Raum mehr hat.“ - -Jürgen warf schnell einen Blick Richtung Tintenfaß, das schwarz und -glänzend auf seinem Platze stand. - -„Sie, Herr Kolbenreiher, sind ein intelligenter Patient; anderen -gegenüber würde ich mich zu solchen Erklärungen nicht herbeilassen. -Repetieren wir: Es gibt also erstens vernunftlose Atomverdichtungen und -zweitens vernunftbegabte Atomverdichtungen, von denen die -höchstentwickelte Verdichtung der Mensch ist. Wir haben es demnach nicht -mit der Zweiteilung ‚Seele und Körper‘ zu tun, wie Ihr Herrchen -behauptet ...“ - -„In dieser Form habe ich das nie behauptet“, sagte das Herrchen. - -„... sondern mit der Einheit ‚Körper‘, der von Vernunft bewegt wird, und -zwar von der Zentralstation aus, dem Gehirn. Sie, Herr Kolbenreiher, -sind eine vernunftbegabte Atomverdichtung, merken Sie sich das, und eine -Einheit. Das heißt, Ihre Vernunft, Ihr Bewußtsein, Ihr Ich kann nicht, -wie Sie mir da erzählen, für sich allein sprechen, auf der Straße -spazierengehen, einen Separatspaziergang machen oder Sie besuchen und, -sagen wir: ein Bankkonto besitzen; sondern Sie besitzen infolge Ihrer -Vernunft ein Bankkonto.“ - -„Aber ich habe die Kontrolle über mein Bewußtsein verloren.“ - -Der Arzt erhob sich. „Das werden wir schon wieder deichseln. Sie sind -Bankier. Sie machen sich nützlich. Dienen durch Ihre Leistung der -Allgemeinheit. Das sollte Ihr Selbstbewußtsein stärken. Sind allerdings -vollblütig. Also vorerst: keine Fleischsuppen, keine Eierspeisen. Vor -dem Schlafengehen kalte Waschungen und, wie Ihr Hausarzt sagt, etwas -Brom ... Ordnung. Arbeit. Hin und wieder etwas Zerstreuung, eine hübsche -Frau. Sie verstehen. Das ist das Leben. Freuen Sie sich, daß es diese -dunkle Kalamität ‚Seele‘ in Ihrem Sinne nicht gibt.“ - -Auch das Frackherrchen erhob sich. - -„Dort, sehen Sie, dort steht es.“ Zurückweichend deutete Jürgen auf das -Tintenfaß. - -Der Professor nahm es in die Hand. „Was ist das?“ - -„Ach, nichts von Bedeutung. Das bin nur ich. Eine Kleinigkeit! Nur zwei -Buchstaben: I–ch. Nicht der Rede wert“, sagte, bescheiden lächelnd, das -Herrchen. - -Und der Arzt: „Nun, was ist das?“ - -„Das ist ein Tintenfaß.“ - -„Na, sehen Sie, jetzt müssen Sie selbst lachen.“ - -Jürgen trug die Lachfratze durch die Straßen. - -„Glauben Sie mir, Ihnen kann auch der nicht helfen.“ - -Dennoch ging Jürgen unverzüglich zu einem Psychiater, erzählte ihm -alles, auch alles, was der Professor gesagt hatte. „Aber diese ganze -Auffassung ...“ - -„Sie haben Recht. Verglichen mit der modernen Seelenforschung, ist die -Auffassung des Herrn Kollegen etwas primitiv ... Ja, Herr Kolbenreiher, -die Behandlung dürfte wahrscheinlich Jahre in Anspruch nehmen. Wir -müssen Ihre ganze Kindheit durchforschen. Erst, nachdem die schweren, -von Ihnen total vergessenen Kindheitserlebnisse ...“ - -Das Frackherrchen winkte ab: „Ach, hören Sie auf, Herr Doktor.“ - -„Wie meinen?“ - -„Ich habe nichts gesagt.“ - -„... welche zweifellos die Ursache Ihrer Krankheit sind, Ihnen -vollkommen bewußt geworden sein werden und Sie sie mit der -Kritikfähigkeit des Verstandes eines Zweiundvierzigjährigen ...“ - -„Aber Doktor! Ein Mensch, der, um nur das eine zu nennen, im Traume dem -Vater ins Gesicht gelacht hat, ein Mensch also, der die fremden Mächte -in seiner Seele besiegen, sich das Bewußtsein erkämpfen und an den -Anfang seines Ich gelangen konnte, kann nicht mehr die in Kindheit und -Jugend empfangenen Wunden verantwortlich machen.“ - -„Ja“, sagte fein lächelnd der Psychiater, „sagen Sie das nicht.“ - -„Was?“ fragte Jürgen. - -„Was Sie eben sagten.“ - -„Ich habe nichts gesagt.“ - -Das Frackherrchen lächelte. - -Auch Jürgen lächelte verschmitzt. „Also, in bezug auf die -Kindheitserlebnisse wenigstens sind wir einer Meinung.“ - -„Dann ists ja gut. Kommen Sie morgen zu mir.“ - -„Nein. Denn mir können auch Sie nicht helfen.“ - -„Das sollten Sie, wie gesagt, nicht so ohne weiteres sagen.“ - -„Was?“ - -„Daß auch ich ... Denn diese Kindheitser...“ - -„Steckenpferd!“ - -Der Psychiater hob die Augenbrauen und notierte das Wort ‚Steckenpferd‘. -„...erlebnisse, vor allem natürlich die sexuellen ...“ - -„Gehn wir!“ sagte brüderlichen Tones das Frackherrchen aus Jürgens -Munde. „Guten Tag, Herr Doktor.“ - -Aus dem Gymnasium, in dem auch er neun Jahre gesessen hatte, platzten -mit Geschrei die Jünglinge. Fragende, junge Augen. Feurige Gesichter. -Biegsame, junge Körper, Bücher unterm Arm, dem Leben schräg -entgegengestreckt. - -„Deshalb muß ich jetzt gleich zum Photographen gehen.“ Weshalb das -Erblicken der Gymnasiasten ihn veranlaßte, zum Photographen zu gehen, -hätte Jürgen nicht sagen können. Plötzlich sah er eine tiefe Verbeugung -und folgte der einladenden Photographenhand. - -Während er vor der Linse saß, betrachtete er die lebensgroßen -Brustbilder, deren tote Augen auf ihn zurückblickten. „Ob man diese -Jugendphotographie wohl auch vergrößern kann?“ - -Der Photograph prüfte das verblichene Jugendbildnis, das Jürgen -darstellte, wie er im Garten am Nußbaum lehnte, unter dem die Tante -gehäkelt hatte. „Aber mit Vergnügen! Geht großartig!“ - -„Nicht nur Brustbild? Ganz in Lebensgröße? Auch mit den Beinen?“ - -„Das allerdings hat bis jetzt noch niemand gewünscht. Aber es ist zu -machen ... O, das kommt vielfach vor, daß die Herrschaften sich -vergrößern lassen. Gerade die Jugendphotographien immer will man -vergrößert haben. Erst vor einigen Wochen kam Herr Geheimrat Lenz – sehr -berühmter Mann, wie Sie wissen – und bestellte eine Vergrößerung nach -seinem Jugendbildnis. Zwanzig Jahre! Nicht mehr zu erkennen! Kein Mensch -würde glauben, daß Herr Geheimrat Lenz einmal so ausgesehen hat. Und -dies ist der Sohn: Herr Oberstaatsanwalt Karl Lenz. Er ist, gemessen am -griechischen Schönheitsideal, zu dick geworden ... Zu sehen, wie man -früher war, macht Spaß, nicht? ... Nur etwas verblaßt, verwischt, -sozusagen vergangen sehen die Vergrößerungen von Jugendbildern aus. Aber -sie haben gewissermaßen etwas Traumschönes. Traumschön! Das ist das -richtige Wort ... Etwas höher den Kopf ...“ - -Vor dem Schlafengehen nahm Jürgen Brom, wusch sich kalt ab, schlief -fest, träumte schwer, wußte am Morgen nicht mehr, was er geträumt hatte, -erschien pünktlich im Bureau. Die Beamten beobachteten ihn unausgesetzt. - -Auf dem Rückwege zur Haltestelle blieb Jürgen stehen, berührte mit -seinem Spazierstockgriff die Brust des Partners, der nicht da war, und -erklärte: „Die Sache verhält sich anders. Hören Sie gut zu“, ging -weiter, nach der Seite hin sprechend. Seine Hände gestikulierten. Er -blieb stehen. Lachte. „Das war ein Witz.“ „Aber ein recht guter Witz“, -sagte der Partner. „Nun, es geht“, gab Jürgen zu, schritt aus. „Sehen -Sie, da sprach ich letzthin mit Katharina ...“ - -„Was sagte ich eben?“ fragte er entsetzt sich selbst und zog den Kopf -ein, schwieg. - -Und schon nach zehn Schritten begann er ein neues Gespräch. Der Partner -konnte ein fremder Mensch sein, den Jürgen kurz vorher in der Bank -gesprochen, ein Kind, das ihm nachgesehen hatte, die schon längst -verweste Tante. Jürgen, der Student, war anfangs nur sekundenlang der -Partner des zweiundvierzigjährigen Jürgen. Denn Jürgen versah den -Studenten sofort mit einem Vollbart, setzte ihm eine Brille auf, zog ihm -einen Pelzmantel an, so daß er an einen fremden Herrn seine Worte -richten konnte. Aber späterhin wehrte sich der Jüngling erfolgreich -gegen die Verkleidung, ließ Mantel, Brille und Bart fallen, wurde -gedankenschnell zum Studenten und erklärte mit ruhiger Stimme dem -Zweiundvierzigjährigen: „Sie sind ein ganz niederträchtiges, -verräterisches Nichts.“ - -„Warum bin ich ein Nichts? Erlauben Sie mir!“ - -Der Student, der die abgeschnittene Hose trug, auf die das Hinterteil -aufgenäht war in Breechesschwung, wies genau nach, weshalb Jürgen ein -Nichts sei, hielt eine feurige Rede, geriet in Begeisterung. Jürgen -hörte verzückt zu und versuchte, selbst in dieser Tonart -weiterzusprechen: von Hingabe, Kampf und Zielen. - -„Halt, das sage ich. Ich sage das. Sie haben nicht das Recht, so zu -sprechen. Sie haben dieses Recht verwirkt.“ - -Da ließ Jürgen dem Studenten sofort wieder einen Vollbart wachsen. Aber -als er ins Wohnzimmer trat, erblickte er den Studenten, der lebensgroß -an der Wand lehnte. Etwas verschwommen, fern, vergangen. Und ungeheuer -gegenwärtig. - -„Das ist ja großartig“, rief Jürgen frisch, stellte den Spazierstock in -die Ecke und sich selbst vor das Bild. „Du gefällst mir ... Je, je, -weshalb denn gar so ernst! Schlechte Geschäfte?“ - -Die Photographie antwortete nicht. - -„Nein, nein, entschuldige. Ein Scherz! Soll nicht mehr vorkommen.“ Er -schritt zur Tür, wollte Phinchen rufen und ihr das Bild zeigen. - -„Sind nicht vorhanden.“ - -„Wer ist nicht vorhanden?“ Jürgen war herumgeschnellt; ganz deutlich -hatte er die drei Worte gehört, die laut und tonlos gesprochen worden -waren. Er starrte hinaus in den Garten. Da war niemand. Auf den -Zehenspitzen schlich er zum Bilde zurück, wiederholte gedankenverloren: -„Wer? Wer ist nicht vorhanden?“ Ging zur Tür, Phinchen zu rufen. - -„Sie sind nicht vorhanden.“ - -Er ließ die Türklinke los und trat, beide Hände in den Hüften, wieder -knapp vor das Bild hin. „Nein, Sie, mein Lieber, Sie sind nicht -vorhanden. Sie sind ganz gewöhnliches Bromsilberpapier. Verstanden!“ - -„Ich bin da. Ich bin.“ Die Photographie deutete mit dem Zeigefinger auf -Jürgens Brust: „Sie dagegen nicht. Was von Ihnen da ist, bin ich. Aber -ich habe mit Ihnen nichts mehr gemein. Also sind Sie gar nicht mehr -vorhanden.“ - -Da packte Jürgen die schmal gerahmte Photographie und stellte sie mit -der Bildseite gegen die Wand. „Und was sind Sie jetzt, he? Nichts als -Pappe! Ganz gemeine graue Pappe!“ Er trat zurück. - -Und sah, von unermeßlichem Entsetzen geschüttelt, zu, wie das Bild auf -der Papprückwand erschien, und hörte die bekannten Worte: „Ich -versichere Ihnen, so wahr es ist, daß sehr viel mehr als neunundneunzig -Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele schmusen, in gar -keiner Weise mehr von ihrer Seele gestört werden, so wahr ist es, daß -bei gewissen Individuen in gewissen Momenten die Seele spielend leicht -durch den Schutzwall durchschlüpfen und ihr vorbestimmtes Recht -verlangen kann.“ Die Photographielippen hatten sichtbar die Worte -geformt. - -„Du Lump bist nichts als Pappe“, brüllte Jürgen, stürzte hinaus, zerrte -Phinchen vor das Bild. „Dreh es um! ... Wer ist das?“ - -„Das ist der gnädige Herr, wie er jung war.“ Phinchen bekam vor Rührung -nasse Augen. - -„Also ich bin das, nicht wahr, ich?“ - -„Wie Sie jung waren.“ - -„Das heißt doch aber: ich bin es. Ich!“ - -„Ja, wie Sie früher waren.“ - -„Jetzt sage mir: wen hast du lieber, den da oder mich?“ - -„Sie natürlich, gnädiger Herr! Das ist ja nur eine Photographie.“ - -„Das ist ein Irrtum. Ich bin er. Und er ist ein Nichts.“ - -Jürgen führte Phinchen schnell in die Küche. „Sag mir, Phinchen, hast du -ihn sprechen hören, den da drinnen? ... Nein, schweige! Ich will nichts -wissen.“ - -Schnelle Schritte stellten ihn wieder vor das Bild hin. „Hör mal, du -bist nichts als eine Photographie und kostest mich soundso viel. Mit -Rahmen ... Hier ist die Rechnung.“ - -„Sie irren sich. Ich bin alles, was Sie verraten haben, und koste Ihnen -den Verstand.“ - -„Das wollen wir sehen.“ Er stieg sofort ins Bad, duschte sich -minutenlang kalt ab, schluckte Brom und legte sich ins Bett. - -Die Photographie stand im dunklen Wohnzimmer. Lebensgroß. Jürgen saß -aufrecht im Bett und glotzte durch sechs Wände durch auf die -Photographie. - -„Sie hat Augen. Sie blickt ... Kann man einen Blick photographieren? Ob -wohl mein Blick von damals auch mitphotographiert, ganz genau, wie er -war, mitphotographiert worden ist? ... Und das, was hinter dem Blicke -ist? Was hinter einem Jünglingsblicke ist?: Sehnsucht, Bereitschaft zur -Hingabe, die großen Gefühle – die Seele? Wurde damals auch meine Seele -mitphotographiert?“ - -Jürgen sah deutlich den Jünglingsblick, der als große Frage an das Leben -in den Augen stand. - -Ohne die photographierte Frage an das Leben aus den Augen zu lassen, -legte er den Kopf langsam und sanft auf das Kissen, schlief ein. Und im -Schlafe war nichts auf der Welt, als seine Augen und die zwei -photographierten Augen. Die Blicke der zwei Augenpaare trafen sich -stundenlang, bis dieses lautlose Sichtreffen der Blicke Jürgen aus dem -Schlafe hob. - -Die brennende Kerze in der Hand, schlich er ins Wohnzimmer, vor das Bild -hin. „Und wenn ich nun“, sagte er und nahm das Bild aus dem Rahmen, -„mich in den Rahmen stelle?“ - -Das Nachthemd reichte bis zu den behaarten Waden. Eine Weile blieb er -vollkommen reglos im Rahmen stehen und starrte wild auf den -gegenüberstehenden Jüngling. - -Dessen ernster, vergangenheitsferner Blick zwang Jürgen, wieder aus dem -Rahmen herauszutreten. Überwältigt von der Unerbittlichkeit des -Jünglingsblickes, brach er vor dem Bilde in die Knie. „In dir lebt das -ewig unverrückbare Ziel.“ - -Die Kerze in der einen, die Photographie in der andern Hand, stieg er -hinauf in das Zimmerchen, das er als Jüngling bewohnt hatte, lehnte das -Bild an die Wand. Und als er den Türdrücker gefaßt hatte und fortgehen -wollte, stieg aus den seit Jahren verschütteten Gefühlen ein Strom von -Hilfsbereitschaft auf. „Kannst nicht immer stehen. Kannst nicht dein -Lebenlang stehen.“ - -Er knickte das lebensgroße Bild in der Rumpfmitte ab, nach vorne, daß es -einen rechten Winkel bildete, dann bei den Knien nach rückwärts und -setzte die Photographie auf das Kanapee. - -Tränennaß und fassungslos schluchzend kam er im Schlafzimmer an. Und -hatte, wie er stöhnend und wimmernd in das Kopfkissen hineinklagte, das -von Hoffnungslosigkeit durchbebte Gefühl, lebenslänglich getrennt zu -sein von sich, von seiner Jugend, die im modrigen Studentenzimmer auf -dem Kanapee saß. - -Andern Tages wollte er auf der Straße schon den Hut ziehen vor Herrn -Fabrikbesitzer Hommes, der grußlos vorüberschritt. Jürgen blieb stehen, -Hand auf dem tobenden Herzen. „Sieht er – sieht man mich nicht? Bin ich -unsichtbar? ... Ich bin doch aus Fleisch und Knochen, habe Augen, Stirn, -Hände.“ Er umfaßte sein Handgelenk, wollte sich überzeugen, preßte das -Gelenk. - -Da öffnete sich sein Mund in grenzenlosem Entsetzen: die umfassende Hand -war zur Faust geworden: kein Handgelenk war in ihr. Noch einmal umfaßte -er das Handgelenk. Wieder wurde die Hand zur Faust. - -„Nicht mehr vorhanden?“ fragte er, hob die Augenbrauen. „Überhaupt nicht -mehr?“ Er pfiff bedeutsam. „Jürgen Kolbenreiher ist also überhaupt nicht -mehr da. Ist einfach weg? Ist Luft? Und das nicht einmal? Ein glattes -Nichts?“ - -Hastig öffnete er das Taschenmesser, stach die Spitze hinein in seinen -Schenkel, wollte vor Freude über den Schmerz schon einen Triumphschrei -ausstoßen. Und fühlte nichts. - -Er bohrte tiefer, drehte die Messerspitze in der Wunde herum, fühlte -nichts. - -Da marschierte sein in das Grauen hineingeduckter Körper nachhause und -legte sich auf das Kanapee. - -„Was ist, wenn ich jetzt aufstehe, hinausgehe in die Küche und Phinchen -sieht mich nicht?“ - -Plötzlich stand, von Phinchen hereingeführt, der Bankdiener im Zimmer. -Der Herr Prokurist lasse fragen, ob Herr Kolbenreiher auch heute nicht -ins Bureau komme. - -„Wo? Wo ist er? Sehen Sie ihn denn, da Sie ihn fragen? Wissen Sie denn, -wo Herr Kolbenreiher sich momentan aufhält?“ - -Und da der Diener den Mund aufsperrte: „Ich bin nicht vorhanden, nicht -anwesend, ich bin nicht da, kann also auch nicht in die Bank kommen.“ - -„Ich werde also ausrichten, Herr Kolbenreiher seien verreist.“ - -„Ah!“ rief Jürgen, als der Diener fort war. „Vielleicht bin ich nur -verreist. Einfach verreist! Nach Italien! Paris! So wirds sein.“ - -Jürgens Gesicht wurde flach; die Augen sprangen vor. Er stürzte in die -Küche. „Hilf mir, Phinchen, rate mir, wie erfahre ich, wo er ist. Die -Welt ist groß. Was soll ich tun, ihn zu finden ... Rufe schnell den -Diener zurück.“ - -Und als das entsetzte Mädchen den Diener wieder in das Zimmer führte: -„Besorgen Sie mir einen Reisepaß. Aber auf den Namen Jürgen -Kolbenreiher!“ Er zwinkerte schlau. „Wenn Sie sich geschickt anstellen, -merkts vielleicht niemand, daß nicht ich selbst es bin.“ - -„Das ist gar nicht schwer“, sagte der Diener und ging. Phinchen weinte. - -„Im Gegenteil! Sehr schwer! Man kann es ertragen, sein Vermögen zu -verlieren, aber sich selbst zu verlieren erträgt kein Mensch.“ - -„Das ertragen die andern großartig; aber, zum Beispiel, das Vermögen zu -verlieren, ertragen sie nicht. Und aus diesem einfachen und unheimlichen -Grunde ertragen sie es so leicht, sich selbst zu verlieren. Die sind -nicht vorhanden und haben davon nicht die leiseste Ahnung.“ - -Ganz langsam legte Jürgen beide Handflächen an die Schläfen, noch einmal -zu kontrollieren, ob sein Kopf da sei. Die Handflächen trafen zusammen. -Kein Kopf war dazwischen. Jürgen stieß einen kurzen Schrei aus. Und lag -leichenstill bis in die Nacht hinein. Der Reisepaß war schon gebracht -worden. - -Die Stadt schlief. In Haus und Garten rührte sich nichts. Der volle Mond -hing am Himmel. Jürgen schlich ins Arbeitszimmer, einige Minuten später -durch den Garten, heftete einen Kanzleibogen an den Türpfosten, an den -er die Tafel ‚Hier wird Armen gegeben‘ angebracht hatte, und las: - -„Wer den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers anzugeben vermag, erhält -jede gewünschte Summe. Hier werden Begeisterung, unverbrauchte Wahrheit, -Bewußtsein und Hingabe gekauft.“ - -Befriedigt stieg er die Treppe hinauf und packte seinen Reisekoffer, -wusch sich, kleidete sich um. - -Noch einmal schlich er in das dunkle Schlafzimmer, vor den mannshohen -Ankleidespiegel. Die Hand am Schalter, wartete er erst einige Sekunden, -bevor er das Licht andrehte. - -Lebensgroß erschien das Spiegelbild. Jürgen schrie vor Freude, hob dabei -den linken Arm. - -Das Spiegelbild hob den Arm nicht. - -Jetzt erst bemerkte er, daß im Spiegel der Jürgen stand, der, in knapp -sitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte Kraft in Schultern, Brust und -Blick, die Blicke aller im Saale Anwesenden auf sich zog: der Jürgen, -den er, sitzend auf der Anlagenbank, als zu erstrebendes Ziel in den -grünen Bretterzaun hineingesehen hatte. - -Jürgen hob die Augenbrauen, pfiff, tanzte, schnitt Grimassen, ballte die -Fäuste. Das Frackherrspiegelbild rührte sich nicht. Das Entsetzen war -ungeheuer. - -Er drehte das Licht aus, verbrachte atemlos einige Sekunden, drehte an, -stierte in den Spiegel. - -Im Spiegel war nichts. Jürgens Finger drückte den Knopf. - -Phinchen, die weinend vor der Schlafzimmertür gekniet hatte, trat sofort -ein, wurde vor den Spiegel gezerrt. Ob sie ihn sehe? - -Händeringend beteuerte sie, daß er neben ihr im Spiegel stehe. Sein -wütendes Fragen und ihr jammervolles Deuten dauerten so lange, bis -Jürgen, durchblitzt von einem letzten Rettungsgedanken, langsam sagte: -„Wenn ich mich jetzt mit dir zusammen ins Bett lege, dann muß ich doch -fühlen, daß ich bin. Denn dies, es ist das starke Gefühl.“ - -Phinchen ließ die Arme sinken, war bereit. - -„Aber mit wem denn? Ich bin ja nicht. Hab ja keine Arme zum Umarmen ... -Weißt du, Phinchen, die Hauptsache ist, daß ich wieder ein Fetzchen -Gefühl bekomme. Gefühl! Dann suche ich ihn. Dann finde ich ihn auch. -Geh, Phinchen, geh!“ - -Bis zum Morgen lag er mit offenen Augen im dunklen Schlafzimmer. - -Der Kolonialwarenhändler von nebenan und der Antiquitätenhändler, der in -der Hauptstraße des Villenviertels eine Filiale hatte, sahen Jürgens -Zettel zuerst. Arbeiter und Weiber, Kinder, auf dem Wege in die Schule, -Milch- und Semmelausträger sammelten sich an. Der Antiquitätenhändler -machte einen Witz über die neue Konkurrenz. Das Gelächter drang bis zu -Jürgen hinauf. - -Der stritt sich mit einem Fremden herum, der seine Gefühle nicht -verkaufen, sondern sie nur gegen andere Gefühle eintauschen wollte. - -„Aber ich besitze ja keine ... Hören Sie“, er faßte den Fremden bei der -Schulter, „ich gebe Ihnen mein gesamtes Vermögen gegen etwas Gefühl, -gegen ein Bruchstückchen Begeisterung, gegen den leisesten Hinweis auf -ein Ziel. Nur ein bißchen Bewußtsein! Ich bitte Sie.“ - -„Geht nicht! Gefühl hin – Gefühl her! Hingabe gegen Hingabe!“ - -Jürgen warf die Hände vor: „Meine Villa, die drei Mietskasernen, meinen -ganzen Aktienbesitz, meine Stellung und Macht, mein Geachtetsein, alles -will ich Ihnen geben und will dafür nur mich.“ - -Vor dem Hause ertönte stürmisches Gelächter. Das klang wie fernes -Möwengeschrei. Der Antiquitätenhändler witzelte: „Ankauf gut erhaltener -Ideale. Stil Louis XVI.“ - -Auch der Nachbar war hinzugetreten, las den Zettel. „Da ist etwas nicht -in Ordnung“, sagte er und klinkte die Gartentür auf. - -Jürgen horchte auf das vielfüßige Getrappel, nahm seinen Koffer, stürzte -die Vordertreppe hinunter und davon. - -Im Auto fuhr er – Oberkörper vorgebeugt, als gelte es, ein Rennen zu -gewinnen – zum Bahnhof. „Was kostet die Fahrkarte nach Paris?“ - -Der Schalterbeamte nannte die Summe, griff in das Billettregal. - -„Und nach Rom? ... Nach Odessa?“ - -„Wohin also?“ - -„Zu mir! ... Verzeihung – es könnte ja sein –, wissen Sie vielleicht -zufällig, ob Jürgen Kolbenreiher momentan in Berlin oder in Wien ist?“ - -„Wie meinen?“ - -„In London oder Madrid?“ - -„Was? Wer? Was wollen Sie?“ - -„Um Himmels willen – in New York?“ - -Der Schalterbeamte starrte wütend. - -Und Jürgen sagte: „Sie wundern sich? Tun Sie das nicht! Auch Sie können -nicht wissen, wo und was Sie sind, in Rom oder in Chikago, Matrose in -der südlichen Hafenstadt oder Schreiber in einer Beamtenstube -Norddeutschlands, die Sie nie betreten haben. Oder sitzen Sie in -hunderttausend Schalterkästen gleichzeitig? Keine Ahnung haben Sie. -Kommen Sie mit! Denn hier in diesem Schalterkasten werden Sie sich nie -finden. Oder glauben Sie gar, Sie seien Sie? ... Bruder, verwandt mit -mir durch dein Schicksal, steige heraus aus deinem Kasten. Denn hier -kannst du dich bis an das Ende deines Lebens niemals finden. Suche dich -... Suchet, so werdet Ihr finden ... Aber dir, ich weiß es, dir Armen -ist nicht einmal das Suchen verstattet.“ - -Eilige Reisende drängten Jürgen vom Schalter weg. Die Abfahrt eines -Zuges wurde ausgerufen. Jürgen sprang in ein Abteil dritter Klasse. - -Zu der alten, verhärmten Arbeiterfrau, die ihm gegenübersaß, sagte er -noch, er suche, was jeder Mensch auf dieser Erde lebenslang suche. Und -schlief ein. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als streite er heftig mit -jemand. - -Die Frau glaubte, Jürgen friere, betrachtete erst eine Weile mitleidig -und unschlüssig das zerklüftete Gesicht. Dann wagte sie es doch, ihre -Wolldecke vorsichtig über seine Knie zu breiten. - - - - - VIII - - -Wochenlang wußte niemand, wo er war. Phinchen, von neugierigen Nachbarn -befragt über das scheue Verhalten Jürgens in der letzten Zeit, -verweigerte jede Auskunft. Und Herr Wagner, bestrebt, unliebsame -Gerüchte, die das Ansehen der Bank schädigen könnten, nicht aufkommen zu -lassen, sprach von einer wichtigen Geschäftsreise so vorsichtig und -wortkarg, als würde schon ein einziges schlechtgewähltes Wort -Riesenverluste für die Bank bedeuten. - -Endlich erzählte ein Kunde, er habe Jürgen in Rom gesehen – nannte Tag -und Stunde – und zwei Tage später noch einmal in der Halle des selben -Hotels, leider nur sehr flüchtig, da Jürgen, offenbar in besonders -dringenden Geschäften, in größter Eile auf das wartende Auto -zugeschritten sei. - -Herr Wagner machte ein wissendes Gesicht. Und schwieg auch dann noch, -leise zwinkernd, als ein Pariser Geschäftsfreund ruhig lächelnd -behauptete, das sei nicht gut möglich, denn an dem dazwischenliegenden -Tage habe er selbst in Paris im Direktionsbureau sich mit Jürgen -unterhalten und persönlich ihm eine große Summe gegen einen Scheck des -Hauses Wagner und Kolbenreiher ausbezahlt. „Das war am ...“ - -„Stimmt!“ unterbrach Herr Wagner. „Beides stimmt. Es gibt Fälle, meine -Herren, wo die Geschäftskonstellation unsereinen zwingt, schneller als -eine Schwalbe zu sein.“ - -Der Zeigefinger sank. Was aber, wenn jetzt noch einer kommt und -behauptet, er habe ihn um die selbe Zeit in London gesehen? dachte Herr -Wagner, - -während Jürgen, in der Droschke ungeduldig vorgebeugt, überdacht von -einem rot- und weißgestreiften Riesensonnenschirm, vom Bahnhof der -südlichen Hafenstadt in das Hotel fuhr, in dem er vor vierzehn Jahren -als Neuvermählter mit Elisabeth gewohnt hatte. - -Ein Servierkellner verscheuchte mit der Serviette Fliegen von den -blumengeschmückten, weißgedeckten Tischchen. Gegenüber schliefen zwei -braungebrannte Männer auf den breiten Steinstufen im Schatten des -Palastes. - -„Sagen Sie mir, aber aufrichtig: ist Herr Jürgen Kolbenreiher im Hause?“ - -Zurückweichend drehte der Kellner sich um sich selbst und schlug dabei -mit der Serviette heftig in die Luft nach einer großen Bremse. „Ich -werde sofort nachsehen.“ - -Der dicke, befrackte Oberkellner blieb, den Zahnstocher noch im Munde, -im kühlen Hausflur stehen, zeigte Jürgen, der draußen im Sonnenbrande -stand, fragend und verneinend beide Handflächen und deutete plötzlich -und schwungvoll mit beiden Händen einladend flurwärts. - -„Nicht dagewesen? ... Ist das Zimmer Nummero 7, mit Aussicht auf den -Hafen, frei? ... Dieses Zimmer nämlich hätte er genommen“, sagte er beim -Hinaufgehen. Und erkannte sofort den geblumten Überzug der Ottomane -wieder. - -Setzte sich in den Sessel. Plötzlich sah er, wie damals, Jürgen mit -Elisabeth in der Halle eines Pariser Hotels stehen. ‚Das bin ja gar -nicht ich. Das ist ein ganz anderer. Nicht der, den ich suche ... Wenn -ich wenigstens nur den finden würde, der hier in diesem Zimmer gesessen -hatte. Denn auch der wußte, daß der in Paris herumlebende Schuft nicht -Jürgen war. Aber wo, wo ist er, der dies wußte? Wo?‘ - -„Hier ist er also nicht? In diesem Zimmer wohnt er nicht?“ - -„Dieses Zimmer ist frei, Herr.“ - -„Aber es war doch nicht immer frei! Sagen Sie mir – aber denken Sie -scharf nach –: ist Herr Jürgen Kolbenreiher nicht doch hier gewesen in -der letzten Zeit? Dieser selbe Herr Kolbenreiher nämlich, der vor -vierzehn Jahren einige Tage in diesem Zimmer gewohnt hat mit seiner -Frau! Mit einem Fisch! Sie erinnern sich! Unveränderlich in ihrem Wesen. -Kühl! Kühl! Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht ... -Er bezahlte damals – ich erinnere mich genau –, da er anderes Geld nicht -hatte, Ihnen persönlich die Rechnung in Mark.“ - -„Eine blonde Dame? Mark! Ah, Mark! ... Der Herr ist damals gleich -abgereist und seither nicht mehr hier gewesen.“ - -„Abgereist?“ Jürgen fuhr sofort zum Bahnhof und reiste ab. Mit dem -ersten Zuge, der ausgerufen wurde. Endstation Berlin. - -Wurde achtzehn Stunden später von den hastig und zielbewußt -Auseinanderstrebenden mitgerissen durch die Berliner Bahnhofshalle und -hinausgestellt auf den Platz, zwischen brüllende Zeitungsverkäufer, -schnelle Radler, brüllende Autos, hetzende Fußgänger, und verharrte -reglos: eine Achse, um die herum das Leben der flachen Stadt sauste. - -Auf dem Potsdamer Platz, dem Mittelstück verkehrreichster Straßen, stand -der Schutzmann, das Blasinstrument am Munde, die Hand dirigierend -erhoben. - -„Die Richtung! Bitte! Ich bitte. Die Richtung! Welche Richtung führt zu -mir?“ fragte er den Schutzmann. - -Der antwortete: „Nicht stehen bleiben! Vorwärts!“ - -„Im Gegenteil! Das Ganze Halt! Ich sage Ihnen, auf diese Weise nähern -die Menschen sich, auch wenn sie ihr ganzes Leben lang so weiter rasen, -nicht um einen Millimeter dem Ziele, während vielleicht ich, ah, glauben -Sie mir ...“ - -Der Schutzmann hielt, als schwöre er zu Jürgens Worten, die Hand -erhoben, senkte sie: Zeitbesessene Menschengruppen, Straßenbahnen, -überfüllte, dunkelbrüllende Riesenautobusse, springende Häuser, nahmen -das Rennen wieder auf, die Leipziger Straße hinauf, schwemmten Jürgen -mit, der, ein Lächeln unbegreiflicher Zuversicht im Antlitz, mitten auf -dem Fahrdamm schritt. - -Autos, von rückwärts und von vorne kommend, sausten auf ihn zu und, -sekündlich ausweichend, in unvermindertem Tempo vorbei, knapp, daß nicht -handbreit Zwischenraum geblieben war. Chauffeure glotzten wütend, -schimpften, waren weg. Passanten staunten. - -Das Lächeln der Zuversicht verschwand. „Unverwundbar? Luft? Nicht -vorhanden? Autos fahren durch mich durch!“ Beide Handflächen schnellten -zu den Schläfen, fanden keinen Kopf. Das graue Entsetzen stieß ihn -weiter. - -Menschen, einer flüchtenden, schwarzen Tierherde gleich, rannten, von -der Straße weg, eine Treppe hinunter, rissen Jürgen mit, hinab in das -mit Reklamebildern austapezierte Erdmaul, hinein in die verhalten -bebende Maschine. - -Eingeklemmt zwischen Passagiere, die, vorausblickend, in Gedanken schon -bei ihrer Zielstation angelangt waren, sauste Jürgen unter der Stadt -durch, flüsterte, die Hand am Munde, in ein Menschenohr: „Alles rennt -und hetzt, hin und her, kreuz und quer, Tag und Jahr. Komisch und -bedeutsam! Denn – denn die Banken schießen auf. Neue Stockwerke werden -aufgesetzt, Kutscherkneipen umgebaut zu Wechselstuben. Dies, ich sage -Ihnen, dies ist das Zeichen.“ Er hob, wie vorhin der Schutzmann, die -Hand, warnend, als wolle er aufmerksam machen auf eine heranrollende -ungeheure Katastrophe. - -Die Bahn sauste empor, über eine gespreizte Eisenbrücke. Jürgen wurde -auf den Asphalt gestellt, blickte umher. Trambahnen, Hoch- und -Stadtbahnzüge kreuzten einander, spien Menschenmassen aus, nahmen andere -auf. - -Zum beschäftigten Hotelportier sagte er in falscher Gleichgültigkeit, er -sei und heiße Jürgen Kolbenreiher. „Hier, mein Paß! Überzeugen Sie -sich!“ „Gilt schon!“ Füllte den Meldezettel aus. - -Und hüpfte in seinem Zimmer vor Vergnügen, den Portier getäuscht zu -haben. „Was die andern können, kann auch ich. Auch ich kann ein -Vorhandensein vortäuschen, das keines ist. Muß mich nur auch -selbstbewußt benehmen, darf niemand merken lassen, daß ich nicht bin. -Denn jemandem, der nicht ist, gibt niemand Auskunft. Und ich werde viele -nach mir fragen, werde lange nach mir suchen müssen, eh ich mich finde.“ - -Er horchte auf das Brausen der Stadt. Das klang wie das Bellen von -Millionen vor Hunger irrsinnig gewordener Hunde. - -Plötzlich sah er deutlich, wie Jürgen langsam durch eine Straße ging, -vorbei an einem Hutgeschäft, und im Gewühle verschwand. Konnte nicht -ermitteln, ob er diese Straße und dieses Hutgeschäft in Paris, Berlin -oder Rom gesehen hatte. - -„Es gibt so viele, ach, so viele Straßen und so viele Hutgeschäfte auf -der Welt.“ Mutlos ließ er sich in den Sessel sinken. - -„Was mag er jetzt denken? Was fühlte er in dieser Sekunde?“ Jürgen zog -die Uhr. „Wenn ich ihn gefunden habe, frage ich ihn, was er in diesem -Augenblick, um dreiviertel sechs, gedacht hat. Ach, wie wunderbar wäre -es, zu wissen, was ich gegenwärtig denke ... Der Mensch denkt. Welch -unbegreifliches Wunder ist das Denken! ... Daß er aber auch gleich -wieder verschwunden ist! Wird schwer zu finden sein. Ich muß mir ein -System ausdenken. Ein Schema. Ich muß systematisch vorgehen.“ - -Mit Bedacht setzte er die Maske der Gleichgültigkeit und Sicherheit auf, -schritt zur Klingel. Und kramte dann doch, das Gesicht abgewendet, im -Koffer, als er zum Kellner sagte: „Bitte, bringen Sie mir einen -Stadtplan ... Sie können mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie -wollen.“ - -„Ausgezeichnet! Das habe ich ausgezeichnet gemacht. Denn ein Mensch, der -ein Schinkenbrot verzehren kann, ist vorhanden. Das ist klar. ‚Sie -können mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie wollen.‘ -Großartig! Dieses ‚Wenn Sie wollen‘ war sehr gut.“ - -Und als der Kellner den Stadtplan brachte und ein Brot mit Wurst, da -Schinken nicht im Hause sei, tat Jürgen verdrießlich. „Ich hätte lieber -Schinken gegessen. Nun, es kann auch Wurst sein.“ Der Kellner wollte -gehen. - -„Einen Augenblick!“ Er schnitt ein Stück ab, steckte es vor des Kellners -Augen in den Mund. „Wieviel Einwohner hat Berlin? Ich suche nämlich -jemand“, sagte er und kaute eifrig für des Kellners Augen. „Deshalb habe -ich mir den Stadtplan bringen lassen. Die Wurst ist übrigens sehr gut. -Sehr gut! ... Und morgen bringen Sie mir zum Frühstück warme Milch und -eine Semmel. Nur etwas warme Milch! Ich habe nämlich einen schwachen -Magen.“ - -„Sehr gut gemacht! Bewundernswert! Nur etwas warme Milch. Ich habe -nämlich einen schwachen Magen.“ Er hüpfte. „Es wird. Es wird.“ - -Eifrig studierte er den Stadtplan, zog Blaustiftstriche von -Schmargendorf nach Wilmersdorf, über Charlottenburg weg nach Rixdorf, -bohrte auf das e von Steglitz ein i und kicherte: „Stieglitz“. Trillerte -wie ein Stieglitz. Trillerte noch, als er schon im Bett lag. Und -trillerte sich lustig und hoffnungsvoll in den Schlaf hinein. - -Erwachte morgens mit dem Rufe: „Hahaha, einen schwachen Magen! O, hätte -ich nur einen schwachen Magen, ein Magengeschwür, qualvoll und -lebensgefährlich. Wäre doch immerhin ein Magen.“ - -Trank hastig die warme Milch und stellte, die staunenden Augen -vergrößert, die leere Tasse auf den Tisch. „Aber ich trank ja eben -Milch. Ich! Ich trank. Ein Mensch trank Milch. Also muß dieser Mensch -doch einen Magen haben und muß ein Mensch, muß vorhanden sein.“ - -Da lächelte er ein schlaues, anerkennendes Lächeln, als habe er einen -besonders fein angelegten Betrug durchschaut. „Ist es mir also -tatsächlich gelungen, sogar mir selbst vorzutäuschen, ich hätte einen -Magen. Wunderbar! Kein Mensch wird merken, daß ich nicht vorhanden bin.“ - -Langsam und vorsichtig, um nichts zu verschütten, trug er die leere -Tasse zum Kübel, leerte die nicht vorhandene Milch aus, hörte das -Plätschern. Und riß sich zusammen. „Jetzt aber los!“ - -Es war erst sieben Uhr. Die starke Luft stand noch unverbraucht in den -Straßen. Jürgen hatte große Eile, sprang in Stadtbahnzüge, die schon -angefahren waren, wurde von der Untergrundbahn im Westen abgesetzt, von -der Straßenbahn quer durch die ganze Stadt nach Berlin N getragen, auf -dem Dache eines Autobusses nach Wilmersdorf zurück. - -Sein Schema benutzte er nicht. Denn immer, wenn er planvoll vorgehen -wollte, fürchtete er, Jürgen werde zu der Zeit, da er ihn in Berlin O -suche, in Berlin W sein. Er fragte viele Vorübereilende, ob sie wüßten, -wo Jürgen Kolbenreiher sich momentan aufhalte. - -„Der Vortragskünstler? Ah, das Weinrestaurant mit der Bar?“ - -„Nein, ein sehr entfernt Bekannter von mir.“ - -„Und ich soll wissen, wo der ist?! Sind Sie wahnsinnig!“ - -„Ja.“ - -„Frechheit!“ Der Wütende sauste weiter. - -Nach vielen verständnislosen Rückfragen des dicken Dienstmannes, der auf -seinem Bänkchen saß, sagte Jürgen: „Vielleicht ist er in Odessa.“ - -„Na, denn fahren Sie man nach Odessa.“ - -„Können vielleicht Sie mir sagen ...“ - -„Keine Zeit!“ - -„Er hat ... keine ... Zeit.“ Traurig blickte er den Händen nach, die den -Weg hinter sich schaufelten. - -Wurde von den Hetzenden da- und dorthin gewiesen, angeschrien, -stehengelassen, von Bummlern ausgelacht. Durchstreifte Restaurants, -Kaffeehäuser, Kirchen, Warenhäuser, Kutscherkneipen, wurde in das -Reichstagsgebäude nicht hineingelassen und aus einem Automatenrestaurant -herausgeworfen, weil er, anstatt in den Schlitz, die Metallmarke dem -verblüfften Kellner in den Mund geschoben hatte. - -Als er nach langer Fahrt vor dem Meldeamt ankam, war es schon -geschlossen. Als erster stand er um zwei Uhr wieder vor dem -Schalterfenster, bekam einen Zettel zum Ausfüllen. Sog den Staub- und -Papiergeruch ein. Riecht wie in unserer Buchhaltung, dachte er. Und -reichte, bebend vor Erwartung, den Zettel dem Beamten. - -Der unterhielt sich mit seinem Kollegen, schimpfte über die schlechte -Beleuchtung, stand plötzlich reglos und sah aus, als denke er. - -‚Alle Menschen denken in jeder Sekunde ihres ganzen Lebens irgend etwas. -Nur ich ...‘ „Was denken Sie momentan?“ - -„Nichts“, bekannte mechanisch der Beamte. Dann erst staunte er und -begann zu suchen. - -„Ist er hier gemeldet?“ fragte Jürgen gierig. „Kolbenreiher mit H!“ - -Der Beamte gab keine Antwort; er unterhielt sich weiter mit seinem -Kollegen über die Tatsache, daß ein Teppichgeschäft in Berlin N den -Mitgliedern der Beamtenorganisation zehn Prozent Rabatt gewähre, fragte, -ob er diesen Rabatt wohl auch bekäme, wenn er nur zwei ganz einfache -Bettvorleger kaufe. „Wenn nicht, würde ich lieber Strohmatten nehmen. -Kosten kaum die Hälfte.“ - -„Und halten auch vierzehn Tage!“ - -„Haben Sie den Personalakt gefunden?“ Jürgen streckte den Oberkörper -durch das Schalterquadrat. - -„Man darf eben nicht mit den Schuhen darauftreten ... Nun, wenn man früh -aufsteht ...“ - -„Ist er hier gemeldet?“ - -„... hat man ja in Berlin keine Schuhe an ... Nein, ein Jürgen -Kolbenreiher ist bei uns nicht gemeldet.“ Das Schalterfenster klatschte -knapp vor Jürgens Stirn herunter. - -‚Vielleicht lebt er einfach unangemeldet. Ich natürlich weiß am -allerwenigsten, ob er dazu fähig ist.‘ - -Vollkommen gefühl- und empfindungslos geworden, stand er in der -verkehrreichen Straße, gleich einem zu Eis erstarrten Gegenstand, der in -der lebendigen, sengenden Sonne steht und nicht schmilzt. - -In allen Menschengesichtern, die an ihm vorbei auf Körpern straßauf, -straßab getragen wurden, stand, ob sie sprachen oder schwiegen, lachten -oder dachten, die selbe eisesstarre Einsamkeit. - -So unabänderlich einsam, wie die Fliege, die, mit dem dicken Kopf voran, -im Zickzack durch die Luft zuckt, dachte Jürgen und beugte sich, -durchschüttert plötzlich von wunderbarem Wehgefühl, hinab zu zwei -kleinen Kindern, die im Erdrund eines Baumes hockten und, in den Augen -noch das volle Leben, hingegeben mit Steinchen spielten. - -‚Und in zehn Jahren wird die große, lebendige, schmerzliche Sehnsucht -kommen, in weiteren zehn Jahren auch für sie die unlebendige graue -Einsamkeit, da auch sie gleich allen dann die Sehnsucht nicht mehr haben -werden.‘ - -Ihn trieb die Sehnsucht, wiedererstanden in ihm durch das Erblicken der -zwei noch im Fluß des Lebens spielverbundenen Kinder, weiter straßauf, -straßab. - -„Ja, der wohnt dort in dem gelben Haus.“ - -Das Herz blieb stehen. Klopfte noch immer nicht wieder. Begann in -rasendem Tempo zu hämmern. Die Schläfen, graukalt geworden, stiegen über -den Kopf empor. Todesangst packte und erfüllte ihn bei der Vorstellung, -ihm, den er verraten und verkauft hatte, in die Augen zu blicken. - -Der am ganzen Körper Zitternde wußte, daß er auf der Stelle tot -zusammenbrechen werde, angesichts des Andern; dennoch trug letzte -Bereitschaft, die Glieder lösend selig ihn durchströmte, Jürgen auf das -gelbe Haus zu, bis vor das Porzellanschild. - -Er sank, sank, sank. Stand endlich, Beine und Füße aus Blei, auf dem -Asphalt und las wieder und wieder den nur ähnlich klingenden Namen. - -Alles Leben, das ganze Gewicht seines Körpers schien in den Beinen zu -sein, so schwer waren sie geworden, als er sich weiterschleppte, toten -Blickes. - -Die Detektei erreichte Jürgen noch knapp vor Bureauschluß. Mit dem -ersten Blick schätzte der Inhaber den gut gekleideten Kunden auf die -Vermögensverhältnisse hin ein, bemerkte schon nach zehn Sekunden, daß -der vor ihm stand, den er suchen sollte, ließ sich eine Anzahlung geben. -Am Morgen hatte Jürgen zu seiner Verwunderung gegen einen Scheck, -unterschrieben mit dem Namen Jürgen Kolbenreiher, anstandslos eine große -Summe ausbezahlt bekommen. „Haben Sie Hoffnung?“ - -„Aber gewiß doch! Von der Hoffnung lebt man heutzutage ... Wie wärs mit -einer Extraprämie, Herr ... Pardon, wie ist Ihr Name?“ - -Und da Jürgen den Kopf schüttelte: „Ich habe keinen.“ - -„Den wollen Sie nicht sagen, verstehe schon. Das kommt bei uns öfters -vor ... Mit einer besonderen Prämie, die Sie demjenigen meiner Leute -auszubezahlen hätten, der den Aufenthaltsort dieses Schuftes nachweist.“ - -„Er ist kein Schuft. Im Gegenteil: wir sind Schufte!“ - -„Erlauben Sie! Gewöhnlich sind meine Auftraggeber sehr achtbare Leute, -die irgendeinen Schuft suchen lassen.“ - -„Glauben Sie mir, es ist genau umgekehrt.“ - -„Wie also sieht dieser Herr Jürgen Kolbenreiher denn nun eigentlich aus, -im großen ganzen? ... Sie wohnen doch im Hotel, nicht wahr?“ - -„Ich habe im Hotel einen falschen Namen angegeben. Den Namen desjenigen, -den ich suche. Sie verstehen?“ - -„Verstehe schon!“ - -„Ich bin nämlich ... Ach nein, ich bin nicht. Das heißt, ich wollte -sagen: ich bin inkognito hier, ganz und gar inkognito ... Wie Jürgen -Kolbenreiher jetzt aussieht, das weiß kein Mensch auf der Welt. Denn es -ist ganz unmöglich, zu wissen, wie ich aussehen würde, wenn ich so -geworden wäre, wie ich bin. Das ist ja das Hoffnungslose.“ - -„Nichts ist hoffnungslos. Ich habe schon schwerere Fälle mit gutem -Erfolge zu Ende geführt. Beruhigen Sie sich. Nur Ruhe! Ich selbst werde -den Fall bearbeiten. Und was die Extraprämie anlangt, so ist sie fällig, -nachdem Sie selbst zugegeben haben werden, daß dieser von Ihnen gesuchte -Jürgen Kolbenreiher gefunden ist. Welche Summe also ...?“ - -„Jede Summe! Meine Villa, drei Mietkasernen, ein Riesenvermögen in -Wertpapieren. Nehmen Sie alles, was ich habe, und geben Sie mir dafür -Ihn!“ - -Hinausbegleitet, verließ Jürgen das Bureau, nicht weniger Hoffnung im -Herzen als der Detektiv, der, tief in Grübelei versunken, einen -Bratensaucetropfen von seinem seidenen Rockaufschlag abkratzte, an die -Villa, die Mietkasernen, an das Riesenvermögen dachte und keine Lust -mehr hatte, des Dienstmädchens Alimentationsfall zu bearbeiten. - -Jürgen stand schon vor einer Plakatsäule, an der ein roter Zettel -klebte, mit der Aufschrift: ‚Es geschieht alles, was du willst, nur -kehre zurück.‘ Im Auto fuhr er in das Plakatinstitut. - -„Mit jedem Tausend mehr, das Sie drucken lassen, steigt die -Wahrscheinlichkeit, daß Sie diesen Herrn Kolbenreiher finden.“ Der -Unternehmer ließ die Augenbrauen fallen. „Das ist doch klar, nich?“ - -„Fünftausend? ... Zwanzigtausend?“ - -„Sind besser als zehntausend! Jetzt die genaue Beschreibung.“ - -„Die gibts nicht.“ Er zog die Jugendphotographie aus der Tasche. „Hier -ist das Bild dieses Menschen. Mein Jugendbild! Aber jetzt kann Jürgen -Kolbenreiher unmöglich so aussehen. Und auch nicht so.“ Er deutete auf -sein Gesicht. - -„Sagten Sie vorhin nicht, Sie selbst seien Jürgen Kolbenreiher?“ - -„War ich! Bin ich wieder, wenn ich ihn gefunden habe.“ - -„Hören Sie mal, einem Schwachsinnigen nehme ich kein Geld ab. Nee, ich -bin doch keen Schnapphahn. Hab ich nich nötig ... Greifen Sie sich an -den Kopf und sagen Sie sich: Da hab ich mich.“ - -„Wenn das so einfach wäre! Wenn ich einen Kopf hätte!“ - -„Na, denn rin in die Gummizelle!“ - -Die Konkurrenz machte das Geschäft. Und schon am folgenden Tage war an -allen Plakatsäulen zu lesen, welche Summe demjenigen ausbezahlt werde, -der den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers angeben könne. Auf den -knallroten Zetteln klebte Jürgens Photographie, die eigens zu diesem -Zwecke aufgenommen worden war. Ein gewisser Anhaltspunkt sei die -Photographie ja doch, hatte der Plakatmann gesagt. - -Den ganzen Tag durchquerte Jürgen suchend die Stadt. Niemand erkannte -ihn. Der Detektiv machte den Versuch, das Geld zu verdienen. Einen -Irrenarzt brachte er gleich mit ins Hotel. - -Jürgen zeigte den beiden seine Jugendphotographie. „Nehmen Sie an, -dieser Mensch wäre auf dem Wege, den zu gehen er als seine Pflicht -erkannt hatte, weitergeschritten, vierzehn Jahre älter geworden: wie -würde er dann jetzt aussehen? Sicher nicht so wie ich ... Schaffen Sie -mir den richtigen Mann bei, dann bezahle ich.“ - -„Ich habe den richtigen Mann für Sie mitgebracht. Der wird Ihnen fix -klarmachen, daß Sie selbst der Gesuchte sind“, sagte resolut der -Detektiv. „Nicht wahr, Herr Doktor?“ - -Der grinste. „So einfach wird das nicht sein.“ - -Der Detektiv wurde energisch: „Sie müssen sich untersuchen lassen.“ Und -der Doktor zog die Uhr. „Also, erst mal Ihren Puls, bitte.“ - -„Was Puls! Meinen Puls? Sind Sie nicht bei Sinnen! Puls? Wenn ich einen -Puls hätte!“ - -„Nur los!“ rief der Detektiv, ging zu auf Jürgen, der zurückwich, die -Bronzefigur vom Schreibtisch nahm. - -Als der Psychiater eine halbe Stunde später mit zwei Wärtern und einem -Schutzmann zurückkam, war Jürgen schon in ein anderes Hotel -übergesiedelt. - -Auf das Protokoll des Arztes hin wurde eine Anzahl Schutzleute -ausgeschickt auf einen Streifzug durch die Hotels, Pensionen, -Absteigquartiere, den Irren zu suchen, während dieser hoffnungsfroh die -Stadt durchquerte, sich selbst zu suchen. - -„Kennen Sie einen Herrn Jürgen Kolbenreiher? Möglicherweise trägt er – -ich, selbstverständlich, weiß das nicht – einen Schnurrbart.“ - -Der Angeredete fragte zurück: „Verzeihung, sind Sie Schutzmann? In -meinem Hotel waren nämlich heute Schutzleute, die einen entsprungenen -Irren namens Kolbenreiher suchten. Viele Schutzleute durchsuchen ganz -Berlin nach diesem Verrückten.“ - -„Viele? ... Wunderbar! Sie werden mich sicher finden.“ - -Getragen von Zuversicht, schritt er federnd und pfeifend auf das kleine -Hotel zu, in dem er die letzte Nacht geschlafen hatte. Die -Vorüberhetzenden, die Schutzleute, Chauffeure, alle blickenden -Menschenaugen, alle Menschen auf der Erde suchten ihn. - -Da sah er wieder diese von einer unsichtbaren Last erdrückte Frau, der -er schon am Morgen und noch einmal gegen Abend des selben Tages beinahe -an der selben Stelle begegnet war, und die anzusprechen und nach sich zu -fragen er nicht gewagt hatte, wegen der erstarrten Hoffnungslosigkeit in -ihrem Antlitz. - -Die Frau, deren Lebensgefährte vor zwei Tagen gestorben war, trug, in -Blick und Gang schon wie körperlos geworden, seit zwei Tagen die Last -der hoffnungslosen Vereinsamung ziellos im Kreise immer um den selben -Häuserblock herum. - -Das bange Gefühl, diese Frau sei in ihrem armen Herzen so ertötet, daß -sie nicht mehr geben und nicht mehr empfangen könne, verhinderte ihn -auch jetzt wieder daran, einmal bei der Hoffnungslosigkeit anzufragen, -nachdem alle von Hoffnungen und Zielen noch Erfüllten ihm nicht hatten -helfen können. - -Nur den Bruchteil einer Sekunde sah sie Jürgens bangen Blick auf sich -gerichtet. Ein stöhnendes Schluchzen brach aus. Drei Töne. Dann trug -sie, wieder starren Gesichtes, weiter langsam durch die Straße ihre -hoffnungslose Vereinsamung. - -Vor dem Hotel sprach der Portier mit einem Schutzmann. Zurückweichend -blieb Jürgen stehen, bewegte den Zeigefinger vor der Brust verneinend -hin und her, pfiff, die Brauen hochgezogen, einen Ton und kehrte um. - -„Die suchen ja mich, den Falschen, den Scheinjürgen, den Scheckfälscher, -den, der im Hotel den Namen Kolbenreiher auf den Meldezettel schrieb. -Sie suchen das Nichts, das sich anmaßte, zu sein.“ - -Die Angst, festgenommen und eingesperrt zu werden und sich dann nicht -mehr suchen zu können, jagte ihn fort. In ein anderes Hotel zu gehen -wagte er nicht. Er wagte nicht mehr, sich sehen zu lassen. Ganz -plötzlich sah er keine Möglichkeit mehr, sich zu finden. - -„Eingekreist! ... Im Freien schlafen! Eingekreist!“ - -Ein letzter Rest von Hoffnung, Hilfe zu finden bei der Hoffnungslosen, -trieb ihn ihr nach, die Straße hinunter, die in den Tiergarten mündete. -Sein Gesicht war in Abwehr verzerrt. Die Zähne bleckten. - -Sein Körper fiel auf die erste Bank, die am Spreekanal stand. Die -Vereinsamte neben ihm hatte sich nicht gerührt. Sie ängstigte sich -nicht. Sie blickte blicklosstarr auf das Leben, das weiter ging, hinweg -über ihr Leben: Zwei Stadtbahnzüge, leuchtende Lineale, schoben sich -aneinander vorbei, durch die Nacht. - -Sah das Sterbezimmer, wo der, mit dem zusammen sie in Kampf und Leid des -Lebens ein Leben gelebt hatte, noch auf dem Bette lag, weiß zugedeckt, -bis zum Kinn. - -Am Tone schon des ersten Wortes, das sie sprach, fühlte Jürgen, daß -neben ihm das Schicksal saß. - -Zu Füßen der beiden regte sich leise das Leben: streifte das Wasser die -Mauer. - -Sie hob die kraftlose Hand. Sie sagte, verzuckenden, tränenrauhen, -warnenden Tones, als warne sie jeden einzelnen dieser Erde: „Kein hartes -Wort kann mehr zurückgenommen werden.“ - -Erschlossen plötzlich und schmerzlich berührt von der erhabenen Größe -dieses schicksalhaften Leids der Hoffnungslosigkeit, berührte er die -Schulter der Vereinsamten. - -Sofort brach sie in stöhnendes Weinen aus. „So früh gestorben, weil er -für diese Zeit zu gütig war. Zu gütig war.“ Stand schwer auf. „Zu viel, -zu viel ist mir geschehen.“ Und ging. Das Dunkel nahm sie. - -Vor dem reglos Sitzenden, der schmerzlich bewegt den verklingenden -Schritten lauschte, ankerte neben der kleinen Eisenbrücke im Kanal ein -Frachtschiff, auf dessen äußerster Spitze unter dem roten Signallicht -ein junger Hund stand, der aufmerksam blickte. Und wie damals, da er, -kommend aus Katharinas Zimmer, zusammen mit den neun Bezirksführern -stadtwärts marschiert war, wehte auch jetzt kühler Teergeruch, und durch -die Baumkronen schimmerten die Lichter der Stadt. - -Entbunden durch seine tiefempfundene Hilfsbereitschaft, die ihm -verstattet hatte, das eigene Leid zurückzustellen, und verstärkt noch -durch das erinnerungsträchtige Landschaftsbild, war in Jürgen plötzlich -Sehnsucht nach Katharina und zugleich mit dieser brennenden Sehnsucht -das Gefühl, körperlich vorhanden zu sein, mit solch blitzhafter -Schnelligkeit entstanden, als ob es ihm nie entschwunden gewesen wäre. - -So gewaltig war die Freude, daß ihm nicht Kraft blieb, den Freudeschrei -auszustoßen. Weichheit tat sich milde in ihm auf. Tränen drangen durch -die Lider. Machtvoll zog die Hoffnung in ihn ein. - -„Schnauzl“, flüsterte er zärtlich und lockte mit Daumen und Zeigefinger. - -Der Hund erhob sich, wedelte mit dem Schwanzstumpf, lief, zutraulich -wimmernd, auf dem Bordrand hin und her, stand, blickte, bellte -verlangend einen Ton. Stille ringsum. - -„Ein Hund und am Himmel die Sterne. Das ist zu viel und zu wenig für den -Menschen. Zu wenig und zu viel. Der Mensch leidet ... Er erkenne im -Leide und kämpfe!“ sagte Jürgen. Das war wie ein Gelübde. - -Ohne Eile, ohne Weile schritt er stadtwärts, zum Bahnhofe. Und fuhr mit -dem nächsten Zuge zurück in die Heimatstadt. Seine Haare waren ergraut, -Gesicht und Körper ganz vom Fleische gefallen. - -Einige Tage nach seiner Rückkehr – Herr Wagner und drei Ärzte waren bei -Jürgen gewesen – stand in der Zeitung, Herr Kolbenreiher, Teilhaber der -bekannten Bankfirma (deren Stammhaus übrigens schon in den nächsten -Tagen in neuer, verschönerter und bedeutend vergrößerter Gestalt dem -Parteienverkehre übergeben werden würde), habe sich durch seine -unermüdliche und hingebungsvolle Arbeit eine Nervenentzündung zugezogen, -die zwar sehr schmerzhaft, aber bei der kräftigen Konstitution des -Patienten nach Ansicht der Ärzte allein schon durch Ruhe und den -Aufenthalt in frischer Luft rasch zu beheben sei, so daß Herr -Kolbenreiher seine bewährte Arbeitskraft bald wieder in den Dienst der -Firma werde stellen können. - -Auch Jürgen las diese Notiz. Ihn interessierte nur das Wort -‚Konstitution‘. Er fragte Phinchen, ob sie glaube, daß er ein -konstitutioneller Schuft oder ein Schuft aus freier Entscheidung, also -ein für seinen Verrat verantwortlicher Schuft sei, der die Kraft gehabt -hätte, keiner zu werden. Er stand unter dem Türrahmen der Küche und -blickte gespannt in das fassungslos zurückfragende Gesicht. „Was meinst -du, Phinchen?“ - -Unabgewendeten Blickes ließ Phinchen den Spüllappen fallen, trocknete, -wie immer, wenn Jürgen die Küche betrat, gewohnheitsmäßig die violetten -Hände an der Schürze ab. Der Jammer um ihren abgezehrten Herrn gab ihr -die Worte, Jürgen sei immer der beste Mensch von der Welt gewesen; -sicher habe er niemals absichtlich Böses getan. - -Da geriet er in Erregung. „Dann wäre ja alles hoffnungslos. Denn wie -könnte ich aus diesem Wuste menschlicher Niedertracht herausfinden, wenn -ich ohne Schuld, ganz ohne eigenes Zutun hineingeraten wäre ... Aber du -kannst das ja nicht wissen. Sechzehn – und jetzt bist du vierzig. Hast -dein Leben in dieser Küche verbracht.“ - -Wochenlang verließ Jürgen das Haus nicht. Er kleidete sich gar nicht -mehr an, aß und schlief außer jeder Regel. Manchmal wandte er sich mit -einer Frage an Phinchen, deren Herz die Antwort gab. - -Sehnsucht und Grübelei kreisten immer um den selben Punkt. Auf der Welt -war nichts als er und der Panzerplattenturm, vor dem er grübelnd saß und -stand und lag und kniete, dieses Panzerplattengewölbe in ihm selbst, -zudem er Einlaß suchte und nicht fand. - -Zäh, gequält und unverdrossen machte er sich jeden Tag und jede Nacht -von neuem an die Aufgabe. Jeden Gedanken dachte, jeden Schritt machte -der Wahnsinn mit. Und auf dem Tisch lag der Revolver. - -Schon hatte er die Fähigkeit erworben, sich im Wachtraum und auch im -tiefsten Schlaftraum zu beobachten. In der Finsternis unterirdischer -Gewölbe, durch die er traumsicher schritt, traf er den Andern, den er -suchte, führte mit ihm traurig geflüsterte Wechselreden. Im Blick des -Andern stand sehnsuchtslose Bereitschaft. „Geh und miß!“ - -„Ja, messen! Ich werde messen. Dies ist das Mittel.“ Da saß er aufrecht -im Bett: blickte die Schranktür an. „Messen?“ - -So ausschließlich lebte er seiner Aufgabe, daß es ihm trotz -Unterbrechung des Traumes auch diesmal gelang, die Fortsetzung des -Traumes zu träumen, in das Gewölbe, das tief unter dem Leben lag, -zurückzugelangen, vor die Augen des Andern, die sehnsuchtslos und -unerbittlich ihn anblickten. - -Jürgen wußte, daß er nicht fragen dürfe, was er messen solle. Und als er -flüsternd dennoch fragte, verschwand das Gesicht. Logikferne Gebilde -zuckten auf, verzuckten in Finsternis. Lichtbündel verzischten in -Finsternis, aus der sekündlich wieder Licht aufspritzte. - -Da schoß eine dicke, schmerzhaft weiße Lichtfontäne auf, in deren Mitte -unirdisch weiß das Wesentliche lebte, das, im Tiefsten ihn -durchschauernd, plötzlich sein eigen wurde. - -Inbrünstig bemühte er sich, das Wissen vom Wesentlichen aus dem -Halbschlafe heraus in das Wachsein herüberzuretten, öffnete mit großer -Vorsicht wiederholt die Lider, nur einen Millimeter: Immer war das -Wesentliche weg und nur die Schranktür da. - -Und als er ganz erwacht aufrecht im Bette saß, wußte er nicht mehr, wann -und wie und durch wen ihm der Rat zuteil geworden war, noch einmal, wie -in der Jugend, eine Wanderung durch die Menschheit zu machen, -unverstellten Blickes. - -„Dann werde ich wieder dorthin gelangen, wo ich schon war. O, -Bewußtsein!“ Sein sehnsuchtsvoller Freudeschrei riß ihn aus dem Bett. - -Bereit, jedes Leid und selbst den Tod zu erleiden, verließ er das Haus, -in der Tasche den entsicherten Revolver. - -Der Sonntagmorgen tat sich vor ihm auf. Glocken läuteten. Ein roter -Sonnenschirm überquerte die Straße. An Jürgen vorbei marschierte eine -Knabenklasse, in Viererreihen streng geordnet und geführt vom Lehrer, -der kommandierte: „Links! Rechts! Links! Rechts!“ - -„Wenn die Schwerter blitzen und die Kugeln fliegen ...“ „Links! Rechts!“ - -An dem Lehrer sah Jürgen das erstemal dieses Gebilde, das im Rücken -hing, verkümmert, eingeschrumpft, vertrocknet. „Das ist, mitgeboren, -aber ganz verödet, das Eigene, das in gar keiner Wechselwirkung mehr zu -seinem Träger steht“, flüsterte er und ließ sich auf den Lehrer zugehen. -„Auch Sie machen sich mitschuldig an einem furchtbaren Verbrechen, und -ich kann Ihnen sagen, weshalb.“ - -Erst als er den Lehrer schüttelte und in das empörte Gesicht sagte: „An -einem entsetzlichen Verbrechen! Denn Sie lassen sich als Seelenmörder -gebrauchen“, stutzte der Lehrer, riß sich los, eilte der Klasse nach und -richtete die in Unordnung geratenen Viererreihen wieder aus mit dem -Kommando: „Links! Rechts!“ - -Von einem visionären Blitz erleuchtet, sah Jürgen sämtliche -Knabenklassen Europas, die, kommandiert von den Lehrern, auf einer -Riesenebene in linearer Ordnung kreuz und quer umhermarschierten und -unter Geschützesbrüllen unversehens Infanterieregimenter wurden. -Ununterbrochen stiegen die erstickten Seelen aus den strenggeschlossenen -Schülerquadraten in die Höhe und verschwanden mit klagendem Gesange. - -„Wohin?“ fragte Jürgen. „Wohin sind sie verschwunden?“ Er stand, noch -durchzogen von der Vision, reglos und entrückt, bis drei alte Herren ihm -in das Blickfeld hineinspazierten. Der eine erzählte etwas, verteidigte -sein ablehnendes Verhalten. „Da kam es darauf an, ein Charakter zu -sein.“ - -„Sie aber haben keinen Charakter. Denn was würde geschehen, wenn Sie Ihr -Vermögen, Ihre Stellung, Ihre Privilegien und die Achtung der geachteten -Männer verlören? Wo bliebe dann Ihr Charakter? Sie, meine Herren, sind -Charaktermasken.“ Und er deutete auf die eingetrockneten Gebilde, die -sich mit den dreien fortbewegten. - -Als habe eine Hand ihn durch die vielen Straßen hin geführt, stand -plötzlich, die düsteren Fensterlöcher quadratiert mit dicken -Eisenstäben, vor ihm das Gefängnis, ein steingewordener Schrei. - -Dunklen Druck in der Brust, blickte Jürgen die zufriedenen -Sonntagsspaziergänger an. „Sie gehen vorüber, unberührten Gemütes.“ In -seiner Brust stand das ganze wuchtende Gebäude. - -Und er schritt, stehend vor der Mauer, wieder durch die Gänge, Gänge, -die in seinem Herzen waren, durch den Saal, in dem die engmaschigen -Drahtgitterkäfige standen, jeder ein menschliches Wesen trennend von den -menschlichen Wesen. - -‚Schnauzl!‘ lockt mit Zeigefinger und Daumen die verwüstete -Siebzehnjährige. Katharinas Schnauz wedelt kläglich mit dem -Schwanzstumpf. - -Qualvolle Machtlosigkeit, wie damals, preßte Jürgens Herz zusammen. - -Die Zellentür tut sich auf. Vor ihm steht Katharina im grauen -Gefängniskleid, das verschönt ist durch den ordnungswidrigen Einschlag -beim Halse. Der kleine, feste Mund lächelt froh. - -Stürmische Liebe, wie damals, brach in Jürgen los. Da blickt Katharina -gleichgültig und kalt ihn an. (‚Auch kann ich ein Mädchen sein, das im -Kampfe gegen die Umwelt steht und durch ihr verächtliches Abweisen ...‘) - -Mit beiden Händen griff Jürgen in die Luft und taumelte gegen die -Gefängnismauer, blickte flehend Katharinas Blick an, der lautlos sprach: -‚Nimm erst von neuem auf dich alle Qualen!‘ - -Zwei paar Arme, an denen Spazierstöcke baumelten, breiteten sich aus, -fielen schenkelwärts. Schultern zuckten. Jürgen betrachtete die -eingeschrumpften Gebilde. „Auch ganz und gar entselbstet!“ Und folgte, -berührt von dem Interesse des Leidensgenossen für die Leidensgenossen, -den zwei Männern. - -„Da bin ich ganz deiner Meinung, Vorstand“, wiederholte der zweite -Vorstand und ließ den ersten Vorstand vorangehen, hinein in das -Gesangvereinslokal, in dem die Tenor- und Baßtische schon voll besetzt -waren. - -Unbemerkt stand Jürgen hinter dem großen Kachelofen. Aus dem Gastzimmer -klangen, durch die geschlossene Tür durch, die Klüpfelschläge des -Wirtes, der den Hahn in das Bierfaß schlug. - -Er habe die außerordentliche Singprobe einberufen, weil das -hochverehrliche Gründungsmitglied, Herr Simon Ott, im Sterben liege. „Er -liegt in den letzten Zügen.“ - -In diesem Moment wurde Jürgen von einer Möwe besucht. Lautlos. Sie stand -vor ihm, glich einer nordischen Frau – groß, hellblond – und hatte ein -gefühlsentferntes, vollkommen seelenloses Gesicht. - -Jenseits aller Verwunderung sagte Jürgen zu ihr: „Nur wußte ich bis -jetzt nicht, daß Möwen schöne, kühle Frauen sind.“ - -Die Möwe antwortete nicht, blickte auf das weite, kalte Meer hinaus. -Auch Jürgen blickte auf das Meer hinaus. - -„Deshalb müssen wir rechtzeitig das Trauerlied einstudieren, das am -Grabe gesungen werden soll, damit wir uns nicht wieder blamieren.“ - -„Er ist ja noch gar nicht tot!“ - -Ein kleiner, dürrer, bebrillter Schuhmachermeister schoß vom Stuhle -empor und forderte etwas mehr Pietät. Er war der Schriftführer. - -„Wenn er doch noch lebt!“ - -„Aber es kann nicht mehr lange dauern. Ich bitte also den Herrn -Dirigenten, das Trauerlied vorzunehmen.“ Der Vorstand breitete die Arme -aus: „Oder sollen wir uns wieder blamieren?“ - -Der zweite Vorstand erhob sich, klopfte ans Bierglas: „Ich bin ganz der -Meinung unseres ersten Herrn Vorstandes ... Wenn ein altes Mitglied, ein -Veteran des Männergesanges, stirbt, kann er verlangen, daß das Lied, das -wir an seinem Grabe singen, vorher ordentlich geprobt wird. Und die Ehre -unseres Vereins steht auch nicht so bombenfest, daß wir uns wieder -blamieren dürften, wie das letztemal.“ - -Die Möwenfrau trug in den reglosen Augen einen Blick, als schaue sie das -unabänderliche Schicksal. - -Der Brillenschuster verteilte schon die Gesangbücher. Die zehn Bässe -gruppierten sich um das Klavier herum. „Dort unten ist Friede“, -intonierte der Dirigent. Und die Bässe setzten ein: „Im kühlen Haus.“ - -„Nur die Bässe singen, bitte ich mir aus. Warten Sie, bis Sie daran -kommen.“ Der Brillenschuster hatte mitgesummt. Er sang den ersten Tenor. - -„Es ruhet der Schläfer vom Leben aus.“ - -Gabelförmige Schwingen kamen fühlergleich und steif vorne aus der -Körpermitte der Möwenfrau heraus, verschwanden wieder. Sie bewegte sich -wie ein Vogel, der zum Fluge anhebt, sah mit inhaltslosen, blauen Augen -Jürgen an, der dachte: Will sie fort? - -„Und über dem Hügel: sum, sum, sum, sum.“ - -„Mehr piano! Nicht: sum, sum, sum, sum; sondern: sum, sum, sum, sum ... -Sie, meine Herren, sind doch keine Schmeißfliegen; Bienen summen viel -zarter.“ - -Plötzlich sah Jürgen vierzig zur Decke gerichtete Augenpaare, vierzig -eirund geöffnete Münder und an den Rücken der Sänger, die jetzt im -Halbkreise alle um das Klavier herumstanden, die vierzig eingetrockneten -Gebilde. - -Die Schwingen kamen gabelförmig vorne aus der Leibesmitte der Möwenfrau -heraus; Jürgen setzte sich darauf und schwebte, den Kopf an die -nebelumflorte, schöne Brust der Frau gelehnt, über das kalte, weite -Meer, ruhend in der Überzeugung, daß er zu dem unbekannten Orte gelangen -werde, wo sein Bewußtsein auf ihn warte. - -Die Möwenfrau selbst darf, da sie erstickte Seelen fortträgt, natürlich -keine Seele haben, dachte Jürgen während des lautlosen Fluges. Und sagte -zu ihr: „Wenn ich nun dem Arzte erklären würde, daß auch diese Sänger -ganz und gar entselbstet sind, und daß ihre Seelen, von dir und deinen -Schwestern hingebracht, irgendwo im Weltenraume schmerzlich warten, in -ungeheuerer Einsamkeit, würde er mir nicht glauben, sondern behaupten, -mein Zustand habe sich verschlimmert ... Die Psychiater sind doch zu -dumm. Glauben Sie das nicht auch?“ - -Die Möwenfrau antwortete nicht, flog weiter, leicht vorgebeugt. Ihre -Augen hatten sich während der ganzen Zeit nicht bewegt. Ihr -Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. - -Weil sie eben keinen Gesichtsausdruck hat, dachte Jürgen und drehte das -Gesicht nach oben, blickte ihr in die Augen. - -Ringsum war nur noch Wasser und Nebel. - -Jürgen wußte nicht und dachte auch nicht darüber nach, wie er -hierhergelangt war. Er saß auf der Bank in der Anlage, gegenüber dem -grünen Bretterzaune, in den er vor vierzehn Jahren als erstrebenswertes -Ziel den Frackherrnjürgen hineingesehen hatte. - -Ein Lächeln tiefinnerster Sicherheit erhellte sein Antlitz, als er, -jeden Willen ausschaltend, alle Muskeln entspannte, in dem Bestreben, -wie damals wieder nur die Begierden, nur den Menschen in sich sprechen -zu lassen, um zu erfahren, was der Mensch in ihm ersehne. - -Der Bretterzaun blieb Bretterzaun und leer. „Dieses nicht! Dieses -wenigstens begehrt er nicht mehr“, flüsterte Jürgen. „Was aber ersehnt -es, mein Herz?“ - -Er schloß die Augen und lauschte und wartete und fühlte nichts. Die -Lider der inneren Augen blieben geschlossen. Da saß er, reglos, leid- -und freudlos, leblos. - -Leiser Wind bewegte die Baumkronen. Schläfriges Zwitschern eines Vogels -im Sonnenbrand. In der Ferne brauste die Stadt. - -„Das ist die weiße Sekunde“, flüsterte Jürgen in plötzlicher Erregung. -Denn er sah sich schreiten. Und die Straßen wurden enger, dunkler, die -Häuser kleiner. Unbebaute Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. Das -kleine Fenster hing nah der Erde rotleuchtend in der Finsternis. - -„Die Haustür, sie ist nur angelehnt. O, einzutreten, heimzufinden, -zurück zu mir!“ - -Ein Knall riß ihn empor. Zwei Soldaten warfen die Köpfe nach links und -grüßten, Hand an der Mütze, die starr glotzenden Augen herausgedrückt, -den Offizier. - -„Geh mit!“ Er ging mit. Folgte dem Offizier in den Stadtpark, wo die -Militärkapelle spielte und die geputzte Menschenmenge promenierte in dem -sonndurchwirkten Laubgang alter Bäume. - -Jürgen wurde oft und achtungsvoll gegrüßt und dankte nie. Lange -beobachtete er einen Jüngling, der, im Blick noch die große Frage an das -Leben, die eleganten Kaufleute, Studenten, Offiziere und Beamten -betrachtete, schüchtern und ganz erfüllt von der Sehnsucht, ebenso -elegant, fertig und sicher, Blume im Knopfloch, hier spazieren zu -können. - -„Spucken Sie auf dieses Ziel“, sagte er lächelnd und deutete auf die -Promenierenden. „Vielleicht werden Sie dann nicht in der Leere ersterben -sondern in Qualen leben.“ - -Vorbei promenierte eine Gruppe Studenten, welche, Armmuskeln gespannt, -Ellbogen weggestreckt, ihre roten Mützen knapp an der Brust langsam -herunter bis zum Knie und ebenso krampfhaft-feierlich wieder kopfwärts -führten, während die Gegrüßten das selbe mit ihren grünen Mützen taten, -die zerhauenen Biergesichter starr ins Profil zu den Rotmützen gestellt. - -„Kampf und Vernichtung dieser Ordnung, die solche Söhne hervorbringt! -Wehe, sie sind die Söhne ihrer Väter! Wehe, sie werden zu Staatsanwälten -und zu Richtern werden! Ihrem Kopf und Herz sind Kultur und Fortschritt -der Menschheit anheimgegeben? Nie! Nie! Niemals! Sie alle werden Jürgens -werden. Bestenfalls!“ Er lachte in Hohn und Ekel vor sich selbst. - -Da schritten, in dem Tempo von Menschen, die woher kommen und einem -Ziele zustreben, Katharina, der Agitator, der Metallarbeiter mit der -verstümmelten Hand und der Holzarbeiter, dessen verhutzeltes Gesicht -nicht mehr viel größer war als eine Faust, wie ein Fremdkörper durch die -gespreizt promenierende Menge. - -Ein riesengroßes, sammetschwarzes Tuch verhing den ganzen Himmel. Und -als es wieder dämmerhell wurde und Laubgang, Blumenrondells, -Musikkapelle und Spaziergänger sich drehend ineinander türmten, wußte -Jürgen nicht mehr, wen er gesehen hatte. - -Knapp vor ihm begegneten sich wieder die Studenten, die erst kurz vorher -einander gegrüßt hatten, und führten, da vielleicht ein noch nicht -gegrüßter Student zu der einen oder der andern Gruppe gekommen sein -konnte, wieder die Mützen hart an der Brust herunter, die Gesichter ins -Profil gestellt. - -Mit einem jähen Satz sprang Jürgen dazwischen, faßte mit großer -Handbewegung die ganze Menge zusammen in Eine Person und begann zu -brüllen, in maßloser Wut. - -Erst viel später – er stand schon, ohne zu wissen, wie er dorthin -gelangt war, vor der Kirche, brausende Orgeltöne drückten die -Kirchgänger aus dem Portal heraus und um ihn herum – erinnerte er sich -der Einzelheiten des Tumultes, den er verursacht hatte durch seine -Ansprache. - -Seine Zähne bleckten in Haß und Abwehr beim Erblicken der Kirchgänger. -„Ein- und das selbe Gesicht, dort wie hier, weltenweit entfernt von dem -Bewußtsein, das zum Schwanz verkümmert ist.“ - -Die Mitglieder sämtlicher Gesangvereine Europas standen und sangen -in seinem Gehirn; die Verwandlung aller Knabenklassen in -geschützdurchdonnerte Infanterieregimenter vollzog sich schmerzhaft -hinter seiner Stirn; Studenten soffen und fochten und zogen die Mützen -in seinem Hinterkopf; Millionen Bürger zuckten, begleitet von -Militärmusik und Orgelspiel, ablehnend die Schultern, breiteten -bedauernd die Arme aus, daß Jürgens Schläfen zu platzen drohten. - -Er wühlte sich durch die Menge, sprang durch ein Durchhaus und stand, -zuckend in allen Nerven, in einer menschenleeren, immer sonnelosen, vor -Feuchtigkeit grünen Gasse. - -„Nieder!“ zischte er, beide Fäuste an die Schläfen gepreßt. „Nieder! -Nieder mit dem Ganzen!“ - -In der feuchten Gasse war es still wie in einem Abgrund. „Aber wie? -Durch welche Macht? Durch welches Mittel?“ - -Plötzlich glaubte er, starrend auf den Streifen irisierenden Schaumes, -der aus der feuchten Mauer quoll, das einzige Mittel werde ihm in der -nächsten Sekunde einfallen. Beide Arme ausgebreitet, Hände gegen die -Mauer gepreßt, stand er wie ein Gekreuzigter, lauschend und wartend. Der -menschengefüllte Stadtpark tat sich auf. Sofort war das ganze Bild -wieder mit dem sammetschwarzen Tuch verhangen. Erinnerungsqual versank -in Schwindelgefühl, aus dem, so unentrinnbar wie damals, als er bei der -Straßenkreuzung Abschied genommen hatte von Katharina, der Zwang -emporwuchs, genau gezählte zehnmal durch die feuchte Gasse zu gehen. -Hin, her, hin. - -„Achtmal“, zählte er, blickte hinaus, wo die Sonne schien, ballte die -Fäuste, in dem Bemühen, die Gasse vorher verlassen zu können. Da riß es -ihn herum. Geduckt marschierte er weiter. - -In der Kellerwohnung schlug ein Mann seine Frau. Wildes Geschrei. Das -fahle Gesicht des weinenden Söhnchens erschien am eisenvergitterten -Fensterquadrat knapp über dem Pflaster. - -„Und in zwanzig Jahren schlägt das Söhnchen seine Frau, und deren -Söhnchen weint“, flüsterte Jürgen und durchwanderte zum zehnten Male die -schimmelgrüne Gasse. „Welche Macht könnte das verhindern?“ - -„Wissen Sie es? ... Alles hat seine Ursache. Glauben Sie nicht auch, daß -alles seine Ursache hat?“ fragte er auf dem sonnigen Kirchplatz einen -schnurrbärtigen Rentier, in dessen Mund eine sorgfältig angerauchte, -dicke Meerschaumspitze steckte. - -„Man muß die Ursachen erkennen, dann findet man auch das Mittel. Glauben -Sie nicht auch?“ Und als der Rentier den Kopf schüttelte: - -„Sie sind ein Raucher, nicht wahr? Nichts als ein Raucher! Sie kann man -mit der Bezeichnung ‚Raucher‘ benennen. Sie sind harmlos. Tun niemandem -etwas.“ - -Der Rentier ging weiter. Ein Dampfwölkchen stieg empor, zerflatterte. -Noch ein Dampfwölkchen stieg empor. - -„Oder sind er und die Millionen seinesgleichen vielleicht doch -Raubtierchen? Selbstgerechte, zufriedene, ihres Raubes sichere -Raubtierchen?“ - -Ein uraltes Männchen, das auf dem speckigen Rockaufschlag am speckigen -Bändchen einen Kriegsorden trug, überquerte trippelnd die Straße. Das -vertrocknete Gebilde machte jedes Schrittchen des Alten mit. - -„Wie konnten Sie es ertragen, achtzig Jahre nicht eine Sekunde Sie zu -sein, nicht einen Atemzug lang Ihr eigenes Leben zu leben? ... Nur in -der Kindheit, in der Kindheit! Erinnern Sie sich noch?“ - -Das Männchen hob mühsam den schweren Kopf: „Oj, oj, ein schlimmes -Leben!“ und trippelte weiter. - -Täglich, vom frühen Morgen, bis in die späte Nacht hinein, beobachtete -und erlitt Jürgen das Leben, suchte er – begleitet von Wahnsinn und -Revolver und immer bereit zum Schusse in das Herz – Bewußtsein und Weg. -Wurde in seinem Kampfe, der in zweifachem Sinn ein Kampf um Sein oder -Nichtsein war, noch wochenlang beständig hin und her geschleudert -zwischen Hoffnung und Verzweiflung. - -„Wo ist das Herz?“ hatte er einen Arzt gefragt. - -„Zwischen der vierten und fünften Rippe, von oben gezählt.“ - -Und hatte, zuhause angelangt, an seinem abgezehrten Brustkorb die -Einschußstelle abgetastet, entschlossen, nicht eine Sekunde länger zu -leben, wenn keine Hoffnung mehr sei. - -Beobachtend lauschte er dem Leben und dabei immer in sich selbst hinein, -folgte, ein zum Tode und zum Leben Entschlossener, jedem Fingerzeig, den -die Umwelt gab, sprach mit Kindern und mit Greisen, mit Soldaten und mit -Pferden. Das Erblicken eines Hundes, der, von einer Frau fortgezerrt, -auf Jürgen zugestrebt war, veranlaßte ihn, sofort zum Hundehändler zu -gehen. - -„Haben Sie einen Schnauz, der alles erträgt, nur nicht die Trennung von -dem, dem seine Sympathie gehört?“ - -Im sonnigen Hofe stand reglos ein junger, schwarzer Dackel, der, mit -allen Vieren gleichzeitig, plötzlich hochflog, in der Luft herum, und -wieder reglos stand, die verdrehten Augen auf Jürgen gerichtet. - -„Einen Schnauz nicht. Aber das Mistvieh können Sie billig haben, mitsamt -der Leine.“ - -„Er hat gute Augen. Wird er mit mir gehen?“ Der reglose Dackel starrte -auf eine Fliege, hüpfte auf sie zu, starrte in den Himmel. - -„Der geht mit jedem.“ - -Freudig bellend zerrte der Dackel, die Schnauze am Boden, Jürgen hinter -sich her, aus dem Hofe hinaus. - -Von dieser Stunde an unternahm Jürgen täglich weite Fußtouren. Er -beachtete nicht Sonnenbrand, nicht Regen und hatte keine örtlichen -Ziele. Für ihn gab es Tag und Nacht, ob er wanderte und sann oder -schlief und träumte, nur das eine Ziel. Alles und nichts war ihm -Wegweiser. Er existierte zwischen dem Ziele, das, ein farbloses, -winziges Pünktchen in immer gleicher Entfernung am Horizont: seine große -Hoffnung, und dem Schuß ins Herz, der die Erlösung von dem Wahnsinn: -seine letzte Freiheit war. - -Der alte Landarbeiter, krummgebogen von der Lebensarbeit, rückte die -Mütze und deutete: „Ihr Hund jagt. Wenn ihn der Forstaufseher vor den -Lauf bekommt, schießt er ihn.“ - -Aus dem hochstehenden Kleefeld tauchten, wie bei einem flüchtenden -Känguruh, abwechselnd Kopf und Hinterteil des Dackels empor, der die -Kleespitzen übersprang und bei jedem Satze mit den Vorderpfoten tief -einfiel. Jürgen horchte auf das scharfe, verzweifelte Bellen. - -Und da geschah es, daß Jürgen, dem jede Sekunde Zeit unschätzbar teuer -war, der um keinen Preis, den dieses Leben zu bieten hatte, eine Sekunde -lang das Suchen nach sich selbst unterbrochen hätte, dieses große Suchen -auf Leben und Tod unterbrach, um erst den gefährdeten Hund zu suchen. - -„Was ist der Mensch und was der Sinn, der ihn bewegt? Wer vermöchte zu -sagen, weshalb im Opfer der tiefste Sinn des Menschendaseins ruht?“ -flüsterte Jürgen, als er wieder auf dem Wege war, und begann zu weinen, -laut und schrankenlos, in plötzlicher, wunderbarer Befreiung. - -Der Hund dackelte neben dem Schluchzenden her, hügelan, zum Waldrand. -Vor Jürgen lag die Tiefebene, unübersehbar weit und breit. - -Zahllose junge Menschen, Mädchen, gebunden fragenden Blickes, -Gymnasiasten, Studenten aller Nationen, standen dichtgedrängt, wartend -auf das Wort. Immer neue Züge, endlos, traten aus den Wäldern heraus, -tauchten hinter den fernen und fernsten Hügelketten auf. Millionen -füllten die Tiefebene. Auf der Schulter eines jeden Einzelnen kauerte -ein unheimlich und böse blickendes Tier. Aller Augen waren auf Jürgen -gerichtet. - -„Folgt euren Vätern nicht, den alten Verdienern!“ - -Da bäumten sich die Tiere, bleckten die Zähne, sträubten die -Rückenhaare, schlugen ihre Krallen in die Schultern der stöhnenden -Jugend, stießen grauenvolle Töne aus, die Schreck und Machtlosigkeit -verursachten im Blick und im Gesichte der Jugend. - -„Stoßt sie herunter von euren Schultern! Reißt sie heraus aus eurem -Gefühle! ... Macht euren guten Müttern Sorge! Erkennt eure Aufgabe, und -dann erfüllet sie! Tut ihr das nicht, dann geht ihr zugrunde, so oder -so“, begann Jürgen die große Rede an die Jugend, die zu einer -Darstellung seines Lebens wurde und immer wieder von neuem in der -Warnung gipfelte, nicht so zu tun, wie er getan habe. - -Stunden später blickte Jürgen, sitzend am Fensterplatz des kleinen Cafés -und vor sich schon das Glas voll dampfenden Glühweines, dunkel fragend -hinüber auf das Knopfexporthaus und wußte nicht, wie und wann und -weshalb er hierher gekommen war. - -Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt war das immer wieder geschehen, -daß Jürgen bei den Wanderungen in und außerhalb der Stadt unversehens -sich an Stellen befunden hatte, die durch Erlebnisse in der -Vergangenheit für ihn bedeutsam geworden waren. - -Da steht ein Mensch plötzlich vor einem schwarzen Tunnelloch, ganz -erfüllt von dem Gefühle, vor diesem Tunnelloch schon einmal gestanden zu -haben in einem früheren Dasein. Er sitzt auf einem Kilometerstein, -sinnend und tief im Leben, und Strauch und Baum, der stille Waldsaum und -die schnurgerade Landstraße, die wie ein weißer Pfeil sich in den fernen -Horizont verliert, sind rätselhaft vertraut dem unruhvollen Herzen. - -Die Wand, die Jürgens Blick in das Gewesene verstellte, rückt lautlos -weg, und auf ihn brechen die Erinnerungen ein, so plötzlich und mit so -lebendiger Gewalt, daß Jürgen in Abwehr schreit und bebt, gepackt von -Angst, erdrückt zu werden von dieser Fülle, von des Bewußtseins -blitzesschneller Wiederkehr. - -Um nicht Schaden zu nehmen an der Seele, bemüht sich der von Glück und -Sein Durchblitzte und Durchstürmte, das wiederkehrende Bewußtsein bewußt -nur stückweise in sich einzulassen, lenkt sich ab, zählt, entlang dem -Waldsaum, genau dreihundert Tannenstämme. Zählt und zählt, bebt und -schluchzt und zählt, bedrängt von dem anstürmenden, von Stamm zu Stamm -nachdrängenden Bewußtsein, das eine Sturmflut schmerzhaft lebendiger -Erinnerungen mitführt, die ihm zum großen Rückblick werden, tief zurück -in das Gewesene. - -Viele Tage und in Maß und Abwehr durchwachte Nächte waren vergangen, ehe -Jürgen sich bereitet und stark genug gefühlt hatte, bewußt -Erinnerungsorte aufzusuchen. Wieder sitzt er eine ganze Nacht in der -Verbrecherkneipe und liest von den verwüsteten Gesichtern das schon -Gewußte und das Bewußtsein des Verrates, den er begangen hat, sich von -neuem in die Seele und weiß, schweren Herzens, wieder: ‚Wer in diesem -Leben nicht tief im Leide und im Kampfe steht, steht tief in Schuld.‘ - -Die Straßenkreuzung, wo er Abschied genommen hatte von Katharina, glüht -und brennt. Lange steht er, zögert er. Und plötzlich überquert er sie -doch, in fliegender Eile, Schauer im Rückenmark. - -In dem Maße, wie er das Bewußtsein wiedergewinnt, bricht auch das Leben -in seiner Milliardenfältigkeit, die zu empfangen und zu begreifen der -Mensch ein Menschenalter zur Verfügung hat, wieder in ihn ein, stoßweise -und mit solcher Wucht, daß er, bebend wie der Auferstandene, vor Sonne, -Blau und Lärm steht, vor dem kleinen Leben der Straße, den schweren -Pferden, die arbeitstreu das Backsteinfuhrwerk bauwärts ziehen, vor dem -Sperling, der auf dem Pflaster hüpft und in die Ritzen pickt. - -Den Dackel an der Leine, schritt Jürgen aus der Stadt hinaus, auf der -Quaimauer flußentlang, vorüber an einer Reihe Proletarierfrauen, die, -kniend am Ufer, farbige Wäsche wuschen, an durchnäßten Kindern vorbei, -die Hafenanlagen bauten aus Sand und Dreck. - -Die letzten Häuser blieben zurück. Der Fluß glitt blau und grün entlang -der sanften Hügelkette. Am Ende der Quaimauer stand ein Angler. Jürgen -schritt wie im Traume auf ihn zu. Er wunderte sich nicht. „Sind Sie Herr -Knipp?“ - -„Das ist mein Name.“ Hinter Herrn Knipp lag auf dem Damm ein besonders -langer Reserveangelstock modernster Konstruktion. Auch einen neuen -Rucksack aus braunem Segeltuch mit Lederbesatz hatte er sich angeschafft -und einen Feldstuhl. Der Angler war erst achtundfünfzig Jahre alt und -sah, wie er so dastand, zufrieden mit sich und der Welt, ganz -unverändert aus, als ob seither kein Tag vergangen wäre. - -Wie damals saß Jürgen auf der Quaimauer, Beine flußwärts gestreckt. -Millionen kleiner Mücken standen in der drückenden Schwüle knapp über -der Wasserfläche. In der Nähe pochte die Stadt. Die Zeit stand still und -glitt zurück. - -„Erinnern Sie sich noch des arbeitslosen Schwindsüchtigen, mit dem ich -hier gesessen hatte?“ - -Ruhevoll hob Herr Knipp die Angelschnur heraus und senkte sie in schönem -Schwunge wieder in das glucksende Wasser. „Heute beißen sie gut an, weil -ein Wetter im Anzuge ist ... Der Bursch lebt schon lange nicht mehr. Der -war ein Unzufriedener. Den hat die Unruhe aufgezehrt, die -Unzufriedenheit mit dem Gang der Welt. Schließlich hat er noch geklaut, -kam ins Gefängnis und ist auch drin gestorben.“ - -Ein Mensch, überschlafen, träge, nimmt sich ein dutzendmal vor, endlich -aus dem Bett zu steigen, und bleibt immer wieder liegen. Unversehens -sind seine Beine außerhalb des Bettes. Wie in diesem Trägen vielerlei -zusammen das plötzliche Aufstehen bewirkt hat, ohne daß das treibende -Vielerlei ihm ganz bewußt geworden wäre, tauchten auch in Jürgen die -Fahrt mit dem Agitator zur Arbeiterversammlung im ‚Paradies‘, die -fünftausend Arbeitergesichter, das fahle Gesicht des Schwindsüchtigen, -Katharinas Rufe: ‚Die Befreiung!‘ und seine Empfindungen und Gedanken an -jenem Abend nur schemenhaft und unkontrolliert auf; dennoch verursachte -all dies zusammen, in Verbindung mit des Anglers Worten, in Jürgen, der -sich sofort erhob, plötzlich das feste Gefühl, er habe sich nun lange -genug ausschließlich mit sich beschäftigt. - -Und aus einer ganz andersartigen Unruhe als der, die ihn veranlaßt -hatte, den erinnerungsträchtigen Angelplatz aufzusuchen, löste sich -sofort der Gedanke, Bewußtsein und Erkenntnis dürften nicht um ihrer -selbst willen erstrebt und gepflegt werden. - -„Es ist erfüllt. Nun ist es Zeit“, sagte Jürgen, freudigen und schweren -Herzens zugleich, als er zielbewußt weiter schritt. - -Der wolken- und sonnenlose Himmel sah krank aus. Die Landschaft glich -einem schlechten, leblosen Riesengemälde. Der Dackel zögerte, blieb -stehen, legte sich in die Straßenmitte. Die Vögel waren verschwunden. -Kein Ton. Jürgen betrachtete das meterhohe Getreidefeld. Die völlige -Reglosigkeit der Halme und Ähren machte auf ihn den Eindruck der -Unnatürlichkeit und Schaurigkeit. Erst als Jürgen schon weit voraus war, -erhob sich der Hund. - -Vereinzelte Tropfen fielen schwer in die Wind- und Luftlosigkeit. Als -wäre der Himmel zu spannungslos und matt, den Sturm zu entfesseln, -endete der Regen wieder. In der Nähe schrie ein Tier angstvoll dreimal. -Und eine Sekunde später durchzuckte der trockene Blitz das ganze Tal. - -Wie auf ein Zeichen mit dem Taktstock bewegten sich alle Ähren -gleichzeitig. Das Tal begann zu singen. Blitze aus weiter Ferne zogen -schwachen Donner nach. Der Apfelbaum fröstelte. Ein alter Lappen machte -einen Sprung quer über die Straße, blieb einen Windstoß lang -ausgebreitet in halber Höhe gegen das Getreidefeld gepreßt und fegte, -knapp über den Ähren, davon. - -Jürgen hatte die Feldhütte noch nicht erreicht, da krachte der erste -Donnerschlag, begleitet von schräg herabplatzenden Wassermassen. Der -Dackel saß zu Füßen Jürgens und bellte hinaus in den Wolkenbruch. - -Als Felder, Wald und Fluß, das ganze Tal, im Wetter verschwunden -gewesen, wie aus dem Nichts wieder entstanden, ging Jürgen auf eine -weiße, unübersteigbar hohe Mauer zu, schnellen Schrittes, im Antlitz das -Lächeln der Befreiung. - -Das schwere Bohlentor öffnete sich, eine Droschke fuhr heraus. Jürgen -lief ein paar Schritte, sprang durch das Tor, hinein in die -Irrenanstalt. Das Tor schlug zu. „Führen Sie mich zum Arzt.“ - -Der stand noch in der Freihalle, kam schon geeilt. - -„Sie warten wohl schon lange auf mich?“ - -„Aber nein! Das heißt, ich freue mich natürlich sehr, Sie zu sehen, Herr -Kolbenreiher ... Beruhigen Sie sich! Bleiben Sie hier! Nur Ruhe!“ rief -er beschwörend Jürgen zu, der ruhig lächelnd zurückblickte. - -Der patschnasse Dackel kam, die Leine hinter sich herschleifend, -angerast, bellte vorwurfsvoll an dem geschlossenen Tor hinauf und -drückte sich, auf der Hinterbacke sitzend, Vorderpfoten aufgestellt, -gegen die Mauer, blinzelte unzufrieden in den noch mit schwarzblauen -Wolken verhängten Himmel. Rasch hintereinander krachten zwei -Donnerschläge. - -„Was kostet jetzt der Aufenthalt in Ihrem Hause, mit voller -Verpflegung?“ - -„Das richtet sich nach der Lage und Einrichtung des Zimmers. Sozusagen -nach der Klasse. Dreierlei Preise!“ - -„Wie bei der Eisenbahn!“ - -„Wir berechnen Ihnen den Aufenthalt und selbstverständlich auch die -Behandlung so kulant wie möglich. Sie wollen und werden ja auch wieder -gesund werden.“ Der Arzt nannte die Summen. - -„Und lebenslänglich?“ - -„Das verbilligt die Sache allerdings noch erheblich.“ - -„Dann am besten lebenslänglich, was?“ - -„Sehr vernünftig!“ - -„Nicht wahr! ... Sind viele Kranke hier?“ - -„O, ganz besetzt! Sehr interessante Patienten!“ - -„Und alle nicht bei sich?“ - -„Dies allerdings dürfte für alle so ziemlich zutreffen, im großen ganzen -... So kommen Sie doch schon her!“ rief er dem Oberwärter zu. - -„Ich wollte, Herr Doktor, ich wollte diese Mauer, diese hohe Mauer, mir -nur einmal von innen ansehen. Ich danke schön. Guten Tag, Herr Doktor“, -sagte Jürgen, kehrte um und schritt zum Tore hinaus. - -„Entronnen!“ Auf der Brücke zog er den Revolver und ließ ihn senkrecht -hinunterfallen in das Wasser. „Entronnen!“ In den Schultern fühlte er -das Leben und die Kraft zu neuem Anfang. - -Jürgen fuhr mit der Straßenbahn bis zur Endstation, erreichte Minuten -später die Haustür. Sie war nur angelehnt. - -„Ja, was denken Sie! Die ist nie zuhaus“, sagte Katharinas Wirtin. -„Jetzt ist das nicht mehr so wie früher. Jeden Tag Versammlungen! Und -dann noch in die Redaktion. Jetzt erscheint die Zeitung ja täglich. Und -wenn sie ja einmal da ist, sitzt sie gleich die halbe Nacht an der -Schreibmaschine. Jetzt gibts viel Arbeit. Ein Buch schreibt sie auch. So -dick! Das soll gedruckt werden.“ - -Ein volles Bücherregal nahm die ganze Längswand ein. Auch ein Teppich -verschönte das Zimmer. Auf dem Tische lag ein gedruckter Handzettel: Die -Aufforderung zum Besuche der heutigen Massenversammlung im ‚Paradies‘. - -Gegenüber dem ‚Paradies‘ standen zwei Schutzleute, unter dem Eingangstor -drei Arbeiter, die sich lebhaft unterhielten, und neben einem Stoße -Broschüren ein vierzehnjähriger Knabe, der sicheren Blickes auf Jürgen -zuschritt: „Der Kampf um den Sozialismus!“ - -Jürgen kaufte die Broschüre. „Wer spricht heute Abend?“ - -„Meine Mutter: die Genossin Lenz.“ - -‚Halt! Halt! Das ist zu viel, zu viel Glück, zu viel Glück.‘ Bebend -blickte er auf Katharinas Sohn, der äußerlich ganz und gar so aussah, -wie der Gymnasiast Jürgen, der vor dem Buchladen gestanden und nicht den -Mut gehabt hatte, einzutreten und die Broschüre zu kaufen. - -Mit den drei Arbeitern trat Jürgen in den Saal, schloß leise die Tür. -Fernher klang in die Stille die Stimme Katharinas. - - - - - Werke von Leonhard Frank - - - DIE RÄUBERBANDE - - Roman 20. Tausend - - Im Insel-Verlag, Leipzig - - - DIE URSACHE - - Roman 20. Tausend - - Im Insel-Verlag, Leipzig - - - DER MENSCH IST GUT - - Gebunden. 25. Tausend - - Rascher-Verlag, Zürich - - Volksausgabe: 80. Tausend - - Kiepenheuer Verlag, Potsdam - - - Copyright by DER MALIK-VERLAG, Berlin 1924 - Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks und - der Übersetzung, vorbehalten. Druck der Spamerschen - Buchdruckerei in Leipzig - - - - - Anmerkungen zur Transkription - - -Der Verfasser hat offenbar Absatzumbrüche mitten in Sätzen, meist vor -dem Wort _während_, absichtlich eingefügt, zum Beispiel auf Seite 204, -Seite 250 oder Seite 310. Dies wurde belassen wie in der Druckvorlage. - -Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. - -*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BÜRGER *** - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the -United States without permission and without paying copyright -royalties. 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Hart was the originator of the Project -Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be -freely shared with anyone. For forty years, he produced and -distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of -volunteer support. - -Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed -editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in -the U.S. unless a copyright notice is included. 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms -of the Project Gutenberg License included with this eBook or online -at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. If you -are not located in the United States, you will have to check the laws of the -country where you are located before using this eBook. -</div> -</div> - -<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: <span lang='de' xml:lang='de'>Der Bürger</span></p> -<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Leonhard Frank</p> -<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: January 14, 2022 [eBook #67161]</p> -<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p> - <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.</p> -<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DER BÜRGER</span> ***</div> - -<div class="frontmatter chapter"> -<p class="halftitle"> -LEONHARD FRANK / DER BÜRGER -</p> - -</div> - -<div class="frontmatter chapter"> -<p class="aut"> -LEONHARD FRANK -</p> - -<h1 class="title"> -DER BÜRGER -</h1> - -<p class="subt"> -ROMAN -</p> - -<div class="centerpic logo"> -<img src="images/logo.jpg" alt="" /></div> - -<p class="run"> -1.-44. TAUSEND -</p> - -<p class="pub"> -<span class="line1">DER MALIK-VERLAG / BERLIN</span> -</p> - -</div> - -<div class="frontmatter chapter"> -<p class="ded"> -DER BÜRGERLICHEN JUGEND GEWIDMET -</p> - -</div> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="chapter" id="I"> -<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a> -I -</h2> - -</div> - -<p class="first"> -Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: -‚Wenn noch ein Auto kommt, bevor die Turmuhr -fünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die Broschüre -... Ehrenwort?‘ -</p> - -<p> -„Ehrenwort!“ sagte er heftig zu sich selbst und las -wieder den Titel der philosophischen Abhandlung. -Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der Blick -zuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt. -Der Zeiger stand knapp vor fünf. -</p> - -<p> -Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen -vorbei und war weg. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen. -Jürgen wollte eintreten. -</p> - -<p> -Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück. -‚Was wird mein Vater sagen, wenn ich sie kaufe? ... -Und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich sie -kaufen will und dazu den Mut nicht habe? ... Oder -würde er verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen -in den Laden ginge?‘ -</p> - -<p> -Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft, -kämpfte er weiter, las den Titel, sah, wie der große -Zeiger einen letzten Sprung machte. Und fühlte, -während er sich „Feigling! Elender Feigling!“ schimpfte, -daß sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das -Phantom des Vaters stand neben ihm. -</p> - -<p> -Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. -Und Jürgen dachte: Ich kann auch jetzt -<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a> -noch hinein. Aber sofort! ... Hat der Buchhändler -eben gelächelt? Über mich? -</p> - -<p> -Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt -über die gepflegte, sonndurchwirkte Anlage weg, -in der die kreisenden Rasenspritzen Regenbogen -schlugen. -</p> - -<p> -‚Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht -hinein.‘ -</p> - -<p> -Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen -Laden zurück. -</p> - -<p> -‚Jetzt! ... Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe, -wird das Leben auch in Zukunft mit mir -machen, was es will. Das ist klar.‘ -</p> - -<p> -Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens, -Karl Lenz, Sohn eines Universitätsprofessors. Jetzt -natürlich kann ich nicht hinein, dachte Jürgen und -ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine -Bonne an. Die gestärkten Röcke strotzten, und der -elegante Kinderwagen federte von selbst auf dem gewalzten -Sandwege am Tulpenrondell vorüber. -</p> - -<p> -Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige -Gesicht stolz erhoben, in verhaltenem Trabe -ein kleines Mädchen im Knieröckchen so feurig auf -dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten, -nackten Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe -machte sofort Halt, als der im Wagen strampelnde -Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden -Hampelmann ausstreckte. -</p> - -<p> -Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter -Pferdeungeduld feurig an der Stelle weiter -und sah, Brust vorgestreckt, über den abgerissenen, -abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der -sich aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte -<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> -und, das Drama der Armut im Blick, offenen Mundes -den Reichtum bestaunte. -</p> - -<p> -Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem -Jungen, der seine Augen von dem glänzenden Mädchen -erst losriß, als er sich beobachtet fühlte. Dunkel -fragend sah er empor zu Jürgen, der, plötzlich breit -durchzogen von einem bisher nie empfundenen Gefühle, -zu Karl Lenz sagte: „Man muß Empörer werden.“ -</p> - -<p> -„Warum Empörer? Wegen dieses Ferkels?“ -</p> - -<p> -Der Junge blickte seine schwarzen, skrofulösen -Beine an, beschämt empor zu Jürgen, in dem, unter -dem Grinsen des Mitschülers, das Eigene wieder versank. -Verwirrt ging er, während Karl Lenz in den -Konditorladen eintrat, heimwärts, geduckt die teppichbelegte -Treppe hinauf. -</p> - -<p> -Es war drückend still im Hause. Unbeweglich saß -Jürgen in seinem Zimmer vor dem blauen Schulheft -und grübelte darüber nach, ob es einen Gott gäbe. -</p> - -<p> -Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter -der Schulkameraden, grinsten höhnisch. Und -die Tante sagt: ‚Nein, so einen unselbständigen Jungen, -wie du einer bist, gibt’s nicht mehr. Ein Unglück -für deinen Vater!‘ -</p> - -<p> -Preisgegeben ließ er sich von den Gespenstern der -Verachtung weiter quälen, stellte ihnen entgegen: ‚Ich -habe doch gestern zum Professor gesagt: Abraham, -der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich -ein guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer -Vater! Meiner Ansicht nach dürfte Gott so einen -Befehl auch gar nicht geben.‘ -</p> - -<p> -Fragt die Tante sehr erstaunt: ‚Was, das hast du -gewagt?‘ -</p> - -<p> -Und Jürgen läßt sich sofort vom Professor, der geantwortet -<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> -hatte: ‚Wie kommen Sie zu dieser unerlaubten, -sträflichen Ansicht?‘, bei der Tante in Schutz -nehmen: ‚Ihr Neffe hat öfters solche erstaunlich selbständigen -Ansichten.‘ -</p> - -<p> -Sagt die Tante erfreut zum Vater: ‚Da ist er ja gar -keine Schande für die Familie.‘ -</p> - -<p> -Und der Vater sagt: ‚Entschuldige, daß ich dich -ein ‚Schmähliches Etwas‘ genannt habe ... Wie -konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig -behandeln. Unbegreiflich!‘ Jürgen lächelte bescheiden. -</p> - -<p> -Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers -wurde nach dem Gange zu geöffnet. Und Jürgen -hörte, wie der Vater, der krank im Lehnsessel saß, -zu Herrn Philippi, einem alten Freunde des Hauses, -sagte: „Ich werde ihn in den Staatsdienst stecken. -Ein kleiner, verschrullter Amtsrichter oder so etwas -Ähnliches! Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft, -unvernünftig und lebensuntüchtig ist er.“ -</p> - -<p> -Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf -und Schultern gedemütigt seitwärts und hob die -Brauen, daß die Stirn Falten bekam. -</p> - -<p> -„Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so -jungen Menschen liegen. Niemand kennt das Maß -einer unfertigen Seele“, sagte Herr Philippi. Die -Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht -funkelten. ‚Auch die Seele deiner Frau hast du so -lange mit dem Lineal gemessen, bis dieses leidensfähige -Gemüt einging wie ein krankes Vögelchen‘, -dachte er und sagte es nicht. -</p> - -<p> -Auf dem Gange fing die Tante Herrn Philippi ab. -„Wie gehts ihm? Wie ist mein Bruder?“ -</p> - -<p> -„Unvernünftig, meine Liebe!“ Herr Philippi wollte -fortstelzen. -</p> - -<p> -<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> -Sie erwischte ihn noch am Ärmel. „Daß dieser bedeutende -Mann so einen Sohn haben muß! Wir -schämen uns seiner ... Heute sagte der Vater zu -ihm: Du kommst in ein Bureau. Das ist das beste -für dich ... Und das ist auch meine Meinung.“ -</p> - -<p> -Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen -des alten Mädchens, betrachtete, als zähle er sie, -schweigend die mit der Brennschere sorgfältig gedrehten, -an Stirn und Schläfen platt angedrückten, -schwarzen zwölf Fragezeichen. „Dann erziehen wohl -Sie ihn, falls Ihr Bruder sterben sollte? ... Kann -ich mit Jürgen sprechen?“ -</p> - -<p> -„Ja, ich erziehe ihn. Er schreibt gerade seinen -deutschen Aufsatz: ‚Die Bedeutung der Tinte im -Dienste des Kaufmanns‘. Sprechen können Sie ihn -jetzt nicht. Der Stundenplan muß streng eingehalten -werden.“ -</p> - -<p> -Die Tante stellte sich zu einer langen Erzählung zurecht. -„Hören Sie! Jürgen war schon als ganz kleiner -Junge so ängstlich, daß er nicht einmal zu sprechen -wagte. Wir alle glaubten, er sei stumm geboren. -Eines Tages – er war vier Jahre, es war auf dem -Geflügelmarkt – sagte er plötzlich: ‚Hühnchen‘. Das -war sein erstes Wort. Nicht etwa ‚Papa‘, wie bei -andern Kindern. Bewahre! ‚Hühnchen‘ sagte er und -lockte: ‚Bi bi bi bi‘, so mit Zeigefinger und Daumen ... -Sollte man das für möglich halten? Diese Unselbständigkeit! -... Er ist ganz seiner Mutter nachgeschlagen. -Auch sie war so lebensuntüchtig. Hatte Angst vor -Mäusen – ich habe ja auch schreckliche Angst vor -Mäusen –; aber als einmal eine Maus gefangen worden -war, weinte seine Mutter stundenlang, weil die Maus -ertränkt wurde.“ -</p> - -<p> -<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> -Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, weil er sie am -gehäkelten Spitzenkragen gepackt hielt und noch -immer nicht sprach. Da schüttelte er sie kräftig und -sagte: „Bi bi bi bi! Adieu!“ -</p> - -<p> -Abweisend blickte sie ihm nach, horchte dann einige -Minuten strengen Gesichtes an Jürgens Tür. Der saß -glühend am Tisch und schrieb, da er anderes Papier -nicht gleich gefunden hatte, in das Schulheft eine lange -Abhandlung mit vielen Beweisen, daß es einen Gott -nicht geben könne. ‚Folglich bin ich Atheist.‘ Dann -erst quälte er sich den deutschen Aufsatz ab. -</p> - -<p> -Und übergab das Heft am Montag dem Professor, -der die Beweise für das Nichtexistieren Gottes fand -und sie dem Religionslehrer schickte. -</p> - -<p> -Das Ereignis wurde zu einer Professorenkonferenz -und hatte nur deshalb keine schlimmen Folgen für -Jürgen, weil die Tante plötzlich an der Stirnseite des -Konferenztisches stand und die Lehrerrunde sprengte: -„Herrn Kolbenreiher hat soeben der Schlag getroffen -... Mein Bruder war ein bedeutender Mann.“ -Ihre Hand wanderte, wurde mitleidig geschüttelt. -</p> - -<p> -„Aber mit seinem Sohne müssen die Herren viel Geduld -haben ... Mit viel Geduld und Strenge gehts vielleicht.“ -</p> - -<p> -Daran solle es nicht fehlen. Vom Rektor wurde -sie hinausgeleitet. „Jürgens schwankende Seele ... -Seine Unsicherheit“, vernahmen die Zurückbleibenden. -</p> - -<p> -„Folglich bin ich Atheist.“ Der Religionslehrer riß -die Augen auf. „Bin ich Atheist, schreibt der Junge. -Und gestern diese Geschichte mit Abraham!“ -</p> - -<p> -Der Geschichtsprofessor beruhigte ihn: „Das Leben -wird dem Burschen diese Gedanken schon abschleifen -... Gut und schnell auffassen tut er ja.“ -</p> - -<p> -„Bei mir nicht“, sagte der Mathematikprofessor und -<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> -hielt die Hand erhoben. Sie rügten noch seine außerordentliche -Faulheit und schlossen die Konferenz. -</p> - -<p> -Der Rektor schüttelte schweigend die Hand der -Tante. Furchtsam und unbeachtet stand Jürgen daneben. -Und ging dann, vor Schuldgefühl vornüberhängend, -mit der aufrechten Tante nachhause, wo -Weihrauchwolken standen. -</p> - -<p> -Gegen Abend zog sie den willenlos Folgenden ins -Sterbezimmer, in dem der Vater, bekränzt und kerzenumstanden, -schon auf der Bahre lag, schlug das Kreuz -und benutzte den Endschwung gleich dazu, auf des -Toten Gesicht zu deuten: „An dir hat er keine Freude -gehabt. Das kannst du jetzt in deinem ganzen Leben -nicht mehr gut machen ... Bete! Drei Vaterunser! -Und dann komm und iß.“ -</p> - -<p> -Das Gewicht des Hauses legte sich auf den gekrümmten -Rücken. Die still brennenden Kerzen beleuchteten -des Vaters Gesicht, das in Unzufriedenheit -erstarrt war, als habe ihn auch der Tod enttäuscht. -</p> - -<p> -Lange kämpfte Jürgen mit sich; endlich versuchte -er, das wächserne Gesicht im Blick, die gefalteten, -toten Hände zu berühren. Und wich zurück, als er -das bekannte Lächeln der Verachtung zu sehen glaubte. -</p> - -<p> -Ganz langsam kniete er nieder, die befohlenen drei -Vaterunser zu beten. Kein Wort fiel ihm ein. Seine -flehende Hand wollte die äußerste Spitze des Leintuches -berühren. Und sank kraftlos zurück. -</p> - -<p> -Der Tote lag unberührbar, in ungeheuerer Macht. -</p> - -<p> -Da drehte sich ein Stachelrad brennend schmerzhaft -in Jürgens Kopf und schleuderte die Worte ab: -‚Na, du schmähliches Etwas!‘ -</p> - -<p> -„Na, du schmähliches Etwas!“ wiederholte Jürgen -verächtlich und wandte, irr blickend, Kopf und -<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> -Schultern gedemütigt weg, weil er glaubte, nicht er, -sondern der Tote habe gesagt: Na, du schmähliches -Etwas! -</p> - -<p> -Die Macht des Toten vor sich, die Macht der Tante -hinter sich, kniete er ausgeliefert und verloren, schief -und tränenlos im Zimmer. -</p> - -<p> -„Jetzt bist du eine Doppelwaise“, sagte die Tante, -ergriff seine Hand und führte ihn hinaus. -</p> - -<p> -Jürgen versuchte gar nicht mehr, Übersicht über -seine Gefühle zu gewinnen. In die Träume schickte -die vergewaltigte Seele drohende Ungeheuer. Der -Vater stand immer daneben. -</p> - -<p> -Und wenn ihn der qualenerfüllte Schlaf entließ, -empfing ihn die Tante, schüttelte verächtlich den -Kopf und gab ihm Briefe mit an die Professoren, in -denen sie für Jürgen, der leider nicht seinem bedeutenden -Vater nachgeschlagen sei, um Nachsicht -bat. -</p> - -<p> -In der schon gewohnheitsmäßigen Erwartung, wieder -gedemütigt zu werden, drehte Jürgen Kopf und Schultern -weg, als im Zimmer plötzlich Herr Philippi -stand. „... Da fällt mir ein: Sie glauben vermutlich -immer noch, Ihr Vater habe nicht viel von Ihnen -gehalten? Selbst wenn es so wäre, dürften Sie ihm -das weiter nicht nachtragen. Er war ein alter, kranker -Mann, der den Glauben an das Gute eingebüßt hatte. -So einer ist leicht blind und ungerecht.“ -</p> - -<p> -Als habe der Vater gesprochen, war der Knabenkopf -immer tiefer gesunken. -</p> - -<p> -Der Vater ist tot ... Seine Autorität lebt, dachte -Herr Philippi. Und log: „Ich habe Ihnen etwas von -Ihrem Vater auszurichten. Kurz vor seinem Tode war -ich bei ihm. Er saß im Sessel, Sie wissen ja, saß wie -<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> -immer im Sessel und blickte zum Fenster hinaus auf -einen vorüberfliegenden Vogelschwarm ... Es waren -Stare“, dichtete Herr Philippi. „Plötzlich sagte Ihr -Vater nachdenklich: ‚Meinem Jürgen habe ich zeitlebens -furchtbar unrecht getan. Warum eigentlich? -Das ist mir ein Rätsel.‘ ... Er wußte es nämlich tatsächlich -selbst nicht ... ‚Denn ich bin mir ja in -Wirklichkeit ganz klar darüber, daß Jürgen ein‘, -wie sagte er doch, ‚ein ausgezeichneter und sogar sehr -kluger Junge ist ... Das muß man ihm bei Gelegenheit -einmal sagen‘.“ -</p> - -<p> -Es gelang Herrn Philippi, wie ein Knabe zu lächeln, -als er auch die Autorität der Tante zu erschlagen versuchte: -„Und dieses alte Mädchen, Ihre Tante! Aus -der brauchen Sie sich natürlich gar nichts zu machen. -So eine vertrocknete Schachtel ist ja ganz ahnungslos! -Das ist übrigens die volle Wahrheit ... Besuchen -Sie mich einmal.“ -</p> - -<p> -‚Diese Bürgeraristokratie sagt sich: Wir lassen -unsere Kinder nicht hungern, nicht arbeiten; wir -asphaltieren ihnen mit Körperpflege, reichlichem Essen, -höherem Unterricht und Geld, mit viel Geld eine breite, -glatte Straße ins Leben ... Die psychischen Ungeheuer, -die sie in die Seelen stoßen, zählen nicht. -Da fallen die allerhand Autoritäten über so einen -Jungen her, nehmen ihm, auch wenn er beim Spiel -mit Sand mehr Phantasie und Geist offenbart, als sie -in ihrem ganzen Leben, seine Selbständigkeit und -wundern sich dann über seine Unselbständigkeit‘, -dachte der Alte auf der Straße, während Jürgen vor -der Tante stand. -</p> - -<p> -Sie blickte beim Sprechen hinaus in den Garten, -steil aufgerichtet. „Ich habe alles gehört. Du hast -<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> -keine Zeit, Herrn Philippi zu besuchen. Deine Schularbeiten -sind wichtiger. In meinen Händen liegt deine -Erziehung.“ -</p> - -<p> -Ein Automat sagte: „So eine vertrocknete Schachtel! -Du bist ja vollkommen ahnungslos ... Das ist übrigens -die volle Wahrheit.“ -</p> - -<p> -Die Tante schnellte entsetzt herum. Auch Jürgens -Mund blieb in übergroßem Schrecken geöffnet. „Was -hast du gesagt? Wiederhole, was du eben gesagt -hast!“ -</p> - -<p> -„Das habe doch ich nicht gesagt.“ Sein Tonfall -der Überzeugung riß der Tante die Empörung ins -Gesicht. „Du leugnest, was ich mit meinen Ohren -gehört habe?“ -</p> - -<p> -Jürgen, überzeugt, diese Worte nicht gesprochen -zu haben, bekam irrblickende Augen. -</p> - -<p> -„Das werde ich morgen dem Herrn Rektor schriftlich -mitteilen. Du übergibst ihm den Brief. Und jetzt ... -Pfui!“ -</p> - -<p> -Erst nachdem die Tante schon draußen war, fühlte -Jürgen ein paar Tropfen auf seinem Gesichte kalt -werden und wußte, daß sie ihn angespuckt hatte. -</p> - -<p> -Hitze und Kälte wechselten einigemal schnell in -seinem Körper. Er trat ans Fenster, starrte in den -Garten. Die farbigen, kopfgroßen Glaskugeln steckten -still und öde auf den grünen Stangen. Aus dem Nachbargarten -klangen Sonntagnachmittagsgeräusche herüber. -Abgerissene Worte. Jemand spielte Ziehharmonika. -</p> - -<p> -Ein wilder Schrei saß Jürgen im Halse. Er hob -die linke Schulter, die rechte, rhythmisch die Beine. -Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten Tanz. -</p> - -<p> -Am Montagmorgen schlich er, eine Stunde früher -<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> -als gewöhnlich, ohne Brief geduckt aus dem Hause, -begann plötzlich zu laufen, rannte, galoppierte weit -aus der Stadt hinaus, quer über Schollenäcker, hügelan -und -ab, bis vor das schwarze Tunnelloch im Berg -und glotzte blöd hinein, kehrte um und kam, verschwitzt -und keuchend, noch rechtzeitig im Schulzimmer -an, wo der Professor eben mit dem steilgestellten -Bleistift auf das Katheder klopfte. -</p> - -<p> -Die Blicke der sechzig Augenpaare trafen beim Bleistift -zusammen, der in dieser Stellung immer etwas -Außergewöhnliches bedeutete. Der Professor zog die -Stille hinaus. Jeder lauerte: ‚Wen trifft es?‘ Jürgen -hatte das Gefühl, sein Herz sei so rund und so groß -wie ein schwarzer Mond und schlage nicht mehr. -</p> - -<p> -„Leo Seidel! ... Sie wissen, daß Ihr Vater Sie -leider aus dem Gymnasium herausnehmen muß. Umstände -halber! ... Euer bisheriger Schulkamerad verläßt -euch heute. Er muß verdienen ... Leo Seidel, -Armut ist keine Schande.“ -</p> - -<p> -Der Sohn des Briefträgers blickte beschämt ins -Tintenfaß. -</p> - -<p> -„Auch ein Hausdiener kann sich heraufarbeiten ... -In Amerika, zum Beispiel, soll das öfter vorkommen“, -sagte der Professor und lächelte. „Diesen Vormittag -bleiben Sie noch in unserer Mitte“, zeigte er, mit -einer Handbewegung über die ganze Klasse weg. Und -deutete mit dem Daumen zur Tür: „Dann treten Sie -in Ihren neuen Pflichtenkreis ein.“ -</p> - -<p> -Kreisende Rasenspritzen. Sonne. Hinter dem eleganten -Kinderwagen reitet das Mädchen auf dem -Steckenpferd in gezähmter Pferdeungeduld durch das -Klassenzimmer. Offenen Mundes starrte Jürgen den -abgezehrten Proletarierjungen an. -</p> - -<p> -<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> -„Wollen Sie etwas sagen, Kolbenreiher? ... Nun? -Heraus damit!“ -</p> - -<p> -Die übergroße Erregung fraß Jürgens ganze Kraft -auf. Seine gelähmten Lippen stammelten: „Ich wollte -nichts sagen.“ -</p> - -<p> -„Karl Lenz! ... Sie haben vorhin mit Adolf Sinsheimer -Fingerhakeln geübt; erklären Sie uns jetzt den -Flaschenzug.“ Auf dem Katheder stand ein kleines -Modell. „Nichts? ... Setzen Sie sich. Und lassen -Sie sichs von Leo Seidel erklären.“ -</p> - -<p> -Während hinten das Duell der Fingerhakelnden ausgetragen -wurde und der Professor mit den kleinen -Bleigewichten des Modells spielte, erklärte die einsame -Stimme Leo Seidels das Gesetz des Flaschenzuges. -</p> - -<p> -Jürgen litt unter der Feigheit, seine Meinung nicht -geäußert zu haben, brüllte in Gedanken: ‚Nur weil -Seidels Vater arm ist? Das ist gemein. Gemein! ... -Alles ist gemein.‘ Glotzte besinnungslos den Professor -an, bis der ihm zurief: „Kolbenreiher, wo werden -Flaschenzüge gebraucht?“ -</p> - -<p> -„Flaschenzüge?“ -</p> - -<p> -„Aber gewiß, Flaschenzüge! Nun? ... Leo Seidel, -sagen Sie es ihm.“ -</p> - -<p> -„Zum Beispiel am Neubau. Da kann ein einzelner -Arbeiter mit einem Flaschenzuge ...“ -</p> - -<p> -„Mit Hilfe!“ -</p> - -<p> -„... mit Hilfe eines Flaschenzuges Lasten in die -Höhe winden, die zehnmal so schwer sind wie der -Arbeiter. Infolge der Übersetzung!“ -</p> - -<p> -‚Infolge der Übersetzung‘, sollte Jürgen wiederholen, -hatte aber ‚Überrumplung‘ gesagt. -</p> - -<p> -Die ganze Klasse durfte lachen. Lachte noch auf -dem Heimwege, wo alle sich von Leo Seidel, der vielleicht -<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> -schon morgen einen Handwagen durch die -Stadt schieben mußte, abgesondert hielten. -</p> - -<p> -Auch Jürgen, gelähmt, wagte nicht, ihn zu begleiten. -Nur in Gedanken trat er mit kühner Ritterlichkeit -zu ihm. ‚Ich fürchte die Meinung der andern -nicht.‘ Ließ sich von Seidel verehren. -</p> - -<p> -Beim Mittagessen beachtete ihn die gefährlich -schweigende Tante nicht. Schickte das Dienstmädchen, -mit dem Befehl, Jürgen habe den Brief am nächsten -Morgen dem Herrn Professor zu übergeben. -</p> - -<p> -Erst nachmittags konnte Jürgen so viel Entschlußkraft -finden, Seidel zu besuchen. In der Kellerstube -stand der Armeleutegeruch, der das Vorhaben des -schwindsüchtigen Briefträgers, den Sohn studieren zu -lassen, als schwer ausführbar erscheinen ließ. Seidel -saß still am Fenster und sah hinaus in den stinkenden -Hof. Qual und Scham drehten Seidels Kopf und -Schultern zur Seite, so daß er plötzlich Jürgen glich, -der sich im selben Moment zum erstenmal in seinem -Leben frei fühlte. -</p> - -<p> -Er reichte Seidel eine in Leder gebundene Weltgeschichte, -konnte scherzen: „In der biblischen -Geschichte steht zwar: Gehe hin, verkaufe alles, -was du hast, und ... Aber nicht deshalb gebe -ich dir das Buch. Denn ich glaube ja gar nicht an -Gott.“ -</p> - -<p> -Die fahle Mutter lag im Bett. Der Säugling, wegen -dessen unerwünschter Ankunft der Vater den Sohn -aus dem Gymnasium hatte nehmen müssen, begann -zu schreien. Die Bettlade knackte. Vier Kinder, in -verschiedenen Größen, bleich und blutleer, standen -reglos da, mit großen Augen. -</p> - -<p> -„Hast eine schöne Weltgeschichte. Zum Andenken -<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> -an mich. Hast eine Freude ... mit hundertsiebenunddreißig -Illustrationen.“ -</p> - -<p> -Ohne den Blick zu erheben, sagte Seidel, daß er -voraussichtlich bald der Klassenfünfte geworden wäre. -</p> - -<p> -Und Jürgen rief: „Also deshalb, weil dein Vater -kein Geld hat, mußt du Hausdiener werden, anstatt -vielleicht ... Minister. Das ist ja! Alles was recht ist!“ -</p> - -<p> -„Mein Gott, was redet ihr Buben!“ Die Wöchnerin -spuckte in den Napf. „Was ihr redet!“ -</p> - -<p> -Jürgen redete sich in Zorn hinein: „Absolut! Das -ist maßlos ungerecht. Gemein ist das. Einfach hundsgemein! -Wahrhaftig, das sage ich jedem, ders hören will.“ -Auch Seidel hatte rotgefleckte Wangen bekommen. -</p> - -<p> -Die Mutter beruhigte den Säugling. Und zu den -Knaben: „Mein Gott, das sind ja lauter Dummheiten.“ -</p> - -<p> -„Nehmen wir an“, sagte Herr Philippi, „es sei -schon von vornherein eine Dummheit gewesen von -dem schwindsüchtigen Briefträger mit der großen -Familie, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken.“ -</p> - -<p> -„Wenn Leo Seidel doch gescheit ist! ... Postdirektor -werden kann! Wer kanns wissen?“ -</p> - -<p> -„Ganz recht, wer kanns wissen. Mancher Dummkopf -wird Professor; manch kluger Kopf muß sich -eine Kugel in den Kopf schießen. So ist das heutzutage. -Und so wird es auch noch einige Zeit bleiben. -Man muß sich schon überlegen, ob man Hoffnungen -wecken soll, denen von vornherein die Armut schwer -im Wege liegt ... Da eröffnen sich verschiedenerlei -wüste Perspektiven.“ -</p> - -<p> -„Ich würde Seidel aber doch helfen, wenn ich Sie -wäre. Sie sind reich.“ -</p> - -<p> -Alt lächelnd Herr Philippi: „Und ich, ich habe nicht -<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> -den Mut dazu.“ Und schwankend zwischen Abweisung -und Güte: „Du gehst jetzt nachhause, verstehst du, -nachhause, und hältst alles aus. Verschwinde!“ -</p> - -<p> -Die Tante ging selbst zum Briefträger, holte die -Weltgeschichte zurück. Und einen Tag später stand -die ganze Begebenheit auf den Gesichtern der Mitschüler. -</p> - -<p> -Die Lücke, die Seidel hinterlassen hatte, war durch -Vorrücken ausgefüllt worden. -</p> - -<p> -„Jetzt trägt er Backsteine an einem Neubau.“ -Karl Lenz machte das Backsteintragen vor, krümmte -den Rücken, ächzte. -</p> - -<p> -„Und so las er Roßballen auf.“ Adolf Sinsheimer, -Sohn eines reichen Knopffabrikanten, tat, als habe -er einen Besen in der Hand, und log: „Ich sah, wie -Seidel die Straße kehrte ... Die frischen Roßballen -kehrte er zusammen.“ -</p> - -<p> -Vorsichtig und ängstlich näherte Jürgen sich dem -Gelächter, stimmte ein, ohne zu wissen, weshalb die -andern lachten. -</p> - -<p> -„Braucht Seidel zum Sammeln der Roßballen eine -Weltgeschichte?“ Alle sahen Jürgen erwartungsvoll -an, hielten das Lachen noch zurück. -</p> - -<p> -Da erlachte Jürgen sich die Achtung seiner Mitschüler: -„Zum Roßballensammeln braucht man, weiß -Gott, keine Weltgeschichte.“ -</p> - -<p> -Sie waren zufrieden, nahmen ihn auf. Jürgen sagte -noch: „Zuhause bei ihm ...“ Er hielt sich die Nase -zu. „Und jetzt dazu noch Roßballen!“ Alle hielten -sich die Nase zu. -</p> - -<p> -Plötzlich wich aller Druck von ihm, bei dem Gefühle, -nicht mehr allein zu stehen. Und Jürgen nahm -sich vor, von nun an immer und in allem so zu sein, -wie die andern. Das würde das Leben leicht machen. -</p> - -<p> -<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> -Am nächsten Morgen saß Leo Seidel wieder an -seinem Platze, in einem neuen Anzug, das Gesicht -verschlossen. -</p> - -<p> -‚Warum, warum habe ich das getan!‘ Jürgens -Körper bewegte sich selbsttätig nachhause, ins Wohnzimmer. -</p> - -<p> -„Erst lies mir aus der Zeitung vor! Dann gehst -du an deine Schularbeiten.“ Die Tante stickte weiter -am Stramintischläufer ‚An Gottes Segen ist alles gelegen‘. -Mit dem Schnabel hielt diese von Rosengirlanden -durchzogene Wortkette ein Papagei, der -noch unfertig in der Mitte saß. -</p> - -<p> -Der Satz – im Reichstag sei wieder ein Antrag -zur Einführung einer hohen Vermögenssteuer gestellt -worden – kam automatisch aus Jürgens Mund. ‚Ich -allein habe zu Seidel gehalten, habe mit Herrn Philippi -gesprochen. Jetzt darf er das Gymnasium weiter besuchen. -Ich! Ich habe das veranlaßt. Hilfe! Ich!‘ -</p> - -<p> -‚Jawohl, Jürgen ist der Beste von euch allen. Hat -zu mir gehalten. Der hat Mut. Hat mich gerettet. -Ihr habt mich verraten.‘ -</p> - -<p> -‚Und ich? ... Ich auch!‘ Jürgen sah die Tante -irr an. „Wie schrecklich!“ -</p> - -<p> -„Das ist ja einstweilen nur ein Antrag. Lies weiter! -Zuerst die Todesanzeigen!“ -</p> - -<p> -„Man muß gut sein ... So lange gut sein, bis man -etwas Schlechtes gar nicht mehr zu tun vermag.“ -</p> - -<p> -„Merke dir das“, sagte die Tante und zog dem -Papagei einen grünen Faden durch das Auge. „Alle -Todesanzeigen!“ -</p> - -<p> -„Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“ -‚Weshalb hat Herr Philippi mir nicht gesagt, daß er -Seidel helfen werde. Dann wäre ich vielleicht nicht -<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> -so furchtbar gemein gewesen ... Jetzt ist alles verloren.‘ -</p> - -<p> -Jürgen bemerkte nicht, daß die Tante vom Dienstmädchen -gerufen worden war. -</p> - -<p> -Er überschrie noch eine Weile seine qualvolle Ohnmacht -mit den Worten: „Gott, dem Allmächtigen, hat -es gefallen ...“, blickte die Nadel an, die im Papageienauge -steckte, den Faden, der lang und grün herunterhing, -umklammerte in Gedanken mit beiden Händen -ein Messer und drückte es langsam in seine Brust. -</p> - -<p> -Entwurzelt taumelte er beim Unterricht mit, mußte -schon nach einigen Wochen Leo Seidel weichen, der -sich bald zum Primus in die Höhe arbeitete und, da -er vorsichtig und schwer angreifbar strebte, von der -ganzen Klasse gefürchtet wurde. Wer sein eigentlicher -Retter war, erfuhr Seidel nie. Auch dann nicht, -als er sich eines Tages mit der ganzen Klasse gegen -Jürgen verband und von der Weltgeschichte sprach, -die er bei sich zuhause absolut nicht finden könne. -</p> - -<p> -Jürgen flüchtete aus dem immer schwerer werdenden -Drucke der Einsamkeit wiederholt zu seinen Mitschülern -und, vor Ekel, sich angebiedert zu haben, -immer wieder zu sich selbst zurück und wieder zu den -Mitschülern. Schloß sich endlich enger dem Sohne -des Knopffabrikanten an, zu dem ihn anfangs der gemeinsame -Haß gegen die Mathematikstunde hingezogen -hatte und später seine immer stärker werdende -Bewunderung von Adolf Sinsheimers Fähigkeit, außerhalb -der Schule wie ein Erwachsener ohne Schwierigkeit -mit dem Leben fertig zu werden. -</p> - -<p> -„Wenn du eine Geliebte hast, ist das noch gar nichts; -wenn du aber eine Geliebte hast und zu ihr sagen kannst: -Heute nacht, meine Liebe, bin ich verhindert, tut -<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> -mir leid, der Klub geht denn doch vor – dann erst -bist du ein Mann, gewissermaßen. Bedauerlicherweise -jedoch wird man in den Klub junger Kaufleute erst -nach dem Abiturientenexamen aufgenommen. Ich -werde dir das Klubhaus zeigen. Livrierte Diener -natürlich!“ -</p> - -<p> -„Wenn man aber gar nicht Kaufmann wird?“ -</p> - -<p> -„Dann ist man ein Esel, heutzutage ... Sag mal, -aber ehrlich, wie oft warst du schon krank?“ -</p> - -<p> -„Dreimal: Scharlach, Masern und Halsentzündung.“ -</p> - -<p> -„Du bist ein Säugling, gewissermaßen. Die elegante -Männerkrankheit, wie oft du die gehabt hast!“ -</p> - -<p> -„Vielleicht habe ich sie schon sehr oft gehabt; ich -weiß nur nicht, was du meinst.“ -</p> - -<p> -Sie waren vor dem Klubhause angelangt. Klaviergepauke -und Refraingesang klangen durch das beleuchtete, -offene Fenster herunter. Adolf sang gleich mit: -</p> - -<div class="poem-container"> - <div class="poem"> - <div class="stanza"> - <p class="verse">„Es haben zwei ne ganze Nacht</p> - <p class="verse">Zusammen in einem Bett verbracht.</p> - <p class="verse">Was ham se wohl gemacht?“</p> - </div> - </div> -</div> - -<p class="noindent"> -Das vereinzelte, noch unterdrückte Lachen, das -plötzlich zum Sturm anwuchs, galt dem Vortragenden, -der auf dem Podium stand und wortlos demonstrierte, -was die beiden gemacht haben. -</p> - -<p> -„Es geht doch nichts über lustige junge Leute“, -sagte zu seiner verschwitzten, verstaubten Frau ein -ziegenbärtiger, mit Waldlaub geschmückter Sonntagsausflügler -und schob den Kinderwagen weiter. -</p> - -<p> -Oben sang der junge Kaufmann mit speckiger -Stimme. Das Klaviergepauke trug den Refrain herunter: -„Was ham se wohl gemacht?“ -</p> - -<p> -„Kalte Umschläge, meinst du, was, gegen die Halsentzündung?“ -</p> - -<div class="poem-container"> -<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> - <div class="poem"> - <div class="stanza"> - <p class="verse">„Bei Nacht und auch bei Licht ...“</p> - </div> - </div> -</div> - -<p class="noindent"> -Mitten in das stürmische Gelächter hinein fragte -Jürgen zögernd: „Drückt dich auch alles so? Ich -meine, deinetwegen und auch wegen der andern. Das -ganze Leben, so wie es ist?“ -</p> - -<div class="poem-container"> - <div class="poem"> - <div class="stanza"> - <p class="verse">„Gebetet, gebetet ham se nicht!“</p> - </div> - </div> -</div> - -<p class="noindent"> -„Unsinn! Ich bitte dich, was soll denn drücken! -Der Kragen, der Schuh drückt.“ Er streckte den Fuß -vor: „Wirklich, beinahe jeder angemessene Schuh -drückt. Aber elegant, was? Übrigens, ich spitze -einmal hinauf. Warte du hier.“ -</p> - -<p> -Da drehte Jürgen sich elefantenhaft langsam und -ging davon, bis zu der Ansammlung waldlaubbehangener -Sonntagsausflügler, Kleinbürgerfamilien, -Ladenmädchen mit ihren Freunden, die, verstaubt, -verschwitzt und grün, stillgeworden unter der zischenden -Bogenlampe standen und den Anblick eines -Mannes auf sich wirken ließen. -</p> - -<p> -Der lag, Augen geschlossen, schwer atmend, Schaum -auf den Lippen, langgestreckt im Staub, vor einem Bankhause, -auf dessen Schaufenster erhabene Goldbuchstaben -verkündeten: Kapital und Goldreserven 500 Millionen. -</p> - -<p> -Der Kleinbürger mit dem Ziegenbart sagte energisch: -„Epileptischer Anfall! Man muß die Daumen herausziehen. -Dann vergeht der Anfall.“ -</p> - -<p> -Sofort streifte der Mann mit einem blitzschnellen -Blick die über ihn gebeugten Gesichter und richtete -sich, von zehn Armen unterstützt, sitzlings auf, ließ -den Kopf hängen: „Das macht alles nur das Elend. -Ich wollte mit der Straßenbahn fahren, hatte aber das -Nötige nicht ... Alles nur das Elend!“ -</p> - -<p> -Jürgen wurde von Ekel gepackt. Er simuliert, -dachte er und stieß brutal durch den Kreis. -</p> - -<p> -<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> -Ein Erlebnis aus seiner frühen Jugend stieg auf. -Auch damals lag auf dem Pflaster ein Mann: jung, -mit eleganter, blutiger Wäsche, strenggebügelten, -großkarierten Hosen, Brillantringe an den Fingern -und Schaum auf den Lippen. Die seidene Weste ist -aufgerissen, die Brust freigelegt. -</p> - -<p> -‚Bei dem war der Schaum blutrot. Die offenen -Augen starrten gläsern. Das war echt und entsetzlich; -der vorhin hat simuliert ... Aber wie furchtbar muß -es ihm gegangen sein, bis er sich entschloß, so schamlos -Theater zu spielen, sich dermaßen zu demütigen vor -den vielen Menschen ... Es wird ja vollkommen -gleichgültig, ob seine Krankheit echt oder nur simuliert -war; im Gegenteil, es ist unendlich viel grauenvoller, -daß er nur simulierte. Denn wie muß es ihm gegangen -sein.‘ -</p> - -<p> -Bestürzt über seine Gedankenlosigkeit, rannte er -zurück. Der Platz war leer, die Bogenlampe zischte -nicht mehr, leuchtete ruhig und weiß. Jürgen lief umher, -suchte vergebens, stand wieder vor dem Bankhause -und sah die erhabenen Buchstaben an. Deutlich -sah er den Bettler liegen. -</p> - -<div class="poem-container"> - <div class="poem"> - <div class="stanza"> - <p class="verse">„Beim Sang der Nachtigallen</p> - <p class="verse">Ist Urselchen gefallen.</p> - <p class="verse">Wohl über große Steine?“</p> - </div> - </div> -</div> - -<p class="noindent"> -schallte der Gesang vom Klubzimmer herunter. -</p> - -<p> -„Nein über, nein unter Karlchens Beine!“ -</p> - -<p> -„Und daran geht man vorüber, hinauf in den Klub, -und singt so ein Lied. Wie furchtbar! ... Nun, und -jetzt?“ fragte Jürgen, ging weiter. „Ist wieder etwas -dazu gekommen, zu allem andern? ... Man muß unausgesetzt -wach sein, bis man zu etwas Schlechtem -gar nicht mehr fähig ist.“ Das war ein Gelübde. -</p> - -<p> -<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> -Da hatte er einen Gedanken, der ihn so erleichterte, -daß er, obwohl es Sonntag und zehn Uhr abends war, -die Hausglocke des Lackierermeisters zog. -</p> - -<p> -„... Gewiß, Sie haben recht. Es hätte selbstverständlich -auch bis morgen Zeit gehabt; aber ich ging -gerade hier vorbei ...“ -</p> - -<p> -„Also, was für eine Tafel soll ich denn schreiben?“ -</p> - -<p> -‚Betteln gestattet‘, geht nicht, dachte Jürgen. -‚Betteln erwünscht‘, geht auch nicht. „Schreiben Sie -– auf eine hübsche Tafel: ‚Hier wird Armen gegeben‘.“ -</p> - -<p> -„Und die willst du wirklich aufhängen? Du wirst -dich wundern, mein Junge.“ -</p> - -<p> -„Nein, die andern werden sich wundern.“ -</p> - -<p> -„Das wird wahr sein! Nun, also wie denn? ... -Weiß auf schwarz? Oder schwarz auf weiß? Man -kann auch etwas Farbiges machen. Oder Goldschrift?“ -</p> - -<p> -„Vielleicht Gold auf schwarz?“ -</p> - -<p> -„Schön. Macht sich gut ... ‚Hier wird Armen gegeben‘, -nicht wahr? Mein Gott, so einen Unsinn hab’ -ich auch noch nie geschrieben, kannst du mir glauben.“ -</p> - -<p> -Mit Hilfe des Dienstmädchens nagelte Jürgen die -Tafel am Gartenzaun fest, an der Rückseite des -Hauses, wo die Tante selten hinkam, und gab dem -Dienstmädchen Geld. „Wird das für einen Monat -reichen?“ -</p> - -<p> -Die goldenen Worte ‚Hier wird Armen gegeben‘ -glänzten schön. Darunter hatte Jürgen einen Zettel -geklebt, auf dem stand ‚Zwischen neun und elf Uhr -vormittags‘. Das war die Zeit, während der die Tante -täglich in der Kirche saß. -</p> - -<p> -In Gliedern und Gelenken unbeherrscht wie ein -junger Hund, langgeworden und immer in so unruhvoller -<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> -Eile, daß der vornüberhängende Körper einen -schlotternden spitzen Winkel zum Boden bildete, -stolperte Jürgen in die Jünglingstage, in seinen siebzehnten -Frühling hinein, fragenden Blickes beständig -und vergebens in sich selbst und bei der Umwelt -suchend nach der erlösenden Antwort. -</p> - -<p> -Maiwind und Spiellust wehten gepflegten, langbeinigen -Mädchen, die im öffentlichen Parke ihren -Reifen nachjagten, die Röcke bis zum Kinn. Seidenblauer -Frühlingshimmel war über Tulpen- und Hyazinthenbeete, -billardglatte Rasenflächen und knospende -Baumkronen gespannt. Alte Gouvernanten sahen -rosig aus. -</p> - -<p> -Unschlüssig, ob er, wie auf dem Wege hierher, ziellos -weiter eilen oder verweilen solle, blickte Jürgen -sich um, sog den Blumenduft ein. Wind schüttelte die -langen, störrischen Zotteln. Einige Male mußte er -sie aus der Stirn streichen, um die fünfzehnjährige, -in den Schultern noch eckige Katharina – Tochter -des Universitätsprofessors Lenz – betrachten zu -können, die, sichtbar vom Leben schon gezeichnet, -fremden Blickes die jubelnden Kinder beobachtete, bis -sie Jürgens unverwandten Blick fühlte. Da sah sie -erst in den Teich, wo alte Karpfen und armlange -Goldfische aus den Schlinggewächsen langsam zur -Wasseroberfläche zogen, langsam wieder in die Tiefe, -und las dann weiter in dem Buche. -</p> - -<p> -Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich -sich selbst. Die Himmelsbläue über ihr -sprang mit. -</p> - -<p> -Mit gemachtem Interesse betrachtete Jürgen Bäume, -Teich, Fontäne und umkreiste dabei in immer kleiner -werdendem Abstande die Lesende, deren ganzer -<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> -Körper, obwohl sie reglos saß, sichtbar spröder wurde, -je näher Jürgen kam. -</p> - -<p> -Unvermittelt und aus noch fünf Schritt Entfernung: -„Das sind Karpfen, richtige Karpfen. Man kann sie -essen.“ Unheimlich dumm, daß ich das sagte, dachte -er und setzte sich. -</p> - -<p> -Sie las weiter, das Gesicht interessiert schief gestellt -zur Buchseite. -</p> - -<p> -Da traf sein ratlos bittender Blick zusammen mit -ihrem, in dem frühzeitige Bewußtheit noch mit Mädchenscheu -zu kämpfen hatte. -</p> - -<p> -Als ob diese dunkle Last der Bewußtheit, die wie -das zukünftige Ich in ihrem Blicke stand, losgespalten -von der lieblichen Kindlichkeit, mit der sie den Rock -über die Knie hinunterzupfte, in Jürgen das Gefühl -erschlossen hätte, ihr schicksalsverwandt zu sein, empfand -er das erstemal in seinem Leben ganz plötzlich -rückhaltloses Vertrauen. Dies kam mehr in Blick -und Ton zum Ausdruck, als in seinen Worten. -</p> - -<p> -Um die beiden herum war die Umwelt. Rede und -Antwort im Innersten der Umwelt. Frage und Antwort. -Und eine Frage Katharinas, auf die er antworten -konnte: „Vielleicht trägt man alles Erlebte -in sich. Das reißt uns hin und her. Und täglich und -stündlich kommt Neues hinzu, und alles ist furchtbar. -Alles! Das ganze Leben, so wie es ist.“ -</p> - -<p> -Und als brächte dies Erleichterung, bat er, sie möge -mit ihm spazierengehen. Katharina erhob sich sofort. -Er überragte sie um Kopfeslänge. Sie verschwanden -in dem streng beschnittenen Laubgang von Korneliuskirschen. -</p> - -<p> -Er blickte hinunter auf ihren gebräunten, eigenwillig -gebogenen Nacken und, da sie aufsah, auf ihren -<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> -kleinen, festen Mund. Erbebend blieben sie stehen -und wandten erbebend sich ab. -</p> - -<p> -„Ich weiß schon genug über Sie. Mein Bruder hat -mir viel von Ihnen erzählt. Auch das von der Weltgeschichte! -Er ist dumm. Er begreift gar nichts.“ -</p> - -<p> -Das Vertrauen ließ ihn erzählen, daß er die Tafel -‚Hier wird Armen gegeben‘ an den Gartenzaun angeschlagen -habe. „Aber das sprach sich so schnell herum, -daß noch in der selben Woche an einem einzigen -Vormittag mehr als dreihundert Bettler kamen. Jetzt -weiß ich natürlich schon, daß all das gar nichts nützt. -Und wenn meine Tante die Tafel nicht heruntergenommen -hätte, würde ich selbst es getan haben ... -Was aber soll man denn tun?“ -</p> - -<p> -Erst nach zwei langen Minuten und als läse sie es -von ihren Schuhspitzen ab: „Es gibt nur eines: man -muß sich opfern, muß sich selbst ganz und gar aufopfern.“ -</p> - -<p> -„Das ist, das ist kolossal, ganz kolossal, was Sie da -sagen ... Aber wie? Wie soll man sich aufopfern?“ -</p> - -<p> -Schon eine Weile bekam die Tante, die seit Wochen -und auch heute ihren täglichen, vom Arzte verschriebenen -Spaziergang im Öffentlichen Parke gemacht -hatte, keinen Atem mehr. Endlich stürzte sie zu Bewußtsein -und auf die Bank zurück, auf der sie saß, -und raffte ihren Häkelbeutel zusammen, schoß nach -in den Laubgang, packte den sie überragenden Jürgen -bei der Hand und führte ihn entschlossen und wortlos -weg von Katharina. -</p> - -<p> -In durchwachten, verzweiflungsvollen Nächten kam -Jürgen zu dem Schlusse, erst nachdem er für immer -aus dem Hause gelaufen sei, könne er Katharina -wieder vor die Augen treten. -</p> - -<p> -<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> -Als das Nervenfieber lebensgefährlich zu werden -drohte, mußte der Hausarzt die Behandlung dem -Spezialisten überlassen. Erst nach Wochen war des -Kranken Gefühlskathedrale wieder so weit in Ordnung, -daß er eines Morgens, beim Erwachen, sich allen Eindrücken -weich darbieten konnte. -</p> - -<p> -Die Tante schob die auf dem Nachtkästchen stehenden -Medizinflaschen zur Seite, schlug ihr Haushaltungsbuch -auf, in das sie des toten Vaters ‚Letztwillige Verfügungen -über Jürgen‘ geschrieben hatte, und begann -das viele Seiten lange Erziehungsprogramm abzulesen. -</p> - -<p> -Die Worte tropften glühend in den Ausgelieferten -hinein. -</p> - -<p> -„... Und deshalb nehme ich mir das heilige Versprechen -ab, den letzten Sproß der alteingesessenen -Patrizierfamilie Kolbenreiher, deren Geschichte bis in -den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurückverfolgt -werden kann, nach dem Willen seines unvergessenen -Vaters zu erziehen und ihn Beamter werden -zu lassen, da er die Fähigkeit zu etwas Größerem -nach meines seligen Bruders Meinung nicht hat ... -So ists, Jürgen, siehst du. Nun werde mir bald wieder -gesund ... Wenn du auch nicht so bist, wie du sein -könntest, ich habe dich doch lieb.“ Sie sah ihn freundlich -an, streichelte seine nassen Haare und rief erschrocken: -„Du hast ja wieder Fieber.“ -</p> - -<p> -Wangen und Augen glühten. Die rechte Gesichtshälfte -lachte. -</p> - -<p> -Die Ärzte wurden geholt, Eisbeutel aufgelegt. Der -Rückfall war kurz und heftig. -</p> - -<p> -Jürgen verließ das Bett als verschlossener Jüngling, -dessen früherer Wille, sich durch die Wirrnisse der -<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> -Jugend durchzuschlagen, unterbunden war. Die Tante -äußerte oft ihre Zufriedenheit. Denn nur, wenn sie -ihn fragte, antwortete er, ganz nach Wunsch ‚Ja‘ oder -‚Nein‘. Niemals ‚Nein‘, wenn ein ‚Ja‘ erwartet wurde. -</p> - -<p> -Seine grenzenlose Nachgiebigkeit lieferte ihn allen, -selbst viel jüngeren Schülern, aus. Körperlich wuchs -er gleichsam über sich selbst hinaus, wurde lang und -sehr stark. Das Lernen für das bevorstehende Examen -verschob er von Tag zu Tag, fuhr Schlittschuh, -stundenlang flußaufwärts. -</p> - -<p> -Die eisbrechenden Fischer schimpften ihm wütend -nach, da hier das Schlittschuhlaufen äußerst lebensgefährlich -war, der vielen großen, quadratischen -Wasserlöcher wegen. -</p> - -<p> -In dem Gefühle, durch eine körperliche Kraftleistung, -durch große Schnelligkeit seine seelische -Gebundenheit lösen zu können, sauste Jürgen an den -unverhofft sich auftuenden grünen Wasserlöchern -vorbei, bis die Nacht ihn überraschte. -</p> - -<p> -Schnurgerade führte die Landstraße stadtwärts; der -Fluß dagegen zog einen mächtigen Bogen, so daß -Jürgen zu Fuß schneller nachhause gekommen wäre, -als auf dem Eise. -</p> - -<p> -Der geheime Todeswunsch, der ihm das imaginäre -Messer in die Hand gegeben und ihn vor das Tunnelloch -getrieben hatte, veranlaßte ihn auch jetzt, blind -in die Gefahr hineinzurennen. -</p> - -<p> -Die Fischer waren schon lange heimgegangen. -Jürgen stand dunkel in der unwirklichen Helligkeit, -die das Eis ausstrahlte. Zehn Schritte von ihm entfernt -war tiefschwarze Nacht. Das Eis knackte leise. -Tierische Laute stieß Jürgen aus, während er als -schwarzer rechter Winkel stadtwärts sauste. -</p> - -<p> -<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> -War er knapp an einem Wasserloch vorbeigeglitten, -dann klang sein wilder Schrei der Genugtuung in die -Einsamkeit. -</p> - -<p> -Näher der Stadt mehrten sich die Wasserlöcher, -links und rechts von ihm, manchmal unerwartet dicht -vor ihm. -</p> - -<p> -Angespannt und stumm geworden, zog er seine -Bogen um den Tod herum. -</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="chapter" id="II"> -II -</h2> - -</div> - -<p class="first"> -Ungeduldig hörten die Abiturienten dem Rektor -zu, der die lange Entlassungsrede hielt. Endlich stieg -sein Brustkorb hoch, der Zeigefinger deutete zum -Fenster. Sofort fühlten alle, daß jetzt die Schlußworte -kamen. -</p> - -<p> -Sie sollten denn hinaustreten ins ernste Leben, -tüchtige, brave Männer werden. Der Zeigefinger -deutete noch zum Fenster hinaus. Es war vollkommen -still geworden. „Geachtete Männer!“ Da sanken -Finger und Brustkorb. Und die Entlassenen brachen -los von den Bänken. -</p> - -<p> -Der Lärm entfernte sich rollend, wurde immer -dünner, drang noch einmal, wieder stärker geworden, -von der Straße aus mit der Sonne durch das Fenster -zu den leeren Bänken herein. Und verebbte schnell. -</p> - -<p> -In die Stille des leeren Schulsaales klang eine -Stimme, die aus dem Gitter der Dampfheizung zu -kommen schien: „Ich möchte mich noch bedanken -für alles, was die Herren Professoren in den Jahren -meiner Schulzeit Gutes an mir getan haben.“ Ah, -<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> -ihr niederträchtigen Schufte, setzte Leo Seidel in Gedanken -hinzu und trat weg von der Dampfheizung, -schob seine Schulter unter die ausgestreckte Hand -des Rektors: „Wenn der Herr Rektor jetzt auch noch -die große Güte haben wollten, mir den weitern Lebensweg -zu ebnen ...“ -</p> - -<p> -„Nicht jeder Deutsche kann die Universität besuchen. -Das ist doch einleuchtend.“ -</p> - -<p> -‚Denn woher sollten sonst die Briefträger und Hausdiener -genommen werden.‘ -</p> - -<p> -„Aber die Schreiberstelle beim Stadtmagistrat bekommen -Sie. Ich habe schon gesprochen ... Machen -Sie mir Ehre. Werden auch Sie ein geachteter Mann.“ -</p> - -<p> -Die Professoren ließen dem Rektor den Vortritt, -verbeugten sich in höflicher Erregung immer weiter -von der offenen Tür weg. -</p> - -<p> -Adolf Sinsheimers Gesicht, das aus einem Rahmen -oval heraussprang, denn er trug seit Jahren ein -schwarzes Seidenband straff über die wegstehenden -Ohren gespannt, damit sie sich mit der Zeit anlegen -sollten, war während der Prüfung so aufgedunsen, -daß er das Band abnehmen mußte. Sofort wurden -beide Ohren lebendig, schnellten nach vorne. „Jetzt, -mein Lieber, geht das Leben an. Weißt du, was das -bedeutet: das Leben? Ich bin grandios glücklich. -Morgen kaufe ich mir einen steifen Hut und trete -dem Klub junger Kaufleute bei ... Man ist ganz -unter sich im Klub. Keine Weiber!“ -</p> - -<p> -Jürgen setzt nach einem hartnäckigen Kampfe mit der -Tante durch, daß er nicht Staatsbeamter werden muß, -sondern Philosophie studieren darf, schreibt eine Abhandlung, -die ungeheueres Aufsehen macht, und wird daraufhin -zum Bürgermeister gewählt. „... Das ist Glück!“ -</p> - -<p> -<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> -„Du kannst dich darauf verlassen, daß das Glück -ist.“ Während Adolf Sinsheimer von den Anzügen -sprach, die er sich machen lassen werde, wurde -Jürgen Besitzer einer Fabrik, in der zwanzigtausend -Arbeiter beschäftigt sind, und bestimmt mit einem -Federzuge, daß alle zwanzigtausend Arbeiter, alle -Beamten und er selbst von jetzt an ganz gleichmäßig -am Gewinn beteiligt werden. -</p> - -<p> -Der alte Buchhalter sagt bestürzt: ‚Aber ich bitte -Sie, Herr Direktor ...‘ -</p> - -<p> -‚Genug! Ich will das so. Das ist nur gerecht.‘ Und -Jürgen schickt den alten Buchhalter freundlich, aber -entschlossen fort. -</p> - -<p> -„Zuhause werde ich meinem Alten ganz kalt erklären: -Du, unter uns gesagt, ohne Lackschuhe und -Frack bringst du mich nicht auf den Abiturientenball -... Hör mal, Jürgen – aber Diskretion bitte –, -ich sage dir, daß ich mich auf dem Ball nicht mit -unseren Tanzstundengänschen abgeben werde. Kann -mir nicht passieren!“ -</p> - -<p> -‚Und wenn einem von euch in meiner Fabrik – das -heißt, in unserer Fabrik – etwas zustößt, dann bekommt -er eine Rente sein Lebenlang.‘ -</p> - -<p> -„Ich halte mich glatt an die Schönheiten, die tadellos -tanzen können. Oder hast du etwas gegen einen -Busen einzuwenden? Ich nicht.“ -</p> - -<p> -Als Adolf sich verabschiedet hatte – „Ich werde -Gelegenheit nehmen, dir heute nachmittag meinen -Besuch abzustatten“ –, dachte Jürgen darüber nach, -weshalb er vor einigen Tagen zum ersten Male in -seinem Leben ernstlich über das Dasein und die Not -der andern nachgedacht hatte. ‚Weshalb nicht schon -Jahre vorher? Weshalb gerade an dem Abend, als -<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> -ich nach dem Essen im Garten stand und im Nachbarhause -die zornige Männerstimme und gleichzeitig vereinzelte -Töne einer Ziehharmonika hörte?‘ -</p> - -<p> -Bisher habe er doch immer nur, und auch dann -nur veranlaßt durch ein qualvolles persönliches Erlebnis, -über sich selbst und seine eigene Not nachgedacht; -und in jener Minute, ohne jeden äußeren Anlaß -und unerforschlicherweise plötzlich darüber, warum -Phinchen, dieses gutmütige und nicht dumme Dienstmädchen, -ihr Lebenlang in der Küche stehen, Stiegen, -Schuhe und Fenster putzen, Schlafzimmer aufräumen -müsse, häßlich gekleidet und ungebildet sei, zum Beispiel -nie lese, gute Bücher gar nicht verstehe, während -die Tante und er die sorgfältig zubereiteten Speisen -verzehren, die von Phinchen sorgfältig geplättete -Wäsche tragen und Shakespeare oder Goethe lesen -könnten, wenn sie wollten; warum die siebzehnhundert -Arbeiter von ihrem vierzehnten Jahre an bis zum Tode -täglich von früh bis abends in der Papierfabrik des -Herrn Hommes arbeiten müßten, während ungezählte -tausende junger Männer und Mädchen, die wenig oder -nichts arbeiteten, hübsch gekleidet und gepflegt täglich -spazierengehen konnten; warum die Arbeiter so -schwere, täglich und stündlich zu erfüllende Pflichten -hatten – und die Wohlhabenden zum Teil recht angenehme -oder gar keine; warum es überhaupt Reiche -und Arme gab, und warum der arm und der reich -war; warum die Armen tun mußten, was die Reichen -wollten; ob all das ein Naturgesetz oder menschliche -Willkür war. -</p> - -<p> -Seit jener rätselhaften Sekunde hing er in einem -Gedankennetz und suchte vergebens den Mittelpunkt, -von dem aus die Grundursache der Gemeinheit des -<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> -ganzen Lebens, die ihn bedrückte, verstanden werden -könnte. -</p> - -<p> -Die Tante empfing ihn freudig mit den Worten: -„Alles liegt hübsch klar und geordnet vor dir ... -Du wirst Staatsbeamter. Amtsrichter in einem -hübschen, kleinen Städtchen. Das ist dein Lebensweg. -Ich bin so glücklich.“ -</p> - -<p> -Jürgens Kopf nickte. ‚Du taugst zu nichts anderem.‘ -Wut wollte herausbrechen. Und wurde zu einem -schiefen, gefährlichen Lächeln, während die Tante -sich feierlich erhob, das Tischgebet zu sprechen. -</p> - -<p> -„Ich werde nicht Amtsrichter. Ich will keine Urteile -fällen über andere.“ -</p> - -<p> -Das Dienstmädchen war halbwegs in der Stube -stehengeblieben, die Hände gefaltet. -</p> - -<p> -„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen -Geistes ... Bringen Sie diesmal auch eine Flasche -Wein, Phinchen.“ -</p> - -<p> -Das besonders feine Damasttischtuch, das selten -benutzte schwere Familienbesteck, die Feierlichkeit -der Tante und Jürgens Bemerkung machten, daß das -Mahl steif und schweigsam verlief. -</p> - -<p> -„Und wenn du nachher Amtsrichter bist“, begann -bei der Süßspeise die Tante in gütigem Tonfall, als -ob sie Jürgens Weigerung gar nicht vernommen hätte, -„wirst du erst so recht einsehen, daß eben gerade -die strenge Pflichterfüllung dir die Achtung deiner -Mitmenschen einbringt. Du wirst ein geachteter Mann -sein. Und das ist die Hauptsache: Ein Mann, der sein -sicheres Auskommen hat! – Auch wenn ich einmal -nicht mehr da sein werde. Die Pflicht vor allem!“ -</p> - -<p> -Phinchen brachte hervor, das gnädige Fräulein -sterbe gewiß noch lange nicht. Die Tante deutete mit -<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> -dem Zeigefinger auf ihre Brosche: „Meine Brust harmoniert -nicht.“ Und Jürgen fragte: „Aber was ist -Pflicht?“ -</p> - -<p> -„Das weiß doch jeder Mensch. Jeder Mensch muß -seine Pflicht tun ... Bringen Sie noch etwas Kompott -... Du willst nicht Amtsrichter werden? Ich -sage: du mußt es werden. Du willst keine Urteile -fällen? Du mußt Urteile fällen. Denn dein Vater hat -dich zum Amtsrichter bestimmt. Ich sage nochmals: -Die Pflicht vor allem!“ -</p> - -<p> -„Erfüllt der Papierfabrikant Hommes seine Pflicht -dadurch, daß er seine täglich in der Equipage spazierenfahrende -Gattin zu Pferde begleitet? Wer bestimmt, -daß es die Pflicht der siebzehnhundert Arbeiter -ist, in die Hommessche Fabrik zu gehen? Und -wer sagt mir, ob es meine Pflicht ist, Amtsrichter zu -werden und Urteile zu fällen über andere ...“ -</p> - -<p> -„Dein seliger Vater und ich!“ -</p> - -<p> -„... oder in der Fabrik zu arbeiten, oder täglich -auszureiten und andere für mich arbeiten zu lassen?“ -</p> - -<p> -„Das sind Dummheiten.“ Die Tante faltete ihre -Serviette genau zusammen. „Räumen Sie ab!“ Und -stieg voran in Jürgens Zimmerchen. -</p> - -<p> -Er mußte sich auf das Kanapee setzen, über dem, -in ovalen Rahmen, symmetrisch zu einem großen -Oval geordnet, die vergilbten Photographien der -Familie Kolbenreiher hingen. In der Mitte ein Jugendbildnis -des Vaters. Die Tante rückte das schon genau -in der Tischmitte stehende Resedasträußchen, das sie -zur Feier des Tages im Garten geschnitten hatte, in -die Tischmitte, zupfte ihr Geschenk, das Papageiüberhandtuch, -zurecht. „Du wirst also in eine vornehme -Verbindung eintreten. Du trägst eine Mütze, -<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> -eine grüne oder eine schöne blaue, lernst Schießen und -Fechten, natürlich nicht zu echt, eben nur, um deinen -Mut zu stählen und weil das dazugehört ... Jetzt -nimm diesen Leuchter! Den Partner dazu bekommst -du, wenn ich einmal unter der Erde liege. Das wird -bald sein, und nachher kriegst du alles.“ -</p> - -<p> -Dann schilderte sie fließend, als lese sie wieder aus -ihrem Haushaltungsbuch vor, wie Jürgens ganzes -Leben sich gestalten werde: – daß er in soundso viel -Jahren diesen und diesen, später einen noch höheren -und zuletzt den Beamtengrad eines Amtsrichters erreichen -werde, mit soundso viel Gehalt, gelangte zu -dem Lebensalter, in dem er einen Orden bekommen -würde, und ging über zur Pensionierung. „So will -es dein Vater. Wenn du deine Pflicht erfüllst, wirst -du als ein Mann begraben, von dem deine Kollegen -sagen werden: er soll uns ein schönes Vorbild sein -und bleiben ... Mehr kann man vom Leben nicht -verlangen, Jürgen. Mein Großvater sagte einmal -zu mir: Man kann die Achtung, die ein Mensch im -Leben genoß, an der Länge seines Leichenzuges -messen.“ -</p> - -<p> -Jürgen schoß über das Lebensziel, ein pensionierter -Amtsrichter zu werden, weit hinaus, stieg in wenigen -Sekunden zu einer weltberühmten Leuchte der Wissenschaft -empor, nahm eine Brust voll höchster Orden, -die er nicht einmal beachtete, entgegen, wurde nebenbei -Bürgermeister, ließ sich in den Reichstag wählen -und übernahm das Ministerpräsidium. Alle Bürger -grüßten ihn tief. Dann sah er sich voller Freude -seinen kolossalen Leichenzug an. -</p> - -<p> -„Ja, Jürgen, so ist es: seine Pflicht tun und ein -geachteter Mann sein ...“ -</p> - -<p> -<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> -Unversehens, wie die Uhr aufhört zu ticken, starb -in Jürgen die Begeisterung. Das grandiose Zukunftsgebäude -krachte lautlos zusammen. -</p> - -<p> -„Das erste gibst du dem Leben und bekommst dafür -vom Leben das andere ... Und unsern Garten und -mich hast du ja auch noch“, sagte die Tante und ging. -Adolf Sinsheimer war eingetreten. -</p> - -<p> -Er lag im Großvaterstuhl wie der Lord im Klubsessel. -„Mein Alter hat sich mir erklärt. Wir haben -uns geeinigt über die Zukunft, die ich ergreife.“ -</p> - -<p> -‚Daß gerade diejenigen, denen ich am allermeisten -mißtraue, weil sie mich am allermeisten gequält haben, -von mir fordern, ein geachteter Mann zu werden, sollte -mir eine Warnung sein, ein solcher zu werden. Vielleicht -ist man ganz und gar verloren, wenn man ein geachteter -Mann geworden ist.‘ „Welche ergreifst du denn?“ -</p> - -<p> -„Industrie, mein Lieber, Industrie! Nur der enorme -Aufstieg unserer Industrie hat Deutschlands Weltgeltung -begründet ... Mein Vater ist übrigens genau -derselben Meinung. Ich werde dir nachher beim Spaziergang -die Chose zeigen, in die ich eintrete ... Übrigens, -rauchst du? Dieses Etui habe ich mir heute zugelegt. -Du rauchst nicht? Aber das ist ja toll ... Herein!“ -rief Adolf schnarrend. -</p> - -<p> -Phinchen blieb, verlegen lächelnd, im Türrahmen -stehen. Die Kaffeekanne dampfte. Ächzend schlug -er das Bein über. „Aber ich bitte, treten Sie doch -näher ... Trinkst du denn dieses Weibergesüff?“ -</p> - -<p> -„Die ist verliebt, kannst dich darauf verlassen“, -sagte er, als Phinchen gegangen war. Und auf der -Treppe: „Ein Mädchen, das immer gleich lacht, ist -verliebt ... Unser Prokurist ist übrigens genau der -selben Meinung.“ Sie gingen die Straße hinunter. -</p> - -<p> -<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> -„Und in wen wäre sie denn verliebt?“ Jürgen sah -steif geradeaus. -</p> - -<p> -„In uns natürlich! In einen Mann, gewissermaßen.“ -Er schnallte das Ohrenband ab. „Dies hier ... weg -damit!“ Und schleuderte es auf den Asphalt. Die -Ohren erholten sich. „Es fällt einem verteufelt leicht, -bei einem so jungen Ding Eindruck zu schinden“, -sagte er noch und griff an seinen rosaseidenen Schlips. -Da rückte auch Jürgen sein fingerschmales Schülerkravättchen -zurecht. -</p> - -<p> -„So, dort ists.“ Adolf deutete über den Platz auf -das mächtige Eckhaus. -</p> - -<p> -„Knöpfe“ stand in meterhohen Buchstaben weithin -sichtbar zwischen allen vier Stockwerken. Und auf -dem Firmenschild: Simon Eberlein, Größtes Knopfexporthaus -Europas, Alle Sorten Knöpfe. -</p> - -<p> -„Hier trete ich als Volontär ein. Nun? ... Halt, -erst von hier aus ansehen! Ein ungeheuerer Betrieb, -mußt du wissen! Handelsbeziehungen überall hin! ... -Amerika! Jetzt komm!“ -</p> - -<p> -Am Arm führte er Jürgen über den Platz, bis vor -den elektrischen Aufzug, der an der Außenseite des -Gebäudes angebracht war, und las vor: „3000 kg und -Führer. Verstehst du, damit können 3000 kg Knöpfe -befördert werden ... Stelle dir das vor!“ -</p> - -<p> -„Das ist allerdings kolossal“, sagte Jürgen träumerisch. -</p> - -<p> -„Na, einfach grandios!“ Vorsichtig zog er ihn zu -den Parterrefenstern, die bis zur Hälfte mit grasgrünen -Schutzgitterchen beschlagen waren. -</p> - -<p> -In gleichartig eingerichteten Bureaus arbeiteten -junge Schreiber. An Tafeln, die siebenmal den Arbeitssaal -durchquerten, etikettierten flinke Mädchenhände -<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> -Knöpfe auf Akkord. Knopfmustertafeln bedeckten -alle Wände. Die Schiebetür in der Rückwand war -offen. Dahinter befand sich ein ebensolcher Saal, und -durch ihn durch sahen Jürgen und Adolf in einen -dritten Arbeitssaal hinein, in dem, durch die Perspektive -verkleinert, die Menschen sich wie Insekten bewegten. -</p> - -<p> -Ein Schreiber sauste durch die Seitentür herein in -den ersten Saal, pfeilschnell durch und hinaus. Unterm -Hoftor stand der Lagerist, einen Pack Frachtbriefe in -den Händen, und rief monoton Zeichen und Nummern. -Der Arbeiter wiederholte singend, und die Fuhrleute -karrten die aufgerufenen Knopfkisten zum bereitstehenden -Lastwagen. -</p> - -<p> -„Riskieren wirs und gehen ins Café? Ich habe -Geld.“ -</p> - -<p> -„Übrigens, andernfalls hätte ich dir auch aushelfen -können. Ich stehe dir zur Verfügung. Genügt dir -das?“ -</p> - -<p> -„Ich habe ja.“ -</p> - -<p> -Adolfs Stirn bekam Falten. „Aber ich bitte dich, -unter Freunden! Ich bin gerade bei Kasse.“ -</p> - -<p> -Jürgen öffnete seinen Beutel. „Da, sieh selbst! -Habe ja genug.“ -</p> - -<p> -„Jürgen, du bist geradezu beleidigend. Nimm diese -Summe ... Ich könnte sonst unter keinen Umständen -den Verkehr länger mit dir aufrecht erhalten.“ Adolfs -Hände und Schultern bekräftigten: „Wir sind doch -heute nachgerade keine Gymnasiasten mehr, gewissermaßen.“ -Er öffnete die Tür. „Bitte, nach dir!“ -</p> - -<p> -Am Stammtisch qualmten Skatspieler, die alle -Glatzen hatten; eine spanische Wand sonderte ein -Kaffeekränzchen – neun, mit farbigen Kapotthüten -<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> -geschmückte, papageienhafte Damen – ab von den -stillen Zeitungslesern. Der Ober bediente geschäftsfreudig -und schwungvoll, stand manchmal reglos -auf seinem erhöhten Beobachtungsposten neben dem -Büfett, wachsam das Lokal im Blick. Ein Fenstertisch, -mit der Aussicht auf das Knopfexporthaus, war -frei. -</p> - -<p> -Der Pikkolo stand, ein Bein elegant übergeschlagen, -reglos in genau der selben Haltung wie der Ober, und -wand sich auf dessen Augenwink hin schwungvoll und -geschäftsfreudig um die Tischecken herum zu den -Freunden; er war erst seit zehn Tagen Pikkolo. -</p> - -<p> -„Was befehlen die Herren?“ Die schwiegen. Und -der Pikkolo rasselte heraus: „Bier, Wein, Kaffee, -Tee, Schokolade ... Eis, Punsch, Glühwein, Limonade.“ -Achtungsvoll betrachtete er die Schweißtropfen, -die auf den Stirnen der Freunde hervortraten. -Und fühlte seine Überlegenheit im selben Maße wachsen, -wie die Ratlosigkeit der beiden zunahm, wiederholte -singend sein Gedicht. -</p> - -<p> -Adolf bestellte zwei Glas Glühwein und zwei Glas -Grenadine und sagte, nachdem der Pikkolo an das -Büfett gestürzt war: „Ich habe Glühwein und Grenadine -für uns bewerkstelligt. Du gestattest doch!“ -</p> - -<p> -Der Pikkolo ließ unterwegs das Tablett, wie von einer -Meereswelle mitgeführt, aus der Tiefe weich in die -Höhe steigen, wieder abwärts schwimmen und knirschend -auf die Marmorplatte auflaufen, ohne einen -Tropfen zu verschütten. -</p> - -<p> -„Die Grenadine schmeckt wie der Buchdeckel der -Biblischen Geschichte, weißt du, wenn man daran geleckt -hat“, sagte Jürgen und verzog das Gesicht. -</p> - -<p> -Als die Freunde sich am dampfenden Glühwein -<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> -die Zungen verbrannt und im Bad des heißen Sonnenscheins -die Zigarillos angezündet hatten, erlangte -Adolf die Fassung wieder, lehnte sich zurück, sah -zum Knopfgebäude hinüber. „Du hattest Gelegenheit, -die Parterresäle in Augenschein zu nehmen. Der selbe -Betrieb wickelt sich in allen vier Stockwerken ab. -Und unterm Dach sowie im Keller befinden sich ebenfalls -gigantische Knopflager ... Das muß man sich -nur vorstellen: Das ganze Riesengebäude vollgestopft -mit lauter Knöpfen. Alle Sorten, notabene!“ -</p> - -<p> -Von der Sonnenhitze mit Glühwein und Zigarillos -war Jürgen übel geworden: Das Knopflager -wurde lebendig, verwandelte sich in ein ungeheures -Meer schwarzer Schwabenkäfer, die an allen Wänden -auf- und übereinander krabbelten. In nebelhafter -Ferne hörte er die begeisterte Stimme Adolfs. -</p> - -<p> -„Alle, absolut alle Arten Knöpfe! Ich werde mir -eine Knopfsammlung anlegen. Sie wird die größte -der Welt sein. Lückenlos! Denn, überlege – welcher -Knopfsammler hätte, wie ich, diese Gelegenheit ... -Und meine zukünftigen Kollegen da drüben, bei denen -das gewissermaßen der Fall wäre, denken vermutlich -wieder nicht daran, sich eine Knopfsammlung anzulegen.“ -</p> - -<p> -Der Ober schwebte einen halben Meter über dem -Fußboden durch das Lokal. Jürgen wagte Adolfs -wegen nicht, die Zigarillos wegzuwerfen. Den Stumpen -im Mundwinkel, das Gesicht von kaltem Schweiße -beschlagen, sah er mit dem verzerrten Ausdruck -lächelnden Wohlbehagens seinen Freund an. -</p> - -<p> -Der entwickelte den Plan seines Vaters, eines großen -Knopffabrikanten, welcher sich mit der Idee trug, -seiner Fabrik ein eigenes Knopfexporthaus anzugliedern, -<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> -nachdem Adolf bei der Konkurrenz den Betrieb -gründlich kennengelernt habe. „Da hast du -meine Zukunft. Mein Weg läuft pfeilgrad empor ... -in logischer Folgerichtigkeit, gewissermaßen ... Industrie -und Handel, mein Lieber! Alles andere ist -Romantik.“ -</p> - -<p> -Sie sahen zum Fenster hinaus; die Pferde vor dem -Exporthaus zogen an; die hochgetürmten sauberen -Knopfkisten rollten fort, dem nahen Güterbahnhof zu. -</p> - -<p> -Der Knopflastwagen, das ganze Café, Skatspieler, -Messinglüster, Sammetbänke kreisten wie eine -Berg- und Talbahn um Jürgen herum. Er wollte beiläufig -seine schon in wenigen Jahren zu erwartende -Wahl zum Bürgermeister erwähnen und sagte krampfhaft -gleichgültig: „Es wäre jetzt vielleicht gar nicht -unangenehm, ein wenig hinaus in die schöne, frische -Luft zu gehen.“ -</p> - -<p> -Vor dem Café sah Jürgen, wie eine gepflegte -Dame auf einen Krüppel zuging, dem der rechte Arm -und das linke Bein fehlten. Die Frau des Krüppels -nahm die Banknote sofort an sich und stellte der -sekündlich aufblitzenden Wut ihres Mannes einen -notgestählten Blick entgegen. Der skrofulöse Säugling -auf ihrem Arme unterbrach den stummen Kampf -durch Geschrei. Dann zog die Familie weiter. Langsam, -böse, farblos. -</p> - -<p> -Nachdem der offene Wagen der Trambahn die -verkehrsreichen Straßen durchfahren, die letzten -Häuser und den mächtigen Gaskessel hinter sich -gelassen hatte und in nun ungehinderter Fahrt durch -sanfthügeliges Wiesenland der Endstation entgegensauste, -von kühler Luft durchzogen, röteten sich -Jürgens Wangen wieder. -</p> - -<p> -<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> -Ein Herr, alt, grau, steif, wie aus grauem Pappendeckel -zusammengeklebt, wackelte steif hin und her. -</p> - -<p> -„Auch wenn andere Plätze frei sind, fahren alte -Leute nicht mit den Augen zur Fahrtrichtung ... -Die Jungen immer!“ -</p> - -<p> -„Das ist eleganter Blödsinn.“ Adolf saß lässig zurückgelehnt, -Bein übergeschlagen. -</p> - -<p> -„Die Alten wollen gar nichts Neues mehr sehen. -Die blicken immer in die Vergangenheit.“ -</p> - -<p> -„Glatter Unsinn! Direkt eleganter Blödsinn!“ -</p> - -<p> -„Die Jungen wollen sehen, wohin die Fahrt geht.“ -</p> - -<p> -Die Alleebäume flogen plötzlich nicht mehr nach -rückwärts. Der Wagen hielt bei der Endstation im -Knirschen der Bremsen. Stille, in die hinein ein Vogel -zwitscherte. -</p> - -<p> -Der Führer blieb allein zurück, setzte sich in den -Straßengraben. Der Wagen stand beziehungslos in -der Landschaft. Der Tag war heiß und lang gewesen. -</p> - -<p> -Jürgen, schnell in Harmonie mit der Natur, wollte -durch den Wald heimwärts gehen, während Adolf, -zu abrupt ins Grün gestellt, unwillige Blicke den -Ackerfurchen zuwarf und vorschlug, wieder mit der -Straßenbahn zurückzufahren. -</p> - -<p> -Die schon versinkende Sonne ließ noch Feuer aus -den Fenstern der Stadt schlagen. Das sanftgewellte -Land lag weit hingebreitet. Die fernen Wälder schienen -nur handhoch zu sein. Der herauftönende Pfiff der -Papierfabrik stieß die Arbeiter zu den Toren hinaus. -Schon stand ein grüner Stern am Himmel. Liebespaare, -umschlungen, gingen vorüber, der heraufkommenden -Sommernacht entgegen. -</p> - -<p> -„Kein Zweifel, die sind schwer verliebt. Du natürlich -bemerkst das nicht.“ Adolf setzte sich mit dem -<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> -Rücken gegen die Fahrtrichtung und forderte: „Sitze -du auch so!“ -</p> - -<p> -Da fiel Jürgen ein, daß er eigentlich gegen seinen -Willen zurückfuhr. „Ich sitze so.“ -</p> - -<p> -„Eleganter Blödsinn! Das gibst du doch zu?“ -</p> - -<p> -„Nein, das gebe ich nicht zu. Das gebe ich nicht -zu“, sagte er noch beim Betreten der Küche vor sich -hin und blickte die feuchten, vollen Schultern Phinchens -an, die, im Unterrock und Hemd, glühend am -Bügelbrett stand. -</p> - -<p> -Sein Kopf blieb klar; das unbekannte Gefühl fuhr -ihm nur in die Beine. Phinchen konnte vor Aufregung -die entblößte, aufsteigende Brust nicht bedecken. -</p> - -<p> -Da kreischte die Haustür. Jürgen taumelte aus der -Küche hinaus. -</p> - -<p> -„Du mußt von jetzt an immer hübsch vollkommen -bekleidet sein. Der junge Herr ist kein Kind mehr.“ -Die Tante demonstrierte an ihrer Brosche. „Dies -da und auch deine Schultern, überhaupt das alles darf -man nicht sehen. So dick und nur einen Unterrock! -Das ist nicht schicklich.“ Der Unterrock könne gewiß -einmal aufgehen. Dann stehe sie im Hemd vor dem -jungen Herrn. -</p> - -<p> -Sie nahm aus dem Küchenschrank eine neue Kerze, -zog mit dem Messer sorgfältig einen Riß herum – -drei Zentimeter unter dem Docht – und stieg in -Jürgens Zimmerchen hinauf. -</p> - -<p> -Wortlos steckte sie die Kerze in den silbernen Leuchter -und zündete an. Dann deutete sie auf den Riß. -„Wenn sie bis hierher abgebrannt ist, mußt du aufhören -zu lesen ... Das Bücherlesen im Bett und überhaupt -das Ideale, das, was du Ideale nennst, muß auf -ein schickliches Maß zurückgeführt werden.“ -</p> - -<p> -<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> -Jürgen beobachtete, wie das Flämmchen erstarkte, -endlich senkrecht stand und wieder flackerte, als die -Tante weitersprach. „Und morgen zeichne ich nur -zweieinhalb Zentimeter zum Lesen an. Übermorgen -wieder etwas weniger. Und allmählich liest du überhaupt -nicht mehr im Bett, siehst du ... Auch deine -Mutter las immer im Bett. Dein Vater hat es ihr abgewöhnt. -Wer nicht selbst streng ist gegen sich, -gegen den muß es ein anderer sein ... Deine Mutter -hat dich machen lassen, was du wolltest. Verzogen, -verwöhnt hat sie dich. Das soll eine Mutter nicht tun.“ -</p> - -<p> -„Das kannst du ja gar nicht wissen; du warst ja -nie Mutter.“ Staunend beobachtete er, wie ihr ganzes -Gesicht – auch die Stirn – sich dunkel rötete. Der -Mund stand offen. In unbegreiflicher Fassungslosigkeit -verließ sie das Zimmer. -</p> - -<p> -Jürgen nahm das Bild seiner Mutter von der Wand, -betrachtete lange den angsterfüllten Mädchenblick, den -schmerzlichen Mund, der zu lächeln versuchte, und -lehnte die Photographie gegen den Leuchter. -</p> - -<p> -Im Bücherregal standen nur Reisebeschreibungen -und Abenteuerromane in bilderreichen Umschlägen. -Mit der ‚Schreckenvollen Reise in das Erdinnere‘ -stieg Jürgen ins Bett, passierte zusammen mit dem -kühnen Abenteurer auf dem Floße die zerklüftete -Felsenspalte, geriet plötzlich in ein Loch und sauste -auf gischtigen Wassermassen beinahe senkrecht in die -Erde hinein. Es wurde nachtstill im Hause. -</p> - -<p> -Dicke Finsternis umgibt Jürgen und sein Fahrzeug, -das mit den immer gewaltiger brausenden Gewässern -in rasendster Geschwindigkeit in die Tiefe stößt – -volle zwölf Tage lang –, unter der ständigen fürchterlichen -Gefahr, zu zerschellen. -</p> - -<p> -<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> -Plötzlich verlangsamt sich die wilde Fahrt: Jürgen -flößt aus einer Felsspalte heraus und, ganz wider Erwarten -sanft, hinein in einen wunderbar stillen See -im Erdinnern, an dessen Ufern menschenähnliche Geschöpfe -mit Kuhköpfen stehen. -</p> - -<p> -Grüne, fremde Helligkeit liegt über dem Tale und -den milden Wäldern, obwohl kein Himmel vorhanden -ist. -</p> - -<p> -Der Abenteurer durchforscht vorsichtig das Tal -nach gefährlichen Wilden, macht ungewöhnlich wichtige -Entdeckungen und überlegt endlich, wie er mit -seinem Floß auf dem senkrecht herabrasenden Gewässer -aus dem Erdinnern wieder zur Erdoberfläche -hinauffahren könne. -</p> - -<p> -Heißgelesen, sah auch Jürgen nachdenklich auf. -Und bemerkte mit Schrecken, daß die Kerze still -bis über die Hälfte herabgebrannt war. -</p> - -<p> -Während er dann im Traume papageiengroße, -fliegende Edelsteine fing und mit kuhköpfigen Menschenwesen, -die sich plötzlich in lauter geachtete -Männer verwandelten, in bösen Kämpfen lag, streifte -Adolf Glacéhandschuhe über, ging in den ‚Klub junger -Kaufleute‘ und wurde vom Vorsitzenden auch den -neuen Mitgliedern, Adolfs bisherigen Schulkameraden, -mit feierlicher Korrektheit vorgestellt. -</p> - -<p> -Einige Wochen später lag auf Jürgens Nachtkästchen -eine Geschichte der Philosophie, in der schon -viele Zettelchen mit Anmerkungen steckten. -</p> - -<p> -Die Abiturienten hatten sich getrennt in zwei Gruppen, -die weiterhin nicht mehr miteinander in Berührung -kamen: Ein Teil studierte und hatte andere Interessen -als die Fabrikantensöhne, die in die Geschäfte ihrer -Väter eintraten. -</p> - -<p> -<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> -Leo Seidel arbeitete im Magistratsgebäude, im -städtischen Wohnungsnachweisbureau, dessen trübe -Fenster gegen die Nordseite des immer sonnelosen -Lichthofes standen. -</p> - -<p> -Das Mißbehagen der Kollegen war von Monat zu -Monat größer geworden. Jeden Morgen hatten sie, -beim Eintritt in das Bureau, Leo Seidel schon heißgeschrieben -am Pulte vorgefunden. -</p> - -<p> -Vor allem Herr Hohmeier, ein Beamter, der sehr -langsam arbeitete und seiner Dienstzeit nach am -nächsten daran war, vorzurücken, lebte seit Monaten -beständig in der Angst, daß der bei größtem Fleiße -und unangreifbarer Gewissenhaftigkeit auch noch -ungewöhnlich schnell arbeitende Leo Seidel den -Buchstaben M zugeteilt bekommen werde, was der -zahllosen zu bewältigenden Müllers und Maiers wegen -eine Beförderung außerhalb der Reihe, ein Überspringen -Hohmeiers bedeutet haben würde. -</p> - -<p> -Noch besorgte Seidel den ungefährlichen Buchstaben -Y, wurde infolgedessen bei seinen Abschreibearbeiten -nie gestört und benutzte, zusammen mit -dem jüngsten Kollegen, der gleichzeitig angestellt -worden war, ein Doppelpult, über dem nur eine -Gasflamme brannte. -</p> - -<p> -Die Herren Neubert und Hohmeier hatten jeder ein -Pult für sich – mit je einer Gasflamme. Über Herrn -Anks Pult befand sich, entsprechend seinem höheren -Dienstgrad, ein zweiflammiger Gasarm mit grünen -Lichtblenden. Und vor des Herrn Bureauleiters Pult -stand zudem noch ein drehbarer Schreibsessel, auf -dem ein dienstliches Lederkissen lag. Auch war sein -Löschblattbügel bedeutend breiter. -</p> - -<p> -Dieses festgefügte Dienstschema zu sprengen, die -<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> -niederen Dienstgrade zu überspringen, war Seidels -Bestreben. Das allmähliche Vorrücken bis zum -breiteren Löschblattbügel wollte er sich ersparen. -</p> - -<p> -Das war seinen Kollegen nicht entgangen. -</p> - -<p> -Der Tag, an dem die Katastrophe sich ereignete, -begann damit, daß Herr Hohmeier begann, sich zu -schneuzen, indem er Kanzleibogen und den schmalen -Löschblattbügel zur Seite räumte und das Taschentuch -erst sorgsam auf die Schreibtischplatte breitete. -</p> - -<p> -Unterdessen trat beim Schalter ein Pelerinenkünstler -von einem Fuße auf den andern, rastlos wie ein -Mensch, der ein natürliches Bedürfnis besetztseinshalber -meistern muß, und beobachtete, wie Herr Hohmeier -das Taschentuch erst mit einem großen Hausschlüssel, -dann mit dem Löschblattbügel beschwerte. -Und als er endlich nach der Adresse seines Freundes -fragen konnte, erfuhr er, daß die Polizei selbst schon -lange nach diesem Kunstmaler Ferdinand Wiederschein -fahnde. -</p> - -<p> -„Wir haben herausbekommen, daß dieser Maler -seit vielen Wochen jede Nacht in einem andern Bett -schläft. Indem er nämlich jeden Morgen sein Handtäschchen -wieder mitnimmt und sich, wenn die -Schlafenszeit herannaht, ein neues Unterkommen -sucht für die Nacht ... Der meldet sich nicht einmal -an bei uns.“ -</p> - -<p> -Der Diener entleerte den Neun-Uhr-Kohleneimer -in den alten eisernen Füllofen, auf dem Eva, schon -rotglühend, Adam den rotglühenden Apfel reichte. -Des Künstlers Gelächter knallte durch das Bureau. -</p> - -<p> -„Da gibt es aber nichts zu lachen. Das ist eine ernste -Sache. Wenns alle so machten, welch eine Unordnung -hätten wir dann hier.“ Herr Hohmeier redete noch -<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> -vor sich hin, als er schon dabei war, das Taschentuch -schneuzfertig über die gespreizten Finger zu hängen, -wie ein Zauberkünstler, der fragt: ‚Wohin soll ich das -Goldstück verschwinden lassen?‘ -</p> - -<p> -Während der Vesperviertelstunde sammelten sich -viele Leute in dem dunklen Wartezimmer an. Die -Beamten aßen ruhig weiter, ungestört vom Leben, -das nur bis zum Schalterfenster herankam. -</p> - -<p> -Die Ungeduldigen hüstelten, scharrten mit den Füßen, -klopften endlich an das Schiebefenster. Der ganze -Schalterraum stand voll Menschen. -</p> - -<p> -Und als die Uhr Viertel elf schlug und Herr Hohmeier -zum Schalter trat, stellte es sich heraus, daß -einige wieder gegangen waren, und die gebliebenen -neun Auskunftsuchenden unter Buchstaben C bis G -fielen und somit Herrn Hohmeier unterstanden. -</p> - -<p> -Der fragte freundlich, wer zuerst dagewesen sei. -Darüber entstand Streit. Viele waren zuerst dagewesen. -Da drückte ein schwarzer Kohlenhändler alle anderen -in die Ecken und verlangte die Adresse einer Familie, -die umgezogen sei, ohne vorher die Kohlenrechnung -bezahlt zu haben. -</p> - -<p> -Während Herr Hohmeier mit dem Zeigefinger die -Fächer des Regals nach dem Personalakt abtippte, -den Akt nicht fand, setzte der Streit im Schalterraum -von neuem ein. Schließlich vereinigte der Zorn alle -Streitenden gegen die Beamten. -</p> - -<p> -Wieder dachte Seidel darüber nach, ob außer ihm wohl -noch ein Mensch auf der Welt durch so eine teuflische -Kleinigkeit wie die, daß es nur wenige Namen mit dem -Anfangsbuchstaben Ypsilon gab, daran verhindert sein -würde, sich auszuzeichnen und vorwärtszukommen. -</p> - -<p> -Herr Hohmeier trat noch einmal zum Kohlenhändler, -<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> -fragte ihn, ob er den Namen denn auch richtig -aufgeschrieben habe. Alle schimpften, streckten die -Zettel durch das Schalterloch. -</p> - -<p> -„Sie erlauben, Herr Hohmeier, daß ich Ihnen helfe.“ -Seidel sammelte die Zettel ein. -</p> - -<p> -„Nein, ich kann das nicht erlauben. Bitte sehr, -Herr Seidel, ich erlaube das nicht ... Es sind meine -Buchstaben.“ -</p> - -<p> -Die Wartenden schrien dazwischen. Der Bureauvorsteher, -der von dem Tumulte aus seinem Vesperzimmerchen -herausgelockt worden war, verfügte, -daß die beiden jungen Herren dies eine Mal mithelfen -sollten. „Ausnahmsweise!“ -</p> - -<p> -Unter unheilvollem Schweigen des bleichgewordenen -Herrn Hohmeier wickelte sich das Geschäft -jetzt glatt ab. -</p> - -<p> -Herr Hohmeier war nicht fähig, zu arbeiten. Ein -ungeheurer innerlicher Aufruhr machte ihn blind. -Die beinahe immer gegenwärtige Vorstellung, daß er sich -am Tage seiner Beförderung eine goldene Brille -kaufen und nach der übernächsten Beförderung sich -mit dem neben ihm gealterten Mädchen einstweilen -wenigstens verloben werde, schob sich auch jetzt hartnäckig -in den Vordergrund. Immer wieder sah er -sich, goldbebrillt, vor dem Traualtare stehen. So daß über -eine Stunde vergangen war, bevor er gefunden hatte, -was Seidel endlich einmal klar und deutlich gesagt -werden müsse. -</p> - -<p> -„Der sehr bedauerliche Vorfall von vorhin bedarf -dringend der Aufklärung. Ich, meinerseits, muß Ihnen -sagen, daß in diesem Bureau ein Sichvordrängen – -ich könnte mich auch noch schärfer ausdrücken – -nichts nützt ...“ -</p> - -<p> -<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> -„Und ich muß Sie bitten, mich nicht bei der Arbeit -zu stören.“ -</p> - -<p> -„... denn wenn alle Beamten hier in diesem Bureau -gewissenhaft ihre Pflicht tun – und das kann als -sicher angenommen werden –, so daß keiner entlassen -wird, werden Sie, Herr Seidel, in acht Jahren an -meinem Pulte sitzen und in zwölf Jahren am Pulte -des Herrn Ank ... Unterdessen werde ich an Herrn -Anks Pult gesessen haben. Herr Ank an des Herrn -Bureauleiters Pult. Und der Herr Bureauleiter wird, -seinen Dienstjahren entsprechend, eine höhere Stelle -in einem anderen Bureau einnehmen ... Es gibt in -diesem Gebäude sehr viele Bureaus, die wir zu durchlaufen -haben, ehe wir pensioniert werden. Ein Durchbrechen -dieser Ordnung gibt es nicht. Das wollte -ich Ihnen gesagt haben.“ Bebenden Mundes ging er -an sein Pult zurück. -</p> - -<p> -Und Leo Seidel, der schon am Anfang dieser plastischen -Darstellung sich gesagt hatte, daß in einem -Magistratsbureau das Wort ‚Freie Bahn dem Tüchtigen‘ -ganz offenbar keine Gültigkeit habe, und daß -somit ein schnelleres Vorrücken nahezu ausgeschlossen -sei, schrieb noch am Abend des selben Tages peinlich -sauber sein Entlassungsgesuch. -</p> - -<p class="tb"> - -</p> - -<p class="noindent"> -Die meterlange Tabakspfeife wie einen Offiziersdegen -geschultert, kratzfußte der Korpsstudent Karl -Lenz abgehackt und streng vor seinem früheren Schulkameraden -Jürgen und fragte ihn, welchem Korps er -angehöre. -</p> - -<p> -„Ich studiere Philosophie, wie du weißt. Seit einem -Jahre!“ sagte Jürgen stolz. „Einer Verbindung gehöre -<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> -ich nicht an ... Ich wollte Herrn Professor Lenz -meinen Besuch machen.“ -</p> - -<p> -Der noch immer in steifer Verbeugung stehende -Korpsstudent zuckte mit dem Kopf nach vorn, und -seinem Mund entfuhr, als er die Lippen öffnete, ein -knallender Ton: „Gehören Sie nicht an? ... Vor -allem: Ihnen zur Kenntnis, daß mein Vater vor einer -Woche zum Geheimrat ernannt worden ist.“ Er -machte linksum und blickte, dem Gast den Rücken -zugekehrt, paffend zum Fenster hinaus. -</p> - -<p> -Die wirkliche Welt um Jürgen versank. Alles natürliche -Denken und Fühlen verschwand. Erst nach -minutenlanger Pause sagte er: „Da gratuliere ich.“ -</p> - -<p> -Der Student antwortete mit einer weißen Dampfwolke, -die an der Fensterscheibe hinaufstieg, rührte -sich nicht. Und Jürgen saß plötzlich in einer glänzenden -Studentengesellschaft, hatte ebenfalls eine grüne -Mütze forsch im Nacken sitzen, das Couleurband schräg -über der Brust. Alle trinken ihm zu. Er ist geehrt, geachtet, -spielt eine Rolle. Kommt Karl Lenz und starrt ihn -herausfordernd an. Jürgen starrt zurück. Und springt -auf. Schweigen. Alle springen auf. Kartenwechsel. -Jürgen schlägt sich tadellos. Phinchen ist totenbleich -vor Bewunderung. Und die Tante läßt sich den ganzen -Vorgang erzählen. -</p> - -<p> -‚Er also starrt mich an. Nun, du kennst mich ja, -Tante, und weißt, daß in diesem Falle die Forderung -meinerseits unvermeidlich war. Meine Kommilitonen -und ich zechen erst noch die ganze Nacht durch, als -ob gar nichts geschehen wäre. Dann fährt die ganze -Bande per Auto mit hinaus ins Wäldchen; sie warten -im Wirtshaus auf mich. Ich also trete an, frisch und -munter, wie aus dem Bade gestiegen.‘ -</p> - -<p> -<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> -‚Mein Gott, Jürgen, hattest du denn gar keine -Angst?‘ -</p> - -<p> -‚Aber Tante! ... Also, er bekommt den besseren -Platz, steht im Schatten eines Baumes, ich mit dem -Gesicht gegen die Sonne ... Na, und schon beim -ersten Gang – schwere Abfuhr natürlich.‘ ‚Nun, -und jetzt?‘ ‚Gott, jetzt natürlich ehrenvolle Versöhnung. -Denn wenn einmal Blut geflossen ist ... -Je, das Hallo, als ich zurück in die Kneipe kam! Ja. -Nun aber genug davon!‘ -</p> - -<p> -Der breitspurig und noch immer reglos am Fenster -stehende Student war von blauem Dampfe eingehüllt. -Aus dem Nebenzimmer erklang Gläserklirren. Er -schnellte sofort herum, glotzte seinem Gast ins Gesicht. -</p> - -<p> -Da knallte auch Jürgen mit den Absätzen. Die -ineinander verkrampften Hände schüttelten sich. -Beide Oberkörper zuckten mehrere Male ruckartig -und schiefseitwärts aufeinander zu, bis, durch die -Handkuppelung hergestellt, die wagrechte Zickzacklinie -der zwei Ober- und Unterarme in Stirnhöhe feierlich -verharrte. -</p> - -<p> -Und während Jürgen sich auf das Kanapee zurückverbeugte, -verbeugte der Student sich der Tür zu -und ging in sein danebenliegendes Zimmer, wo auf -dem Tisch drei Glas Bier für ihn bereitstanden. -</p> - -<p> -Der Student hatte die Begrüßungsmaske mit in sein -Zimmer getragen. Jetzt erst fiel sie von seinem Gesicht -herunter. Und der Ausdruck dumpfer, wilder -Konzentration nahm Platz, während er, das Bierglas -in der einen, die Taschenuhr in der linken Hand, -wartete, bis der Sekundenzeiger die Zahl Eins erreichte. -Schon vorher war sein Mund ein großes Loch geworden. -Plötzlich glotzten die Augen stier und tränten: -<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> -das Bier stürzte in den Magen. „Bierjunge!“ Und -das leere Glas knallte auf den Tisch. -</p> - -<p> -Mit dem Worte ‚Bierjunge‘ spritzte ein Teil des Bieres -im Bogen wieder heraus, während die Augen auf den -Sekundenzeiger starrten. Das Gesicht des Studenten, -der auf dem letzten Kommers von seinem Korpsbruder -beim Bierjungen-Trinken besiegt worden war, -verzog sich kläglich: er hatte mehr als eine Sekunde -zu lange gebraucht. -</p> - -<p> -„Ich habe wieder geschluckt. Ich schlucke noch. -Das ist mein ganzer Fehler.“ Energisch trainierte er -weiter: Der Sekundenzeiger erreichte die Eins. Großes -Loch. Leeres Glas. Ein furchtbarer Brüllton: „Bierjunge!“ -</p> - -<p> -Wieder schnellte der im Nebenzimmer sitzende -Jürgen erschrocken von der Kanapeelehne nach vorn -und horchte gespannt. Wenige Sekunden später -langte von oben herab die Hand des Herrn Geheimrat -Lenz auf Jürgens Schulter. „Nun, mein Freund, -welchem Korps gehören Sie an?“ -</p> - -<p> -„Bierjunge!“ -</p> - -<p> -„Ah, der Junge übt. Ja, schön ist die Jugend.“ -Der Geheimrat Lenz trank gern Moselwein. -</p> - -<p> -Was wird geschehen, wenn ich gestehe, daß ich -keiner Verbindung angehöre, dachte Jürgen. Und -sein Mund sagte: „Ich halte das für überflüssig.“ -</p> - -<p> -Die väterliche Hand rutschte von Jürgens Schulter -herab und legte sich in die Hüfte des Geheimrats. -Der Unterleib schien in die Brust hinaufzusteigen. -Die Augen fragten: Was wollen Sie dann bei mir? -</p> - -<p> -Endlich sagte der Geheimrat: „Junger Mann, -nur wer einem Korps angehört, lernt die oberste aller -Pflichten, die ihn erst befähigt, später zu den Ersten, -<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> -zu den Führern seines Volkes zu gehören: die schwere, -aber schöne und erhabene Pflicht des Gehorsams, -das freie Beugen vor der Autorität, ohne welche -nichts in der Welt bestehen kann ... bestehen kann. -Die Narben im Gesicht des Korpsstudenten sind die -Bürgschaft dafür, daß der ganze Mann, der für seine -und für des Korps Ehre ohne zu zucken dem Gegner -mit blanker Waffe gegenüber gestanden hat, auch -später, wenns einmal so weit ist und Gott es will, -bis zum letzten Blutstropfen dem Vaterlande die -Treue halten wird, wenn es gilt, die Ehre des Reiches -zu wahren ... Aber außerdem: wie wollen Sie vorwärtskommen? -Wie anders wollen Sie es zu einer -geachteten, einflußreichen Stellung bringen? ... Denken -Sie an Ihren Vater. Er war mein Freund. Wir -gehörten dem selben Korps an. Er war ein Mann.“ -</p> - -<p> -Und ist, wie ich jetzt weiß, zusammengebrochen -und kaputtgegangen, weil er nicht erreichte, Vortragender -Rat im Ministerium zu werden, dachte -Jürgen. -</p> - -<p> -Und glitt, während er durch die Straßen ging, -noch eine halbe Stunde lang weiter auf dem glatten -Gleis, das der Geheimrat vor ihn hingelegt hatte. -Bei einem kleinen Kolonialwarenladen, in dessen -Schaufenster ein langbärtiger Zwerg aus Gips eine -Zigarre rauchte, blieb er stehen. -</p> - -<p> -Haß und Ekel vor dem Jürgen, der in des Studenten -Zimmer das imaginäre Duell ausgefochten hatte, -packten ihn so plötzlich und so heftig, daß er sich auf -das Mäuerchen setzen mußte, auf dem das Schaufenster -ruhte. „Welch ein erbärmliches, widerliches, -feiges Schwein bist du!“ rief er dem Zwerg im Schaufenster -zu. Jede Bewegung, jedes Wort, das jener -<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> -Jürgen gesprochen hatte, folterte den Jürgen, der, -brennend vor Scham, auf dem Mäuerchen saß. -</p> - -<p> -Da schwenkte, Lack-, Glacé- und Hosenfalten-glatt, -Adolf Sinsheimer um die Ecke, nahm schon in der -Ferne feierlich den Zylinder ab. Unwillkürlich hatte -auch Jürgen feierlich gegrüßt. -</p> - -<p> -„Große Aufregung im Hause Lenz, was?“ fragte -Adolf, nachdem er erfahren hatte, wo Jürgen gewesen -war. „Wirklich nichts bemerkt? Dann wissen -die es einfach noch nicht ... Gestern nämlich ist -Katharina von zuhause durchgebrannt. Schlankweg -zu den Anarchisten! Die fabriziert jetzt Bomben. -Auch eine Beschäftigung! ... Übrigens, du gestattest -doch, daß ich mich bedecke?“ -</p> - -<p> -„Weshalb solltest du deinen Zylinder in der Hand -halten!“ Jürgen war wütend. -</p> - -<p> -„Ein ereignisvolles Jahr! Man entwickelt sich -schneller, als man geglaubt hat. Ich sitze längst im -Direktionsbureau. Rechte Hand des Chefs! Und -was das Leben anlangt, mein Lieber, da akzeptiere -ich keine mehr, die nicht tadellos gewachsen ist. -Vor allem die Beine! Kann mir nicht mehr passieren.“ -</p> - -<p> -Was ist da zu tun – er entwickelt sich, dachte -Jürgen und blickte Adolf nach, der frisch und glatt -davonschritt. ‚Was ist da zu tun.‘ -</p> - -<p> -Plötzlich stand Adolf wieder vor ihm. „Leo Seidel -war bei mir. Total zusammengeklappt! Mein Alter -hätte ihn ja als Schreiber in unserer Buchhaltung -angestellt. Er aber erkundigte sich nach den Aufstiegsmöglichkeiten. -Was sagst du dazu? ... Mein -Alter fragte ihn, ob er ihm vielleicht Prokura erteilen -solle. Schwuppdich – war er draußen ... Später -erfuhr ich, daß er zu allen früheren Mitschülern läuft, -<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> -deren alte Herren, wie er glaubt, ihm einen Posten -mit – husch, die Lerche! – Aufstiegsmöglichkeiten -verschaffen könnten.“ -</p> - -<p> -Auch bei Jürgen war Seidel gewesen. Jürgen hatte -ihm vorgeschlagen, er solle mit ihm zusammen einen -Bund der Empörer gründen. Seidel hatte geantwortet, -dazu sei er nicht dumm genug. Und der Rektor -hatte Seidel geantwortet, einem derart unbescheidenen -Menschen, der aus Unzufriedenheit leichtfertig -sein Glück verscherzt habe, noch einmal eine Stelle -zu verschaffen, müsse er prinzipiell ablehnen. -</p> - -<p> -Einige Monate war Seidel bei dem Bankier Wagner -in der Buchhaltung beschäftigt gewesen. Aber auch -in diesem großen Bankhause waren die Wege zu den -zäh verteidigten einträglichen Posten zwanzig Jahre -lang und führten, gezogen mit dem Lineal, zwischen -unübersteigbar hohen Mauern durch. -</p> - -<p> -Seidel hatte bald erkannt, daß hier alle Angestellten -nicht nur unangreifbar gewissenhaft, sondern ausnahmslos -auch flink wie die Kreisel waren; daß es -Hohmeiers hier überhaupt nicht gab; und daß niemand -Bankangestellter werden und bleiben durfte, -der Bankier werden wollte. -</p> - -<p> -Der schwindsüchtige Briefträger und seine Frau -waren gestorben, die vier jüngeren Geschwister in das -Waisenhaus gebracht worden. -</p> - -<p> -Die neue Mietpartei war schon eingezogen in das -Hofzimmer, in dem Seidel sein ganzes Leben vom -Tage der Geburt an in immer gleicher Armut verbracht -hatte. Es war ihm erlaubt worden, die altersschwachen -Möbel so lange in der Holzlage einzustellen, -bis er einen Altwarenhändler fand, der auch den armseligsten -Gegenstand nicht für ganz wertlos hielt. -</p> - -<p> -<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> -Den nach Begleichung der letzten Vierteljahrsmiete -und der Schulden beim Kolonialwarenhändler und -Bäcker von dem Erlöse der Wohnungseinrichtung -übriggebliebenen winzigen Rest des Geldes in der -Tasche, das Herz kalt vor Energie und zielbewußter -Willenskraft, von Wehmut, Feigheit und schwächlichen -Überlegungen nicht gehemmt, verließ Leo -Seidel um acht Uhr früh für immer seiner Jugend -stinkenden Hof, in dem nie etwas schön gewesen war, -außer einem Büschel Löwenzahn, der, kümmerlich -und zäh, jedes Jahr in der gepflasterten Ecke geblüht -hatte. -</p> - -<p> -Seidels Herz hatte ihn niemals zu den gelben Blüten -geführt; es war, jenseits von Gefühlsüberschwang, -ein gehorsam arbeitender Muskel und wurde vom -Gehirn regiert, das Seidel zum Träger eines zielklaren -Willens machte. -</p> - -<p> -Losgeschnitten von der Vergangenheit, vor sich -das Obdachlosenheim, stand er blank auf der Straße, -völlig auf sich selbst gestellt. -</p> - -<p> -Herabgesunkener Morgennebel, der nur die Dächer -der zwei nächsten Häuser links und rechts von Seidel -freiließ, hatte die Straße, die wenigen Passanten und -alle Geräusche verschlungen. Seidel stand grau in -grau. Und erklärte sich selbst, weshalb für ihn Grund -zum Jammern nicht vorhanden sei: Er habe Zeit, -sei jung und gesund und bereit, rücksichtslos seinem -Ziele entgegenzugehen. -</p> - -<p> -Um dieses Zieles Inhalt und Ausmaß einwandfrei -abzustecken, sondierte er vorstellungskräftig die Idee -eines Friseurgehilfen, der darauf spekuliert, in das Geschäft -einer Friseurswitwe einzutreten mit dem Ziele, -die Witwe zu heiraten und Geschäftsinhaber zu -<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> -werden; einen jungen Handlungsgehilfen ließ er mit -der reizlosen Tochter des Chefs zum Standesamt -gehen und ihn in einem dunklen, duftgeschwängerten -Laden ein warmes Drogistenglück bis zum Tode -genießen. Unbelasteten Gemütes folgerte Seidel, daß -auch er in irgendein Geschäft eintreten und sich im -Laufe der Zeit ein auskömmliches Dasein in bescheidenen -Grenzen erarbeiten könnte. -</p> - -<p> -Er trennte sich von dem Ziele des Friseurgehilfen, -vom Drogisten, und wandte sich seiner Laufbahn zu, -die zwar noch kleiner und unsicherer als die eines -Drogistengehilfen beginne, aber Lücken und Spalten -und Maschen habe, durch die er durchschlüpfen zu -können hoffe, worauf die Laufbahn in Form einer -Spirale unter zäh zu überwindenden Schwierigkeiten -aller Art ansteigen und in der Berliner Börse enden -werde. Dann breitete sich das Leben aus: Jedes Wort -des Finanziers Leo Seidel hat Gewicht; eine von ihm -verweigerte Unterschrift verursacht Beklemmung und -Katastrophen in den Bankhäusern. -</p> - -<p> -Seidels Augen schlossen sich halb. Er flüsterte: -„Aus eigener Kraft! Keiner meiner Mitschüler wird -sich mit mir vergleichen können; sie alle werden hinter -mir zurückbleiben, obwohl sie geebnete Wege vorfanden.“ -</p> - -<p> -Er befand sich auf dem Wege zu dem Platz, wo die -Schaubudengerüste aufgestellt wurden für den am -folgenden Tage beginnenden großen Jahrmarkt. Er -dachte, gegen die hier beschäftigten verkommenen -Existenzen werde ein gewissenhafter Mensch ganz -besonders scharf abstechen und, über sie hinweg, -bei einem Schaubuden- oder Karussellbesitzer schnell -zu einer Vertrauensstellung gelangen können. Außerdem -<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> -sei er hier nicht, wie der Droschkengaul, zwischen -zwei Deichseln gespannt, da allerlei Möglichkeiten, -auszubrechen, sich ergeben würden. -</p> - -<p> -Seine kantige, gewaltig breite Stirn bildete zusammen -mit dem sehr spitzen Kinn ein beinahe gleichwinkliges -Dreieck. Das Dreieck war mit alten Sommersprossen -dicht besetzt. Aber auch in bezug auf seine -Streberei hatte er in der Schule den Spitznamen -„Sprosse“ bekommen. „Von Sprosse zu Sprosse.“ -</p> - -<p> -Burschen in verblichenen Sweaters, die Zigarette -hinter dem Ohr, rissen Pflastersteine heraus, hockten, -in Morgennebel gehüllt, auf den Gerüsten, nagelten, -schrien, schraubten die Holzteile fest. Alles fügte sich -wie immer ineinander. -</p> - -<p> -Hier ist durch Fleiß und vor allem durch Gewissenhaftigkeit -sicher mehr zu erreichen als in einem -Magistratsbureau, dachte Seidel und fing vor dem -grünen Wagen den Schiffschaukelbesitzer ab, zog -den Hut. „Verzeihung, ich möchte fragen, ob Sie -noch eine Hilfskraft bei Ihrem Unternehmen brauchen.“ -</p> - -<p> -Verdutzt sah der Mann den solid gekleideten jungen -Herrn an, die saubere Wäsche. „Ich verstehe nicht -recht. Ich brauche zwar noch zwei Adjunkte zur Bedienung -von vier Schiffen ... Aber Sie? Was wollen Sie?“ -</p> - -<p> -„Ich leiste jede Arbeit, die Sie verlangen ... Was -ist das: Adjunkte?“ -</p> - -<p> -„So heißen die Burschen bei den Schiffschaukeln ... -Zwei sind vorgestern eingesteckt worden. Acht Wochen -Gefängnis! Hatten wieder geklaut. Aber schon bevor -sie bei mir waren“, setzte er schnell hinzu. -</p> - -<p> -„Demnach können Sie mich also brauchen?“ -</p> - -<p> -Der Mann hob abwehrend beide Hände in Kopfhöhe: -„Freundchen ... haben Sie Papiere? Waren -<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> -Sie schon einmal bei so was? ... Zuerst müssen Sie -mir einmal nachweisen, daß Sie nicht von der -Polizei gesucht werden ... Und vor allem möchte -ich wissen, weshalb Sie von der Polizei gesucht werden.“ -</p> - -<p> -Da reichte Seidel dem Manne sein Abiturientenzeugnis -und das Entlassungszeugnis vom Stadtmagistrat, -das den Vermerk über Seidels Tüchtigkeit, -Fleiß und Gewissenhaftigkeit enthielt. -</p> - -<p> -Der Mann wunderte sich nicht. Ihm waren während -seiner vierzigjährigen Jahrmarktstätigkeit schon alle -möglichen Existenzen untergekommen. -</p> - -<p> -„Auf meine Gewissenhaftigkeit beim Geldeinsammeln -könnten Sie sich verlassen.“ -</p> - -<p> -„Da wären Sie der erste, auf dessen Gewissenhaftigkeit -beim Geldeinsammeln ich mich verlassen würde. -Aber brauchen kann ich Sie.“ Er stieg, von Seidel, -gefolgt, in den grünen Wagen, in dem, transportfest, -die zwölf funkelnden Schiffe standen. -</p> - -<p> -Der kräftige Bursche mit Ledergurt, rotem Sweater -und einem großen, pflaumenblauen, herzförmigen Mal -auf der Backe tat, als habe er beim Putzen der Messingteile -keine Pause gemacht. Der Besitzer schickte -ihn hinaus. „Hier, das Handgeld.“ -</p> - -<p> -„Handgeld brauche ich nicht ... Ihre Schiffschaukel -scheint übrigens ganz neu zu sein ... Wenn Sie zufrieden -sind mit mir, werden Sie mir meinen Lohn -schon geben.“ -</p> - -<p> -Das hatte der Mann noch nicht erlebt. Beinahe -verlegen sagte er: „Ja, ich habe die modernste Schiffschaukel -der Messe. Kostete mich ein Vermögen! -Das will verdient sein. Sie ist einen Meter siebenzig -höher als die der Konkurrenz ... Können Sie morgen -früh antreten?“ -</p> - -<p> -<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> -Schnellen Schrittes ging Seidel zu dem Altwarenhändler -und holte den Gegenstand ab, den er nicht -mitverkauft hatte. -</p> - -<p> -„Das einzige noch einigermaßen brauchbare Stück! -Der ganze übrige Plunder ist vollkommen wertlos“, -wiederholte der Mann, der am Tage vorher heftig -und erfolglos um den Besitz dieses Gegenstandes gekämpft -hatte. „Elender Plunder!“ -</p> - -<p> -„Wie kann eine Wohnungseinrichtung, in der eine -große Familie fünfundvierzig Jahre gelebt hat, plötzlich -ganz wertlos sein!“ Seidel nahm den in braunes -Packpapier eingewickelten Gegenstand unter den Arm. -Stand eine Stunde später im Studierzimmer vor Jürgen, -erklärte, auf dessen Fragen hin, mit drei Sätzen, -welche Arbeit und weshalb er sie angenommen und -welches Ziel er habe. „Ich will zu Geld kommen, -reich werden. Sehr reich! Reicher als ihr alle seid!“ -</p> - -<p> -„Bei einer Schiffschaukel? Du, ein mehr als gewissenhafter -Mensch!“ -</p> - -<p> -„So verkommen würdest du niemals, wie? Was -würden die Leute sagen? ... Mir jedoch ist das einerlei. -Muß mir gleich sein! Gutbürgerliche Gefühle -und Sentimentalitäten kann ich mir nicht erlauben. -Ich brauche Bewegungsfreiheit, um alle Möglichkeiten -ausnützen zu können. Im Magistratsbureau und auch -in irgendeiner anderen festen Stellung gibt es keine -Möglichkeiten für mich. Bin kein Fabrikantensohn ... -Ich will mein Ziel erreichen. Und ich werde es erreichen. -Und dann werde ich erst recht rücksichtslos -sein.“ -</p> - -<p> -„Dein Haß ist ja recht schön ...“ -</p> - -<p> -„Wieso ist er schön?“ -</p> - -<p> -„Nun, ich kann deinen Haß begreifen; aber Reichtum -<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> -ist doch kein erstrebenswertes Ziel. Was bist -du, was hast du, wenn du reich bist und die Armen -wie bisher arm bleiben und überhaupt alles so bleibt, -wie es ist? Dann gehörst du bestenfalls zu denen, die -gehaßt werden. Wem nützest du damit?“ -</p> - -<p> -„Mir!“ Aller Haß, der in einem Menschenkörper -Raum hat, sammelte sich in Seidels Blick, gerichtet -auf Jürgen, der immer sorgfältig gekleidet gewesen war, -nie gehungert, regelmäßig gebadet und die Demütigungen -der Armut nie erfahren hatte. „Du machst -Worte. Du weißt doch sehr gut, was Reichsein bedeutet!“ -</p> - -<p> -„Ich war in anderer Hinsicht immer so arm wie du. -In unserer Zeit sind die Menschen arm. Alle! Auch -die Reichen, glaube ich. Furchtbar arm!“ -</p> - -<p> -Da konnte Seidel nur die Lippen verziehen. „Und -was für ein Ziel hast du?“ -</p> - -<p> -„Ich weiß nichts. Gar nichts! ... Das Ganze ist -unerträglich. Ich sage: das Ganze muß ganz und gar -anders werden.“ -</p> - -<p> -„Nun, dann wird es ja wohl anders werden.“ Dabei -schälte er das Packpapier herunter von dem poliertem, -zartgebauten Nähtischchen seiner Mutter und bat, -Jürgen möge es für ihn aufbewahren. -</p> - -<p> -„Wenn du schon alle Beziehungen zu deinem bisherigen -Leben abbrichst, was hängst du dich da an -das Nähtischchen? Dieser Art Gefühle können dir – -einem Menschen, der solche Ziele hat – doch nur -hinderlich sein. Oder sollten Rücksichtslosigkeit -und Sentimentalität einander vielleicht doch nicht -ausschließen?“ Jürgen hätte nicht sagen können, -weshalb er Seidel diesen Hieb versetzte. -</p> - -<p> -„Mit dem Ding sind meine einzigen schönen Kindheitserinnerungen -verbunden. Wenn die Mutter flickte, -<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> -saß ich am Boden, durfte mit dem Einsatz spielen.“ -Er schob die Fächerschublade wieder hinein ... „Na, -heb’s auf ... Zweifellos wird die ganze Bande auf die -Messe kommen, um mich als Schiffschaukeladjunkt -zu sehen. Mögen sie kommen!“ Die Lippen bebten. -Die Sommersprossen traten stärker hervor, so weiß -war das Gesicht geworden. -</p> - -<p> -‚Vielleicht wird er ein sehr reicher, geachteter Mann -werden; im Magistratsbureau würde er ein mittelloser -geachteter Mann geworden sein ... Rein äußerliche -Rangstufen: arm, wohlhabend, reich, sehr reich, sehr -reich und gebildet, Millionär ohne, Millionär mit Geschmack -und Kultur, Großfinanzier – die innere -Linie ist bei allen die selbe. So ist heute das Leben ... -Und ich? Wie stehts mit mir? Was soll, was will -ich werden? Was und wie will ich sein? Wie werde -ich in zwanzig Jahren sein?‘ Jürgen fand keine -Antwort. -</p> - -<p> -Das jüngste Mitglied des von Jürgen gegründeten -Bundes der Empörer, ein vor dem Abiturientenexamen -stehender Gymnasiast, hatte bei der Gründungssitzung -erklärt, einer sei zuviel auf der Welt, entweder -müsse er sich oder den Geschichtsprofessor vergiften. -Und war von seiner Ansicht nicht abzubringen gewesen -durch Jürgens Entgegnung, daß dann ja immer -noch einige tausend Geschichtsprofessoren am Leben -bleiben würden. -</p> - -<p> -Als einige Tage später auch noch die zwei andern -Mitglieder, fünfundzwanzigjährige, halb verhungerte -Burschen, die behaupteten, als Matrosen und Goldgräber -schon die ganze Welt gesehen zu haben, in der -Villa erschienen waren, versehen mit einem Drahtreif -voll Sperrhaken und entschlossen, die Wocheneinnahme -<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> -eines Metzgermeisters, der jeden Freitag -verreist sei, unter Führung ihres Vorsitzenden und mit -Hilfe der Sperrhaken zu holen, war der Vorsitzende -Jürgen aus dem Bunde der Empörer ausgetreten. -</p> - -<p> -Die Aussprache mit einem schon älteren Manne, -der sechzehn im Zimmer frei umherfliegende Kanarienvögel -und eine Bulldogge besaß, aus Liebhaberei auch -vorgedruckte Postkarten täuschend kolorierte und -behauptet hatte, er halte die Fäden der anarchistischen -Bewegung der ganzen Welt in seiner Hand, in Mexiko -dürfte, entzündet durch zwei seiner Chiffretelegramme, -die Geschichte demnächst platzen, war von Jürgen -nach drei Minuten abgebrochen worden. -</p> - -<p> -In der Jahresversammlung des Vereins für Bevölkerungspolitik -und Säuglingsschutz, in der die -Damen beschlossen hatten, uneheliche Wöchnerinnen -und Kinder in das Heim prinzipiell nicht mehr aufzunehmen, -war Jürgens Frage an das Leben ebenso -unbeantwortet geblieben, wie durch die Rede des -Rektors am Grabe des jüngsten Mitglieds des Bundes -der Empörer, jenes Gymnasiasten, der sich am Tage -nach dem mißglückten Examen erhängt hatte. -</p> - -<p> -Nach achtmaliger Anwesenheit in den kostbar, geschmack- -und weihevoll eingerichteten Räumen der -‚Schule zur innerlichen Vervollkommnung‘, wo brillantengeschmückten -alten Damen, langhaarigen Jünglingen -und kurzhaarigen Mädchen von sehr gebildeten -Menschen empfohlen wurde, das Beste von Laotse -mit dem Besten von Buddha zu vereinen und diese -höhere Einheit zur Richtschnur ihres Seelenlebens -zu machen, war Jürgen, der geäußert hatte, die Weisheit -dieser Richtschnur bestehe ganz offenbar darin, -die eigene Seele zu maniküren und sich um die Not -<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> -der andern nicht zu kümmern, sei also handfester -Egoismus und von irgendwelcher Hingabe noch weiter -entfernt als der Unsinn des Bulldoggenbesitzers mit -den Kanarienvögeln und Chiffretelegrammen, höflich -und leise ersucht worden, den ‚Stillen Stunden -innerer Einkehr‘ von nun an fern zu bleiben, worauf -er mit steigender Sympathie wieder an die zwei -hungrigen Goldgräber mit den Sperrhaken gedacht -hatte. -</p> - -<p> -Von einem Philosophiestudenten war Jürgen einem -dunklen, sehr schönen jungen Mädchen asiatischen -Gesichtsschnittes vorgestellt worden, das ungeniert -sich sofort fast ganz entkleidet und schreitend zu -tanzen begonnen hatte, die dünnen Finger zu Boden -gespreizt und das verzückte Gesicht emporgerichtet. -Noch genau ein Jahr werde sie, hingegeben ihrer -Kunst, ganz abgeschlossen von der Welt leben und -dann durch ihren Tanz die Menschheit erlösen. Sie -werde in den Kirchen tanzen. In der Ecke war ein -schwarzer junger Mann gesessen und hatte ihr geglaubt. -</p> - -<p> -In der Erkenntnis, daß die Weigerung, Leichenteile -zu fressen, vielleicht erst in tausend Jahren Bestandteil -einer von jeglicher Barbarei befreiten Lebensordnung, -zur Zeit aber nur Sache des Geschmackes -einzelner und gewiß nicht das tauglichste Mittel sein -könne, den Kampf gegen das Ganze und das Umstürzen -erfolgversprechend zu beginnen, war Jürgen, zur Genugtuung -der Tante, schon nach einer Woche vom -Vegetarismus wieder zurückgekehrt zum Fleische. -</p> - -<p> -Die Entwürfe zweier Dramen, des Inhalts, daß -einem anständigen Zeitgenossen des zwanzigsten -Jahrhunderts nur die tragische Wahl bleibe, Selbstmord -<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> -zu begehen oder völlig bewußt selbst ein Raubtier -zu werden, hatte er schon vor einem halben Jahre -auf der bewaldeten Höhe verbrannt und war liegengeblieben -neben der Asche, lesend in einem Buche, -dessen weltberühmter Autor erklärte, wenn die Besitzenden -ganz freiwillig nur all ihres Besitzes und ihrer -Macht über die Nichtbesitzenden, sowie alle zusammen -nur jeglicher Lüge entsagen würden, sei in der selben -Stunde die Menschheit erlöst. -</p> - -<p> -‚Das dürfte wahr sein; fragt sich nur, welche Maus -und auf welche Weise sie der Menschheit, dieser -milliardenfüßigen Katze, die Schelle anhängen soll, -welche bewirkt, daß wir in allem wahrhaftig sein können‘, -hatte Jürgen damals gedacht. -</p> - -<p> -War auf dem Rückwege, sinnend und suchend und -rat- und hoffnungslos und nur, um nichts unversucht -zu lassen, zu den aus Nord- und Süddeutschland -stammenden vier Jünglingen gegangen, die zusammen -mit drei Mädchen nahe der Stadt vor kurzem eine -Siedlung gegründet hatten. -</p> - -<p> -Staunen und Begeisterung über den kameradschaftlich -freien Ton zwischen diesen hellblickenden -Mädchen und schwerarbeitenden Jünglingen und über -die geistig großartige Lebensauffassung, die in dem -Zeichen unbekümmerter Jugendkraft und befreiend -humorvoller Ablehnung des Ganzen stand, hatten -Jürgen erfüllt. -</p> - -<p> -Ein Siedler mit großer Rundbrille in einem mageren, -noch unfertigen, nicht ganz hautreinen Gesicht hatte -den beglückt durch die Nacht heimwärts Marschierenden -eingeholt und ihm einen Stoß Aufklärungsschriften -mitgegeben, darunter eine von den Siedlern gemeinsam -geschriebene und im Selbstverlage erschienene -<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> -Broschüre ‚Kapitalismus, Universität und freie Jugend‘ -und ein vierseitiges Werbeflugblatt ‚An die Gesinnungsgenossen‘, -dessen erster Satz lautete: „Wir -haben der Universität, dieser kapitalistischen Bedürfnisanstalt, -die Rückseite gezeigt und im Vorfrühling -mit zusammengepumptem Gelde einen verlotterten -Bauernhof gekauft, der, obgleich mit Hypotheken -gegenwärtig noch schwer belastet ...“ Der Schlußsatz -lautete: „Unsere Siedlung ist eine kleine Insel im -großen Stunk.“ -</p> - -<p> -Vernachlässigung des Universitätsbesuches, Verzweiflung -und Drohungen der Tante, Ablieferung der -Kollegiengelder an die Siedler, die dringend Saatgut -gebraucht hatten, mühevolle Feld- und Gartenarbeit -und an den Abenden stundenlange, heftig geführte -Diskussionen, aufregend und beglückend für Jürgen -und oft sehr gefährlich für den Weiterbestand der -Siedlung, waren gefolgt. -</p> - -<p> -Tag und Nacht offene Fenster. In den Stuben je -ein Feldbett, ein Handköfferchen und sonst nichts. -Die Wände, hell gestrichen, leuchteten blau, grün, -rosa. -</p> - -<p> -„Morgen kommt Lili mit ihrem Kinde aus dem Gebirg -herunter.“ -</p> - -<p> -Wie lebendig das klingt, hatte Jürgen gedacht. -‚... kommt Lili mit ihrem Kinde aus dem Gebirg -herunter.‘ -</p> - -<p> -Anfangs waren die Siedler in allen Versammlungen -als Sprecher aufgetreten und hatten die anwesenden -Bürger verblüfft und gereizt durch ihre respektlosen -Reden gegen Staat und Kirche, Schule, Ehe, Eigentum, -Zins- und Hypothekenräuberei. -</p> - -<p> -Der kirchenfeindliche Verein ‚Gedankenfreiheit und -<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> -Feuertod‘, der seit Jahren erfolglos um die Genehmigung -kämpfte, sein schon erbautes Krematorium in -Betrieb setzen zu dürfen, hatte, nachdem in der -öffentlichen Protestversammlung von dem Siedler -mit der Rundbrille erklärt worden war, er persönlich -habe ja gar nichts dagegen einzuwenden, wenn die -Anwesenden sich schon morgen einäschern ließen, -nur glaube er nicht, daß dadurch der große Stunk -merklich vermindert werden würde, die Polizei auf -Siedler und Siedlung aufmerksam gemacht. -</p> - -<p> -Kartoffelernte, Hypothekenzinsforderungen, Herbstbeginn, -kürzer werdende Tage, in dem selben Maße verlängerte, -immer heftiger werdende Diskussionen. Und -eines Tages waren die Handköfferchen und Lili mit -dem Kinde und die Siedler verschwunden gewesen, -unter Zurücklassung der sieben Feldbetten, die, zusammengeklappt -und aufeinandergeschichtet, in dem -offenen Schuppen lagen. -</p> - -<p> -Der Bauer hatte seine Kommoden, wandbreiten -Eichenschränke und Riesenfederbetten wieder eingestellt, -die grünen, rosa und blauen Wände dunkel -schabloniert und die Heiligenbilder aufgehängt. -</p> - -<p> -Einige Wochen später war von dem Siedler mit der -Rundbrille eine Postkarte aus Berlin gekommen: -Die Siedlung sei aufgeflogen. Die Gründe, eine schwere -Menge, könne Jürgen sich ja denken. Lili habe sich -noch nicht entschließen können; aber er sei Mitglied -der sozialistischen Partei geworden. Und damit Punkt. -</p> - -<p> -Wenn Jürgen an diesen Herbstabenden, da es im -vornehmen Villenviertel schon ganz still war, am -Fenster saß und, zurückdenkend an sein ergebnisloses -Fragen und Suchen, hinaushorchte in die Nacht, vernahm -er die fernher dringenden Töne der Drehorgeln. -</p> - -<p> -<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> -Die fünfzig verschiedenen Melodien zusammen erregten -bei manchem Besucher schon Schwindelgefühl, -wenn er auf dem Jahrmarkt noch gar nicht angelangt -war. Paukenschläge und Trompetenstöße drangen -siegreich durch. -</p> - -<p> -Alles drehte sich, funkelte und flog. Die Mädchen -klammerten sich an ihre Liebhaber an, schrien auf, wenn -die Berg- und Talbahn in die Tiefe sauste, im rosa beleuchteten -Tunnel verschwand. Und an der farbensprühenden -Budenreihe entlang zog die schwarze Menschenmenge. -Alle Ausrufer waren schon heiser, luden -hinreißend liebenswürdig ein. Die Konkurrenz war groß. -</p> - -<p> -Trotzdem hatte sich Herr Rudolf Schmied in seinem -grünen Wagen zu einem Schläfchen niedergelegt und -Seidel die Aufsicht und das Geldeinsammeln anvertraut. -Denn tags zuvor, in früher Morgenstunde, -als noch kein Budenbesitzer, kein Adjunkt dagewesen -war, der die Einnahme hätte kontrollieren können, -hatte Seidel kassiert, sich vom Lehrer der Knabenklasse, -die geschaukelt hatte, eine Empfangsbestätigung -ausstellen lassen und Geld und Schein gewissenhaft -Herrn Rudolf Schmied abgeliefert. -</p> - -<p> -Dieser Empfangsschein hatte wie tödliches Gift -auf das Mißtrauen des Herrn Schmied gewirkt. Die -Adjunkten vermuteten in Seidel einen Verwandten -des Herrn Schmied, unterordneten sich ihm, lieferten -willig die Einnahme ab. -</p> - -<p> -Die immer besetzten zwölf Schiffe der schönen, besonders -hohen Schaukel flogen unausgesetzt. Die -sieben der alten, niedrigen Schaukel daneben hingen -fast immer reglos. Die Adjunkte luden brüllend ein; -der Orgelspieler drehte wie besessen: alle drängten -vorbei zur hohen Schaukel. -</p> - -<p> -<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> -Seidel blickte starr ins Publikum und befahl, als -er Herrn Hohmeier entdeckte, gleichgültigen Gesichtes -dem Adjunkten mit dem pflaumenblauen Herzen -auf der Backe, der von seinen Kollegen ‚Das Herz‘ -genannt wurde, das letzte Schiff in der Reihe anzuhalten, -da die Tour zu Ende sei. -</p> - -<p> -Schon preßte ein anderer Adjunkt, der ein abschreckend -großes, pferdekopfähnliches Gesicht hatte, -das Anhaltbrett gegen den Kiel des allmählich sich -totschaukelnden Schiffes. Eine neue Tour begann. -Seidel sammelte ein. Der Magistratsbeamte ließ ihn -nicht aus den Augen, die vor Hohn und Genuß funkelten. -Auch die zukünftige Braut des Herrn Hohmeier -machte große Augen. Sie hatte ein ganz mageres, -blasses Gesichtchen. -</p> - -<p> -„Das Riesenweib! Wie sie ißt! Wie sie trinkt! -Wie sie schläft! Brustumfang 154! Alles andere dementsprechend! -Kolossal! Jedem Besucher erlaubt, -nachzuprüfen! Brustumfang 154!“ schrie der Ausrufer -links neben der Schiffschaukel. -</p> - -<p> -Und ein anderer: „Hopp hopp hopp hopp hopp!“ -Der ritt ohne Pferd dem Publikum einen eleganten -Trab vor zugunsten des ‚Hippodrom von Eder, wo -reiten kann ein jeder‘. -</p> - -<p> -Ein kleiner, verhärmt aussehender Budenbesitzer, -auf dessen Schulter ein abgerichteter Rabe saß, der -Kopf und Beine und flügellahme Schwingen ruhelos -bewegte, sagte zu Jürgen: „Treten Sie ein: Hier wird -jedes Menschen Sehnsucht erfüllt.“ -</p> - -<p> -Plötzlich stand Jürgen, der blicklos den verhärmten -Alten anblickte, mit Katharina Lenz in dem Laubgang -beschnittener Korneliuskirschen. Die Tante führt -ihn am Arme weg von Katharina. -</p> - -<p> -<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> -Wüßte ich, was ich will, dachte er, dann würde ich -jetzt Katharina aufsuchen; aber ich weiß heute nicht -mehr, als ich damals wußte. -</p> - -<p> -Bei der kleinen Schiffsschaukel entstand Tumult; -sie wurde plötzlich von Fahrgästen gestürmt: Der -Besitzer hatte ein Plakat ausgehängt, auf dem stand: -‚Hier kostet die Tour den halben Preis‘. Höhnisch -blickte er zu Seidel hinüber, dessen Schiffe jetzt reglos -hingen. -</p> - -<p> -Seidel stürzte zum Besitzer. Der rieb sich entsetzt -den Schlaf aus den Augen, wollte ebenfalls für den -halben Preis schaukeln lassen. -</p> - -<p> -„Wenn Sie das tun, kommt man zwar wieder zu -Ihnen, weil unsere Schaukel höher ist, aber die Einnahme -würde fortan nur die Hälfte betragen. Ihre -Schaukel wäre entwertet.“ -</p> - -<p> -„Und so verdiene ich gar nichts. Schreiben Sie sofort -ein Plakat. Das Herz soll helfen.“ Er tanzte vor -Aufregung. -</p> - -<p> -„Ich mache Ihnen den Vorschlag ...“ -</p> - -<p> -„Nichts! Nichts! Schnell, Freundchen! Die Zeit -vergeht.“ -</p> - -<p> -„Wollen Sie riskieren, heute abend keinen Pfennig -mehr einzunehmen, wenn Sie dafür an den folgenden -Tagen wieder die volle Einnahme haben würden?“ -</p> - -<p> -Herr Rudolf Schmied warf die Arme: „Was? Wie? -Was? Wie ist das?“ -</p> - -<p> -„Lassen Sie ganz umsonst schaukeln.“ -</p> - -<p> -Da schrie Herr Schmied mit vollen Lungen so lange -nach dem Halben-Preis-Plakat, bis Seidel ihm auseinandersetzte, -dann müsse auch der andere umsonst -schaukeln lassen, aber es käme darauf an, wer es -länger aushielte. „Sie sind ein wohlhabender Mann; -<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> -der Konkurrent steht vor dem Bankerott. Sie warten -ganz einfach, bis er zu Ihnen kommt und bittet, -daß beiderseits wieder um den ganzen Preis geschaukelt -werden soll.“ -</p> - -<p> -Herrn Rudolf Schmieds altes Messegesicht leuchtete. -</p> - -<p> -Seidel rief Das Herz, das Pferdegesicht und die -andern Adjunkte in den Wagen. Viele hundert -kleine, improvisierte Billetts wurden eiligst geschnitten, -gestempelt. Und auf dem gewaltigen Plakat stand: -‚Wer ein Billett hat, fährt ganz umsonst in Rudolf -Schmieds modernster und höchster Schaukel der Welt‘. -</p> - -<p> -Das Herz brüllte, schleuderte die Zettelchen ins -Publikum. Das nahm die Schaukel im Sturm. Seidel -beobachtete die Konkurrenzschiffe, die sich entleerten -und nicht mehr füllten. -</p> - -<p> -Ein ungeheurer Tumult erhob sich. Das Hinüber- -und Zurückbrüllen der beiden Besitzer hatte das ganze -Messepublikum angezogen. Viele Budenbesitzer kamen -geeilt, zu erfahren, was ihnen das Publikum entzog. -In der ersten Reihe stand Herr Hohmeier. -</p> - -<p> -Eine Viertelstunde später kostete die Tour wieder -den ganzen Preis. Seidel hatte im Wagen des Herrn -Schmied die Verhandlungen geleitet. -</p> - -<p> -Der Besitzer der Berg- und Talbahn, des größten -Unternehmens der Messe, fing Seidel ab, legte ihm die -Hand auf die Schulter: „Ich brauche eine Hilfe. -Wollen Sie Geschäftsführer bei mir werden? ... Das -haben Sie großartig gemacht.“ -</p> - -<p> -„Ich bin bei Herrn Schmied angestellt.“ -</p> - -<p> -„Ich zahle Ihnen das Dreifache.“ -</p> - -<p> -„Ich mache voraussichtlich schon morgen eine eigne -Bude auf ... Aber eine Idee will ich Ihnen verkaufen -für Ihr Unternehmen!“ -</p> - -<p> -<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> -„Das wäre?“ -</p> - -<p> -„Schreiben Sie eine Erklärung, daß Sie mir Zweihundert -bezahlen, wenn Sie meine Idee ausführen.“ -</p> - -<p> -„Hundert!“ -</p> - -<p> -„Zweihundert!“ -</p> - -<p> -Seidel steckte den Zettel ein. „Bei Ihnen fahren -hauptsächlich Liebespärchen, weil sie in den scharfen -Kurven gegeneinander geworfen werden.“ -</p> - -<p> -„Das stimmt. Darauf spekuliert die Konstruktion.“ -</p> - -<p> -„Und dann noch wegen des Tunnels. In diesem -Tunnel verschwinden die Pärchen besonders gern. -Das habe ich beobachtet.“ -</p> - -<p> -„Aber sicher!“ -</p> - -<p> -„Der Tunnel ist mit roten Glühlämpchen erhellt -...“ -</p> - -<p> -„Natürlich! Rosa!“ sagte der Mann mit großer -Gebärde. -</p> - -<p> -„Lassen Sie morgen von Ihrem Maschinisten eine -Vorrichtung anbringen, die den Kontakt unterbricht, -so daß es eine Sekunde dunkel wird im Tunnel, dann -wieder hell, dunkel ... Die Liebespärchen werden -sich danach richten.“ -</p> - -<p> -Strahlend trat Herr Rudolf Schmied zu den beiden. -</p> - -<p> -Seidel ging auf seinen Posten zurück, rief Das Herz -zu sich. Der war der Sohn eines bankerottgewordenen -Schaubudenbesitzers, dessen Tiere krepiert waren. -Seidel hatte erfahren, daß Das Herz den schwer zu -erlangenden Gewerbeschein besaß und jederzeit eine -Bude aufmachen konnte. „Was für Tiere waren es -denn?“ -</p> - -<p> -Das Herz schrie in großer Erregung: „Eine Riesenschildkröte -und ein Flußpferd. Sie tanzten zusammen -Menuett.“ -</p> - -<p> -<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> -Seidel überlegte, ob ein Mensch mit einem Pferdegesicht -beim Publikum Erfolg haben würde. Das -Herz erklärte sich bereit, den Gewerbeschein beizusteuern; -das Pferdegesicht stellte sich selbst zur -Verfügung; Leo Seidel die Idee und das Geld. Fehlte -noch die Bude. -</p> - -<p> -Die stand unbenützt neben der Hauptattraktion -der Messe: ‚Herrn August Schichtels Spezialitäten- -und Zaubertheater‘, dessen Zulauf enorm war. Wer -das Unglück hatte, seinen Platz neben Herrn Schichtel -zu bekommen, konnte kein Geschäft machen. Deshalb -hatte der Besitzer der Bude gar nicht eröffnet. -</p> - -<p> -Der verhärmte Alte, dessen von niemand beachtete -Bude rechts neben dem Zaubertheater stand, -zeigte, als Jürgen, schon heimwärtsstrebend, noch -einmal vorbeiging, wieder einladend die Handfläche: -„Hier wird jedes Menschen Sehnsucht erfüllt. Treten -Sie ein.“ -</p> - -<p> -Einige Tage später schritt Jürgen, der, aus Neugier, -zu erfahren, welcher Art die Genüsse seiner früheren -Mitschüler seien, Adolf Sinsheimer versprochen hatte, -am Monatsersten mit in eine Weinkneipe zu gehen, -auf das verwahrloste Vorstadthaus zu, vor dem Adolf, -drei junge Kaufleute und der Magistratsbeamte Hohmeier -schon wartend unter der roten Laterne standen. -</p> - -<p> -Aus fünf Brusttaschen stand je ein farbiges Tüchlein -empor. Blasse und gerötete Gesichter. Auf allen die -gleiche fiebrige Erregung und Spannung. Die vier -waren im kaufmännischen Klub gewesen, hatten -Herrn Hohmeier auf der Straße getroffen und mitgeschleppt. -</p> - -<p> -Sie wollten, zur Feier des Monatsersten, die Animierkneipe -mit Damenbedienung besuchen. -</p> - -<p> -<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> -„Aber nur eine Flasche zusammen! Das habt ihr -mir versprochen“, sagte der Magistratsbeamte, schloß -den obersten Knopf des Gehrocks. Und folgte als -letzter, während Adolf die Führung übernahm, resolut -voranschritt, hinein in das schmale Kneipchen, das -noch vor einer Woche ein Bäckerladen gewesen war. -</p> - -<p> -Jetzt waren die drei Glühbirnen mit roten Papierschirmen -verhängt, die Brotlaibregale mit schön verkapselten -Weinflaschen spärlich gefüllt, und der -Ladentisch hatte sich in ein nickelbeschlagenes, -glanzsprühendes, mit künstlichen Blumen und Weintrauben -reich geschmücktes Büfett verwandelt, hinter -dem der Wirt saß und zum zehnten Male die Abendzeitung -las. -</p> - -<p> -Jürgen glaubte in ihm den Sklavenhalter zu erkennen, -den Held einer Seeräubergeschichte, die er als Gymnasiast -gelesen hatte. Des Sklavenhändlers tintenschwarzer -Bart, die Riesenglatze, die Hakennase -waren da. Nur die Peitsche fehlte; ihre Stelle nahm -die Abendzeitung ein. Unsichtbar von ihm geleitet, -gerieten seine drei von Seide und Schminke bunten -Kellnerinnen mit den Weinkarten in Bewegung. -</p> - -<p> -Der einzige Gast, außer den Kaufleuten, ein schon -total betrunkener Fabrikschreiner ohne Halskragen, -schaukelte den Kopf knapp über der Tischplatte hin -und her, riß ihn in den Nacken und schrie in die falsche -Richtung: „Da komm her!“ -</p> - -<p> -Die Älteste ging zu ihm, ließ ein bißchen an sich -herumgreifen, so lange, bis er einen Geldschein auf -den Tisch knallte. Strich ihm über das Haar, in dem -noch die Holzteilchen steckten, und gab ihrer jungen -Schwester einen Augenwink. Die brachte eine neue -Flasche. -</p> - -<p> -<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> -Der Magistratsbeamte beugte sich auf die Tischplatte. -„Eine zusammen! Ich denke, wir nehmen -die billigste.“ Und er legte den auf ihn kommenden -Teil der Rechnung gleich auf den Tisch. -</p> - -<p> -Erschrocken nahm Adolf das Geld wieder weg. -„Das ist mein Teil“, sagte der Magistratsbeamte -deutlich. -</p> - -<p> -Der Arbeiter glotzte auf seine neue Flasche, glotzte -die Älteste an. „Jetzt komm aber auch her!“ -</p> - -<p> -Kopfschüttelnd lächelte sie den Kaufleuten zu, -gab den Augenwink ihrer jungen Schwester, die, -noch ungeschickt und verlegen, zum Arbeiter ging -und sich von ihm auf den Schoß ziehen ließ. Er griff -ihr an die Brust, die noch nicht vorhanden war, und -brüllte: „Die andere!“ -</p> - -<p> -„Für uns auch ein Gläschen?“ fragte die Älteste -mit einem Blick, der allen fünfen in die Augen traf. -Und Adolf gewann die Fassung wieder. „Aber selbstverständlich!“ -</p> - -<p> -Sie entleerte die Flasche in drei Gläser und goß noch -fünf Gläser voll bis zum Rand, so daß plötzlich drei -leere Flaschen auf dem Tische standen. -</p> - -<p> -Der Magistratsbeamte beugte sich vor und seitwärts -über drei Oberkörper weg, holte sich ein Glas -mit Wein aus der ersten Flasche und stellte es bedeutungsvoll -vor sich hin. -</p> - -<p> -„Schmeckt, was?“ sagte die Älteste, da Adolf den -Wein kennerisch mit der Zunge prüfte. Er schüttete -Zigaretten in ihre Hand, und seine Kollegen gaben ihr -Geld, damit sie das Riesenorchestrion spielen lasse. -</p> - -<p> -Das nahm die ganze Rückwand ein, reichte bis zur -Decke. Begann zu rasseln, knackte: ein farbiger -Husarenleutnant aus Holz, den Taktstock im Händchen, -<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> -schob sich, ruckweise, wie das rotseidene Vorhängchen -auseinanderging, in den Vordergrund und -dirigierte das von Trommelwirbel umdonnerte Flötensolo. -</p> - -<p> -Der Wirt stand reglos und groß hinter dem Büfett. -Sein Bart ging mit der Dunkelheit zusammen. Die -Glatze hing losgelöst und weiß über dem Büfett. -</p> - -<p> -Der Arbeiter lallte, goß ein, goß in das überlaufende -Glas, bis die Flasche leer war, stülpte den Flaschenhals -ins Glas und schimpfte, in der Einsicht, mit -seinem Wochenlohn gegen die vornehmen Herren -nicht aufkommen zu können, hoffnungslos in eine -leere Ecke hinein. „Noch eine Flasche!“ schrie er -verzweifelt. -</p> - -<p> -Und die Älteste stand augenblicklich hinter ihm, -überredete ihn, erst das Geld zu geben, schob es -wieder zurück. „Das langt nicht zu. Geh heim. -Hast genug getrunken.“ -</p> - -<p> -Schwankend und drohend erhob er sich. Der Wirt -stand groß vor ihm, hinter dem Wirt die Älteste mit -der Mütze des Arbeiters. -</p> - -<p> -Halb geschoben, torkelte er hinaus, ausgebeutelt -und betrogen von seiner Sehnsucht nach Glanz und -nach einer Frau, die keinen verbrauchten Körper -hatte und keine schmutzige Flanellunterwäsche trug. -</p> - -<p> -Die Älteste, noch bei der Tür, breitete die Arme aus. -„Jetzt sagt mir, was hat so ein Arbeiter in einer Weinstube -zu suchen.“ -</p> - -<p> -Das selbe fragten die Kaufleute. Sie zog aus ihrem -Busen pornographische Photographien, auf denen sie -selbst in verschiedenen Stellungen nackt abgebildet -war, zusammen mit einem Herrn im Frack. Es standen -schon neun leere Flaschen auf dem Tisch. Die Gläser -<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> -der Mädchen waren immer beinahe gleichzeitig voll -und leer. -</p> - -<p> -„Aber natürlich bringen Sie noch Wein!“ rief Adolf -und ließ die Bilder durch seine heißen Hände laufen. -„Aber natürlich bringen Sie noch!“ echoten die -andern. -</p> - -<p> -Hinter dem Büfett hing in einem Ring ein Kübel; -vom Boden des Kübels lief ein Schlauch weg in die -jeweilig darunterstehende Flasche. Nachdem die -Mädchen ihre vollen Gläser in den Kübel entleert -hatten, besorgte der Wirt mit diesem Weine das Füllen -der Flaschen. Und die Mädchen stellten den Wein -wieder auf den Tisch. -</p> - -<p> -Das Orchestrion spielte ununterbrochen. Die vier -Köpfe, eng aneinandergepreßt, blieben über die Photographien -geneigt, bis die Älteste die Bilder wegnahm. -Das Wort ‚Sekt‘ fiel. Jürgen legte einen Geldschein -in Adolf Sinsheimers Hand und verließ die Weinstube. -Die andern bemerkten es kaum. -</p> - -<p> -Plötzlich fühlte der Magistratsbeamte sich beim -Halse gepackt. Die ineinander verschlungenen Weiber- -und Männerkörper schaukelten hin und her nach -der Melodie des Flötensolos. Der Sekt floß. Die -Flaschen schwebten selbständig vom Büfett herüber -auf den Tisch. Floß eine Stunde lang im Kreislauf: -aus den Flaschen in die Gläser, von da in den Kübel, -durch den Schlauch in die Flaschen und wieder in die -Gläser, bis der kühl und reglos neben dem Kübel -stehende Wirt den Wink zur Vorsicht gab. -</p> - -<p> -Da lösten sich die Mädchen allmählich los. Die junge -Schwester blieb auf des Magistratsbeamten Schoß -liegen. Sie war betrunken. Der Wirt schickte ihr einen -Blick, der sie ernüchterte. -</p> - -<p> -<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> -Ein Schub Studenten trat ein, setzte sich an den -Tisch, an dem der Arbeiter gesessen hatte. -</p> - -<p> -Des Magistratsbeamten geschweifter Mund schnappte -auf und zu, und plötzlich warf er die dürren Arme -hoch und behauptete: so lebe er, so lebe er, so lebe -er alle Tage. -</p> - -<p> -Die Älteste stand schon bei den Studenten, lächelte -kopfschüttelnd über die Kaufleute und nahm die Bestellung -entgegen. Die Studenten blickten belustigt -hinüber. -</p> - -<p> -„Pardon!“ drohte Adolf, der seinen früheren Mitschüler, -Karl Lenz, nicht erkannte. Der Wirt kam -groß aus dem Büfett heraus. -</p> - -<p> -„... so leben wir alle Tage“, sang der Magistratsbeamte -immer noch. Und die Älteste präsentierte die -Rechnung. -</p> - -<p> -Die fünf Monatsgehälter reichten nicht. Der halbe -Tisch stand voll Wein- und Sektflaschen. Adolf warf -noch eine Banknote auf den Tisch, an dessen Stirnseite -der Wirt stand und die drei Worte sprach: „Das -langt nicht.“ -</p> - -<p> -Alle standen schwankend und ausgeliefert, wollten -nach ihren Mänteln greifen. „Sie müssen mir Ihren -Ring zum Pfande da lassen.“ Der Wirt stellte den -Zeigefinger steil auf die Rechnung. Die Studenten -beobachteten gespannt die Szene. -</p> - -<p> -Adolf zog den Brillantring vom Finger. „Darüber -muß ich eine Quittung bekommen!“ Und blickte, -trotz seines Rausches, verblüfft auf die schon ausgefüllte -Quittung, die der Wirt sofort vor ihn hinlegte. -</p> - -<p> -Schritt für Schritt ging er hinter den Abziehenden -nach, schloß die Tür leise und mit Kraft und zog -sich hinter das Büfett zurück, stellte eine leere Flasche -<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> -unter den Kübel. Diesmal war es eine Rotweinflasche. -</p> - -<p> -Die Älteste atmete hoch auf, ließ den Busen fallen: -„Diese Kaufleutchen! Wollen elegante Herren spielen -und können dann nicht bezahlen.“ Sie breitete die -Arme aus: „Jetzt sagt mir, was haben solche Bürschchen -in einer Weinstube zu suchen?“ -</p> - -<p> -Karl Lenz stimmte ihr bei. Daraufhin auch die -andern. Sie goß den Rotwein ein. „Auch für uns ein -Gläschen?“ -</p> - -<p> -„Aber selbstverständlich!“ Und dann ging er ernsten -Gesichtes erst hinaus in das Klosett und nahm -das Couleurband ab; die andern hatten, dem Koment -gemäß, ihre Couleurbänder nicht an. -</p> - -<p> -Die Älteste goß neun Gläser voll: es waren sechs -Studenten. Die junge Schwester richtete den Tisch -der Kaufleute für neue Gäste her. Und der Wirt -rückte den Kübel zurecht. -</p> - -<p> -Daß dies besonders herrliche Genüsse wären, wert, -ihretwegen auch nur den Bruchteil selbst eines blödsinnigen -Ideals aufzugeben, kann gewiß niemand -behaupten; aber auch nicht, daß es keine begehrenswerteren -Genüsse gäbe, dachte Jürgen auf dem Heimwege -durch die schlafende Stadt. -</p> - -<p> -Vor dem kleinen Café in der noch belebten Hauptstraße -stand wieder der Krüppel und neben ihm, -reglos, grau und böse, die Frau, auf dem Arme den -skrofulösen Säugling. -</p> - -<p> -‚Daß einer um den Preis, Liebschaften zu haben -mit schönen, gepflegten Frauen, oder um der Macht -und des Erfolges willen Verrat übt an allem, was ihm -in der Jugend teuer war, wäre schon eher zu begreifen.‘ -</p> - -<p> -<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> -Und plötzlich entsann er sich des Abends, da er, -geladen bei einer der vornehmsten Familien des Landes, -solchen Frauen begegnet und Zeuge geworden -war von Gesprächen zwischen Großbankiers, die -über Weltpolitik, Eisenbahnbauten und den wahrscheinlichen -Zeitpunkt eines neuen Krieges in leichtem -Plaudertone gesprochen, und zwischen berühmten -Schriftstellern, die über die Schönheit eines Goethezitates -und sogar über den Satzbau des Zitates länger -als eine Stunde äußerst beziehungsreich und sehr klug -und geistvoll diskutiert hatten. Das ist Macht, das -ist Kultur, hatte er damals gedacht. -</p> - -<p> -‚Aber kann denn durch diese Macht und durch -diesen Geist das Meer von Tränen, kann denn dadurch -das würgende, würgende Menschenleid beseitigt werden? -Ich glaube es nicht. Was aber soll man tun?‘ -Bedrückten Herzens schloß er die rückwärtige Gartentür -auf, an die er das Schild angebracht hatte: ‚Hier -wird Armen gegeben‘. -</p> - -<p> -Seine Fragen an das Leben fanden keine Antworten; -nur die allzu glatten der Schulkameraden und -der Tante. Oft – wenn er sah, wie die früheren Mitschüler -jenseits aller Zweifel lebten – hatte der Vereinsamte, -wie einmal in der Schule, den Wunsch gehabt, -auch so zu werden, wie die andern waren, das -Fragen und das Suchen aufzugeben und sich der -Tantenauffassung anzuschließen. Diese Stunden nannte -Jürgen Schicksalspausen. -</p> - -<p> -Er saß am Fenster, hatte noch Kopfschmerzen von -dem Wein, sah die Animierkneipe. Schweinerei! -dachte er, betrachtete mit inbrünstigem Hasse der -Tante Lebensarbeit: die unverwüstlichen gehäkelten -Deckchen, die alle Möbelstücke drückten. Der -<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> -Perpendikel tickte ruhevoll das Wort ‚rich–tig, -rich–tig‘. -</p> - -<p> -‚In diesem Zimmer „Schweinerei“ zu sagen, ist -unmöglich. Da hört die Uhr auf zu ticken, die Deckchen -gleiten von Sesseln, Tisch, Kommode, und die -Heiligenbilder fallen von den Wänden.‘ -</p> - -<p> -Eine lange halbe Stunde wurde kein Wort gesprochen. -Die Tante häkelte. Die Älteste zeigt die -Photographien. -</p> - -<p> -„Schweinerei!“ brüllte Jürgen, erwartete die Zimmerrevolution, -sah die böse herausgedrückten Augen -der Tante. Die Szene von früher wiederholte sich: -</p> - -<p> -„Was hast du gesagt?“ -</p> - -<p> -„Ich habs doch nur gedacht.“ -</p> - -<p> -„Du lügst mir wieder ins Gesicht hinein?“ -</p> - -<p> -„Wenn doch diese verdammte Uhr endlich aufhören -würde zu ticken!“ -</p> - -<p> -Sie machte eine barsch abschließende Handbewegung -und stellte die Häkelnadel senkrecht gegen ihn: -„Wenn du erst in Amt und Würden sein wirst ...“ -</p> - -<p> -Sein ganzer Körper wurde gemauerter Widerstand. -„Niemals! Ich studiere Philosophie.“ -</p> - -<p> -Zuerst legte sie die Häkelarbeit weg, griff nach der -Stickerei und stach langsam die Nadel von unten in -den Stickrahmen, zog sie senkrecht hoch. „Du weißt, -dein Vater will ...“ -</p> - -<p> -„Er ist ja tot. Tot!“ -</p> - -<p> -„... daß du Amtsrichter wirst.“ -</p> - -<p> -Sein Gesicht verzog sich zu einer Lachfratze. Und -in die Pause hinein gestand er: „Ich studiere seit -einem Jahre, studierte von Anfang an Philosophie. -Überhaupt nie eine andere Vorlesung gehört!“ -</p> - -<p> -Da saß sie aufrecht, faltete übertrieben ruhig die -<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> -Hände im Schoß: „In diesem Falle würdest du nicht -einen Pfennig mehr von mir bekommen. Von was -also wolltest du leben? ... Philosophie? Was willst -du denn werden?“ -</p> - -<p> -Er sah das Schäfchen auf dem Heiligenbilde an. -„Werden?“ Die Uhr tickte: ‚rich–tig, rich–tig‘. -</p> - -<p> -„Nun, was also? Alle deine Schulkameraden wissen -längst, was sie werden wollen.“ -</p> - -<p> -Plötzlich schlug seine Ratlosigkeit in Wut um. Er -brach in die Knie, preßte beide Fäuste an den Hinterkopf -und brüllte wild: „Nichts weiß ich! Landstreicher -werde ich. Ich gehe auf die Landstraße. Ein Gauner -werde ich, wenn du mich noch länger quälst.“ -</p> - -<p> -Der Kniende stierte auf die Krüppelfamilie, die grau, -elend, schemenhaft vor der Dunkelheit stand. Auch -den skrofulösen Säugling auf der Mutter Arm sah -Jürgen. Kniend rutschte er auf die imaginäre Gruppe -zu und zur Tür hinaus. -</p> - -<p> -Erst oben in seinem Zimmer kam die Wut voll zum -Ausbruch. Zuletzt riß er die Waschschüssel mit beiden -Händen in die Höhe und schmetterte sie auf den Fußboden. -Die Stirn blutete. Das Zimmer war verwüstet. -</p> - -<p> -Allmählich wurde der vom Weinen Gestoßene still. -Er saß, Arme verschränkt, Kopf darauf, am Tisch. -Tränen und Speichel vermischten sich auf der Tischplatte. -So blieb er hocken. -</p> - -<p> -Plötzlich deutete er durch den Fußboden auf das -Heiligenbild im Wohnzimmer und verlangte ausdrücklich: -„Das Lämmchen muß dem Heiligenbild -weggenommen und der Krüppelfamilie vor die Füße -gesetzt werden.“ -</p> - -<p> -‚Der arme Jürgen! Sie haben ihn so lange gequält, -bis er irrsinnig wurde‘, ließ er Katharina Lenz sagen, -<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> -ahmte eine Kinderstimme nach, schmollte trotzig und -weinerlich: „Man muß das Lämmchen zur Krüppelfamilie -tun.“ -</p> - -<p> -‚Wie man ihn gequält hat! Jetzt ist der Arme irrsinnig‘, -klagte Katharina. -</p> - -<p> -Und er schauspielerte: „Das Lämmchen gehört zu -der Krüppelfamilie ... Bäh, bäh, bäh!“ Müdigkeit -drückte des Erschöpften Wange auf die Tischplatte. -Noch einmal hob er das von Tränen und Blut verschmierte -Gesicht, rief trotzig und blöd: „Bäh!“ und -schlief ein. -</p> - -<p> -Da erschien, grün und aufgetrieben wie ein Ertrunkener, -der Vater hinter dem Stuhle, tippte Jürgen -auf die Schulter und sagte leise und lächelnden, weitgeöffneten -Mundes, so daß alle Zähne bleckten: „Na, -du schmähliches Etwas.“ Dabei drehte der Vater des -Jahrmarktes riesige, vieltausendstimmige Drehorgel, -deren Töne fernher drangen durch den warmen Herbstabend. -</p> - -<p> -Der Kontakt im Tunnel der Berg- und Talbahn -funktionierte schon. Die Bude links neben dem Zaubertheater -war mit Hilfe von Ölfarbe in einen alten Stall -umgewandelt, aus dessen Luke Heu hervorquoll. Der -Kopf des mit kosmetischen Mitteln hergerichteten -‚Pferdegesichtes‘ sah sehr abnorm aus. -</p> - -<p> -Das Herz brüllte in das Riesenhorn, das Seidel hatte -machen lassen: „Hier ist zu sehen der Mensch mit dem -Pferdekopf! Die größte Abnormität der Welt! Er -frißt Heu wie Brot! Hafer ist ihm das liebste! ... -Man höre ihn wiehern.“ -</p> - -<p> -Blies mächtig ins Horn, starrte, Hand am Ohr, ins -Publikum: Aus der Bude erklang das brünstige Wiehern -des Pferdegesichtes. -</p> - -<p> -<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> -Auch Jürgen, der außerhalb der Stadt auf der bewaldeten -Höhe stundenlang am selben Flecke reglos -gelegen war und sich nach dreißig Schritten, gepeinigt -von Unruhe und Ratlosigkeit, wieder in das Moos hatte -fallen lassen, den Blick fernaus gerichtet, dem Flußlauf -nach, in das weite Land, dem Meere zu, ganz und gar -erfüllt von dem Wunsche, aller Last zu entlaufen, hinaus -in ein Leben der Ungebundenheit, wurde auf dem Heimwege -angezogen von den Drehorgelmelodien, die, wie -in der Knabenzeit, in ihm das Gefühl wieder erwachen -ließen, daß hier die Freiheit sei. -</p> - -<p> -Das ist das selbe Gefühl, das den sechsjährigen Sohn -des Geheimrates sagen läßt: ‚Ich will Droschkenkutscher -werden‘, dachte er und betrachtete den Stall. -Rechts stand: Eingang; links: Ausgang. In der Mitte -saß Leo Seidel vor der grünen Drahtgitterkasse. -</p> - -<p> -Ihn jedoch hat nicht dieses Gefühl vor die Schaubude -gesetzt, dachte Jürgen, wollte schon durch die -Menge durch, die drei Stufen hinauf, Seidel zu begrüßen, -erinnerte sich in dieser Sekunde der Weltgeschichte -und seines letzten Gespräches mit Seidel -und verließ den Jahrmarkt. -</p> - -<p> -Seidel hatte Jürgen nicht bemerkt; er war sehr -beschäftigt. Wenn die Leute sahen, wie das aus der -Luke heraushängende Heu sich bewegte, siegte bei -vielen die Neugierde, einen Menschen mit einem -Pferdegesicht beim Heufressen zu beobachten, so daß -die Bude immer guten Zulauf hatte. -</p> - -<p> -In der Hand die Rechnungen für Ölfarbanstrich, -innere Ausstattung, Riesenhorn und Stallmeisterlivree, -die Das Herz trug, und im Kopfe die Idee, -daß nur derjenige zu Geld kommen könne, der andere -für sich arbeiten lasse, stellte der kapitalkräftige Seidel -<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> -Herz und Pferdegesicht am Wochenschlusse vor die -Wahl, entweder Mitinhaber zu bleiben und während -der ganzen Messedauer auf jeglichen Verdienst zu verzichten -– denn diese Rechnungen müßten erst gewissenhaft -bezahlt werden –, oder alle Mitinhaberrechte -abzutreten und sofort Angestelltengehalt zu -beziehen. -</p> - -<p> -Das Herz schrie: „Der Gewerbeschein war mein -einziges Erbe.“ Das Pferdegesicht erklärte, nicht jeder -könne seine Visage als Pferdekopf für Geld ausstellen, -und jeden Tag bis Mitternacht Heu zu fressen, sei -auch keine Kleinigkeit. Die grüne Drahtgitterkasse, -in der die Wocheneinnahme lag, klappte zu. -</p> - -<p> -Da wählten die beiden das Geld in die Hand. Seidel -war Alleininhaber. -</p> - -<p> -Während er einlud und kassierte, grübelte er unausgesetzt -darüber nach, wo er eine breitere Basis -für seinen spekulativen Geist finden könnte. -</p> - -<p> -Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem -mächtigen Backsteinbau zurück: dem Zirkus, der den -ganzen Winter über in der Stadt blieb und während -der vier Wochen langen Jahresmesse schlechte Einnahmen -hatte. -</p> - -<p> -Seidel benutzte die losen Beziehungen, die zwischen -einigen Budenbesitzern und dem Zirkusunternehmer -bestanden, und schlug diesem vor, Familienbilletts zu -ermäßigten Preisen zu verkaufen, solange die Jahresmesse -in der Stadt sei. Auch solle er an Stelle der -herkömmlichen und deshalb nicht mehr wirksamen -Zirkusplakate ein von einem guten Künstler zu entwerfendes -modernes Plakat kleben lassen. -</p> - -<p> -Von einem modernen Plakat wollte der Mann nichts -wissen. Die Billettidee hatte er selbst gehabt und war -<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> -schon dabei, sie auszuführen. Aber es gelang Seidel, -einige für seine Zukunft wichtige Bekanntschaften mit -Zirkuskünstlern zu machen. -</p> - -<p> -Bald darauf behauptete Adolf Sinsheimer, er habe -Leo Seidel, im Pelz, den Zylinder auf dem Kopfe, im -Vorraume des Berliner Wintergartens gesehen, in Gesellschaft -von eleganten Damen und Varietékünstlern. -</p> - -<p> -Und so konnten einige Jahre später seine früheren -Kollegen vom Stadtmagistrat und die Schulkameraden, -von denen die meisten zu dieser Zeit schon jung verheiratete -Männer waren, nicht allzu sehr darüber verwundert -sein, daß eines Tages Leo Seidel, der nicht -lange Impresario geblieben war, als kaufmännischer -Direktor des riesigen Wanderzirkus in die Heimatstadt -zurückkehrte, im ersten Hotel abstieg und im -eigenen Wagen fuhr. -</p> - -<p> -Zu jener Zeit war Herr Hohmeier eben bis zum -breiteren Löschblattbügel vorgerückt und wollte sich -verheiraten. -</p> - -<p> -Der Besitzer des Zirkusunternehmens kränkelte und -hatte nur eine Tochter. Sie war siebzehn Jahre alt. -</p> - -<p> -Kurz vorher hatte Seidel, der längere Zeit im Weizen- -und dann im Stabeisengroßhandel mit nicht besonderem -Erfolge tätig gewesen und deshalb noch einmal -in das ihm vertraute Fach zurückgekehrt war, -an der Börse sehr gewinnreich mit Baumwolle spekuliert. -Er war seit Jahren Abonnent volkswirtschaftlicher, -bank- und börsentechnischer Zeitschriften. -</p> - -<p> -Er studierte die Preisschwankungen des Marktes -nicht wie der Großindustrielle oder Börsianer, die, -das Risiko zu vermindern, sich mit ihren Abschlüssen -von Tag zu Tag nach den Markt- und Börsenberichten -orientieren; er verglich seit Jahren die an- und abschwellenden -<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> -Kurven der Export- und Importziffern -aller Länder, verfolgte genau die hieraus sich ergebenden -inner- und außerpolitischen Spannungen, -täuschte sich selten über den Zeitpunkt hereinbrechender -Wirtschaftskrisen – eine Fähigkeit, die ihn nicht -nur vor Verlusten geschützt, sondern ihm seine bisher -größten Gewinne eingebracht hatte – und wartete, -in jeder Hinsicht gerüstet, seit langem nur auf die -Situation, die es ihm gestatten würde, unter möglichster -Ausschaltung des Risikos die Hand auf das ganz -große Geschäft zu legen. -</p> - -<p> -Schon jetzt glaubte Seidel begründete Hoffnung zu -haben, die Siebzehnjährige nicht heiraten zu müssen. -</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="chapter" id="III"> -III -</h2> - -</div> - -<p class="first"> -„Sie sind ja in der Brodstraße.“ Der Portier setzte -sich wieder auf das Bänkchen. -</p> - -<p> -„Wo Herr Knopffabrikant Sinsheimer wohnt?“ -</p> - -<p> -„Den hat der Schlag getroffen. Heute mittag. Punkt -eins. Kommt von einem Geschäftsgang zurück, liest -die eingelaufene Post, da trifft ihn der Schlag ... -Auch ein Unglück für die Familie!“ -</p> - -<p> -Jürgen überwand seine Scheu, ein Haus zu betreten, -in dem ein Toter lag, stieg die Treppe hinauf, vorbei -an dem farbigen Treppenhausfenster, auf dem Wilhelm -Tell im Ausfall stand, bereit, den Apfel herunterzuschießen -von den blonden Locken. -</p> - -<p> -Im Vorzimmer kämpfte Gulaschduft mit Medizingeruch. -„Herr Adolf kommt gleich“, sagte das Dienstmädchen -und drehte eine schwach und rot brennende -Birne an im Salon. -</p> - -<p> -<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> -Eichenmöbel, reich geschnitzt, schwarz und unverrückbar -schwer, füllten ihn. Zahllose Nippesgegenstände -posierten, miauten, sangen, tanzten Menuett -auf allen erdenklichen Plätzchen und Kanten. Jürgen -wand sich bis zu einem Stuhle durch, dessen hohe -Lehne, gebildet durch zwei vielfach geschwungene, -schwarzgebeizte Schwanenhälse, mit einer Wasserrose -abschloß, in der ein Frosch saß, das Krönchen auf -dem Kopfe. -</p> - -<p> -Ohne sich zu rühren, musterte er die Gegenstände, -begann schließlich zu zählen: vier meterhohe Petroleumlampen -– Geschenke, die niemals gebrannt -hatten –, eine große Anzahl nie benutzter Tee-, -Kaffee- und Likörservice, entdeckte nachträglich noch -zwei hohe, glänzende Gestelle, die er erst auch für -Lampen hielt, dann aber als Tafelaufsätze erkannte: -Nachbildungen des Eiffelturmes, auf dessen Stockwerken -Birnen, Äpfel, Trauben, aus farbigem Tuche, -lagen. An der Wand hing, zwischen dem Dackel, der, -das weiße Zipfeltuch um den Kopf, an Zahnweh leidet, -und dem Kätzchen, das mit dem Wollknäuel spielt, -ein kleiner Elefant, der den Rüssel hin und her schleuderte. -Das Ziffernblatt auf seiner Stirn stellte Afrika -dar. -</p> - -<p> -Unvermittelt schlug der Gedanke ein, daß vielleicht -im Zimmer nebenan der Tote liege. Um sich abzulenken, -nahm Jürgen den Bronzelöwen in die Hand, -der, schleichend zusammengekauert, Tatzen auf dem -Rande, die Zunge dürstend in die Aschenschale -streckte. Stand auf, sah umher, drehte am Schalter. -Mit dem Verlöschen der Birne schwankten alle Möbel, -wie betrunken, auf Jürgen zu und versanken in der -Finsternis. Er fand den Schalter nicht wieder. -</p> - -<p> -<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> -Da sah er in einem Blitze der Angst die Leiche im -Salon liegen, schneeweiß aufgebahrt und mit genau -der selben Kopfhaltung wie die seines Vaters. Schnell -drehte er sich einige Male um sich selbst, bemüht, die -Leiche des Vaters nicht im Rücken zu haben, und -streckte die Hand frierend hinter sich nach dem Türdrücker -aus. -</p> - -<p> -Der Elefant trompetete. Die Tür knallte gegen -Jürgens Kopf: Adolf hatte eintreten wollen. „Na, -sag mal, sitzt du im Dunkeln! ... Lina! Donnerwetter, -Lina!“ Sie kam gesprungen. Jürgen wollte -aufklären. -</p> - -<p> -„Ist ja alles sehr schön! Aber weshalb wird denn -nicht der ganze Lüster angeknipst, wenn Besuch da -ist! ... Bringen Sie Tokaier.“ -</p> - -<p> -Seine Hand hatte den Schalter gefunden. Zornig -schritt er auch noch in die andern drei Ecken: Immer -mehr Birnen glühten auf an Kandelabern und am -gewaltigen Lüster. Die tausend Gegenstände standen -tot im weißen Lichte. „So, nun mache dirs bequem.“ -</p> - -<p> -Jürgen setzte sich wieder auf den hochlehnigen -Schwanenstuhl und sprach das Tokaierglas prostend -erhoben, verlegen sein Beileid aus über den entsetzlichen -Unglücksfall, der Adolf betroffen habe. -</p> - -<p> -„Das passiert meinem alten Herrn öfter. Es geht -ihm schon wieder besser. Er hat schon etwas Gulasch -gegessen. Jetzt schläft er.“ -</p> - -<p> -Nachdem die beiden weggegangen waren, schritt das -Mädchen von Schalter zu Schalter und stürzte den -Salon wieder in das schwarze Nichts. -</p> - -<p> -Auf der Straße zog Adolf mit weißen Litzen besetzte -Glacéhandschuhe an und machte beim Sprechen abgehackte -Viertelsdrehungen auf Jürgen zu, wie ein -<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> -Leutnant, der mit einer Dame spazierengeht. Sein -Vater habe diesen Morgen Ärger gehabt, wegen einer -Zahlung an eine Londoner Bank. Es habe sich zwar nur -um einige zehntausend Pfund gehandelt. „Eine Bagatelle, -gewiß! Aber wenn sie momentan nicht flüssig zu -machen sind? ... Geht er heute früh dieser Sache -halber fort, kommt schon aufgeregt nachhause, da -findet er ein Schreiben aus dem Kriegsministerium, -des Inhalts, daß wir ...“ Er blieb stehen, hob den -Spazierstock wie eine Kerze: „Diskretion?“ -</p> - -<p> -„Vielleicht sagst du mir lieber nichts.“ -</p> - -<p> -„Aber bitte, dein Wort genügt mir ... daß wir -den Auftrag erhalten haben, den neuen Armeeknopf -zu liefern. Begreifst du, was das bedeutet? ... -Ahnungslos öffnet mein Alter das zweite amtliche -Schreiben, liest, daß er zum Kommerzienrat ernannt -worden ist: schwuppdich – Schlaganfall ... Bitte, -nach dir.“ -</p> - -<p> -Schwungvoll ließ der schon zum Kellner emporgerückte, -seinen Ober jetzt mit vollkommenster Sicherheit -kopierende frühere Pikkolo das Tablett mit den -Wassergläsern auf die Marmorplatte auflaufen. Das -Knopfexporthaus stand wuchtig und still gegenüber -in der Abendruhe. -</p> - -<p> -Ein starker Tourenwagen hielt vor dem Café. Ein -blonder Herr trat ein. Adolf verbeugte sich steif und -tief und flüsterte: „Sechzigpferdig! Ein Klubmitglied! -Sohn des Maschinenfabrikanten Heller ... Die -haben ihrem Werke kürzlich noch eine Abteilung angegliedert, -in der ausschließlich Eisenbahnweichen -fabriziert werden. Staatsaufträge, mußt du wissen! -Auch die scheinen die nötigen Verbindungen zu haben. -Enorm reiche Leute!“ -</p> - -<p> -<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> -Jürgen wurde die Seele schwer bei dem Gedanken, -daß seit jenem ersten Kaffeehausbesuch schon soviel -Zeit vergangen war und er noch immer unklar und -ziellos dahinlebe. Abwesend sah er in das glänzende -Gesicht, von der Krawattenperle zum seidenen Tüchlein, -das glatt und grün aus der Brusttasche wuchs. -</p> - -<p> -„Gestern übrigens – ich unterhalte mich nicht -ungern mit dem jungen Heller – erzählte er mir im -Klub, er habe den Ingenieur, der das Einrichten der -Weichenfabrik überwacht und geleitet hat, husch, die -Lerche! rausgeschmissen.“ -</p> - -<p> -„Fort möchte ich! Weg von Europa! Weg von dem -Ganzen! ... Vielleicht wenn ich Dolmetscher werden -könnte in China!“ Und plötzlich erfüllt von Zorn -und Hohn: „Bist du schon weit mit deiner Knopfsammlung?“ -</p> - -<p> -„Unsinn! Das war ja Kinderei. Hast du eine -Ahnung! Es gibt, rein menschlich genommen, nichts, -das mir gleichgültiger wäre als Knöpfe ... Ich sammle -etwas ganz anderes.“ -</p> - -<p> -Er beugte sich zu Jürgens Ohr, flüsterte und lehnte -sich wieder zurück. „Von jeder, die ich gehabt habe! -... Kannst dir die Sammlung einmal ansehen.“ -</p> - -<p> -„Weshalb hat er ihn denn hinausgeworfen?“ -</p> - -<p> -„Überall liegt ein Zettel bei, mit dem Vornamen -der Betreffenden und dem Datum.“ -</p> - -<p> -„Wenn er doch das Einrichten der Fabrik leitete!“ -</p> - -<p> -„Ja, und gleich hinterher hat er die Arbeiter zum -Streik aufgehetzt. Ein Blutroter nämlich, verrückter -Weltverbesserer, weißt du, Bombenschmeißer und -so ... Zeichnet, konstruiert, wählt aus, baut um, -rennt und schwitzt, bis das Werk steht – soll übrigens -ein brauchbarer Techniker und Organisator sein –, -<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> -dann hetzt er die Leute auf ... So etwas gibts noch, -heutzutage, trotz des enormen Aufschwungs unserer -Industrie.“ -</p> - -<p> -„Hast du denn schon einmal darüber nachgedacht, -daß trotz des Aufschwunges unserer Industrie die -große Mehrheit aller Menschen zu schwer arbeiten -muß und dabei kaum das Nötigste zum Leben hat, -vor allem aber jeglicher Möglichkeit, ihre geistigen -Anlagen auszubilden, jeglicher Entwicklungsmöglichkeit -vollständig beraubt ist? Im Gegensatz zu anderen, -die essen, leben und sich bilden können – wie zum -Beispiel wir –, selbst wenn sie wenig oder nichts -arbeiten!“ -</p> - -<p> -„Deine Sorgen! Übrigens: ich muß auch arbeiten. -Und wie wir geschwitzt haben, mein Alter und ich, -betreffs des Armeeknopfes! Du solltest nur ein einziges -Mal eine Kalkulation für solch eine Riesenlieferung -machen müssen, da würde dir das Nichtvorhandensein -sämtlicher und noch einiger Dutzend mehr Entwicklungsmöglichkeiten -anderer Leute schnuppe sein.“ -</p> - -<p> -Wer weiß überhaupt, dachte Jürgen, weshalb der -eine denkt und der andere niemals zu selbständigem -Denken, nie zu einer eigenen Meinung kommt und deshalb -auch nie zu einem Proteste gegen das Bestehende? -Ist da die verschiedene Konstitution entscheidend? -Oder das Leben, wie es ist, die Ordnung, die Lebensordnung? -Oder alles zusammen? ... Das ist ein -tiefes Problem. Das sind Fragen, schwer zu beantworten -... Und wer jetzt dazu noch überlegt, daß -ganz offenbar diejenigen, die nicht selbständig denken, -die Uneigenen, diese Ordnung bestimmen, dem -Leben das Gesicht geben, der muß zugeben: Alles, -das Ganze, ist verkehrt. Das Ganze! -</p> - -<p> -<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> -„Jeder Armeeknopf muß x-mal durch die Maschine -laufen. Dazu die Berechnung des Rohmaterials, der -Kapitalsverzinsung, der Arbeitslöhne. Wenn du zu -hoch kalkulierst, bekommst du den Auftrag nicht; -und wenn du dich bei solch einem Riesenauftrag verrechnest, -bist du pleite.“ -</p> - -<p> -Den kleinen Finger weggespreizt, zog er das grüne -Tüchlein aus der Brusttasche und wischte sich die -trockene Stirn. „Was sagtest du vorhin? Dolmetscher -in China? Kannst du denn chinesisch? Es gibt meines -Wissens und gewissermaßen nicht ein Dutzend Leute -in Deutschland, die chinesisch können.“ -</p> - -<p> -„Gerade deshalb glaube ich ja, daß ich leicht einen -Dolmetscherposten in China bekommen könnte“, sagte -Jürgen, der bis vor zehn Minuten niemals daran gedacht -hatte, Dolmetscher in China werden zu wollen. -</p> - -<p> -„Ich kann ja schon ziemlich chinesisch“, begann er -auf der Straße von neuem. „Ich lerne nämlich seit -Jahren in einer alten Grammatik, die ich unter den -Büchern meines Vaters gefunden habe ... Zum Beispiel -als Dolmetscher bei der deutschen Gesandtschaft -in China! ... Nur weg von Europa!“ -</p> - -<p> -„Solltest du nicht Amtsrichter werden? ... Schön, -werde du Dolmetscher! Nichts als Romantik, mein -Lieber, sauere Romantik! ... Na, mein Ziel kennst -du ja. In einigen Monaten ist das neue Knopfexporthaus -unserer Knopffabrik angegliedert. Runde Sache! -Konzentration, mein Junge! Aber davon verstehst du -ja nichts ... Im übrigen – lebe ich, amüsiere mich und, -um es glatt herauszusagen, vergrößere meine Sammlung -weiblicher Geschlechtshaare. Später ... natürlich heiraten!“ -Er war mit der Bankierstochter Elisabeth -Wagner, einer früheren Mitschülerin Katharinas, verlobt. -</p> - -<p> -<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> -Der schwere Wagen hielt. Der Fabrikantensohn -stieg aus und die läuferbelegte Treppe hinauf. Auch -Jürgen und Adolf waren vor dem Klubhause angelangt. -</p> - -<p> -„So einfach, wie du dir das vorstellst, erhält man -Staatsaufträge natürlich nicht. Da sind, abgesehen -von der Kalkulation, noch ganz andere Kräfte im -Spiel, Kräfte, sage ich dir ... Für tausend Knöpfe -werden bezahlt“, rief er plötzlich mit starker Stimme -und nannte die Summe, „und hundertachtzig Millionen -sind bestellt ... Rechne aus! Mein verflossener Chef -wird platzen vor Ärger über den Kommerzienratstitel. -Und obendrein, schwuppdich! schnappten wir -ihm noch den kolossalen Staatsauftrag weg. Kurzum: -es geht, husch, die Lerche! schnurstracks in die Höhe. -Merkst du das?“ -</p> - -<p> -„Schwuppdich!“ murmelte Jürgen; er hatte gar -nicht zugehört. -</p> - -<p> -Da klang, wie damals, Klaviergepauke und Refraingesang -durch das offene Fenster. Und Adolf, beide -Arme weit ausgebreitet, Stock in der einen, Glacés -in der andern Hand, sang mit in übersprudelnder -Lebensfreude: -</p> - -<div class="poem-container"> - <div class="poem"> - <div class="stanza"> - <p class="verse">„Es haben zwei ne ganze Nacht</p> - <p class="verse">Zusammen in einem Bett verbracht.</p> - <p class="verse">Was ham se wohl gemacht?“</p> - </div> - </div> -</div> - -<p class="noindent"> -Während Jürgen die Stadt durchquerte, verlobte -auch er sich. Katharinas Vater, Herr Geheimrat Lenz, -löste die Verlobung wieder, weil Jürgen ein brotloser -Philosoph und nicht bei einer schlagenden Verbindung -war. -</p> - -<p> -Am Arme ihres Gemahls – einer berühmten Persönlichkeit -– geht Katharina vorüber an Jürgen, -<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> -ihrem früheren Verlobten, der, total heruntergekommen -und versoffen, die Straße kehrt. Bleibt stehen, ergriffen -von Mitleid. ‚Sieh mal, wie furchtbar traurig! Er -war mein Jugendfreund. Schenke ihm doch etwas.‘ -</p> - -<p> -Ihr Mann ist sehr edel, gibt seine ganze Brieftasche -dem demütig Dankenden, an dessen abgezehrtem Gesicht -die Tränen herunterrollen. -</p> - -<p> -Auch Katharina schluchzt, legt ihre Hand auf die -seine, die den Besen hält, und sieht ihren Mann an: -‚Jürgen war nicht immer so. Denke das ja nicht. -Wenn du wüßtest, welch wunderbarer Mensch er gewesen -ist! Hätte ich ihn sonst geliebt? Keineswegs -immer so! Zum Beispiel ernannte ihn die Regierung, -obwohl er anfangs nur ein untergeordneter Dolmetscher -war, seiner ganz außerordentlichen Fähigkeiten -wegen zum deutschen Gesandten in China.‘ -</p> - -<p> -Da verschwand Katharinas Mann. Nicht dieser, -sondern Jürgen ist mit ihr verheiratet, empfängt die -phantastisch wunderbar gekleideten chinesischen Würdenträger, -von denen vor lauter tiefen Verbeugungen -beständig nur die Rücken zu sehen sind. Der Saal hat -keine Decke. Das Sternenfirmament blitzt über dem -glänzenden Feste des deutschen Gesandten. Der -Reichskanzler hat für außerordentliche diplomatische -Dienste an Jürgen ein Danktelegramm geschickt. -‚Empfehlen Sie mich auch Ihrer Frau Gemahlin.‘ -</p> - -<p> -‚Katharina, der Kanzler läßt sich dir empfehlen.‘ -</p> - -<p> -‚Das alles habe ich nur dir zu verdanken, Jürgen.‘ -</p> - -<p> -Der Aufschrei einer Frau und das Schimpfen und -heftige Läuten des Trambahnführers stießen ihn zurück -in die Wirklichkeit. Er befand sich in einem ihm -gänzlich fremden Stadtteil. -</p> - -<p> -„Wenn diese schweinischen Träumereien jetzt nicht -<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> -endlich aufhören, knalle ich mich nieder. Das ist ja -Onanie“, schrie er plötzlich wutentstellten Gesichtes, -in dem, ebenso plötzlich, grenzenlose Verwunderung -sich auftat, als er bemerkte, daß er vor dem Hause -stand, in welchem der Ingenieur wohnte. -</p> - -<p> -Jetzt erst erinnerte Jürgen sich wieder, daß er Adolf -nach der Adresse gefragt und auf dem Wege durch -die Stadt zweimal Straßenschilder gesucht hatte, in -diese Seitenstraßen eingebogen und einmal sogar ein -Stück Weges wieder zurückgegangen war, ohne sich -des Grundes bewußt geworden zu sein. -</p> - -<p> -Außerdem ist Katharina ja von zuhause weggelaufen, -wird sich also von dem Herrn Geheimrat nichts mehr -dreinreden lassen, dachte er, schon wieder traumversunken, -beim Hinaufsteigen, las auf einem weißen Kärtchen -den handgeschriebenen Namen des Ingenieurs. -‚Was soll ich ihn denn fragen? Was soll ich sagen?‘ -</p> - -<p> -Da hatte er schon geläutet. Die schweigsame Wirtin, -deren Unterlippe mürrisch auf das Kinn herabhing, -führte ihn in das große, helle Zimmer. Der Ingenieur saß -am Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür. „Setze dich.“ -</p> - -<p> -Jürgen setzte sich. Betrachtete die hellgelben, -leeren Wände. -</p> - -<p> -„In den Sessel!“ -</p> - -<p> -Er stand auf und setzte sich in den modernen, bequemen -Ledersessel, vor das vollgestopfte Bücherregal, -neben dem mehrere Stöße fremdsprachiger Zeitungen -auf dem glänzenden Parkettboden standen. ‚Was -soll ich sagen? Verflucht, das ist ja wie in der Schule -... Was will ich überhaupt?‘ -</p> - -<p> -Lange und nachdenklich sah er den schreibgekrümmten -Rücken an. ‚Wenn ich das wüßte, würde -ich nicht hier sein.‘ -</p> - -<p> -<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> -„Genossin, dein Artikel war in einem wichtigen -Punkte schlecht. Du solltest den betreffenden Abschnitt -noch einmal bei Marx nachlesen. ‚Die Klassenkämpfe -in Frankreich‘. Auch bei Engels ‚Ursprung der -Familie‘ gibt es darüber eine sehr aufschlußreiche Stelle.“ -</p> - -<p> -Jürgen nahm sich vor, diese zwei Bücher gleich zu -kaufen. ‚Aber so geht das ja nicht weiter. Schließlich -verrät er mir noch Geheimnisse.‘ -</p> - -<p> -„Bei Marx nämlich ist die Problemstellung folgendermaßen“, -sagte der Ingenieur und wandte sich um. -„Entschuldigen Sie! Ich erwartete jemand.“ Er hatte -unveränderlich junge Augen in einem männlich fertigen -Gesicht, das als Abschluß einen kleinen Spitzbart -braucht, der auch vorhanden war. -</p> - -<p> -Jürgen stand auf. Da klingelte das Telephon. -Während der Ingenieur horchte und sprach und -horchte, verwarf Jürgen zehn verschiedene Gesprächsanfänge. -Wünschte sich fort. Vernahm, wie der Ingenieur -das Höhrrohr wieder auflegte. „Also, was -wollen Sie?“ -</p> - -<p> -„Fragen, was ich mit meinem Leben anfangen soll ... -Ich bin doch nun einmal da“, antwortete er in einem -Tone, als ob er gestanden hätte: Ich habe das Verbrechen -begangen, nun machen Sie mit mir, was Sie -wollen. -</p> - -<p> -Bleich und rot in einem vor Ärger über seine Verlegenheit, -blickte er den Ingenieur wütend an. -</p> - -<p> -„Ja. Aber du solltest mich doch nicht wegen jeder -Kleinigkeit anrufen, Genosse“, sagte der Ingenieur, -der schon wieder verlangt worden war, in den Apparat -hinein. -</p> - -<p> -‚Ich frage ihn, ob ich Philosophie oder meinethalben -Astronomie studieren soll, und geh meiner Wege. -<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> -Denn zu erklären, um was es sich eigentlich handelt -– diese ganze Qual –, ist einfach unmöglich.‘ -</p> - -<p> -„Und außerdem wurde eben mitgeteilt“, meldete -der Hilfsredakteur, der im fünften Stocke des Druckereigebäudes -in dem winzigen Redaktionszimmerchen saß, -ein Stück Brot in der Linken, das Höhrrohr in der -Rechten, „daß die Regierung beschlossen habe, dem -Auslieferungsverlangen der spanischen Regierung nachzukommen.“ -</p> - -<p> -„Das wäre der erste Fall dieser Art“, entgegnete -ungläubig der Ingenieur. „Der Mann hat aus ganz -offensichtlich politischen Motiven den Polizeipräsidenten -erschossen.“ -</p> - -<p> -Ich kann ihn doch nicht fragen: Was soll ich tun, -um die Welt zu erlösen? dachte Jürgen. -</p> - -<p> -„Und politische Verbrecher werden bekanntlich -nicht ausgeliefert.“ -</p> - -<p> -Der Hilfsredakteur legte das Brot weg, ergriff ein -Papier. „Es ist eine amtliche Depesche, in der das -Attentat als gemeines Verbrechen dargestellt wird. -Übermorgen wird er von hier abtransportiert zur -Grenze.“ -</p> - -<p> -‚Aber so ersticke ich eines Tages noch in diesem -zähen Sumpf, wenn nicht etwas geschieht.‘ -</p> - -<p> -„Ich werde noch vor Mitternacht eine Notiz über -den Fall in die Redaktion schicken für die morgige -Nummer.“ -</p> - -<p> -Der ist mitten drin in der Umsturzbewegung, dachte, -plötzlich entflammt, Jürgen und sah leuchtenden Blickes -den Ingenieur an. „Vielleicht können Sie mir doch -raten, was ich beginnen soll“, sagte er, als ob er das, -was er nur gedacht hatte, ausgesprochen hätte. „Einen -Weg zeigen! Ich tue alles. Ich bin nicht feige!“ -</p> - -<p> -<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> -Der durch viele Publikationen im ganzen Lande bekanntgewordene -sozialistische Agitator, vor dem schon -öfters idealistisch gesinnte junge Menschen gesessen -hatten, im Blick die Frage, was sie mit ihrem Idealismus -anfangen sollten, fragte mit mehr Interesse im -Ton, als er hatte: „Haben Sie schon Arbeiterversammlungen -besucht?“ und lehnte seine Taschenuhr gegen -das Tintenfaß. -</p> - -<p> -„Ich nicht. Aber mein Bekannter! ... Er hatte -eine Siedlung gegründet. Jetzt ist er Mitglied der -sozialistischen Partei, und da wird er wohl ...“ -sagte Jürgen und errötete tief, als er sah, daß der -Agitator ein Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte. -</p> - -<p> -„Die Siedlung war vollkommen kommunistisch ... -Auch diese Siedler konnten es einfach nicht ertragen, -das Leben, so wie es ist ... Alles zusammen, das -Ganze! ist ja eine einzige ungeheuerliche Niederträchtigkeit.“ -</p> - -<p> -„Wenn Sie sich dessen nur auch späterhin bewußt -bleiben! Dann ist es ganz gleich, welchen Beruf Sie -wählen. Wichtig ist dieses Bewußtsein. Möchten Sie -das nie vergessen.“ -</p> - -<p> -„Das Bewußtsein?“ -</p> - -<p> -„Der Mensch kann auch sein Bewußtsein, nämlich -das, was er in der Jugend, als noch Protestierender, -schon erkannt und sogar tief empfunden und erlitten -hatte, mit den Jahren vergessen.“ -</p> - -<p> -Jürgen lauschte hinein in sein dunkles Gefühls-Ich. -„Er kann, ich verstehe Sie schon, in eine gefährliche -Schicksalspause hineinschlingern, ja? und in dieser -Schicksalspause den Kampf aufgeben: alles verraten, -was er erstrebt hatte.“ -</p> - -<p> -Der Agitator steckte die Uhr ein. „Höchste Zeit! -<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> -Sie kommt nicht mehr. Wahrscheinlich ist sie von der -Redaktion aus direkt ins ‚Paradies‘ gefahren ... Ungefähr -das meine ich. Schicksalspause ... Wie die das -Mädchen ausnützen! Muß die Artikel schreiben und -die Zeitung dann auch noch verkaufen.“ -</p> - -<p> -„Dann kommt das Geldzusammenscharren. Und -wenn dann einer eine Zeitlang tüchtig, das heißt: -brutal genug und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht -war, ist er – husch, die Lerche! wie mein -Schulfreund sagt – auf Kosten unterdrückter Elendsmenschen -ein geachteter Mann.“ -</p> - -<p> -„Aus solchen geachteten Männern besteht die -herrschende Klasse.“ -</p> - -<p> -„Ich habe nämlich erfahren, weshalb Ihnen gekündigt -wurde. Sie sind Sozialist?“ Und ob er ihn -noch ein Stück begleiten dürfe, fragte Jürgen auf der -Straße. „Sie glauben also, daß im Sozialismus alles -von Grund auf besser werden würde?“ -</p> - -<p> -Der Agitator sprang auf die anfahrende Straßenbahn. -„Ich glaube, daß jede Zeitepoche in sich ihre -durch den Stand der Produktionskräfte bedingte Aufgabe -trägt, die zu erfüllen der zeitbedingte Inhalt des -Idealismus aller Kampf- und Opferbereiten ist, und -daß die Aufgabe unseres Jahrhunderts in der Abschaffung -des Privateigentums an den Produktionsmitteln -besteht, in der Überführung der Produktionsmittel -in gesellschaftliches Eigentum, in der Verwirklichung -des Sozialismus auf dem Wege des -Klassenkampfes ... Und was die idealistisch gesinnte -bürgerliche Jugend unseres Jahrhunderts anlangt, -glaube ich, daß sie den wahren, weil zeitbedingten, -Inhalt ihres Idealismus eben auch nur in dem Kampfe -um die Verwirklichung des Sozialismus, Seite an Seite -<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> -mit der Arbeiterklasse, finden kann ... Das gilt auch -für Sie persönlich. Alle anderen Befreiungs- und Erlösungsideen -sind Nebel und Wolken in verschiedener -Beleuchtung und werden von der bürgerlichen Front -glatt verdaut, ja, von ihr selbst gestartet und als -Fangangeln ausgelegt.“ -</p> - -<p> -Erst in dieser Sekunde, da er das echte Interesse -des Agitators fühlte, erkannte Jürgen, daß es anfangs -nicht ganz echt gewesen war. Das erstemal in meinem -Leben, dachte er, gibt ein ernstzunehmender Mensch -mir einen ernstgemeinten Rat, und ich weiß mit -diesem Rate nichts anzufangen. Verstehe ihn gar -nicht. Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftliches -Eigentum? Er hätte ebensogut sagen -können: Der Inhalt des Idealismus eines jungen Menschen -unserer Zeit kann nur darin bestehen, daß er -lernt, ohne Führer den Montblanc zu besteigen oder -das Vaterunser von rückwärts zu beten. Jürgen war -ernüchtert. -</p> - -<p> -„Tatsächlich aber geschieht das Gegenteil: Die -idealistisch gesinnte bürgerliche Jugend steht und -kämpft gegen die Arbeiterklasse, gegen die Verwirklichung -des Sozialismus, und damit gegen den nächsten -großen Schritt zur Befreiung der Menschheit, gegen -des Menschen nächsten Schritt zu sich selbst. Diese -Jugend erkennt ihre Aufgabe nicht und gerät deshalb -in die tollsten Verirrungen.“ -</p> - -<p> -So allmählich, wie die Trambahn den Prachtstraßen, -dem Prunkviertel entrückt und in die Elendszeilen -der verluderten, nackten Mietskasernen vorgerückt -war, hatten die gutgekleideten Fahrgäste für schlechtgekleidete -den Wagen geräumt, der nun, überfüllt -mit Arbeitern und Fabrikmädchen, seine schmutzige -<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> -Ladung weiterschleppte durch das Viertel, wo die Not -stand in ihrer ganzen Größe. Hier rollten keine -Gummiequipagen, keine Autos mehr. Der Parfümduft -gepflegter Damen war niedergeschlagen und aufgefressen -worden von dem dicken Schweißgestank -der Armut. In dem Wagen, wo noch kurz vorher -weiße und frische Gesichter mondgleich geschienen -hatten, hingen jetzt graue Antlitze im Dunst, hautüberzogene -Schädel mit tief in die Höhlen versunkenen -Augen, die blickten. -</p> - -<p> -Zwei Menschheiten: eine Menschheit war ausgestiegen; -die andere Menschheit war eingestiegen. -</p> - -<p> -Ein winziger, ganz weißer Schoßhund, von einer -vergeßlichen Dame im Wagen zurückgelassen, bekam -irrblickende Augen und bellte die fremde, die andere -Menschheit an. -</p> - -<p> -Jürgen betrachtete zwei Männerhände, und als er -das dazugehörige Gesicht suchte, sah er, daß diese -rissigen, hornhäutigen, übergroßen Männerfäuste -einem jungen Arbeitermädchen angehörten. Neben -ihr wackelte der Oberkörper eines bärtigen alten -Briefträgers, in dessen zerklüftetes Wachsgesicht das -Ersteigen von millionenmal vier Stockwerken eingezeichnet -war, steif und haltlos hin und her. -</p> - -<p> -„Nun sind wir direkt und mitten in das soziale -Problem hineingefahren. Mit der Elektrischen! ... -Nur dies allein (auch das gilt für Sie persönlich), nur -den Übertritt zur Arbeiterklasse, nur diesen letzten -Schritt verzeiht der Bürger uns Bürgersöhnen nicht. -Denn er weiß, daß wir erst dann gefährlich werden -können ... Geist, christliche Menschenliebe, Helfenwollen, -Ändernwollen, erlaubt der Bürger noch. Da -lächelt er noch. Ja, alles das nimmt er sogar für sich -<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> -selbst in Anspruch. Denn er ist sozusagen für den -Fortschritt. Aber nur ja nicht das! Nur ja nicht -tatsächlich ändern! Da wird er wild. Da demaskiert -er sich. Da läßt er verfolgen, einsperren und, unter -Umständen, erschießen und erschlagen.“ -</p> - -<p> -Die drei aneinandergekoppelten Wagen, vollgestopft -mit Arbeitern, die bis auf die Trittbretter herausquollen, -überholten lose zusammenhängende Arbeitertrupps, -die sichtbar alle dem selben Ziele zustrebten. -Immer wieder hörte Jürgen den Schrei: „Zum Paradies!“ -Der Schaffner kassierte. -</p> - -<p> -Der Agitator, der schweigend vor sich hingeblickt -hatte, machte eine Bewegung, als schüttle er etwas -von sich ab. „Es ist nichts zu machen.“ Und da -Jürgen fragte, teilte er ihm den Inhalt der Depesche -mit. -</p> - -<p> -„Und was geschieht dann mit dem Attentäter?“ -</p> - -<p> -„Er wird hingerichtet.“ -</p> - -<p> -„So ... Wird hingerichtet.“ -</p> - -<p> -Vorüber an einer geschlossen und zielhaft marschierenden -Gruppe Schutzleute. Krachend vorbei -an einem Kanalloch, um das herum Proletarierkinder -Ringelreigen tanzten. -</p> - -<p> -Fabrikmädchen, die halb geschlafen hatten, erwachten -im Ruck: Alle Fahrgäste und die grau herbeiströmenden -Arbeitermassen drängten hinein in das -‚Paradies‘, das schon überfüllt war. -</p> - -<p> -Galerien und Balkone, von denen die Menschenleiber, -übereinandergetürmt, gleich Gewächsen aufstiegen, -stürzten nicht hernieder. An den Tischen: -Oberkörper neben Oberkörper, überragt von denen, -die, dicke Menschenschnüre bildend, dichtgedrängt -in den Zwischengängen standen. Gebärden der Erregung -<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> -durchschnitten Stimmengeschwirr und Rauch, -hinter dem die Wandmalereien verschwammen: paradiesische -Wesen, die alles im Überflusse hatten. -</p> - -<p> -Plötzlich hörte und sah Jürgen, der eine Sekunde die -Augen geschlossen hatte, gewaltige, kilometerbreite, -gischtige Wassermassen aus blauer Höhe herabklatschen: -sah zehntausend klatschende Menschenhände -und in weiter Ferne, auf dem Podium, einen Mann. -</p> - -<p> -Da schwoll sein Herz, und das nie empfundene Gefühl -rückhaltloser Hingabe erfüllte ihn ganz. Sympathie -für den Mann, der das Vertrauen dieser fünftausend -Hoffenden besaß. Hingabe an diese fünftausend -Vertrauenden. Stürmischen Herzens streckte -er die Hand dem jungen Zeitungsverkäufer hin, der -rief: „Die Befreiung! Die Befreiung!“ -</p> - -<p> -Arbeitsschwarze Hände griffen nach den Blättern, -die er über den Kopf hochhalten mußte. Ein Zögernder -fragte: „Was kostet die Befreiung?“ -</p> - -<p> -„Genossinnen! Genossen! Euer gemeinsamer Kampf, -der Klassenkampf, die Gemeinsamkeit all derer, die -durch ihr Klassenschicksal die gegebenen und unbedingten -Feinde des Kapitalismus sind, dieses Gemeinsame, -Euer Klassenbewußtsein, ist der unerschöpfliche -Quell Eurer Kraft: Kraftquell für jeden und für das -Vertrauen jedes einzelnen auf seine Kraft“, erklang -fernher die Stimme des Redners. -</p> - -<p> -Und Jürgen fragte: ‚Ist das so? ... Ich werde -dahinter kommen, ob und weshalb das so ist.‘ Ihm -entgegen drängte noch einmal der junge Zeitungsverkäufer, -auf dem Arme den Stoß, der bis zu seinem -Ohre reichte. „Du hast nicht bezahlt.“ Und da -Jürgen, verwirrt, ihm in das Antlitz sah: „Zwanzig! ... -Umsonst gibts nichts.“ -</p> - -<p> -<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> -„Zwanzig?“ Der Zögernde blickte wieder den -schweißtriefenden Kellner an und überlegte, ob er -‚Die Befreiung‘ oder ein Glas Bier kaufen solle, als -wäre beides zusammen unmöglich. -</p> - -<p> -Da erkannte Jürgen an einer Kopfbewegung des -Redners den Agitator, der von Monopolisierung, -Akkumulation und Mehrwert sprach, worunter Jürgen -sich nichts vorstellen konnte. -</p> - -<p> -„Dazu noch das arbeitslose Einkommen, geschluckt -von Aktienbesitzern, die in gar keiner Weise arbeiten -in dem Betriebe, von dem sie die Dividenden beziehen. -Ich lasse mein Kapital arbeiten, sagt der Aktienbesitzer, -der auf dem Kanapee liegt, die Kurse studiert, -wie die Spinne im Netz in der Börse lauert, -erstklassig durch das Leben glitscht, aber den Rasen -nicht betritt, kein Holz im Walde stiehlt, sondern -für Recht und Ordnung ist.“ -</p> - -<p> -Die fünftausend saßen reglos, horchten und blickten, -als hielten sie mit ihren Händen den Erdball. -</p> - -<p> -„In den Betrieben schuften Männer und Frauen -jahraus, jahrein, von früh bis abends an den Maschinen, -machen vom vierzehnten bis zum sechzigsten -Lebensjahre immer die selben Handgriffe, aus denen -Zahnbürsten, Lokomotiven, Stecknadeln, Überseedampfer, -Schreibmaschinen, Schuhe, Leintücher entstehen; -in behaglichen oder eleganten, geschmackvollen -oder geschmacklosen Wohnungen sitzen Herren -und Damen, deren Lebensarbeit darin besteht, das -Dasein zu genießen, ins Theater zu fahren, über Kunst -und Literatur dumm oder klug zu reden, Kulturträger -zu sein, ihr Dienstpersonal zu schikanieren und ihre -Kinder falsch zu erziehen und reich zu verheiraten, -Leute, die einen Betrieb nie betreten haben, es seien -<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> -denn Modegeschäfte und Sekt-, Tanz-, Bordell- oder -sonstige Nachtbetriebe gewesen, gepflegte Zeitgenossen, -die keinen Dunst davon haben, wie Zahnbürsten fabriziert -werden, oder wie ein Webstuhl aussieht, und beziehen -Dividenden von einer Bürstenfabrik oder einer -Leinenweberei, während die Kinder der Bürstenmacher -nicht einmal wissen, daß die Benutzung einer Zahnbürste -zur Erhaltung der Zähne beiträgt, und die -Leinenweber für ihre armseligen, stinkenden Betten -keine Leintücher kaufen können.“ -</p> - -<p> -Auch meine Tante besitzt eine Schatulle, gefüllt mit -Aktien, sie, die in ihrem ganzen Leben nie etwas -anderes gemacht hat, als diese qualvollen Häkeldeckchen, -dachte Jürgen. -</p> - -<p> -„So kommt es, daß euch, wenn ihr an einem Werktag, -während der Arbeitszeit – um elf Uhr früh, um -vier Uhr nachmittags – durch die Geschäftsstraßen -einer Großstadt geht, die vor Arbeit brüllt und dampft, -Tausende und Tausende und Tausende hübsch und -elegant gekleideter, gepflegter Mädchen, Frauen und -junger Männer begegnen. Das sind die Töchter – -höhere Töchter –, die Gattinnen, die Söhnchen. Sie -arbeiten nicht; aber sie essen dennoch, und nicht -Kutteln mit Sauce. Kaufen ein, geben viel Geld aus, -damit die Arbeiter ihr Brot verdienen können, versteht -ihr, wohnen bequem und hygienisch, hören -Konzerte, können ausgezeichnet tanzen und zur Not -Gesetzesparagraphen auswendig lernen, die gegen -Arbeiter anzuwenden den künftigen Staatsanwälten -und Richtern dann nicht schwer fällt. Sie sind die -Angehörigen ihrer Aktien besitzenden Gatten und -Väter, leben von dem Mehrwert, der den Werktätigen -abgepreßt wird, und haben, im allerbesten Falle, ein -<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> -mitleidiges, staunendes Lächeln für demonstrierende -Arbeiter, von deren Schweiß und Not und Tod sie leben.“ -</p> - -<p> -Aber nicht den schwächsten Reflex des Bewußtseins, -daß sie von dem Schweiße dieser Arbeiter -leben, dachte Jürgen. Das weiß ich bestimmt. Sind -weltenweit entfernt von diesem Bewußtsein. -</p> - -<p> -„Und die Kirche liefert die entsprechende Religion: -Du sollst nicht. Du sollst, sollst nicht, sollst! Kürzer: -Das Eigentum ist heilig.“ -</p> - -<p> -„Im Diesseits“, sagte heiter lächelnd ein neben -Jürgen stehender Arbeiter. „Im Jenseits gibts nämlich -keine Rittergüter, Bergwerke, Webereien und -Möbelfabriken.“ -</p> - -<p> -Wer da war in diesem Saale, plötzlich fühlte Jürgen -sich mit jedem einzelnen und mit allen zugleich wie -durch ein unbegreifliches Wunder verbunden. Der -Haß dieser fünftausend war sein Haß, ihre Hoffnung, -ihr Ziel waren seine Hoffnung, sein Ziel. Und da geschah -es, daß seine lebenslange Unsicherheit und Hilflosigkeit -der Umwelt gegenüber urplötzlich verschwanden -und das kraftspendende Gemeinschaftsempfinden -so mächtig in ihm entstand, daß er an sich halten -mußte, nicht loszubrüllen vor innerem Jubel. -</p> - -<p> -‚Da wurde ich vierundzwanzig Jahre alt und ahnte -nicht, was Selbstbewußtsein ist. Fühlte es nicht! -Fühlte es nicht, wegen meiner unfruchtbaren Einsamkeit, -angesichts dieses verruchten Geschehens, dem -gegenüber der einzelne sich nimmermehr zurechtfinden -kann oder, findet er sich zurecht, verloren ist. -So oder so! Denn das Zurechtfinden innerhalb dieses -Ganzen bedeutet, wie immer es geschieht, menschlich -den Untergang ... Jetzt geht der Kampf an. Kampf -bis zum Tode!‘ -</p> - -<p> -<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> -„Der Klassenkampf! Neueste Nummer! Der Klassenkampf! -Die Befreiung! Neueste Nummer: Der -Klassenkampf!“ -</p> - -<p> -Das Herz schlug nicht mehr. In den Fingerspitzen -fühlte er den letzten Schlag, anstürmend, als wolle -das Blut herausspringen. So starrte er das verschwitzte, -kompakte Antlitz an, den gebogenen -Nacken, den kleinen, festen Mund, der rief: „Die Befreiung! -Der Klassenkampf!“ -</p> - -<p> -Da war Katharina schon wieder verschwunden im -überfüllten Zwischengang. Er sah nur noch den -über ihrem Kopfe schwebenden ‚Klassenkampf‘. Und -noch in diesem selben Augenblick zog ein endlos langer -Zug arbeitsunfähig gewordener alter Männer und -Frauen grau und düster durch Jürgens Sehnsucht, -gleichberechtigt neben Katharina zu stehen. -</p> - -<p> -Sekunden später war das Arbeiterversorgungsheim -gegründet. Alles funktionierte tadellos. Alle Zeitungen -schrieben darüber. Jürgen empfängt eine Deputation -des Berliner Magistrats. Die Herren tragen die -Zylinder in der Hand. Vier Herren. Der schmalste, -feinste hat einen Scheitel, von der Stirn bis zum -Nacken, und führt das Wort. -</p> - -<p> -Gewiß, Jürgen sei bereit, auch in Berlin so ein Versorgungsheim -zu organisieren. Warum nicht! Natürlich -müsse er erst die besonderen Verhältnisse an Ort -und Stelle studieren. ‚Die Konstellation gewissermaßen, -Sie verstehen! Außerdem haben andere -Stadtverwaltungen sich schon früher bei mir gemeldet, -müssen Sie wissen. Und wer zuerst kommt – nicht -wahr ...‘ -</p> - -<p> -Vier Verbeugungen, die vor Befangenheit und Freude -darüber, daß Jürgen den Herren die Ehre zuteil werden -<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> -läßt, einen Witz zu machen, schief ausfallen. Sogar -die Münder lächeln schief. Und der schmale, feine -Wortführer sagt: ‚Natürlich, hahaha! gewiß, der mahlt -zuerst!‘ -</p> - -<p> -‚Und jetzt, meine Herren ...‘ Die vier ziehen sich -sofort zurück. Auch die Tante, die respektvoll dabeigestanden -war, verläßt leise das Zimmer, den mit Arbeit -Überlasteten nicht länger zu stören. Katharina, am -Schreibtisch lehnend, sieht Jürgen bewundernd an. -</p> - -<p> -Tausendfaches Händeklatschen. Alle schoben sich -der Ausgangstür zu. Jürgen erreichte, halb getragen, -die Straße, schwitzend und begeistert. Stand vor der -Wirklichkeit, die vier Schutzleute vor das ‚Paradies‘ -gestellt hatte, stumm und blickend. Die Proletarierkinder -tanzten noch immer Ringelreigen, herum um -das dampfende Kanalloch. -</p> - -<p> -Senkrecht sauste Jürgen aus seiner Kirchturmhöhe -herab auf das reale Pflaster, empfangen von Ekel -und Selbsthaß, weil er wieder geträumt und sich -wieder hatte achten und bewundern lassen. Mit -einem innerlichen, einem wilden Sprunge langte er -wieder an bei sich selbst. ‚Ich werde dir das abgewöhnen. -Werde dir das abgewöhnen!‘ -</p> - -<p> -Die Masse spülte ihn weiter. Jürgen entfaltete den -‚Klassenkampf‘. -</p> - -<p> -Arbeiter, die den Lesenden überholten, wandten -sich um nach ihm. Einige legten, wenn er aufsah, -den Finger an die Mütze. -</p> - -<p> -Offenbar ein zäher, langwieriger, trockener Kampf; -aber das Ziel, das Ziel – es ist unerhört ... Ob ich -herausfinden werde, was schlecht ist an ihrem Artikel? -dachte Jürgen und las Katharinas Artikel noch einmal -von Anfang an. -</p> - -<p> -<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> -Plötzlich vernahm er, stehend im Straßenlärm, -deutlich das Summen einer großen Fliege, blickte erstaunt -auf und bemerkte, daß er vor dem ‚Platzwirt‘ -stand, einer Zuhälter- und Verbrecherkneipe, -vor der er, sooft er vorbeigegangen war, immer tiefes -Grauen empfunden, und die zu betreten er nie gewagt -hatte. -</p> - -<p> -Als er die Tür öffnete, hatte er zuerst die Empfindung, -in einen riesigen Fabriksaal geraten zu sein, -so ungeheuer war der Lärm. Auch die Töne des alten -Klaviers konnten nur vereinzelt durchdringen. -</p> - -<p> -An den vor Alter bucklig gewordenen Wänden -hing gar nichts. Vom Schanktisch bei der Tür liefen -fünf lange Reihen zwischenraumlos nebeneinander -stehender Tische nach rückwärts und verschwanden -im Qualm. Kein einziger Stuhl. Zehn Bankreihen: -dicht besetzt von Straßenmädchen, Zuhältern, verunglückten -oder zu alt gewordenen Artisten und Arbeitern, -obdachlosen früheren Angehörigen der bürgerlichen -Klasse verschiedenster Berufe, durch den Konkurrenzkampf -heraus- und, ohne Station zu machen bei -der Arbeiterklasse, gleich hinuntergeschleudert ins -Lumpenproletariat, und zum größten Teile Existenzen, -die infolge langer Arbeitslosigkeit rettungslos in -Verbrechen versunken und ertrunken waren. -</p> - -<p> -Ohne Gesprächsunterbrechung wurde für Jürgen -mit selbstverständlicher Bereitwilligkeit Platz gemacht, -noch enger zusammengerückt. Nur ein kurzer -Blick, prüfend, ob Jürgen ein Spitzel sei. -</p> - -<p> -Schon stand das Bier vor ihm. Und die Hand des -Kellners verlangte das Geld. -</p> - -<p> -Niemand wunderte sich über den sorgfältig gekleideten -Gast; es kam öfters vor, daß elegante Bummler, -<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> -Frackherren, oft sogar mit ihren Damen, nach Ball- -oder Barschluß als letzte Sensation diese Kneipe besuchten. -</p> - -<p> -Aus den erregten, gespannten und gierigen Gesichtern, -aus den Gesprächsfetzen und wilden Gesten, -aus dem ganzen Gebaren stach vor allem anderen -deutlich das eine hervor: Alles ist erlaubt, nur darf -man sich nicht fassen lassen. Hier saßen ausschließlich -Existenzen, die das Grundgesetz der bürgerlichen -Ordnung, ‚Das Eigentum ist heilig‘, verletzt hatten, -für immer außerhalb jeder Ordnung des Geschehens -standen und, die drohende Katastrophe unausgesetzt -vor Augen, gierig und eisern bestrebt waren, das Letztmögliche -noch aus dem Leben herauszufetzen, bevor -sie von der Faust der Krankheit oder des Gesetzes -gepackt werden würden. Jeder war über jeden -orientiert. Mancher konnte manchen ins Zuchthaus -bringen. Keiner tat es. -</p> - -<p> -Neben manchem stand das Schafott. Es handelte -sich nur darum, das Schafott nicht besteigen zu -müssen. Polizeispitzel, auch in der echtesten Verkleidung -von den Gästen erkannt, konnten es nicht -wagen, sich hier sehen zu lassen, es sei denn in großer -Anzahl bei einer Razzia. Entsicherte Revolver. Hände -hoch. So wurden von Zeit zu Zeit die Lokalbesucher -ausgekämmt. Der ‚Platzwirt‘ war Lieferant des -Scharfrichters und der Zuchthäuser. In die Privatangelegenheiten -seiner Gäste mischte er sich nicht -hinein. Die Grenze des Erlaubten war in seinem Lokal -sehr weit gezogen und durfte nicht um einen Millimeter -überschritten werden. Er hielt auf Ordnung im stürmischen -Aufruhr. Jürgen war betäubt. -</p> - -<p> -Der ‚Hinausschmeißer‘, ein scheinbar ganz unbeschäftigt -<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> -neben dem Schanktisch emporragender -athletischer Brustkasten, machte zwei Schritte auf -einen eben eingetretenen alten Mann zu, packte ihn -von hinten und wortlos beim Rockkragen und zwischen -den Beinen und trug ihn schweigend vor sich her, -bis zur Tür, stieß ihn hinaus. Und stand sofort wieder -reglos am Schanktisch, den Tumult im Blick: Dem -Hinausgeworfenen war das Lokal verboten. Er hatte -einmal die Wurst nicht bezahlt und damit die Grenze -des Erlaubten überschritten. Der Hinauswurf war -von vielen gesehen, von keinem beachtet worden. Das -Tosen hatte nicht ausgesetzt. -</p> - -<p> -Jürgen gegenüber saß neben einem Mann ein junges -Straßenmädchen, den grünen Hühnerflügelhut schief -auf dem Kopfe. Beide hatten sich noch nicht gerührt. -Beide stützten beide Ellbogen auf die bierverschmierte -Tischplatte, an der die Eßbestecke angekettet waren. -An dem gleichartigen, bösen Schweigen erkannte Jürgen, -daß die beiden zusammengehörten. -</p> - -<p> -Rechts neben dem Schweigenden hockte männlich -breit eine Frau, deren ganzes Gesicht – auch die -Stirn – schwarzblau war wie eine Gewitterwolke, -und erzählte, ohne sich an jemand besonderen zu -wenden, unaufhörlich, daß sie arbeitslos sei, und weshalb -sie arbeitslos geworden sei. Ein arbeitsloser, -schwindsüchtig aussehender junger Mensch verzog -die Lippen, kaum bemerkbar, als habe er schon keine -Lust und keine Kraft mehr, noch verächtlich zu -lächeln, richtete langsam den Oberkörper auf, sah -Jürgen an, der sich erst jetzt dieses fahlen Gesichtes -und des haßerfüllten Blickes, dem er kurz vorher in -der Arbeiterversammlung mehrere Male ausgesetzt -gewesen war, wieder entsann. -</p> - -<p> -<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> -Ein erst vor wenigen Tagen nach langjährigem -Aufenthalte in Amerika zurückgekehrter, heruntergekommener -Aristokrat sagte über die blauschwarze -Frau weg ohne jeden Übergang zu Jürgen: „Da gehe -ich gestern die große Allee hinunter. Was wollen Sie, -ich gehe einfach spazieren. Auf einmal sehe ich eine -elegante Equipage stehen. Davor zwei Pferde. Pferde! -Ich verstehe mich darauf. Für Pferde interessiere -ich mich. Auch jetzt noch ... Und wer, denken Sie, -sitzt drin? ... Meine Mutter. Mächtig elegant! Ich -habe sie erst gar nicht erkannt. Nun, ich trete zu ihr an -den Wagen. Das ist doch klar. Ist das nicht menschlich? -</p> - -<p> -‚Woher kommst du?‘ fragt sie mich. Gerade, als -ob ich eben vom Waldhaus vor der Stadt gekommen -sein könnte. -</p> - -<p> -‚Aus Amerika! Am Montag!‘ -</p> - -<p> -‚Hast du denn Geld. Von mir kriegst du keines.‘ -</p> - -<p> -‚Ich hab doch kein Geld.‘ -</p> - -<p> -‚So‘, sagt sie und gibt dem Lakai das Zeichen. -Fort ist sie ... Das ist doch gemein. Ist das nicht -gemein? ... Fünf Jahre!“ Er wandte sich sofort zu -einer anderen Gruppe. -</p> - -<p> -Der Schweigende richtete sich auf, holte wortlos -und weit aus und knallte dem Straßenmädchen neben -sich die Faust auf den. Mund. Dann stützte er beide -Ellbogen wieder auf den Tisch. -</p> - -<p> -Auch das Mädchen, das beinahe rückwärts von der -Bank gestürzt wäre, stützte wieder die Ellbogen auf -den Tisch. Beide saßen genau wie vorher. Schwiegen -genau wie vorher. Kein Wort war gefallen. Der -Streit lag weiter zurück. Ihre Oberlippe war sekündlich -zu einer schiefen Geschwulst geworden, daß die -Zähne hervorsahen. -</p> - -<p> -<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> -„Da gehe ich gestern die große Allee hinunter ... -Elegante Equipage stehen ...“ -</p> - -<p> -„Equipage stehen“, hörte Jürgen den Aristokraten -am Nebentisch erzählen. Krachendes Antwortgelächter -übertönte für einen Moment den Tumult. -</p> - -<p> -Der Aristokrat lachte mit. „... Gerade, als ob ich -eben vom Waldhaus zurückgekehrt wäre ... Aber ist -das nicht gemein?“ -</p> - -<p> -„Schlag sie tot! Hau sie nieder!“ -</p> - -<p> -Noch leichenblaß, sah Jürgen die zwei Schweigenden -an. Die Frau mit dem blauschwarzen Gesicht rief: -„Seit zwanzig Jahren trag ich Backstein. Und jetzt -bin ich arbeitslos. Und weshalb? Was meinst du -wohl, weshalb?“ Der Schwindsüchtige verzog die -Lippen. Sie bekam keine Antwort. Viele waren -arbeitslos und wußten, weshalb. „Jetzt passen Sie -auf, jetzt kommt unser Fotz-Hobel-Quartett“, rief sie -Jürgen zu. -</p> - -<p> -Und der sah die vier Männer an, die ihre Mundharmonikas -auf die Handfläche stauchten. Der eine -Spieler, ein stark schielender, kleiner, ungewöhnlich -breitschulteriger Mann mit kantiger Stirn, machte -mit der linken Faust anfeuernde Bewegungen. Das -Getöse im Lokal verminderte sich nicht. Der Schielende -hetzte sich und die drei andern Spieler in das -immer wilder werdende Tempo hinein. Die vier Oberkörper, -die eingezogenen Köpfe spielten hingerissen -mit. Die Gesichter flammten. -</p> - -<p> -Drei zwischen Krücken baumelnde Krüppelkörper -zogen langsam vorüber an Jürgen und am Quartett. -Das Tempo stieg unter des Schielenden Führung -rasend an. Sie fanden nicht mehr Zeit, die Oberkörper -mitzuschaukeln; nur die Gesichter zuckten noch -<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> -knapp im Rhythmus. Der Schielende stampfte -hetzend mit dem Absatz den Takt. Der Vortrag endete -wie abgehauen. Der Orkan stand wie vorher im Lokal. -</p> - -<p> -Jürgen hörte einen dumpfen Ton: Wieder hatte die -Faust des Schweigenden den hochaufgeschwollenen -Mund des Mädchens getroffen. Dann saßen beide -wieder reglos, die Ellbogen aufgestützt. -</p> - -<p> -Die Frau mit dem schwarzblauen Gesicht spuckte, -über den Tisch weg, scharf an Jürgens Wange vorbei. -Eine dünne, weiße Wursthaut flog nach und platschte -glatt auf den schwarzen Fußboden neben den Schleim. -</p> - -<p> -Der Schweigende schob, als ob nichts geschehen wäre, -seiner Freundin die abgezogene Wurst hin. Das Mädchen -rührte sich nicht. Die geplatzte Oberlippe glich -einem daumendicken, blauen Wurm. -</p> - -<p> -Jürgen war vor dem an seinem Munde vorbeifliegenden -Schleim zurückgezuckt und starrte, plötzlich -grau am ganzen Körper, den an Jahren noch -jungen Mann an, der sich bückte, die mit schwarzem -Sande verschmierte Wursthaut vom Fußboden wieder -abzog und in den Mund steckte. Mit der ganzen Handfläche -schob er nach, kaute zahnlos und ging, auf dem -Boden nach Abfällen suchend, langsam weiter. Die -Menschen sah er nicht an. Nur den Fußboden. Apathisch, -wie ein wandelnder Toter. Und als ihm vom -Schweigenden die verschmähte Wurst zugeworfen -wurde, versuchte er gar nicht, sie aufzufangen; er -ließ sie gegen seine Brust prallen und erst zu Boden -fallen. Strümpfe, Weste, Rock, Hemd hatte er nicht -an. Nur Hosen und darüber einen Mantel. Seine -Augen waren verschleimt und tot. Die Unterlippe, -nach außen gedreht, hing unbeweglich, schief und drei -Finger breit herab. -</p> - -<p> -<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> -Mit Entsetzen sondergleichen fühlte Jürgen: Dieses -kranke Stück Fleisch will nur noch Essen zugeführt bekommen, -während der Wilde und sogar jeder Hund, auch -der elendeste, mit seinem Blicke Zuneigung verlangen -und geben kann. Das ist Kultur, dachte er. Kultur. -</p> - -<p> -Stunden vergingen, und immer mehr neue Gäste -kamen, Hände in den Hosentaschen, Schultern -fröstelnd hochgezogen: Obdachlose. Der Hinausschmeißer -musterte prüfend jedes fahle Gesicht, -schob im Laufe der Nacht zwei Burschen und ein -junges Mädchen, das die Arme hoffnungslos hängen -ließ, wieder hinaus. -</p> - -<p> -Der Schweigende rüttelte die Geschlagene am Arm, -forderte sie so auf, jetzt wieder gut zu sein. -</p> - -<p> -Was mag sie alles gedacht haben in dieser langen -Nacht? dachte Jürgen. Was ihr geschehen ist, als sie -noch ein Kindchen war? Oder was ihr noch bevorsteht -in diesem Leben? ... Und der Attentäter, er -wird hingerichtet. -</p> - -<p> -Mit einer Schulterbewegung schüttelte die noch -immer aufgestützt Sitzende die Hand ab, lächelte aber -dabei schief und entgegenkommend. -</p> - -<p> -„Dann eben du die Hälfte und ich die Hälfte“, gab -er halb nach. „Her mit dem Geld!“ -</p> - -<p> -Aufrührerischer, mitreißender Gesang, vom Quartett -begleitet, erfüllte unvermittelt und donnernd das -Lokal. Alle brüllten mit. Die nach außen gedrehte -Unterlippe hing unbeweglich auf das Kinn herab. -Er suchte, bückte sich. -</p> - -<p> -„Das war doch nur menschlich! Ist das nicht gemein?“ -fragte der Aristokrat den Hinausschmeißer, -der, das Lokal im Blick, am Bierfaß lehnte und keine -Antwort gab. -</p> - -<p> -<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> -Ich also werde mich nicht dabei beruhigen, daß ich -fähig bin, die Schönheit eines Goetheschen Wortes -zu empfinden, dachte Jürgen, als er gegen Osten -schritt, wo schon die zarte Morgenröte stieg. -</p> - -<p> -Auf eine Gruppe Nachtarbeiter zu, die das Trambahngleis -ausbesserten und eben die Azetylenlampen -verlöschten, da das graue Tageslicht schon erstarkte. -Ein Mann im Mantel beaufsichtigte die Arbeiter, die -mit wuchtigen Rundschlägen Eisenkeile in den Asphalt -trieben. -</p> - -<p> -Zwei Herren, die wie Oberförster aussahen und aus -einer Abendgesellschaft zu kommen schienen, blieben -stehen. „Wie brav sie wieder arbeiten!“ Und gingen -weiter. Wenige Tage vorher war ein Streik mit einer -Niederlage der Arbeiterschaft beendet worden. -</p> - -<p> -Auch Jürgen ging vorüber. „In Wirklichkeit sind -es ja nur die Hetzer, während die Arbeiter selbst“, -hörte Jürgen, „im großen ganzen ...“ -</p> - -<p> -Ging aus der Stadt hinaus, am Flußufer hin. Auf -der Quaimauer saß ein junger Mensch. Diesmal erkannte -Jürgen sofort das leichenfahle Gesicht des -Schwindsüchtigen, der den Abend vorher in der -Arbeiterversammlung und später beim ‚Platzwirt‘ -gewesen war: Ein Gesicht, in dem der Haß sich schon -in Verzweiflung und die Verzweiflung sich schon in -Gleichgültigkeit abgewandelt hatte. -</p> - -<p> -Der Schwindsüchtige pfiff leise, ließ die Beine über -dem fließenden Wasser baumeln. „Guten Morgen“, -sagte Jürgen und setzte sich neben ihn, die Beine -ebenfalls wasserwärts gestreckt. Von der anderen -Seite näherte sich ein einarmiger Invalide, saß auch -nieder und begann Geld zu zählen. -</p> - -<p> -Der Schwindsüchtige pfiff, zwinkerte, den Kopf -<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> -schief gestellt, die glühende Morgendämmerung an, -zum Bettler hin und spuckte in großem Bogen aus, -pfiff weiter, gleichgültig. -</p> - -<p> -Auch Jürgen tat gleichgültig: „Schönes Wasser. -Sind Sie immer hier?“ -</p> - -<p> -„Oder wo anders!“ Er lächelte höhnisch. Dann ließ -er sich doch herbei: „Arbeitslos! Seit ... Ah, die -Saubande! Ich scheiß auf alles.“ Blickte wieder gewöhnlich -drein. Dann biß er in einen unreifen Apfel. -Die Säure zog ihm das Gesicht zusammen. -</p> - -<p> -Vorsichtig fragte Jürgen: „Wollen Sie etwas zum -Essen holen? Wurst?“ -</p> - -<p> -Der einarmige Bettler war noch immer mit Zählen -beschäftigt. Er kicherte, nachdem der Schwindsüchtige -mit Jürgens Geldschein fortgegangen war. -„Den haben Sie gesehen. Der kommt nimmer. Iiiii! -die Gauner kenne ich ... Und der dort, der jetzt da -kommt, den schauen Sie sich an, das ist Herr Knipp. -Der hat ausgerechnet, daß er von seinem Steinbruch, -wenn er immer nur soviel brechen läßt, wie er fürs -tägliche Leben braucht, bis zu seinem achtzigsten -Jahr leben kann, ohne selbst was tun zu müssen. -Deshalb läßt er seit Jahr und Tag nur zwei Leute im -Steinbruch arbeiten. Er selber angelt seit Jahr und -Tag. Der will nur angeln. Nichts als angeln! Und -pfeifen kann der, sag ich Ihnen! Er hat nämlich ein -Klavier. Darauf spielt er, ganz ohne Noten, und -pfeift dazu. Schon in aller Früh! Sie können sich -nicht vorstellen, wie der pfeifen kann. Das klingt -wie Geigen und Flöten. Die Arbeiter, wenn sie früh -in die Fabrik gehen, bleiben stehen und horchen ... -Und dann angelt er. Den ganzen Tag. Sogar manchmal -nachts.“ -</p> - -<p> -<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> -Herr Knipp hatte umständlich geschnupft, schäkerte -freundlich und ganz für sich allein mit dem Wurme, -der sich am Angelhaken bäumte: „Warte doch, -warte doch ... Er kanns nicht erwarten.“ Dann -beobachtete er, zufrieden mit der Welt, den schaukelnden -Schwimmer. Herr Knipp war erst einundvierzig -Jahre alt. -</p> - -<p> -„Der kommt nimmer ... Ihr Geld ist futsch.“ -</p> - -<p> -Gleich darauf erschien der Arbeitslose, aus einer -anderen als der erwarteten Richtung kommend, in -der Ferne. -</p> - -<p> -„Jetzt sagt er, er hätts Geld verloren.“ -</p> - -<p> -„Um zwanzig Brot. Die Wurst kost vierzig.“ Er -packte das armlange Stück aus, zählte das übriggebliebene -Geld auf Jürgens Handfläche. „Pferdewurst! -Die ist billiger. Und besser ist sie auch.“ -</p> - -<p> -Der Krüppel blickte von der Wurst weg schief -wasserwärts, in der Erwartung, daß seine Verdächtigung -dem Arbeitslosen mitgeteilt werden würde, und -bekam, als Jürgen, anstatt zu denunzieren, ihn zum -Mitessen aufforderte, in seine bösen, einsamen Augen -einen Blick wie ein Findelkind, dem unvermittelt -gesagt wird, seine Mutter sei gefunden und stehe vor -der Tür. Seit Jahren nicht mehr aufgestiegene Schamröte -veränderte das verwüstete Gesicht. Er klemmte -das Taschenmesser zwischen die Knie, zog die Klinke -hoch und schnitt sich ein Stück Wurst ab. -</p> - -<p> -Der schwindsüchtige Arbeitslose kaute langsam, -den Blick über den Fluß weg ins weite, dämmerige -Hügelland gerichtet. Herr Knipp, dem noch viele -tausend Tage zur Verfügung standen, atmete zeitlos. -</p> - -<p> -Die Straßen waren noch menschenleer. Vor dem -Gefängnis stand eine Droschke. Stand schwarz in -<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> -der Dämmerung vor dem düsteren Gebäude. Kutscher -und Pferd regten sich nicht. -</p> - -<p> -‚Sicher! Ganz sicher! Sie transportieren ihn heute -schon ... Vielleicht um etwaige Befreiungsversuche -unmöglich zu machen?‘ -</p> - -<p> -Erst nach einer langen halben Stunde schritten zwei -dunkelgekleidete Kriminalbeamte, zwischen sich -einen bartlosen jungen Mann in hellbraunem Anzuge, -durch das Tor zur Droschke. Der eine ging um die -Droschke herum. Sie stiegen durch beide Türen -gleichzeitig ein, als der Gefangene schon saß. -</p> - -<p> -Die einzigen Geräusche, die Jürgen vernahm in -der schlafenden Stadt, waren das Klappern der Räder -und das Klopfen seines Herzens. ‚Die Regierung -beschließt: Auslieferung. Die Regierungsmitglieder -schlafen jetzt. Aber in dieser Droschke fahren zwei -beamtete Henker und dieser Mensch zum Bahnhof.‘ -</p> - -<p> -Vorüber am Hauptportale, Gleis entlang, Richtung -Rangierbahnhof, bis zu einem einzelnen Personenwagen, -der auf dem dritten Gleis stand. Hinter dem Rangierbahnhof -ertönten Pufferknall und die langgezogenen -Rufe der Eisenbahnarbeiter, die den Zug -erst zusammenstellten. -</p> - -<p> -Jürgen beobachtete, wie die drei einstiegen, wie der -eine Beamte wieder ausstieg, zwischen dem Gleis auf -das Bahnhofsgebäude zuschritt, hinein in das Restaurant. -</p> - -<p> -Alles wie im Traume: Hinweg über die Gleise. In -den Wagen. Stück durch den Laufgang. Schiebetür -zurück, auf der ‚Dienstabteil‘ stand. Sprung auf die -Bank. Und von oben herab auf den breiten Rücken -des Beamten, der, stehend, durch das geschlossene -Fenster geblickt hatte. -</p> - -<p> -<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> -„Los! Renn! Renn! ... Los!“ -</p> - -<p> -Der schmalgesichtige Attentäter blieb so reglos in -der Ecke sitzen, als ginge ihn diese Sache gar nichts -an, schüttelte verneinend den Kopf. -</p> - -<p> -Der Mund des Beamten zischte vor Kraftanstrengung. -Er bekam einen Arm frei. Griff in die Tasche -nach dem Revolver. -</p> - -<p> -Mit dem angesammelten Zorn seines ganzen Lebens -schleuderte Jürgen den Beamten von sich, daß dessen -Kopf und Oberkörper durch die zerkrachende Fensterscheibe -schossen, stürzte aus dem Wagen, über die -Gleise, durch die Bahnhofsanlage, Häuser entlang. -Vernahm einen Trillerpfiff, schon fernher. -</p> - -<p> -Ruhigen Schrittes ging er in einen offenen Lagerplatz, -in dem mehrere Möbelwagen und viele andere -Fuhrwerke standen, und setzte sich auf einen Handwagen. -Eine Schar Hühner eilte sofort auf ihn zu. -</p> - -<p> -‚Die Rechnung ist einfach: Der eine war im Bahnhofsrestaurant; -der andere konnte mir nicht nach, -weil er den Gefangenen nicht verlassen durfte. Außerdem -war ich, bis er seinen Kopf befreit hatte, schon -weg.‘ Dabei zerbrach Jürgen das Brotstückchen, -das er in seiner Tasche gefunden hatte, und streute -die Krümel unter die übereinandersteigenden und --fliegenden Hühner. -</p> - -<p> -‚Und jetzt? ... Jetzt wird er hingerichtet.‘ -</p> - -<p> -Erst als Jürgen, heimwärtsschreitend, schon mehrere -Querstraßen hinter sich hatte, rannte der Beamte, -der in der Restauration gewesen war, über den Bahnhofsplatz, -in der Hand den Browning. -</p> - -<p> -Zierlich gekleidete Zofen eilten im gepflegten Villenviertel -an Jürgen vorbei. Gebadete Damen in hübschen -Morgenkleidern nahmen das Frühstück und -<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> -sonnten sich im Liegestuhl auf den Balkonen. Die -Gärten dufteten. -</p> - -<p> -Ich scheiß auf all das. Das Ganze ist gemein, -dachte Jürgen und klinkte die Tür auf. Die Tante, -erzürnt, weil er die Nacht außer Haus zugebracht -hatte, ging grußlos an ihm vorüber. ‚Auf alles!‘ -dachte er und schlief sofort ein. -</p> - -<p> -„Und ich erkläre Ihnen, das ist ausgeschlossen.“ -</p> - -<p> -Aber der feine, schmale Frackherr, mit dem Scheitel -von der Stirn bis zum Nacken, ein Herrchen, nur so -groß wie ein Tintenfaß, ein winziges Frackherrchen, -verbeugt sich, lächelt höflich und sicher und sagt: -„Ich bin die Achtung. Bin das Ganze. Und ich erkläre -Ihnen: Ich sitze in Ihrem Hinterkopfe.“ -</p> - -<p> -„Sie stehen ja vor mir.“ -</p> - -<p> -„Und sitze gleichzeitig verborgen in Ihnen. Bin -Ich und bin die Achtung. Bin das Ganze und bin Sie, -weil ich in Ihrem Hinterkopfe sitze.“ -</p> - -<p> -Da erwachte er. Es war ein Uhr nachmittags. Die -Tante stand vor seinem Bett. Ohne Einleitung und -als lese sie wieder den letzten Willen des Vaters aus -ihrem Haushaltungsbuch vor: „Auf das Haus, in dem -du geboren wurdest, und auch auf die drei Miethäuser -habe ich deinem Vater schon vor zwanzig Jahren -die Hypotheken geliehen. Die Häuser gehörten schon -zu Lebzeiten deines Vaters ganz und gar mir. Er hat -dir nichts hinterlassen. Du solltest dich also nicht -länger, als unbedingt nötig ist, von mir ernähren lassen. -Das ist eine Schande. Steh auf und geh in dein Kolleg.“ -</p> - -<p> -Er stützte sich auf, sah die Tante an, schwieg noch -zwei Sekunden: „Ich verzichte auf dein Geld. Ich -lebe und bin da. Das Weitere wird sich finden. Und -jetzt geh, bitte ... Also geh schon!“ -</p> - -<p> -<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> -Es waren nicht die Worte selbst, nicht Sinn und -Inhalt der Worte, es war das an Jürgen bisher nie -bemerkte einfache, ruhige Kraftbewußtsein, das hinter -den Worten stand und die Macht der Tante über ihren -Neffen verdunsten ließ. -</p> - -<p> -Er kleidete sich sofort an. Ging aus der Stadt -hinaus, auf der Landstraße hin. Rückblickend auf -sein Leben, ziellos weiter durch den heißen, weißen -Staub, mit sich tragend das lastende Gefühl, daß dies -die Stunde sei, die seines Daseins folgenschwerste -Entscheidung in sich berge: die Möglichkeit, daß -heute sein Leben in zwei Teile gespalten werde. -</p> - -<p> -Die alte Sehnsucht nach der Landstraße, die er seit -Jahren in sich trug, die Sehnsucht nach den Hafenstädten -und fernen Erdteilen, der Wunsch, allen -Qualen, allen Pflichten zu entlaufen, schritt hinter -ihm her, schob ihn immer weiter auf der Landstraße -hin. -</p> - -<p> -Der Wiesenabhang links von Jürgen war von der -Sonne braun gebrannt. Die Luft zitterte vor Hitze. -Kein Bauer auf dem Felde. Kein Vogel pfiff. Die -Mittagssonnenstrahlen sengten senkrecht herab auf -die menschenleere Landschaft. -</p> - -<p> -„Und die weiße Straße geht in der Sonne vor Einsamkeit -sich selbst entlang“, flüsterte Jürgen. Und -glaubte, in dieser Sekunde den tiefsten Sinn des -Menschendaseins erkannt zu haben und zu fühlen. -Tat einen langen Blick noch auf die weiße Landstraße, -weit hinaus. -</p> - -<p> -Und wandte sich, schritt schnellen Schrittes zurück -und in die Arbeiterversammlung, deren Ankündigung -er im ‚Klassenkampf‘ gelesen hatte. -</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="chapter" id="IV"> -<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> -IV -</h2> - -</div> - -<p class="first"> -Jürgen kassierte den Zins ein bei den Parteien der -drei Mietskasernen, zu deren Verwalter die Tante ihn -unversehens gemacht hatte, füllte neue Mietsverträge -aus, beaufsichtigte das Tapezieren einer Wohnung, ging -zwischendurch ins Kolleg. An den Abenden in Arbeiterversammlungen. -</p> - -<p> -Eine neue Partei verlangte, daß die Küche frisch -geweißt werde. Nach der Tante Meinung war die -Küche noch weiß genug. Jürgen mußte vermitteln. -Er sah, wie nie vorher in seinem Leben, von Angesicht -zu Angesicht die Not. Wurde gegen seinen Willen -Zeuge von Haßausbrüchen zwischen Proletarierehepaaren, -sah machtlos zu, wie abgearbeitete, machtlose -Väter ihren Zorn an den machtlosen Kindern ausließen; -wie Gerichtsvollzieher letzte Stücke pfändeten; mußte -Mietzins verlangen von Arbeiterfrauen, in deren -Augen unvertreibbar Gram und Sorge hockten, und -Mietzins für ein Zimmer – nicht vier Meter im Quadrat -–, in dem Mann und Frau, zwei erwachsene -Söhne und zwei erwachsene Töchter in drei stinkenden -Betten die Nächte, ihr Leben verbrachten. -</p> - -<p> -Der Tapezierer war fertig. Jürgen blickte die Wand -an. Die knallroten Rosen der neuen Tapete wurden -lebendig, kreisten wie ein Feuerwerksrad. ‚Tragisch – -so eine Rosenwohnung! Viele tausend Rosen, und -wenn dann die Leute darin leben ... stinkts!‘ -</p> - -<p> -Vor dem Hause, herum um das Kanalgitter, drehten -sich drei fahle Proletarierkinder im Ringelreigen. In -der Mitte kniete eine Vierjährige und machte das zum -Spiel gehörige Märchengesicht. -</p> - -<p> -‚Für diese Kinder scheint das Kanalloch der Mittelpunkt -<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> -zu sein, wie das reich ausgestattete Spielzimmer -der Mittelpunkt für die andern Kinder ist. Daß -die Faust der Armut auch die Kinder würgt, das hat -mich schon als Gymnasiast empört ... Und die -Kinder, neben denen die Gouvernante geht? ‚Mademoiselle -Katharina, Sie dürfen nicht mit den Armen -schlenkern. Mademoiselle Katharina, Sie dürfen sich -nicht umsehen. Beim Atmen müssen Sie die Lippen -geschlossen halten, Mademoiselle Katharina.‘ -</p> - -<p> -Es war die Stunde, da die proletarische Jugend, weil -sie eigentlich schon zuhause hätte sein müssen, in -der heißesten Spiellust zusammengetan ist. Geschrei -durch Straßen. Erhitzte Gesichter. Gespannte Knabenkörper, -in Fluchtstellung atemlos den Verfolger erwartend. -</p> - -<p> -‚Die dürfen mit den Armen schlenkern. Umsehen -dürfen die sich auch. Und den Mund können sie aufreißen, -so weit sie wollen.‘ -</p> - -<p> -Abendglocken läuteten, verklangen. Arbeiter marschierten -heimwärts. Der warme Sommerhimmel -dämmerte der Nacht entgegen. Laternen funkten auf. -Der Tag war schön gewesen. -</p> - -<p> -‚Es ist doch schön – man begreifts nur meistens -nicht.‘ -</p> - -<p> -Viele Geschäfte waren noch beleuchtet. Aus anderen -strömten schon die bleichen Ladnerinnen, sahen in -den Himmel und streiften dabei die Handschuhe über. -Ein Invalide, der seinen verkrüppelten Fuß, der wie -eine verkümmerte Hand aussah, nackt auf dem Gehweg -liegen hatte, hob die Mütze zu Jürgen empor. -„Du wirst nicht wollen, daß ich leide“, sang ein hemdärmeliger -Tenor im vierten Stock tragischen Tones -vergnügt zum Fenster hinaus. -</p> - -<p> -<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> -An dem Theater rollten Autos vor und ab. Toiletten -stiegen aus. Ein zahnloser Menschenmund rief: -„...tung mit den neuesten Kursberichten!“ Der aus -den Zugangsstraßen immer neu genährte Zug derer, -die aus den Werkstätten, aus den Fabriken kamen, -marschierte vorüber. Alle schritten im gleichen -Tempo, nahmen Jürgen mit. -</p> - -<p> -Über eine eiserne Kanalbrücke, neben der ein -Schiffer auf dem Deck im Kochtopf rührte. Vorüber -an einem Bureau, in dem zwei beleuchtete, einander -belauernde Tuchgrossistengesichter noch einen Abschluß -ausfochten. Aus offenen Kneipentüren schlug -schlechter Fettgeruch heraus. -</p> - -<p> -Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser -kleiner. Unbebaute Stellen, lange, verfaulende Bretterzäune -(eine Ratte verschwand), Ziegen auf dem -Heimtrieb, ein Schuppen, Gestank. Das kleine Fenster -hing nah der Erde rotleuchtend in der Finsternis. -Die Haustür war nur angelehnt. -</p> - -<p> -„... Denn überall haben in Wirklichkeit die Monopolisten -die ganze Macht: eine Macht, so unbeschränkt, -daß auch die Schule, Kanzel, Presse, öffentliche -Meinung, Polizei, Militär, Justiz, der ganze Staat ihr -Staat ist und die Regierungen in allen Vaterländern -nur die Schatten der Monopolinhaber sind, Schatten, -die, wie der Schatten eines beweglichen Gegenstandes, -jede Bewegung dieser Allmächtigen mitmachen müssen. -Schon stehen die Monopolinhaber aller Vaterländer -wieder vor dem Knopf, und die Schatten blicken -unverwandt auf die Monopolinhaber, bereit und gezwungen, -den Krieg – Krieg um Rohstoffquellen, -Eisenbahnkonzessionen, Absatzmärkte, um den Weltprofit -– zu erklären in dem Moment, da jene auf den -<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> -Knopf drücken“, schloß der Agitator, der unter dem -dösenden Gaslicht auf einem Küchenhocker saß, -seinen Vortrag. -</p> - -<p> -Katharinas Zimmer war sehr niedrig. Der Agitator -erhob sich, vorsichtig, um mit dem Kopfe nicht anzustoßen -an den Gasarm. „Nicht nur für einzelne Menschen, -Genosse Jürgen, auch für das Proletariat gibt es, da -die ökonomischen Voraussetzungen zur Ablösung der -kapitalistischen Konkurrenz-Profitwirtschaft durch die -proletarische Bedarfswirtschaft längst gegeben sind, -immer wieder das, was du Schicksalspause nennst – -weltpolitische Situationen nämlich, in denen das Proletariat -sich entscheiden kann für die soziale Revolution -oder für einen imperialistischen Krieg, in dem Millionen -fallen. Das Weltproletariat steht immer wieder in dieser -Schicksalspause. Wie wird es sich das nächste Mal -entscheiden?“ -</p> - -<p> -Und während er seine Notizen einsteckte: „Der -Genosse Jürgen! ... Unsere Bezirksführer! Und -hier: Unser Vertrauensmann.“ -</p> - -<p> -Die neun standen an der Wand lang, hockten auf -dem Fußboden und dem Fenstersims. Zwei rauchten -aus kurzen Pfeifen den Tabak, dessen dunkelblauer -Qualm, von dem Spaziergänger unverhofft im Freien -eingeatmet, gut riecht und im Zimmer wie Gift -beißt. -</p> - -<p> -Jürgens Augen folgten dem Blicke des Agitators, -der lächelnd sagte: „Ihr beide kennt einander ja schon -sehr lange, hast du mir erzählt.“ -</p> - -<p> -Katharinas Gesicht, das außerhalb des Lichtkreises -hinter der Schreibmaschine im Schatten hing, sah -übermüdet aus. Neben ihr stand ein grauer Emailteller -mit kaltgewordenem Kraut und kaltgewordenen -<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> -Fettbrocken, an der Rückwand ein Gaskocher und -ihr schmales Eisenbett. -</p> - -<p> -Fühlbar stand die Wirkung des Vortrages im Zimmer -und sichtbar in den Blicken der neun Bezirksführer. -</p> - -<p> -Ein noch junger Holzarbeiter, dessen Gesicht, eingetrocknet -und kleiner geworden, schon einer gedörrten -Frucht glich, sagte, leicht werde es ihm nicht fallen, -an die Genossen in seinem Bezirke alles das klar und -faßlich weiterzugeben. „Aber faßlich muß es sein, -sonst verstehts niemand.“ -</p> - -<p> -Der Vertrauensmann, ein dunkelgesichtiger, stoppelbärtiger -Metallarbeiter, an dessen rechter Hand zwei -Finger fehlten, streckte diese Hand vor: „Vier Hauptpunkte -mußt du festhalten“, sagte er, zählte an den -Fingern her und mußte schon wieder beim Daumen -beginnen: „Und viertens, daß die Arbeiterschaft gegen -einen derartig gewaltigen Machtblock eben nur bei -schärfster Disziplin und überhaupt nur durch eine -ganz starke Organisation etwas ausrichten kann.“ -</p> - -<p> -Unter dem Sims, mit dem Rücken gegen die Fensterwand, -saß auf dem Fußboden ein schon bejahrter -Kartonnagenarbeiter. Seine Hand rückte ununterbrochen -und selbsttätig unsichtbare Gegenstände zehn -Zentimeter seitwärts: Die arbeitende Hand machte -den Griff, den sie ein Leben lang von früh bis abends -in der Papier- und Kartonnagenfabrik des Herrn -Hommes gemacht hatte. -</p> - -<p> -„Beruhig du dich nur. Die Genossen in deinem Bezirk -werden dich schon verstehen. Was dir deiner Lebtag -auf die Haut brennt, das begreifst du leicht“, -sagte er und setzte sich auf die arbeitende Hand, die -sich Sekunden später wieder befreite und weiter ihre -Arbeit tat. -</p> - -<p> -<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> -„Wegen der Frauenlandeskonferenz! Weil sie eben -in dieser Woche in vier Versammlungen das Referat -hatte. Und auch sonst viel Arbeit, Sitzungen, Schreibereien -und so ... Jetzt mußt du ein paar Tage ausspannen, -Genossin Lenz.“ -</p> - -<p> -„Ich brauche nur Schlaf. Fünf Stunden!“ -</p> - -<p> -„Ja, ja, Schlaf“, sagte der Kartonnagenarbeiter und -setzte sich wieder auf seine tätige Hand. -</p> - -<p> -Katharina wandte das Gesicht Jürgen zu. Und es -schien, als habe sie den Blick, mit den sie ihn vor acht -Jahren im öffentlichen Parke angesehen hatte, in -ihre Augen zurückgeholt. Sie lächelte, und hinter -diesem Lächeln stand die Antwort auf seine damalige -Frage: ‚Aber wie? Wie soll man sich aufopfern?‘ -</p> - -<p> -„Der ist erst fünf Tage später abtransportiert worden.“ -</p> - -<p> -Dann hörte Jürgen, wie der Metallarbeiter zu den -zwei Pfeifenrauchern sagte: „Weil der Kriminaler, -der mit dem Kopf ins Fenster gefallen ist, dabei ein -Aug eingebüßt hat und deshalb die Reise nicht mitmachen -konnte.“ Und trat zu den Dreien in die -Fensterecke. Auch der Agitator war hinzugetreten. -</p> - -<p> -„Wenn sie den packen – unter fünf Jahr gehts -nicht ab“, sagte der Metallarbeiter noch. -</p> - -<p> -Der Holzarbeiter mit dem vertrockneten, kleiner -gewordenen Gesicht sprach schriftdeutsch: „In der -Zeitung stand: Ein gutgekleideter, ungefähr fünfundzwanzigjähriger -Mensch, Kaufmann oder Student, -augenscheinlich ohne Kopfbedeckung.“ -</p> - -<p> -Und der Agitator: „Auch heute waren wieder Kriminalbeamte -im Parteibureau ... In diese romantischen -Polizeischädel geht es nicht hinein, daß die -Aufgabe der modernen Arbeiterbewegung nicht darin -<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> -besteht, Attentate zu organisieren und Attentäter -gewaltsam zu befreien.“ -</p> - -<p> -Die Mütze hatte ich in der Tasche, dachte Jürgen -und fragte: „Was sagten Sie eben?“ -</p> - -<p> -„Das Gefühl der Empörung übrigens, das diesen -jungen Menschen zu dem Befreiungsversuch veranlaßte, -ist dasselbe, das in allen Klassenkämpfern lebendig -ist; aber die müssen, so schwer das ihnen auch wird, -ihre Empörung oft in sich zurückhalten“, fuhr der -Agitator fort, Blick vor sich hin gerichtet und in einem -Tone, als dachte er, wie sehr viel leichter das Leben -sein würde, wenn der Kampf um den Sozialismus in -derartigen Taten bestehen könnte, anstatt in der jahrelangen, -lebenslangen, zermürbenden, täglichen Hingabe. -</p> - -<p> -„Ja, aber dazu noch wöchentlich zweimal Bildungskurs -in der Jugendorganisation!“ rief bei der -Rückwand ein Bezirksführer. Zwei andere sprachen -über den letzten Lohnkampf, der die Transportarbeiter -sehr geschwächt habe. Im Stock erklang das -in sich erstickende Geschrei eines Säuglings. -</p> - -<p> -Unter dem Brustbein empfand Jürgen einen immer -schwerer werdenden Druck, als stecke er bis zum Kinn -in dickflüssiger Moorerde. -</p> - -<p> -„Wollen wir anfangen?“ fragte der Agitator. Und -Katharina hob den Deckel von der Schreibmaschine. -</p> - -<p> -Die zehn schritten durch die Finsternis, vor sich -die fensterlosen Rückseiten schmaler, turmhoher, freistehender -Mietskasernen: tote Silhouetten. Ein langer -Güterzug kroch aus dem Arbeiterviertel heraus, ins -flache Land hinein. Wasserglanz in dunkler Ferne und -das gedämpfte Rasseln eines Schleppers, der eine -Reihe Frachtschiffe stadtwärts zog. Der lange Pfiff -der Lokomotive schlug einen Bogen durch die Nacht. -</p> - -<p> -<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> -Geschrei brach ihnen entgegen, stieg an: ein Knäuel -Wutgebrüll. Über allem die Frauenstimme, die wie -die Verzweiflung selber schrie. Und als die zehn den -Lichtkegel, der aus dem Parterrefenster auf die Straße -fiel, erreicht hatten und ihn durchschritten, war es -drinnen völlig still. Drückende Stille. Und dann -Wimmern, Weinen, gestoßen ausbrechendes Geheul, -fessellos, als weine die Verzweifelte alle Not ihres -Lebens und das Leben selbst aus sich heraus. -</p> - -<p> -Darüber entstand ein Gespräch. Ob der Mann die -Frau und weshalb er sie wohl geschlagen habe, und -warum sie gar so arg flenne. „Die Gründe kennt man“, -sagte der Holzarbeiter. -</p> - -<p> -„Ja, das sind im Grunde immer die selben.“ -</p> - -<p> -„Wie schön die Nacht ist.“ -</p> - -<p> -„Ja, wenn man so marschiert.“ -</p> - -<p> -Die neuen Backsteinhäuser des wachsenden Arbeiterviertels, -gleichförmig, unverputzt, wie über Nacht -hingestellt – lineare Straßen, bei den Feldern endend -wie abgehauen –, stießen feuchten Kalkgeruch ab. -Kein Fenster war erleuchtet. Die Arbeiter schliefen -schon. Vor einer alten Villa, die eingeholt und überholt -worden war von der wachsenden Stadt, stand ein -Schutzmann mit einem Polizeihund. -</p> - -<p> -Das Weinen war verendet. Die Schritte hallten im -Gleichmaß. -</p> - -<p> -„Aber Parteimitglied wurde ich – das sind jetzt -sechsundzwanzig Jahre her“, erzählte der Kartonnagenarbeiter. -„Seitdem hat sich viel geändert.“ -</p> - -<p> -Sechsundzwanzig Jahre, dachte Jürgen. Sechsundzwanzig -Jahre. -</p> - -<p> -Hohe, leuchtende Fenster, fünf lange Reihen übereinander, -traten aus der Dunkelheit heraus. Die zehn -<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> -schritten hinein in das Klipp-Klapp-Geräusch der -Transmissionen: die Nachtschicht bei der Arbeit. -</p> - -<p> -„Heut ist die Partei eine Macht ... Wenns auch -langsam geht ... Mitbestimmungsrecht ... Die straffe -Organisation ... Ja, viel Arbeit gewesen“, vernahm -Jürgen, der mit dem Holzarbeiter und dem Metallarbeiter -einige Schritte voraus war. -</p> - -<p> -Schweigend über die kleine Eisenbrücke. Durch -den kühlen Teergeruch. Auf der äußersten Spitze des -zugebretteten Frachtschiffes im Kanal stand ein -winziger Hund, der blickte. Schon durchbrach dort -und hier das Lichtermeer die Baumkronen. -</p> - -<p> -Jürgen konnte nicht durchatmen, als wären seine -Lungen luftgefüllt und hermetisch verschlossen. -Konnte nur vom Halse weg atmen. ‚Lebenslang -außerhalb des Lebens zu stehen, bedeutet es. Und -nur ein winziges Teilchen der großen Bewegung zu -sein und gewesen zu sein.‘ Der Druck in seiner Brust -wich nicht. -</p> - -<p> -Sie gerieten in die Menge hinein, die das Theater -verließ und dem Korso zustrebte. Es war erst zehn -Uhr. Vor allen Cafés saßen die Gäste im Freien. -Auch vor dem Grandhotel ruhten elegante Herren -und elegante Damen in Korbsesseln und genossen die -herrliche Sommernacht. Auf der funkelnden Weinterrasse, -blumenüberhangen, von der Straße leicht -abgesondert durch Lorbeerbäume, rollten die Kellner -lautlos die Servierwagen an und ab, tranchierten -Geflügel, öffneten Weinflaschen. Zu Verbeugungen -erstarrte Fragen. Das Streichquartett spielte diskret. -</p> - -<p> -Die vier Bogenlampen über des Juweliers Schaufenster -spritzten weißes Licht in die Menge – Studenten, -junge Kaufleute, Fremde und Offiziere mit -<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> -ihren Kokotten und Damen –, die straßauf, straßab -bummelte, in so gemächlichem Tempo, daß die zehn -wie ein marschierender Fremdkörper wirkten. Vor -dem Juwelier blieben sie stehen. Alle zehn. Jürgen -mit dem Blick zur Weinterrasse. -</p> - -<p> -Plötzlich bekam er einen Schlag gegen das Herz. -Sagte zweimal den Satz: „Das ist es ja nicht. Das ist es -ja nicht.“ Sah an sich hinunter, überzeugte sich, daß -er sorgfältig gekleidet war, und drehte sich wieder -um zum Schaufenster. -</p> - -<p> -„Also, auf morgen!“ rief der Holzarbeiter noch zurück -und lächelte bekannt und dennoch fremd. -</p> - -<p> -Die erste Geige sprang mit einem unerwarteten, -funkelnden Saltomortale aus der Begleitung heraus, -jubelnd empor. Ein übriggebliebener Gedanke irrte -noch in Jürgen umher, wurde immer wieder zurückgestoßen, -schrie lautlos und gellend das Wort ‚Schicksalspause‘. -„Das ist es ja nicht. Das ist ja unwichtig“, -murmelte Jürgen und zog die Handschuhe über. -</p> - -<p> -Erst als er schon vor einem weißgedeckten Tischchen -auf der Weinterrasse saß, gegenüber zwei schweigsamen, -schönen Engländerinnen, bemerkte er Adolf -Sinsheimer und noch drei Schulkameraden, die, elegant -zurückgelehnt, ihre seidenen Strümpfe sehen ließen -und, die ganzen Oberkörper langsam vorbeugend, Jürgen -grüßten. Er setzte sich zu ihnen. -</p> - -<p> -Stand sechs Stunden später auf der Straße. Die -Vögel pfiffen schon. Die Menschen schliefen noch. -„Nun, und jetzt? ... Ich war betrunken.“ -</p> - -<p> -Er dachte, von Ekel geschüttelt, an die Szene in -dem orientalischen Salon, in dem er mit den Schulkameraden -gewesen war. Sah die Amsel an, die auf -dem Staketenzaun saß. Seine Knie wurden weich. -<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> -Er mußte sich auf die Steintreppe setzen. „Das Ganze -hat nicht mehr und nicht weniger zu bedeuten, als -mein imaginäres Duell mit Karl Lenz.“ -</p> - -<p> -Die Amsel sperrte weit den gelben Schnabel auf: -„Das stimmt. Und stimmt doch nicht.“ -</p> - -<p> -„Denn einmal, meinst du, nicht wahr ...“ -</p> - -<p> -„Eben das meine ich!“ -</p> - -<p> -Jürgen hatte das Empfinden, in die Tiefe zu stürzen, -und fuhr aus dem Schlummer. „Wenn das so weiter -geht, werde ich einmal nichts mehr selbst entscheiden -können. Das Schicksal wird mir keine Pause mehr gewähren.“ -</p> - -<p> -Am Nachmittag – sie hatten eben Kaffee getrunken -– blickte Jürgen nachdenklich die im Sessel schlummernde -Tante an, lehnte sich auch in den Sessel zurück, -Wange auf dem gehäkelten Schutzdeckchen. -</p> - -<p> -Die Heiligenbilder an den Wänden hielten die -segnenden Hände erhoben über die beiden. Auch der -Vogel im Käfig ließ die Schlafhäutchen über die Augen -herab. Die blauen und silbernen und goldenen, kopfgroßen -Glaskugeln im Garten funkelten in der Nachmittagssonne. -Eine Wolke zog still am Himmel hin. -Der Perpendikel sagte: Rich...tig, rich...tig. -</p> - -<p> -Das fadendünne Drahtseil lief von Jürgens bequemem -Backenstuhl weg, in viel tausend Meter Höhe vorbei -an den in Not und Kampf Stehenden dieser Welt. -Jeder hielt sein gepeinigtes Herz in der Hand. Da, -wo das Seil endete – in ungeheuer weiter Ferne –, -leuchtete Katharinas Stube. Auf Jürgen zu, in blauer, -gefährlicher Höhe, bewegten sich die neun Proletarier -und erwarteten Jürgen so gläubig, daß er nicht widerstehen -konnte, das fadendünne, schwindelhohe Seil -ebenfalls zu besteigen. -</p> - -<p> -<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> -Ein paar Meter vor ihm balancierte, vom Absturze -bedroht, ein Mensch auf dem Seile. Jürgen erkannte -in dem gefährlich Schwankenden sich selbst, rief sich -an in kaltem Schrecken. -</p> - -<p> -Da marschiert er mit den neun Proletariern den -Korso hinauf, sieht die promenierende Menge, die vier -lichtspritzenden Bogenlampen über des Juweliers Schaufenster. -Hört die Streichmusik, erkennt die Melodie. -</p> - -<p> -Die Schicksalspause tritt ein. -</p> - -<p> -‚Also, auf morgen!‘ sagt der Holzarbeiter. -</p> - -<p> -Diese photographische Genauigkeit! Ich sah im -Traume sogar die gelbe Rose in Adolfs Knopfloch, -deren tatsächliches Vorhandensein mir gestern nicht -einmal in der Wirklichkeit bewußt geworden war, -denkt Jürgen, der träumte, erwacht zu sein. Steckt -sich die Rose ins Knopfloch. -</p> - -<p> -Sitzt mit Adolf Sinsheimer und den drei Schulkameraden -auf der Weinterrasse. Plötzlich verdichten -sich die vier Körper in einen Körper, auf dessen Hals -die vier Köpfe stecken. -</p> - -<p> -Alle vier Gesichter haben den selben zotigen Zug -um den Mund, denkt Jürgen. ‚Wie Männer, wenn sie -eine wehrlose Frau auf der Straße ansehen. Den selben, -das Menschenauge schändenden Blick, den kein Tier -dieser Erde hat.‘ -</p> - -<p> -Alle vier Münder gleichzeitig sprechen ein furchtbares -Wort: Ein Menschenschrei, gefangen im Kellergewölbe. -Dann nimmt der Vierköpfige ein kleines -Küchenmesser mit brauner Holzschale aus der Westentasche -und stemmt Jürgens Schädeldecke auf. -</p> - -<p> -Die Hauptmasse des Gehirns reißt er mit der Hand -heraus. Das Hängengebliebene kratzt er mit dem -Küchenmesser sorgfältig ab. -</p> - -<p> -<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> -Dabei hört der zu maßlosem Entsetzen Erstarrte -die erste Geige im Weinrestaurant jubelnd in die -Höhe steigen. -</p> - -<p> -Der Vierköpfige wickelt ein sorgfältig verpacktes, -neues Gehirn aus, um das herum – wie um eine -Sektflasche die Steuerbanderole – das Fabrikzeichen -klebt, preßt es in Jürgens offenen Kopf hinein und -paßt die Schädeldecke wieder auf. -</p> - -<p> -Schmerz und Entsetzen verschwinden augenblicklich. -</p> - -<p> -Die Schulkameraden sind jetzt wieder alle vier da. -Als fünfter sitzt Jürgen bei ihnen, spricht wie sie, -denkt, lacht wie sie, hat den selben zotigen Zug um -den Mund, den selben Blick, weiß das alles und fühlt -sich wohl dabei. -</p> - -<p> -Nur der Menschenschrei im Kellergewölbe, der wie -gefangener Gesang klagend weiter tönt, stört ihn. -Deshalb leert er die bis zum Rande mit Sekt gefüllte -große, weiße Kaffeekanne auf einen Zug. Steht plötzlich -in dem orientalisch ausgestatteten Salon, in -dem fünf halbbekleidete Mädchen auf Ottomanen -liegen. Schaudert zurück, weil die Brüste mit kurzhaarigem -Pelze bewachsen sind. Und erwachte wirklich. -</p> - -<p> -Der Vogel und die Tante schliefen noch. Und die -still am Himmel hinziehende Wolke hatte noch nicht -einmal die Krone des Nußbaumes im Garten passiert. -Die selbe Fliege saß noch auf der weißen Kaffeekanne -und saugte an dem selben Tropfen, der an dem Schnabel -hing. -</p> - -<p> -Als ob der Entschluß, der seinem ganzen weiteren -Leben eine andere Richtung geben mußte, sekündlich -in Jürgens Empfinden übergegangen wäre, hatte sich -<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> -mit dem Entschlusse unversehens sein ganzes Körpergefühl -verwandelt. Gang und Glieder waren schwer -geworden. Alles Gewesene und die Umwelt hatten -an Gewicht verloren. -</p> - -<p> -Jürgen, entschlossen, sich auf sich zu nehmen, verließ, -ein schweres Ganzes, die Villa, um nicht mehr -zurückzukehren. -</p> - -<p> -Sein Gefühl wußte, was er auf sich nahm. Dieses -Gefühlsbewußtsein lastete von dem ersten Schritte -an, den er außerhalb des Gartens tat, so schwer in -ihm, als hätte es seit Jahren sein Wesen bestimmt. -Das Bisherige war versunken. Dahin gab es kein Zurück -mehr. -</p> - -<p> -Er möge ein bißchen warten, rief Katharina durch -die verschlossene Tür, trat schnell vom Arbeitstisch -weg in die Mitte des dunklen Balkenkreuzes, das den -Fußboden vierteilte. -</p> - -<p> -Beide Hände in den Taschen des Sweaters, blickte -sie prüfend rundum in ihrem großen Parterrezimmer, -ohne sich vom Platze zu bewegen. Die geblümte -Tapete, älter als Katharina, war mit vielen kreisrunden -Rostflecken übersät, an vielen Stellen gesprungen -und mit Markenpapier zusammengeklebt. Nur eine -Gasflamme brannte an dem Doppelarm. -</p> - -<p> -Nachdenklich strich sie sich mit dem dünnen Mittelfinger -über die braune, gebogene Braue, berührte dabei -die Lippe mit der Zungenspitze, wie vor Jahren -an dem Abend, da sie, stehend in ihrem Mädchenzimmer, -den Entschluß, für immer das Elternhaus zu -verlassen, gefaßt und sofort ausgeführt hatte. -</p> - -<p> -Auch jetzt machte sie diese Doppelgebärde, als habe -sie einen Entschluß gefaßt, entzündete den zweiten Glühstrumpf, -schloß das Fenster, von dem aus die fernblinkenden -<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> -roten und blauen Lichter des Rangierbahnhofes -und der Eisenbahnwerkstätte zu sehen -waren, und zog den Vorhang zu. Mehr Verschönerungsmöglichkeiten -gab es nicht. -</p> - -<p> -Im Zimmer, nun abgeschlossen von der Außenwelt, -war es ganz still. Nur das Herz klopfte. Schon mittenweges -zur Tür, kehrte sie noch einmal um, setzte sich, -Hand auf dem Herzen, und staunte. -</p> - -<p> -Hinter der verschlossenen Tür stand Jürgen in -schwerer Ruhe. -</p> - -<p> -Sie schob, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, beide -Hände sofort wieder in die Sweatertaschen, erkannte -an Jürgens Blick sofort, daß der Grund seines Besuches -ein anderer war, und nahm die Hände wieder heraus. -</p> - -<p> -Er hatte ihr nicht die Hand gereicht. Er saß schwer -am Tisch und erzählte, ohne Einleitung, sachlich und -ohne Scham, als schildere er das Erlebnis eines andern, -was sich gestern mit ihm ereignet hatte. Dabei -machte seine Hand, die schwer auflag, kleine verstärkende -Bewegungen. Auch als er, bemüht, sich -und ihr das gestern Geschehene verständlich zu machen, -in großen Zügen sein bisheriges Leben erzählte, schilderte -er die Leiden, die Demütigungen und die nicht -durchgekämpften Kämpfe des Kindes und Jünglings -so, als spräche er von einem beliebigen anderen. -</p> - -<p> -So ergab sich, während sie die Abendsuppe bereitete -auf dem Gaskocher, der auf einem niedrigen Kistchen -stand, so daß sie öfters in tiefer Kniebeuge sitzen -mußte, ein Gespräch über Einzel-Ich und Umwelt. -</p> - -<p> -Einst, vor Jahren, als sie noch nicht Sozialistin -gewesen sei, habe sie sich vorgestellt, was geschehen -würde, wenn einmal eine ganze Generation nicht als -machtlose Kinder, sondern, ungebrochen durch falsche -<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> -Erziehung, Autorität und Umwelt, gleich als Zwanzigjährige -geboren werden und so auf dem Kampfplatz -erscheinen würde. Mit der Kraft ihres unverbogenen -Wesens würde diese Generation ohne Schwierigkeit -das Ganze über den Haufen werfen. -</p> - -<p> -„Leider aber kommt der Mensch als wehrloser -Säugling auf die Welt“, schloß sie und lächelte froh, -als sei diese Wehrlosigkeit das Erfreulichste, das dem -Säugling geschehen könne. Das Herz klopfte nicht -mehr. -</p> - -<p> -Sie gab sich Mühe, besonders gut zu kochen, fragte, -ob er die Hafersuppe lieber dick oder dünn, süß oder -weniger süß esse. -</p> - -<p> -„Das ist mir ganz gleich. Ich habe noch niemals -Hafersuppe gegessen.“ Er beobachtete, wie sie herumhantierte, -sich tief zu Boden beugte, wieder senkrecht -stand. ‚Glatt und fest wie ein junges Baumstämmchen, -junges Nußbaumstämmchen‘, fiel ihm ein. -</p> - -<p> -Sie stand, ein rechter Winkel, über den Gaskocher -gebeugt. Von jetzt an wirst du vermutlich sehr oft -Hafersuppe essen, dachte sie, während sie die zwei -dampfenden, zu vollen Suppenteller vorsichtig durch -das Zimmer trug zum Tisch, der am Fenster stand. -</p> - -<p> -Jürgen, tief dabei, die Summe seines bisherigen Erlebens, -Erleidens, Erkennens zu ziehen, bereitet und -gewillt, von nun an klaren Bewußtseins zu handeln, -bedurfte in dieser Stunde, da er im Rückblick auf sein -Leben schon und erst den Aufbruch zu sich selbst begann, -noch des Verweilens bei den Ursachen, bestrebt, -ihr Ineinandergreifen fehlerlos zu erkennen. -</p> - -<p> -Er dachte: Der Sozialismus muß sich auf allen Gebieten -des Lebens mit absoluter Notwendigkeit und -Ausschließlichkeit ergeben aus dem Wahnsinn des -<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> -Bestehenden. Die Rechnung muß stimmen. Und -sagte: -</p> - -<p> -„Es gibt nicht nur eine herrschende Klasse und -unterdrückte Klassen; es gibt auch eine jeweils herrschende -Generation, die durch alle Klassen durchgeht: -Alle Erwachsenen nämlich, die, machtstrotzend, -mit Hilfe der bestehenden Seelenmord-Gesellschaftsordnung, -in der sie selbst tödlich verstrickt und untergegangen -sind, die heranwachsenden Generationen abwürgen, -entselbsten ... In diesem Sinne bilden alle -Erwachsenen zusammen eine granitene Einheit, einen -Wall, gegen den die Heranwachsenden vergebens anrennen, -so lange anrennen, bis sie selbst entselbstete, -lebende Leichen sind und Teile des Walles bilden -gegen die neu heranwachsenden Generationen.“ -</p> - -<p> -Sie stand rückwärts und rieb, betrachtete den -Löffel, rieb weiter, hauchte ihn an. Der verzinnte -Blechlöffel bekam keinen Glanz. -</p> - -<p> -„Denn wenn es auch eine Tatsache ist, daß jeder -Mensch als ‚Reines Ich‘ geboren wird, ist es eine -ebenso unumstößliche Tatsache, daß das Reine Ich -ganz und gar unentwickelt, ganz und gar versunken -und verschüttet und ertötet ist im Bürger des zwanzigsten -Jahrhunderts ... Aber wie steht es mit der Entwicklungsmöglichkeit -des Ich im Proletarierkinde? -Wie verhalten sich Umwelt und proletarische Eltern -zu dem Ich im proletarischen Kinde und umgekehrt?“ -</p> - -<p> -Darüber habe sie noch nicht nachgedacht. Katharina -stand noch einmal auf, kramte lange in einer Schublade -und legte dann eine Papierserviette vor Jürgen hin. -</p> - -<p> -„Das ist aber eine sehr wichtige Frage. Auch hier -müßte die Rechnung stimmen.“ -</p> - -<p> -Wahrscheinlich könne auch diese Frage nur von -<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> -dem Standpunkte aus, daß es eine herrschende und -eine ausgebeutete Klasse gäbe, richtig beantwortet -werden, sagte Katharina. „Vielleicht sollte man diese -Frage so stellen: Was erhält das bürgerliche Kind -von der Umwelt dafür, daß es seinen Protest, sein -Wesentlichstes: sein Ich und damit sein Schöpfertum -und die Fähigkeit, das Leben auch psychisch zu erleben, -aufgibt, sich unterordnet, sich der Umwelt -anpaßt, selbst zu einem Teile der Umwelt wird gegen -noch Protestierende? Und was tauscht das proletarische -Kind gegen die Aufgabe seines schöpferischen -Ich ein? Was widerfährt dem Bürgerkinde, wenn es -versucht, zu kämpfen, zu protestieren? Und was geschieht -in diesem Falle dem proletarischen Kinde? -Erhalten beide und geschieht beiden das gleiche?“ -</p> - -<p> -Sie hörten, wie jemand absprang, das Fahrrad gegen -die Mauer lehnte. Eine Sekunde später trat der junge -Arbeiter ein, atmend, verschwitzt und seelenruhig -lächelnd. „Die ganze Belegschaft der Hommesschen -Papierfabrik ist in den Streik getreten, Genossin -Lenz.“ Er wischte sich mit dem Taschentuch rund um -den Hals. „Der Genosse Ingenieur läßt dir sagen, -du sollst morgen früh um sieben Uhr in der Redaktion -sein.“ Und da sie nickte, war er draußen. -</p> - -<p> -Sie rief ihn zurück. Ob die Werkmeister und Vorarbeiter -mitstreikten? -</p> - -<p> -„Ah, wo werden denn diese Arschkriecher mitstreiken! -Er will ja auch auswärtige Streikbrecher -heranziehen. Aber unsere Streikposten stehen schon. -Auch am Bahnhof! Die Polizei, selbstverständlich, ist -auch schon aufmarschiert!“ -</p> - -<p> -„Da möchte ich gleich Streikposten stehen“, sagte -Jürgen, „gegen Herrn Hommes.“ -</p> - -<p> -<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> -„Das besorgen die Betriebsgenossen schon selber.“ -Sie setzten sich wieder. Und da Jürgen mit den Augen -fragte, fuhr sie fort: -</p> - -<p> -„So gewiß es ist, daß die Natur die Trennung der -Menschen in Klassen, das heißt: die Verhunzung des -Menschen durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung, -immer wieder aufhebt durch das Hervorbringen -körperlich und geistig vollwertiger Kinder -bürgerlicher und proletarischer Eltern, so unzweifelhaft -ergibt sich aus dem, was ist, daß die Trennung -in Klassen auf bürgerliche und proletarische Kinder -total verschieden wirkt.“ -</p> - -<p> -Unversehens war die Gefühlsschwere von Jürgen -gewichen. Entlastet atmete er aus. „Was dem -Bürgerkinde, das sich nicht anpassen will, geschieht, -weiß niemand besser als du und ich“, sagte er, im -Blicke tiefe Freude über die schwer errungene persönliche -Befreiung. „Ein zeitlebens seelisch gefährdeter -Mensch, Irrenhaus oder Selbstmord! Oder, -bestenfalls, als Dreißigjähriger ein zuckendes Nervenbündel! -... Und für die anderen, für die übergroße -Mehrzahl, für diejenigen Bürgerkinder nämlich, die -den Kampf gegen die Umwelt sofort aufgeben, ist -das Nichtmehrprotestieren, das Sichaufgeben, das -Sichanpassen gleichbedeutend mit Bequemlichkeit, -kampflosem Siegen, mit der uneingeschränkten Möglichkeit, -sich zu bilden, mit glattem Emporkommen in -eine bevorzugte Stellung, mit standesgemäßer Heirat, -mit Reichtum, Macht, Geachtetwerden, kurz: mit -dem vollen Genusse des Lebens ... Die geben ihr -Ich hin, tauschen aber dafür alles ein, was das Leben -bietet.“ Er schob den nicht ganz geleerten Teller auf -die Seite. -</p> - -<p> -<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> -Durch die rückwärtige Tür trat Katharinas Wirtin -ein, stellte einen Krug voll Wasser neben das schmale -Eisenbett. „Schläft der Genosse hier? Die letzte 54 -ist nämlich weg ... Dann bringe ich die Decke.“ -</p> - -<p> -„Er schläft doch nicht hier“, sagte Katharina. -„Nein, nein, er schläft nicht hier.“ -</p> - -<p> -Und Jürgen fuhr schnell fort: „Das Sichanpassen -des Bürgerkindes wäre demnach gleichbedeutend mit -dem vollen Lebensgenusse eines Angehörigen der -herrschenden Klasse. Dieser Angepaßte ist dann zwar -in keiner Weise mehr er selbst, ist eine Ich-Leiche, -aber eine geachtete, mächtige, herrschende, die das -Leben, wie es ist, mitbestimmt und dieses Leben genießt. -Eine Leiche, die lebt und gut lebt! Von dieser -Seite ist also gewiß nichts zu erwarten für die Befreiung.“ -</p> - -<p> -„Wenn aber die Umwelt“, sagte Katharina, „sich -Kindern gegenüber sieht, denen sie, im Gegensatze -zu den bürgerlichen Kindern, für das Sichanpassen -nichts zu geben hätte als Not, Qual, Prügel in jeglicher -Form, die Verweigerung aller Bildungsmöglichkeiten -und des Lebensgenusses, nichts als Hunger, Kälte, -Schmutz, Arbeitenmüssen für andere und Demütigungen -auf allen Wegen? ... Das Proletarierkind, das -geneigt ist, sich der Umwelt anzupassen, wird von der -Umwelt selbst, wird durch die herrschende Klasse und -deren Staat immer wieder in den Protest gegen die -Umwelt zurückgestoßen. Dieser brutale, unaufhörliche -Stoß verleiht und erleichtert dem proletarischen -Kinde die Möglichkeit, etwas mehr von seinem Ich -zu bewahren. Die Proletarier kommen aus dem Proteste -nie ganz heraus, können folglich ihr Ich nie ganz -verlieren und sind auch mit aus diesem Grunde -<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> -als Klasse schöpferisch und dazu bestimmt, im Gange -der Geschichte über die unschöpferisch gewordene -bürgerliche Klasse hochzusteigen ... Aber erst in -der klassenlosen Gesellschaft tritt dein Reines Ich -auf den Plan, wird es jedem Einzelnen verstattet sein, -er selbst zu werden und zu sein.“ -</p> - -<p> -Jürgen sah den Vierköpfigen, hob langsam den -Kopf, empor aus dem Lauschen und seinen Vorstellungen, -blickte, den Gedanken erst formulierend, -Katharina an: „Auf der einen Seite also, in der kapitalistischen -Gesellschaft, meinst du: ungeheuerlichste -Ungleichheit in materieller Hinsicht und eine vielleicht -noch ungeheuerlichere blödsinnige Gleichheit aller im -Geistigen ...“ -</p> - -<p> -„Ja, und das wird Individualismus genannt.“ -</p> - -<p> -„... auf der anderen Seite, in der klassenlosen Gesellschaft: -materielle Gleichheit für alle und infolgedessen, -nicht wahr, infolgedessen im Geistigen absolute -individuelle Verschiedenheit jedes Einzelnen von -jedem Einzelnen. Jeder ein Reines Ich! Ein schöpferischer -Mensch!“ -</p> - -<p> -„Und das wird die öde Gleichmacherei der Sozialisten -genannt ... Zwischen diesen zwei Extremen -liegt allerdings zunächst die Revolution.“ -</p> - -<p> -„Wie unsäglich wunderbar das sein wird: Die Seele, -die ihr Ich durch den Körper gewinnt und im Gleichgewicht -in sich selber ruht.“ -</p> - -<p> -Beide schwiegen. In die Stille klang wieder das in -sich erstickende Geschrei des Säuglings. Fernher -tönten Pufferknall und die monotonen Rufe der -Eisenbahnarbeiter, die einen Zug zusammenstellten. -</p> - -<p> -Dieser Befreiungsversuch war ein herrlicher Seitensprung, -dachte er stolz, lächelte gerührt, wie über -<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> -eine teure Jugenderinnerung. Und trat in seinem -Gefühle wieder ein in die Reihen der Millionen, die sich -auf dem langen, generationenlangen Marsche befanden. -</p> - -<p> -„Dein Zimmer – diese drückende Decke, das kleine -Fenster – ist wie ein niederstirniges Gesicht“, sagte -er, empfand plötzlich wieder Druck über dem Herzen. -</p> - -<p> -„Ja, wir leben vergraben, geduckt, nur von uns -selbst und der Idee beschirmt ... Bist du nun sicher, -daß die Rechnung stimmt?“ -</p> - -<p> -„Das solltest doch du am ehesten begreifen, daß ich, -da hinter mir nicht der materielle Druck stand, der -die Massen klassenbewußt macht, zum Teil auch -auf dem Wege über den Verstand zum Sozialismus -kommen mußte. Das Gefühl war vorher, war ja immer -da.“ -</p> - -<p> -„Wie wir einander wiederfanden, du und ich! ... -Wie schön, wie wunderbar ist das!“ -</p> - -<p> -Da schlug das Glück durch ihn durch, legte Jürgens -Hand um ihren Nacken. So stand er, Blick in ihrem -Blick, nahe seine Lippen dem kleinen, festen Mund. -Ihr Körper gab nach, antwortete frei. -</p> - -<p> -Dann sagte Jürgen, halb fragend: „Wo ich heute -nacht schlafen werde, bei wem, das weiß ich freilich -nicht.“ -</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="chapter" id="V"> -V -</h2> - -</div> - -<p class="first"> -„... und auch deshalb, damit Du nicht glauben -solltest, ich sei verunglückt, ertrunken, ermordet worden -(ich habe mich, im Gegenteil, vor dem Ertrinken, -vor dem Erstickungstode gerettet), teilte ich Dir meinen -Eintritt in die sozialistische Partei und den Entschluß -mit, nicht mehr zurückzukehren. -</p> - -<p> -<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> -Wie noch vor kurzem kein Mensch, und wäre er der -klügste auf der Welt gewesen, mir hätte begreiflich -machen können, daß ich nur durch diesen Schritt -mein Dasein in Einklang zu bringen vermöchte mit -den Tatsachen des Lebens, so könnte ich die Beweggründe -dieses Schrittes auch Dir nicht begreiflich -machen, so wenig wie Herrn Papierfabrikant Hommes, -Geheimrat Lenz, Bankier Wagner, den Professoren, -Studenten, Söhnen und Töchtern, das heißt: allen -diesen klugen, gebildeten Menschen Deiner Kreise, für -welche die sozialistischen Arbeiter Existenzen sind, -die alles gleichmachen und verteilen, nichts arbeiten, -sich täglich betrinken wollen, und diejenigen, die sich -zu den Sozialisten gesellen, schwachsinnige Schwärmer, -Narren oder Verbrecher, ja sogar Verräter an dem -Ideale. -</p> - -<p> -Wenn ich versuchen wollte, Dir zu erklären, daß -der Sozialismus, über alles Materielle hinaus, auch eine -gewaltige Kulturbewegung ist und verwirklicht werden -muß, soll nicht die ganze Menschheit zugrunde gehen, -müßte ich ein dickes Buch schreiben, und auch dann -würdest Du nichts begreifen. Denn sogar Menschen -meiner Wesensart vermögen die Größe und geschichtliche -Notwendigkeit des Sozialismus erst dann ganz -zu erkennen, nachdem sie den kleinen, aber entscheidenden -Schritt, den Sprung gemacht haben – -hinüber zur Arbeiterklasse, in ihr leben und zusammen -mit ihr kämpfen. -</p> - -<p> -Ich habe den Sprung gemacht. Gräme Dich nicht -darüber. Glaube mir, liebe Tante, daß dies allein für -mich die Rettung sein konnte vor dem furchtbarsten, -dem geistigen Tode. Daß dies allein die Rettung sein -kann für jeden. -</p> - -<p> -<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> -Und glaube mir auch, daß ich, würde ich einmal -wieder zurückkehren zu jenen, die mit Blindheit geschlagen -sind und offenbar nur noch durch eine Art -Staroperation sehend werden können, ein Verräter an -mir selbst, Verräter an der Idee geworden wäre: ein -verlorener Mensch, gleich allen Angehörigen der bürgerlichen -Jugend, deren Tugenden durch die Erziehung -in Schule und Elternhaus beschnitten werden auf das -schickliche Maß, das ein gutes Fortkommen gewährleistet, -und deren solchergestalt noch übrig gebliebener -Idealismus auf der Universität von der tätigen Hingabe -an die fließende Wirklichkeit vollends abgelenkt, -mit falschen, überkommenen, erstarrten Inhalten -gefüllt und dem Staate dienstbar gemacht wird, dessen -Institutionen sich mit ganzer Wucht gegen diejenigen -richten, durch deren Hände Arbeit die Existenz -dieses Staates, Reichtum und Zivilisation des Landes -und auch die Ausbildung der entselbsteten bürgerlichen -Jugend, sowie deren ausschließliche Beschäftigung in -den Bezirken des, wenn auch verfälschten, sterilgewordenen -Geistes erst ermöglicht wird.“ -</p> - -<p> -Den letzten Satz strich Jürgen wieder weg und -schickte den Brief an die Tante. -</p> - -<p> -Er wohnte sei Monaten in dem Loch, das durch -eine Tür mit Katharinas Zimmer verbunden war. -Das windschiefe Fenster ging auf einen Rattenhof -hinaus, in dem Küchenabfälle und allerlei Unrat seit -Jahren faulten und stanken und tagsüber zwanzig -Proletarierkinder an ihrer Welt bauten. -</p> - -<p> -Katharina und Jürgen führten gemeinsamen Haushalt. -Ein Anzug nach dem andern, die Uhr, die Hemden -waren, auf dem Wege über das Pfandhaus, zu -Holz und Kohle, Kartoffeln, Wurst und Brot geworden. -</p> - -<p> -<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> -Seit dem Tage, da die Tante zum erstenmal den -Namen Jürgen Kolbenreiher in Verbindung mit einer -öffentlichen Arbeiterversammlung, gerichtet gegen -den Papierfabrikanten Hommes, im Abendblatt gelesen -hatte, eingepfeilt zwischen Schimpfworte, Hohn, -Verleumdungen und verbrämt mit Bedauern für die -hochachtbare alte Patrizierfamilie, die schon im -15. Jahrhundert der Stadt einen Bürgermeister geschenkt -habe, waren die Bittbriefe, des Inhaltes, Jürgen -möge vernünftig werden, sich wieder darauf besinnen, -was er sich selbst, seinem Stande und seiner -Erziehung schuldig sei, ausgeblieben. -</p> - -<p> -Durch den Streik der Papierarbeiter waren eine -kleine Lohnerhöhung und für die stillenden Kartonnagenarbeiterinnen -die Erlaubnis, ohne Lohnabzug dreimal -täglich je fünf Minuten ihre Säuglinge befriedigen zu -dürfen, erkämpft worden. Vier Streikposten, die in -eine Schlägerei mit Polizisten und auswärtigen Arbeitswilligen -geraten waren, saßen, verurteilt wegen schwerer -Körperverletzung, in Tateinheit mit Störung der -öffentlichen Ordnung, noch im Gefängnis und zwei -schwerverletzte Streikposten lagen noch im Krankenhause. -Herr Papierfabrikant Hommes hatte eine -Summe ‚Für wohltätige Zwecke oder sonstige Kulturbestrebungen‘ -gestiftet. -</p> - -<p> -Die Zeit ging hin. Jürgen hatte schon in vielen Versammlungen -gesprochen. Leitete seit einem Jahre den -Bildungskurs des Bezirkes, in dem er wohnte. In -den Nächten schrieb er an einem Schriftchen: ‚An die -bürgerliche Jugend‘. Denn auch jetzt noch stockte -sein Herz, wenn er der Ereignisse gedachte, die ihn -zum Schreiben dieses Aufrufes an die Jugend veranlaßt -hatten. -</p> - -<p> -<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> -Vor dem Staatsgebäude fünfzigtausend Proletarier, -demonstrierend für die Forderung, daß es jedem freistehen -solle, seine Kinder am Religionsunterricht in -der Schule teilnehmen zu lassen oder nicht; vor den -demonstrierenden Arbeitern die Polizeikette, und -hinter den Polizisten, aufgerufen von den Professoren, -die ganze studentische Jugend, demonstrierend für die -Beibehaltung des Religionszwanges. -</p> - -<p> -‚Mußte der Student denn nicht zusammen mit der -Arbeiterschaft eintreten für die Freiheit des Gedankens, -wenn er nicht sich selbst aufgeben wollte -in seinem geistigen Bestande? Und was sind die Ursachen -der Schande, daß er es nicht tat?‘ -</p> - -<p> -Suchend nach den Ursachen saß er an dem als -Schreibtisch dienenden Küchentisch. Das Licht von -links. Freute sich des Tages über das Licht von links -und in den stillen Nächten an dem Gasarm, den er -durch eine Rohrverlängerung mit Hilfe eines seiner -Genossen über den Schreibtisch montiert hatte. -</p> - -<p> -Wenn alles schlief und nur das Gaslicht summte, -spielten im Hofe die Ratten, läutete fein das Glöckchen, -das ein Proletarierjunge einer Ratte um den -Hals gehängt hatte. -</p> - -<p> -‚Und im Zimmer nebenan atmet Katharina, die -ich liebe. Viel mehr Glück kann man vom Leben nicht -erwarten!‘ Er berührte den Bleistift zärtlich mit den -Lippen. Weil Katharina ihn vielleicht einmal in die -Hand nehmen würde. -</p> - -<p> -In diesen nächtlichen Stunden, da das Glöckchen -in die Stille klang und die Sätze ihm gelangen, fühlte -Jürgen sich und sein Ich organisch eingereiht in das -Geschehen. -</p> - -<p> -Der Staatsanwalt hatte gegen die drei jungen Genossen -<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> -und Katharina, denen es damals gelungen war, -durch die Polizeikette durchzuschlüpfen und, unter -Hohn und Prügel seitens der Studenten, Flugblätter -zu verteilen, Anklage erhoben, ebenfalls wegen Störung -der öffentlichen Ruhe, in Verbindung mit Aufreizung -zum Klassenhaß. Die drei hatten je sechs -Monate Gefängnis bekommen und saßen schon. -Katharina, deren Vernehmung und Schlußrede als -Sensation von den Zeitungen abgedruckt worden waren, -verbrämt mit Bemerkungen tiefsten Bedauerns für -Herrn Geheimrat Lenz, sollte am nächsten Tage in -das Gefängnis. -</p> - -<p> -Jürgen schrieb bis in den Morgen hinein. Erst als -er das Klappern des Waschgeschirres vernahm, klopfte -er. Katharina war noch nicht angekleidet. Und wie -beide, stehend, in der Umarmung verharrten, erhob sich -in der Ecke Katharinas schmutziggelber, langhaariger -Schnauz, schritt langsam herbei und blieb, als gehöre -er zu allem, was geschah, dazu, vor ihnen stehen, den -Blick zu Boden gerichtet. -</p> - -<p> -Es war erst fünf Uhr. Schon fiel der erste Sonnenstrahl -auf das Fenstersims, brach sich, huschte schräg -an der Wand entlang und verfing sich in der Ecke. -</p> - -<p> -Um acht Uhr mußte sie im Gefängnis sein. Sie saß, -im Hemd, auf ihren Händen auf dem Bettrand. Der -Schnauz war im Hofe bei den Ratten. -</p> - -<p> -Später sprachen sie von anderen Dingen. Er solle -sorgen, daß für die drei Genossen gesammelt werde. -Des einen Mutter habe nichts zu essen, solange der -Sohn im Gefängnis sei. -</p> - -<p> -„Nach dem Examen nehme ich sofort eine Stellung -an als Verwaltungsbeamter in einem großen Betriebe. -Dann werden auch wir eine bessere Wohnung haben -<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> -und regelmäßige Einkünfte. Und ich werde obendrein -noch enger bei den Arbeitern sein als jetzt. Wir werden -heiraten, um unnötige Scherereien zu vermeiden ... -Überhaupt – ein Glück haben wir, ein Glück! ... Es -wird ein Jahr vergehen, es werden fünf Jahre, zwanzig -Jahre vergehen, und immer werden wir zusammen -sein. Was wir alles erleben werden! Ungeheuer viel! -Wir sind Lebensgefährten. Katharina, welch ein Glück! -... Sofort nach dem Examen nehme ich eine Stellung -an.“ -</p> - -<p> -Katharina, die schon als Siebzehnjährige, anstatt -Blumen malen zu lernen und für Buddha zu schwärmen, -begonnen hatte, das Mehrwertgesetz und die -Kapitalskonzentration zu studieren, sagte, wie er, -der als linksgerichteter Sozialist bekannt sei, dessen -Name schon oft in den Zeitungen gestanden habe, -ernstlich glauben könne, in irgendeinem Großbetriebe -angestellt zu werden. -</p> - -<p> -„Nun, dann eben nicht!“ Sie blickten einander an, -bis das selbe Lächeln in beider Gesichter entstand und -sie wieder gleich auf gleich waren. -</p> - -<p> -„Deine Augen, Katharina, ach, deine Augen!“ -</p> - -<p> -Wie unsagbar glücklich das eine Frau machen kann, -dachte Katharina. -</p> - -<p> -Auf dem Wege bis vor das Gefängnistor erlebten sie -eine Stunde vollkommensten Verbundenseins, wie nur -zwei Menschen es verstattet sein kann, deren Liebe -vertieft ist durch die gemeinsame Hingabe an die selbe -Idee. Sie schritten in ihrem Gefühle. -</p> - -<p> -„Über alle Begriffe schön kann das Leben sein.“ -In ausbrechender Freude schlug sie die Arme um ihn. -Wandte sich, zog die Glocke. Und wurde von dem -schwarzen Tore geschluckt. -</p> - -<p> -<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> -„Wo ist die Einsamkeit? ... Ah, meine Herren, -es gibt keine Einsamkeit. Nicht einmal eine Trennung!“ -frohlockte Jürgen und ging an seine Arbeit. -</p> - -<p> -Ob der Herr in Reichtum oder im Elend lebt, aus -einem warmen Teppichzimmer in eines mit feuchten -Wänden und verfaulendem Fußboden übersiedeln muß, -ob er Erfolge erringt oder vom Leben Nackenschläge -bekommt, hohe Ehren einheimst oder in Schimpf und -Schande gerät – der Hund hängt seinem Herrn -immer gleich an. So unvernünftig ist der Hund, -dachte Jürgen. ‚Nur eines erträgt er offenbar nicht: getrennt -zu werden von dem, dem seine Sympathie gehört.‘ -</p> - -<p> -Katharinas Schnauz, bisher ein ausgelassen heiteres -Tier gewesen, hatte am zweiten Tage das unruhvolle -Fragen eingestellt; er blickte Jürgen gar nicht mehr -an, fraß nicht mehr, leckte manchmal etwas Wasser -und kroch wieder in seine Ecke zurück. Jürgen mußte -ihn gewaltsam füttern. -</p> - -<p> -Der ‚Aufruf an die bürgerliche Jugend‘ war erschienen. -Bei dem letzten Besuche, den Jürgen im -Gefängnis machte, versuchte er, den Schnauz, der -einzugehen drohte, mitzunehmen. -</p> - -<p> -Der Gefängnisdirektor, der aussah wie ein auf der -Schwanzflosse aufrechtstehender, schwarzer Fisch mit -dickem Bauch und kleinem, rotem Kopfe, ein vollblütiger, -fünfzigjähriger Mann, höflich und zurückhaltend, -gab nach minutenlangem, von bedauerndem -Achselzucken und erschrecktem Augenaufschlagen -begleiteten Erklärungen und Fragen, zwischen die er -eine Serie korrekten Lächelns gleichmäßig verteilte – -Lächeln nicht eines harten Gefängnisdirektors, sondern -eines Menschen mit Herz und Gewissen, der aber -leider an Pflicht und Gefängnisordnung gebunden -<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> -ist –, schließlich die Erlaubnis zur Mitnahme des -Hundes. Beugte sich plötzlich herab und tätschelte -wehmütigen Mundes das Tier. Und dann kam, als sei -er schon zu weit gegangen und Jürgen schon zu lange -im Direktionszimmer geblieben, unerwartet schnell die -knappe Verbeugung und sofort ein Lächeln wehmütig -in die Wangen zurückgezogener Mundwinkel. Und sofort -wieder das erschreckte Augenaufschlagen. -</p> - -<p> -Jürgen war, wie er mit dem Schnauz die abgetretene -Steintreppe hinaufstieg, der festen Überzeugung, daß -der Gefängnisdirektor früher oder später ins Irrenhaus -kommen werde. -</p> - -<p> -Im Stocke stank es scharf nach Abort. Die Wärterin -– lippenloser, strichdünner Mund im festen Gesicht – -schloß eine Tür auf. Sie schritten durch einen großen -Saal, in dem zwanzig zweimeterbreite, dreimeterlange -und zweimeterhohe, engmaschige Drahtgitterzellen -nebeneinander standen. Dazwischen die Gänge, -wie in einer Menagerie. In jeder Drahtzelle eine Gefangene. -Frauen, junge Mädchen und, gleich bei der -Eingangstür, in zwei nebeneinanderstehenden Käfigen -je eine Siebzigjährige. Alle in grauen Leinensäcken. -Der Raum zwischen den gleichhohen Zellen -und der Saaldecke war leer. -</p> - -<p> -Einige Gefangene schritten auf das Leben zu: -drückten die Gesichter gegen das Drahtgeflecht. -Blickende Augen. Eine Siebzehnjährige mit verwüstetem -Gesicht lockte mit Zeigefinger und Daumen -und sagte zweimal: „Schnauzel!“ Der Schnauz -wedelte mit dem Schwanzstumpf. -</p> - -<p> -„Den ganzen Tag macht sie sichs“, rief die Siebzigjährige -der Wärterin nach. „Immer hat das jung -Luder die Finger unterm Rock.“ -</p> - -<p> -<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> -Sie schritten durch die entgegengesetzte Tür hinaus, -in einen langen Gang, an dessen Ende rot ein Gaslicht -brannte. Links und rechts: Zellentür neben Zellentür, -jede mit einem Beobachtungsfenster. -</p> - -<p> -Schon als die Wärterin den Schlüssel suchte, stellte -der Schnauz die Vorderpfoten gegen die Zellentür. -Sein Maul öffnete sich, die Zunge erschien, Spitze -nach oben gebogen. -</p> - -<p> -Wimmernd schlüpfte er, durch die Beine durch, -voran. Und es wäre Katharina unmöglich gewesen, -ihn nicht zuerst zu begrüßen. Denn seine Liebe war stürmischer. -So stürmisch, daß er unter Katharinas Liebkosungen -nicht lange stillhalten konnte, sondern hin- -und herrasen mußte, von der Fensterwand zur Zellentür, -beim Wenden jedesmal ausglitschend auf dem glatten -Betonboden. -</p> - -<p> -Sogar der strichdünne, lippenlose Mund ließ Zähne -sehen. -</p> - -<p> -Sie hatten einander nur die Hand gereicht. Setzen -konnte Jürgen sich nicht. Die Pritsche blieb tagsüber -an die Wand geschnallt. -</p> - -<p> -„Heute war bei mir, hergeschickt natürlich von -meinem Vater, der Irrenarzt.“ -</p> - -<p> -Die Wärterin stand bei der Tür, ohne sich anzulehnen, -blickte blicklos. -</p> - -<p> -„Das ist so zu verstehen, daß meinem Vater eine -geisteskranke Tochter lieber wäre als die Schande, -eine Sozialistin zur Tochter zu haben ... Ich ging -auf das Gerede gar nicht erst ein, schickte ihn gleich -wieder fort, was ihn natürlich auch nicht von meinem -Gesundsein überzeugte.“ -</p> - -<p> -Der Schnauz hatte sich etwas beruhigt. Er lag, -offenen Maules atmend, die Vorderpfoten vorgestreckt, -<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> -blickend auf den Betonboden, überzeugt, daß -seine Leiden nun zu Ende seien: er hierbleiben oder -Katharina mitgehen werde. Auch sie steckte in -einem grauen Leinensack, etwas kleidsamer gemacht -dadurch, daß sie die Bluse beim Hals eingeschlagen -hatte. -</p> - -<p> -Bei dem ersten Tone, den die Wärterin sprach, erhob -sich der Schnauz und bellte. Die Versicherungen -Katharinas, daß sie in einer Woche kommen werde, -nützten nichts. Der Schnauz stemmte sich mit allen -Vieren und mußte so von Jürgen hinausgeschleift -werden. -</p> - -<p> -„Das ist nicht erlaubt.“ Die Wärterin deutete auf -den schwachen Schatten, durch dessen Vorhandensein -das Vorhandensein von Brüsten vermutet werden -konnte. „Immer wenn der zu Besuch kommt – diese -Dummheit!“ -</p> - -<p> -Katharina nahm den Einschlag heraus, so daß der -Sack wieder rund um den Hals anschloß. -</p> - -<p> -„Sie können es gar nicht erwarten, was! ... Direktor -melden“, hörte Katharina noch. Die Tür fiel ins -Schloß. -</p> - -<p> -Schon überquerte Jürgen den Hof, halb springend, -um noch vor Ablauf der Besuchszeit die Männerabteilung -zu erreichen. Blieb aber plötzlich stehen: -Durch das Tor rollte, gezogen von zwei schweren -Pferden, ein auch oben zugebretterter Kastenwagen, -aus dem rückwärts ein starkes Gestänge ragte, gleich -einem Stück Eisenbahngleis, stabilisiert durch ein -eisernes Querstück an der Stirnseite. Der Fuhrmann -pfiff. Der Wagen rollte durch das sich eben auftuende -zweite Tor in den Hof der Männerabteilung -und weiter durch das dritte Tor in den Zuchthaushof, -<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> -in dem am nächsten Morgen eine Hinrichtung stattfinden -sollte. -</p> - -<p> -Sekündlich hatten alle Empfindungen Jürgens Körper -verlassen. Er wollte die Genossen mit seinem Zustand -nicht zu belasten, umkehren, konnte aber nichts wollen. -Selbsttätig trugen die Beine ihn weiter, der Tür zu. -</p> - -<p> -So schritt er, in den Knien kraftlos, zusammen mit -zwei Wärtern, die eine Art Tragbahre, beladen mit -mehr als hundert Weißblechschüsseln, schleppten, den -Gang vor. -</p> - -<p> -Der Wärter, der Jürgen führte, ein großer, alter -Mann, der, im Rücken gebogen, mit jedem knieweichen -Schritt, den er tat, müden Blickes auf sein -Leben zu treten schien, schloß wortlos die Zellentür -auf und gleichzeitig reichte wortlos ein Essenträger -die verrostete Blechschale Jürgens jungem Genossen, -der den Inhalt, eine schwarze Brühe, wortlos in den -Abortkübel goß. Die Brotscheibe legte er auf den -Klapptisch. -</p> - -<p> -„Das Zeug zu saufen hat gar keinen Wert.“ Er geriet -beim Erblicken Jürgens sofort in Erregung. „Die -Brüh soll das Abendessen vorstellen. Mittags gibts -einen Mansch, den du frißt, weil du mußt. Und morgens -die selbe Zichorienbrüh und auch ein Stück Brot. -Das ist alles.“ -</p> - -<p> -„Sie dürfen nicht über das Essen schimpfen zu -einem Besuch.“ -</p> - -<p> -„Ein paar Monate hältst du das ja aus. Aber da -sind viele ...“ -</p> - -<p> -„Wenn Sie davon weitersprechen ...“ -</p> - -<p> -„... die schon lang sitzen und noch viele Jahre -sitzen müssen.“ -</p> - -<p> -„... muß der Besuch sofort raus aus der Zelle.“ -</p> - -<p> -<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> -„Die, also die müssen verhungern. Die müssen glatt -verrecken. Du machst dir keinen Begriff, Genosse, -wie die Leute aussehen.“ -</p> - -<p> -„Sie haben zu schweigen jetzt!“ -</p> - -<p> -„Darüber mußt du in unserer Zeitung schreiben, -Genosse!“ rief er Jürgen nach, der die Nummern der -Zellen nannte, in denen seine zwei anderen Genossen -waren. Der Wärter schritt schon auf die Treppe zu. -„Die Besuchszeit ist vorbei.“ -</p> - -<p> -Der grüne Wagen, in dem die Gefangenen vom -Polizei- und vom Untersuchungsgefängnis in das -ständige Gefängnis überführt werden, war eben angekommen. -Zehn Verurteilte, Frauen und Männer, -standen in dem Bureauraum, wo die Personalien aufgenommen -wurden. Die Gefangenen mußten ihre -letzten Habseligkeiten abgeben, die männlichen auch -ihre Hosenträger abknöpfen. Wärter schleuderten den -Gefangenen die graue Anstaltskleidung in die Arme. -Gesprochen wurde nichts. -</p> - -<p> -Die Maschine funktioniert, dachte Jürgen und schritt -der Ausgangstür zu. Da schoß ein schon älterer, -stoppelbärtiger Mann mit schwärenbesetztem Gesicht -und verschleimten Augen aus dem Bureau heraus, -zuckte suchend hin und her, spähenden Blickes, der -blitzhell offenbarte, daß er die Hölle, in die er kommen -sollte, schon kannte, und schoß Jürgen nach, bestrebt, -auch die aussichtsloseste Situation nicht unversucht -vorübergehen zu lassen, um der Freiheit willen. Denn -war er erst in der Zelle, dann gab es keine Zufallsmöglichkeiten -mehr. -</p> - -<p> -Die Wärter lachten. Unwirsch stieß ihn einer zurück. -</p> - -<p> -Mit seinem letzten Blick fing Jürgen noch das -Lächeln des Sträflings auf, der damit den Wärtern -<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> -gegenüber seinem mißglückten Fluchtversuche die -Ernsthaftigkeit nehmen wollte. Und dieses bebende -Lächeln schien Jürgen das Grauenvollste von allem -zu sein. Die schwere Tür drückte ihn hinaus. -</p> - -<p> -Geblendet stand er im Sonnenschein. Ging langsam -weiter. Neben ihm tappte, Hinterteil und Schwanzstumpf -kläglich eingezogen, der Schnauz. Jürgen hob -ihn auf. „Etwas muß der Mensch doch in den Armen -haben.“ Der zitternde Hund bohrte, stürmisch -drängend, seinen Kopf unter Jürgens Rock. -</p> - -<p> -‚Wieviel Städte gibt es? Und wieviel Gefängnisse -in jeder Stadt? Wieviel Zellen in jedem Gefängnis? ... -Und in jeder Zelle ein Mensch! In jeder Zelle das, was -von einem Menschen übriggeblieben ist! Hunderttausende -Menschenreste! Und in der einen Zelle dort -hinten einer, der weiß, daß ihm morgen früh – um fünf? -um sechs? um viertelsieben? er weiß die Minute nicht, -weiß sie nicht – der Kopf abgeschlagen wird! ... Kultur!‘ -</p> - -<p> -Die Machtlosigkeit zog alles Blut aus Jürgens Adern -und setzte sich als dunkler Druck unter das Brustbein. -‚Diese Bestien! ... Aber wer ist schuld? Der -Gefängnisdirektor? Der Richter? Der Staatsanwalt? -Oder gar die Gefangenen? ... Sie so wenig wie der -Steinbrucharbeiter, der die Steine bricht, und wie der -Maurer, der sie zum Gefängnis fügt, und nicht mehr -als diese der Schlosser, der vor das Zellenfenster das -Eisengitter einzementiert, hinter welchem den Klassengenossen -das Leben vergeht. Es gibt keinen Verantwortlichen -... Der Staat? Der Staat ist ein Machtinstrument -gegen die menschliche Gemeinschaft. Ist -keine Person. Du findest im bürgerlichen Staate -keinen Verantwortlichen. Du greifst in die Luft ... -Die Ordnung der Dinge, sie ist schuld.‘ -</p> - -<p> -<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> -Auf dem Tische lag wieder ein Brief von der Tante. -Er schob ihn ungelesen weg. Auch als Katharina schon -zurückgekommen war – Jürgen hatte den Fußboden -geschruppt, ein Buch verkauft, für das Geld ein paar -Blumen gekauft, das kniehohe, eiserne Glühteufelchen -geheizt, denn es war an den Abenden schon kühl –, -lag der Brief noch ungeöffnet zwischen den Papieren. -</p> - -<p> -Der Schnauz war wieder heiter geworden. Den -Winter über schrieb Jürgen Artikel für das Arbeiterblatt, -hielt sozialwissenschaftliche Vorträge im Bildungskurs, -sprach in Versammlungen. Die Kollegs -besuchte Jürgen unregelmäßig. -</p> - -<p> -So lebte er in seinen sechsundzwanzigsten Frühling -hinein, ohne irgendwelche Beziehungen zu seinem -früheren Leben, auch innerlich durch nichts mehr -gefesselt an die Erlebnisse in seiner Jugend. Denn in -dieser Zeit überfielen ihn auch die Angstträume nicht -mehr, wie früher fast jede Nacht, da der Vater, die -Professoren, die Tante machtstrotzend ihn angeblickt -hatten und er, der Erwachsene, als Kind bebend in -der Zimmerecke gekauert war, ohnmächtig ausgeliefert; -andere Träume, von Jürgen bisher nie erlebt, -schoben sich ein. Kampfträume, aus denen er siegreich -und erfrischt hervorging. -</p> - -<p> -Aber erst nach der Nacht, da er im Traume, anstatt -in Angst zu erbeben, auch dem Vater ins Gesicht gelacht -und des Vaters Hand mit dem drohend deutenden -Zeigefinger furchtlos zur Seite geschleudert hatte, -war dessen Macht ganz gebrochen gewesen. Erst nach -diesem Erwachen hatte Jürgen ganz sicher gewußt, -daß alle Ungeheuer seiner Jugend und Erziehung -völlig überwunden waren. Nie mehr war im Traume -der Vater erschienen. -</p> - -<p> -<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> -‚Jetzt erst entscheidet nicht mehr ein fremder Wille -in mir meine Handlungen. Und dazu mußte ich sechsundzwanzig -Jahre alt werden ... Jetzt keuche ich -einen anderen endlosen Berg hinauf; aber ... ich -selbst, ich selbst keuche ihn hinauf. Ich selbst habe -mich dafür entschieden, frei entschieden, diesen Weg -zu gehen; nicht das Fremde in mir zwingt mich.‘ -</p> - -<p> -‚Es denken und fühlen die allermeisten Menschen -bis zu ihrer Todesstunde Gedanken und Gefühle, die -nicht sie selbst denken und fühlen: es begehen die -allermeisten Menschen bis zu ihrer Todessekunde -Handlungen, die nicht sie selbst tun; die Summe der -Ermordungen, an ihrem Wesen verübt von den Autoritäten, -dieser Zwingherren der Seele, denkt, fühlt, -handelt.‘ -</p> - -<p> -Noch nach Jahren erinnerte Jürgen sich jenes Morgens, -da er zum ersten Male die ruhige Sicherheit empfunden -hatte, durch nichts Fremdes mehr vergewaltigt, -sondern ganz und gar Selbstherrscher seines Gefühlslebens -zu sein. Dieser Wendepunkt seines Daseins -war begleitet gewesen von der unbegreiflich lastlosen -Empfindung, seine Vergangenheit liege nicht mehr -hinter ihm, sondern vor ihm. -</p> - -<p> -Kopf in die Linke gestützt, war er seitwärts am -Schreibtisch gesessen, mit dem Blicke zur Verbindungstür, -und hatte gedacht: Von nun an gibt es für mich -keine Abwälzung der Verantwortung mehr durch den -Hinweis auf die in Kindheit und Jugend empfangenen -Wunden. Es können neue Wunden mir geschlagen -werden von der Umwelt; aber alte Wunden für mein -künftiges Tun und Unterlassen verantwortlich zu -machen, geht nicht mehr an. Ich stehe am Anfang -meines Ich. Um so gewaltiger die Verantwortung! -<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> -Wie ungeheuer wäre der Verrat erst solch eines Menschen, -der sein gewonnenes Ich verkaufen würde um -des Lebensgenusses willen, angesichts allein nur der -einen Tatsache, daß jene hunderttausende Gefangenen -nur ein einziges winziges Feld des millionenfeldigen -Schachbrettes der Leiden füllen! -</p> - -<p> -Kindergeschrei im Hofe. Frühlingssonne, die den -letzten Rest des schmutzigen Altschnees schmolz. -Aus der lecken Dachrinne fielen in Pendelregelmäßigkeit -die schweren Tropfen, blitzten vorbei an Jürgens -Fenster und platschten in die Pfütze. Im Zimmer -nebenan klapperte die Maschine. Katharina arbeitete. -Sie arbeitete immer. -</p> - -<p> -Auch Jürgen trug in sich das Gefühl, daß in einer -Lebensordnung, in der fast jeder Genuß des einen nur -auf Kosten eines anderen zu gewinnen sei, der Sozialist -alles, was er an Leben gewönne, nur auf Kosten seiner -Hingabe an die Idee gewinnen könne. -</p> - -<p> -‚Aber was ist Pflicht? habe ich als Abiturient die -Tante gefragt ... Wir stecken, zusammen mit den -Entrechteten, tief unten in der Spitze, in der tiefsten -Tiefe eines gewaltig großen Trichters. Oben ist der -Trichter erdenbreit, oben ist das Leben. Und nur -zusammen mit den Entrechteten dürfen wir vorwärtsschreiten, -nach oben, wo das Leben ist. Das Bewußtsein, -dieses Bewußtsein ist alles. Weh dem, der seine Pflicht -verletzt; der die verläßt, die in schweren Leiden und -Kämpfen nur in qualvoll langgezogener Spirale aufwärts -zu gehen vermögen, im millionenfältigen Schritt -der Massen ... Jetzt weiß ich, was Pflicht ist.‘ -</p> - -<p> -Wenn Jürgen zurückdachte an den Abend, da er, -Kopf in die Linke gestützt, diese Gedanken gedacht -hatte, schien es ihm, als sei erst eine Woche vergangen. -</p> - -<p> -<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> -Im Bildungskurs immer die selben Gesichter, die -selben Fragen und Einwände. Der Verlauf der Versammlungen -immer der selbe. Ein halbgewonnener -Streik. Einer, durch den eine winzige Lohnerhöhung -erkämpft worden war. Und wieder ein verlorener -Streik. Dazwischen eine Demonstration. (Der Agitator -und einige Genossen waren verhaftet worden.) -Bildungskurs. Versammlungen. Kämpfe kleiner und -kleinster Art. Enttäuschungen. Und wieder Bildungskurs. -Versammlungen. -</p> - -<p> -Ein Tag wie der andere, und alle grau. Die Zeit -flog, entschwand seinem Gefühle so schnell, als ob -sie stehe, gar nicht vergehe. Es gab kein Ereignis, -von dem, erinnernd, er hätte sagen können: das erfrischte -mich. Es war, als ob seither erst ein Tag vergangen -wäre, der in rasender Schnelligkeit sich selbst -immer wieder einhole und so Vergangenheit, Gegenwart -und Zukunft fresse. -</p> - -<p> -So stand er in der immer gleichen Grauheit des immer -gleichen Tages. -</p> - -<p> -Anfangs hatten sich durch seine Verbundenheit mit -Katharina in dieser Eintönigkeit die großen Stunden -aufgetan, Minuten, Blicksekunden von solcher Tiefe -des Glücks, daß die Erfüllung der ältesten Sehnsucht -des Menschen – die Überwindung der schicksalhaften -Einsamkeit, die jedes Lebewesen dieser Erde trennt -vom andern – ihm zuteil geworden war. Aber die -Erinnerung daran, daß er dies Unfaßbare des Daseins -einmal geschaut hatte, und auch das Wissen, daß dieses -Entrücktsein nur solchen verstattet sein konnte, deren -Verbundenheit vertieft ist durch ihre gemeinsame Hingabe -an die Idee, war verblaßt. -</p> - -<p> -Jürgen stand am Schreibtisch. Seine Hand legte -<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> -einen Bleistift hin, nahm ihn wieder, legte ihn hin, -nahm ihn. ‚Immer das selbe zu tun, das selbe zu tun, -selbe zu tun und nichts zu erleben, da verflackert -die Flamme ... Jahrelange Hingabe, ausschließlich -durch sich selbst genährt! Ist sie menschenmöglich?‘ -</p> - -<p> -Er hätte schon fort sein müssen, um rechtzeitig in -die Redaktion zu kommen. „So leben wir, so leben wir, -so leben wir alle Tage ... Wo war das? Tatsächlich, -ungefähr so leben die. Und wir leben so. Das ist ein -Leben!“ -</p> - -<p> -Wieder tropfte die lecke Dachrinne. Die Proletarierkinder -tobten im Hofe, wo der graue Haselnußstrauch -schon braunviolette Knospen trug. Wieder war ein -Jahr vorbei. -</p> - -<p> -‚Innere Vertrocknung. Ja, ja, innere Vertrocknung.‘ -Er horchte auf das Klappern der Maschine. ‚Dieses -Mädchen, Menschenkind, Menschheitskind mit dem -großen, milden, starken Herzen, lebenslänglich hingegeben -der Idee, ganz und gar!‘ -</p> - -<p> -Die Erschütterung ging durch den ganzen Mann -durch. „Das Leben, sein Leben hinzugeben, auf einmal, -ist ein Nichts ... Da drinnen sitzt die Größe. Die -Größe bei der kleinen Arbeit! Das Kleine, das Tägliche, -das Treue, täglich, durch Jahre, durch Jahre im -Dienste der Idee getan, ist die Größe. Der Held ist -tot. Der Held gehört vergangenen Jahrhunderten -an ... Katharina sitzt, wie der Verurteilte, lebenslänglich -im Gefängnis. Hat sich selbst verurteilt ... -Verteile, wie sie, ein Leben lang deine Hingabe auf -jährlich dreihundertfünfundsechzig Tage – erst dann -hebe stillen Blickes die Hand in Stirnhöhe, wenn gerufen -wird: Wer noch vermehrte die Zahl der vielen, -auf deren dargebrachtem Leben ich, die Menschheit, -<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> -in die Befreiung schritt? ... Ich weiß, daß dies, daß -dies die wahre Größe ist“, flüsterte er bebenden -Mundes. -</p> - -<p> -Blickte, umstanden von Grauheit, zurück auf die -Grauheit der vergangenen Jahre, suchenden, tastenden, -flehenden Blickes auf die Grauheit künftiger -Tage. Und hatte, Minuten später, unversehens den -verluderten Backsteinwürfel verlassen, durch die -Hintertür. -</p> - -<p> -Schritt, von Lebensgier gestoßen, hinaus. Dem -Walde zu. Hinaus über fette Schollenäcker. Atmete -und schritt. Ihm entgegen stürzte das Leben. -</p> - -<p> -Birken – butterzartes Hellgrün – säumten den -Wald, dessen billionenknospiges Geäste violett im -Frühlingsdampfe stand. -</p> - -<p> -Der grüne Tunnelberg, strotzend von Brombeer -und Schlehdorn, Brennessel, Felsmoos, zugeflogenen -jungen Birken, wilden Obstbäumen und allerlei Grün -– ein wild und dicht bewachsener Riesenrücken, in -der Sonne funkelnd und glitzernd –, war schweißnaß. -</p> - -<p> -Jürgen stand vor dem schwarzen Tunnelloch, -blickte hinein, forschend, wie zurück in seine Vergangenheit. -„Bis hierher rannte ich, damals, als die -Tante mich angespuckt hatte. Wollte ich mich überfahren -lassen? Da war ich fünfzehn Jahre alt“, sagte -er, ergriffen von Sympathie für den Knaben. „Spuckt -ihm ins Gesicht, dem Jungen. So ein Mistvieh! ... -Nun, diese Ungeheuer in mir sind tot.“ -</p> - -<p> -Dies war nun schon seine vierte Wanderung in -diesem Frühling. Immer war er vollgesogen, erfrischt, -verdreckt und ausgehungert zurückgekehrt. Und -Katharina hatte gesagt: „Das solltest du öfters tun.“ -</p> - -<p> -Einmal, schon vor Wochen, waren beide zusammen -<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> -gewandert. Wachstum und Grün, noch gebunden, -erst als Verheißung über den unabsehbaren Buchenwäldern. -Schäumende Bäche, nasse Täler, Nebeldämpfe, -die wie Rauch und Erde rochen, hatten Kälte -verbreitet, in der schon die Glut des Kommenden -prickelnd enthalten gewesen war. -</p> - -<p> -Neugierig, was zu sehen sein werde, waren sie seitwärts -aus einem von noch kahlem Gesträuche überhangenen -Hohlweg emporgestiegen und auf die Landstraße -gekommen, die, eben und linealgerade, weit, -weit hinaus und zuletzt wie ein weißer Pfeil in den geheimnisvollen -Horizont stieß. -</p> - -<p> -Die Vorstellung: ein Mensch geht aus der Stadt -hinaus, geht auf der Landstraße hin, läßt alles hinter -sich, alle Qualen, alle Pflichten, geht immer weiter, -weiter auf der Landstraße hin – hatte Jürgen, der -Jüngling, jahrelang in sich getragen. -</p> - -<p> -Katharina saß auf dem Kilometerstein, Jürgen -neben ihr auf dem Baumstumpf. Durchwärmte Körper -und kalte Wangen, die vor Hitze prickelten. -</p> - -<p> -Während sie Brot und Wurst aßen, hing Jürgen -jener alten Sehnsucht nach. „Wenn wir beide jetzt -einfach losgingen, da hinaus, jetzt auf der Stelle, und -ohne jemals umzukehren, immer weiter, du und ich, -fort, immer weiter fort!“ -</p> - -<p> -„Ohne Zahnbürste, ohne Nachthemd, ohne Ausweispapiere“, -hatte Katharina lächelnd geantwortet. -„Ohne Wohin! Nur zusammen!“ -</p> - -<p> -„Ja, du und ich! Ohne Geld! Ohne Rückblick! -Nicht mehr dies und das, nicht jenes, nicht die Redaktion, -der Bildungskurs, nicht Doktorexamen und -Ausweispapiere – nur der Mensch ist die Instanz. -Wir, der Mensch, gehen und lassen, endlich! endlich! -<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> -den Menschen atmen, fühlen, tun, erleben. Nur ihn! ... -Müde, übermüdet, klopfen wir an ein Bauernhaus -und bitten um ein Nachtlager. -</p> - -<p> -‚Wer seid ihr?‘ -</p> - -<p> -‚Der Mensch!‘ -</p> - -<p> -Wir kommen in eine kleine Stadt, mitten hinein -in das verfilzte Mein und Dein, und sagen: ‚Der Mensch -ist da.‘ -</p> - -<p> -Ungeheures Erstaunen! Alle geben uns, was wir -brauchen. Denn in tiefster Heimlichkeit haben alle -den Menschen erwartet, an dessen Kommen sie schon -gar nicht mehr geglaubt hatten.“ -</p> - -<p> -„Der Mensch ist aber noch nicht da, Jürgen. Den -gibt es noch nicht, kann es noch nicht geben. Mensch -zu sein, kann dem Einzelnen erst dann verstattet sein, -wenn es allen verstattet sein wird ... Welch furchtbaren -Verrat an der Idee wir begehen würden!“ -</p> - -<p> -„Du sprichst so ernst, als ob ich wirklich alles rücksichtslos -abschütteln und auf dieser Landstraße weiterwandern -wollte, hinaus in das Leben ... Würdest -du darunter leiden?“ -</p> - -<p> -Wie seltsam tief ergriffen und dennoch heiter sie -mich da angeblickt hat, erinnerte Jürgen sich und -glaubte Katharinas Worte wieder zu vernehmen, die -gesagt hatte: -</p> - -<p> -„Muß denn nicht gerade der Mensch, der, sein Ich -um jeden Preis zu gewinnen, jeder Pflicht entläuft, -indem er, um des Lebensgenusses willen, rücksichtslos -sein eigenes Ich zur obersten Instanz erhebt, sein Ich -ganz und gar verlieren? Muß nicht gerade in dem -Menschen, der ausschließlich seinen Wünschen und -Begierden folgt, der Mensch ganz und gar untergehen? -Und wird der Mensch und das in diesem Zeitalter verstattete -<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> -Maß an Ich nicht erhalten bleiben nur in dem, -der sie erfüllt: die Pflicht?“ -</p> - -<p> -Langsam hob er den Kopf, tat, wie damals, noch -einen Blick in die wunderbare Ferne. Wandte sich -wie gezogen um, starrte in das schwarze Tunnelloch: -„Das ist die Pflicht ... Wenn ich mich nicht schon -entschieden hätte, müßte ich mich doch wieder, doch -wieder ... ich müßte mich doch wieder für die Pflicht -entscheiden.“ -</p> - -<p> -„Doch wieder! Doch wieder!“ Trotzig wiederholte -er im Schrittakt diese Worte. Während der letzten -Jahre war Jürgen seiner Gedanken und Gefühle so -sicher gewesen, daß er sie auch jetzt nicht kontrollierte. -</p> - -<p> -Vor ihm lag sanft gewellt die Hochebene: Schollenäcker, -Frühsaatflächen, weit hingebreitet, braun und -grün. In der Nähe erklang Frauenlachen, dem eine -baßtiefe Lachsalve folgte: Auf dem nächstgelegenen -Hügel saßen die Fabrikantensöhne und -töchter beim -Picknick. Am Fuße des Hügels standen sechs Kraftwagen, -darunter der postgelbe des Bankiers Wagner. -</p> - -<p> -Hand in Hand sprangen zwei weißgekleidete Mädchen -herab, die in Jürgen den Bräutigam der einen, -der zu Fuß hatte nachkommen wollen, vermuteten. -</p> - -<p> -Enttäuschung, Lächeln und ein kurzer Schmerzensschrei -in einem. Gestützt auf ihre Freundin und auf -Jürgen, hinkte die Braut, die sich den Fuß übertreten -hatte, zurück. -</p> - -<p> -‚Und wenn ich ganz abgerissen wäre, würde mir -das auch nichts ausmachen.‘ Die ausgefranst gewesene -letzte Hose seines letzten Anzuges war zu einer kurzen -Hose zurechtgeschneidert und von den Abfällen war -ein Hinterteil frisch aufgesetzt worden, in Breechesschwung. -</p> - -<p> -<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> -Adolf Sinsheimer kam lustig entgegen, in der vorgestreckten -Hand eine gebratene Hühnerkeule für -den Erwarteten. Sein Mund öffnete sich. -</p> - -<p> -„Tut schon nicht mehr weh“, sagte die Braut beruhigend. -</p> - -<p> -Aber die vorgestreckte Hand ließ die Hühnerkeule -senkrecht fallen. „Das ist Jürgen Kolbenreiher; und -hier: Elisabeth Wagner, meine Braut“, stellte er, -während er den Knochen wieder aufhob, das andere -Mädchen vor, das auf dem Herwege Jürgen in keiner -Weise beachtet hatte und nun, zu plötzlich überrascht, -in unverhohlener Spannung ihn ansah. -</p> - -<p> -Jürgen war für Elisabeth Wagner so lange vollkommen -uninteressant gewesen, bis sie erfahren hatte, daß ihre -Mitschülerin Katharina ihn liebe. Seitdem hielt sie -Jürgen, da Katharina schon im Institut für ein unzugängliches, -wählerisches Mädchen gehalten worden -war, für einen ganz besonders interessanten, bedeutenden -Menschen, dessen Bekanntschaft machen zu dürfen -sie seitdem immer wieder Drohungen, Spott und -alle Mittel ihres überlegenen Verstandes dem Bräutigam -gegenüber angewandt hatte. -</p> - -<p> -Sofort begann sie von Katharina zu sprechen, die -zwar zwei Jahre älter, aber im selben Institut mit ihr -gewesen sei. Und auch als sie bewundernd ausrief, -wie Katharina es nur ertragen könne, im Gefängnis -zu sitzen, fühlte Jürgen, daß die Bewunderung ihm -galt. -</p> - -<p> -Erst viel später gestand er sich ein, daß er, nur um -Elisabeths Interesse noch zu steigern, versucht hatte, -sich gleich wieder zu verabschieden. -</p> - -<p> -Mit leisem Schmollen, das ihrem kühlen Wesen -fremd war, bat sie, er möge doch mit zur Gesellschaft -<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> -kommen. „Adolf, bitte du ihn!“ Sie hielt Jürgens -Hand fest. -</p> - -<p> -„Na, so komm doch mit ... Aber wenn du nicht -willst ...“ Jetzt erst bemerkte Adolf, daß er den -staubigen Hühnerfuß wieder aufgehoben hatte, und -schleuderte ihn seitwärts ins Feld, blickte dabei -wütend seine Braut an. -</p> - -<p> -Das angenehme Machtgefühl ließ Jürgen mitgehen. -Die drei setzten sich, etwas abgesondert von den andern, -auf die Wolldecke. -</p> - -<p> -„Gebratenes Huhn und Rotwein, im Freien genossen -– darüber hinaus gibt es nichts.“ Die andere -Braut sagte dem Genießer, wer der Gast sei, dann wurde -es auch auf dieser Wolldecke stiller. -</p> - -<p> -Die fünfundzwanzig gepflegten, gesunden Menschen -gehörten den reichsten Familien der Stadt, die Männer -fast alle Jürgens Generation an: Fabrikantensöhne, -die in den Geschäften der Väter arbeiteten oder sie -schon selbständig führten, wie Adolf die Knopffabrik -und das angegliederte Knopfexporthaus. -</p> - -<p> -„Tüchtige Kerle! Daß der dort sich schon einen -Namen in der Wissenschaft gemacht hat, weißt du ja. -Unser Abiturientenjahrgang kann sich sehen lassen. -Einer ist sogar schon Reichstagsabgeordneter. Der -war ja immer einer der besten Schüler.“ -</p> - -<p> -Elisabeth begann von Literatur zu sprechen, lobte -ein jüngst erschienenes Buch. Jürgen, ausgehungert, -aß schweigend und viel. -</p> - -<p> -Streitsüchtig nannte Adolf eine Anzahl so schlechter -Bücher, die er für weit besser halte, daß Elisabeth -lachen mußte. Und zu Jürgen, mit einem Blick des -Einverständnisses: „Davon versteht er gar nichts.“ -</p> - -<p> -Die sechs Kraftwagen rollten langsam hügelaufwärts. -<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> -Nachdem Elisabeth erzählt hatte, daß sie erst -vor ein paar Tagen wieder Jürgens Tante besucht -habe, die bedenklich krank sei, sprach Adolf sehr -orientiert von der Wirtschaftslage des Landes. „Die -ganze Dichterei ist mir, offen gestanden, natürlich recht -gleichgültig, und was du treibst – Arbeiter verhetzen, -Bomben fabrizieren, wie? – ist gar der reine Blödsinn -... Sieh dir an, was unsere Industrie auf dem -Weltmarkte gilt, und werde vernünftig! Das ist der -Rat eines Menschen, der kein Jüngling mehr ist, sondern -die Verantwortung für das Wohl und Wehe von sechshundert -Angestellten und Arbeitern ganz allein zu tragen -hat. Meine Freunde hier, sieh dir sie an – lauter -tüchtige Menschen! Der eine im Bankfach, andere in -der Industrie oder in der Wissenschaft, in der Politik, -Menschen, die sich und ihr Vaterland vorwärtsbringen -... Und Leo Seidel – erinnerst du dich noch an -den Sohn des Briefträgers? Die Weltgeschichte, weißt -du! Der ist heute, nachdem er eine Zeitlang Impresario -und weiß der Teufel was alles gewesen war, Bankier -in Berlin. Sitzt im Aufsichtsrat von einem Dutzend -großer Aktiengesellschaften. Eine tolle Karriere! In -ein paar Jahren kann er durch das Geben oder Verweigern -seiner Unterschrift die Börse beeinflussen. -Würde mich nicht wundern ... Wirklich, solltest -meinen Rat befolgen und die Augen auch aufmachen.“ -</p> - -<p> -Jürgen lächelte das Lächeln eines Menschen, der -seiner Sache sicher ist, diesen Rat nicht nötig hat, und -gab keine Antwort, reichte beiden die Hand, schlug -Elisabeths Bitte, im Wagen mit zurückzufahren, ab -und schritt, nach einer knappen Verbeugung zur Gesellschaft -hin, waldwärts. -</p> - -<p> -‚Wie schloß Adolf seinen Hymnus auf sich und auf -<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> -die Stellung unserer Industrie in der Welt?: Nur wer -auf irgendeinem Gebiete etwas leistet, hat Macht. Und -nur dem Mächtigen gehört das Leben.‘ -</p> - -<p> -‚Das stimmt. Aber wer sind die Mächtigen und was -für Eigenschaften müssen sie besitzen, um mächtig -werden zu können? ... Es gibt eine bestimmte große -Anzahl solcher, die schon oben geboren werden und -sich eben weiter vorwärtsbringen, wie geölt; eine kleine -Anzahl Leo Seidels, die nicht nur über Verstand, Begabung -und eiserne Gesundheit, sondern auch über -eine ganz besonders große Portion Brutalität, Rücksichtslosigkeit -und Gemeinheit verfügen müssen, um -durch die erdenbreite Eisenplatte, die auf den Rücken -der Millionen lastet, durch- und hinaufkommen zu können. -Außerdem gibt es noch einige Jürgens, die oben -sein könnten, aber heruntergehen und nur auf der -Leiter des Verrats an der Idee wieder hinaufzusteigen -vermöchten ... So liegt die ganze Drahtleitung.‘ -</p> - -<p> -Innerlich grau geworden, starrte er den sechs Kraftwagen -nach, die, schon in weiter Ferne, eben um den -Fuß eines bewaldeten Hügels herumsausten, auf der -Höhe wieder erschienen und, ein sich schlängelnder, -dünner, schwarzer Strich, im Blau verschwanden. -</p> - -<p> -‚Im Auto würde man aus der tiefsten Tiefe des -Trichters, in dem das Proletariat kämpft und krepiert, -sehr schnell heraus und nach oben kommen, wo das -Leben ist ... Ja, ich brauchte sogar nur einen einzigen -Gedanken zu denken, den Gedanken: Jeder für -sich! Oder: Vervollkommnung der Persönlichkeit! -Und schon würde ich oben sein.‘ -</p> - -<p> -Erfüllt von Widerwillen gegen alles, gegen das -Leben und gegen sein Leben, gegen die Ausflügler -und gegen den Bildungskurs, den er heute abend noch -<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> -abzuhalten hatte, langte er vor der Haustür an. ‚Die -Jugend scheint bei mir vorüber zu sein. Die Jugend! -Man wird älter und alt!‘ Er nahm dem Postboten -einen Brief ab. Die ungelenke Handschrift war ihm -nicht bekannt: Phinchen flehte, er solle kommen, -die Tante sei noch immer sehr krank. Und weshalb -er auf den letzten Brief nicht geantwortet habe. -</p> - -<p> -„Jetzt wirst du großen Hunger haben.“ -</p> - -<p> -„Nicht einmal! Ich habe ja ... Ich habe eigentlich -wenig Appetit ... Hier, lies den Brief!“ -</p> - -<p> -„Fühlst du dich nicht wohl? Ich meine, weil du -nicht hungrig bist.“ -</p> - -<p> -„Doch, ich bin ganz gesund ... Aber, was meinst -du, soll ich da tun?“ -</p> - -<p> -„Weshalb solltest du sie nicht besuchen!“ -</p> - -<p> -Während des ganzen eineinhalbstündigen Vertrages, -den Jürgen im Bildungskurse hielt, fühlte er sich gepeinigt -von dem Bewußtsein, seine Begegnung mit -den Ausflüglern Katharina verschwiegen zu haben. -Erst gegen Morgen, nach einer in unruhigem Halbschlafe -verbrachten Nacht, schlief Jürgen ein. -</p> - -<p> -Und stand um zwölf Uhr vor der Villa, die er vier -Jahre nicht mehr gesehen hatte. Die Tante saß, in -Decken gehüllt, im Lehnstuhl. Phinchens Gesicht, -glücklich lächelnd, war tränennaß geworden beim Erblicken -Jürgens. -</p> - -<p> -Es sei, wie immer, die Brust, antwortete die Tante. -Sie trug, wie immer, ihr schwarzseidenes Spitzenkopftuch, -sah ganz unverändert aus. Bei dem linken -Ohre beginnend, über Schläfe und Stirn, bis zum -rechten Ohr, lagen, platt angedrückt wie immer, die -mit der Brennschere sorgfältig gedrehten schwarzen -zwölf Fragezeichen. -</p> - -<p> -<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> -Erst in diesem Zimmer, wo der Fußboden so rein -war wie der Vorhang und so funkelte wie die Fensterscheiben -und die polierten Möbel, fühlte Jürgen, -sitzend an dem einladend gedeckten Tisch, wie heruntergekommen -er in seinem letzten Anzuge aussehen -müsse. -</p> - -<p> -Die Tante sprach nicht, fragte nicht. Und bemerkte -alles. War entsetzt über Jürgens Aussehen. ‚Seine -Manschetten sind ausgefranst, die Hemdbrust und der -Kragen ungewaschen. Diese Stiefel! Die Absätze sind -schiefgetreten bis zur Kappe.‘ -</p> - -<p> -Und ohne Überleitung, als ob sie, während Jürgen -aß, an nichts anderes gedacht hätte: „Ich würde ... -wir würden noch einen zweiten Stock aufsetzen lassen. -Ihr würdet oben wohnen. Die Grundmauern der Villa -sind stark.“ -</p> - -<p> -„Wer soll oben wohnen.“ -</p> - -<p> -„Wenn du heiraten würdest.“ -</p> - -<p> -Jürgen schüttelte den Kopf. ‚Es ist doch zu toll!‘ -Antwortete nicht, aß weiter. Er saß mit dem Rücken -zur Tante. Der Lehnstuhl stand am Fenster in der -Sonne. -</p> - -<p> -„Und wenn ich sterbe, könnt ihr unten Wohnzimmer, -Eßzimmer und Salon haben, im Stock Empfangsräume, -und oben schlafen ... Phinchen würde -ja auch bei euch sein ... Und der Garten. Der schöne -Garten!“ -</p> - -<p> -Phinchen versuchte, das Weinen zu verschlucken, -heulte los und rannte mit der vollen Schüssel wieder -hinaus. Es war still. Die Tante blickte Jürgens -Rücken an, sah durchs Fenster auf den blühenden -Magnolienbaum, wieder Jürgens Rücken an. „Aber -wissen müßte ich, wem ich mein sauer erworbenes -<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> -Vermögen hinterlasse. Denn so schwer es mir auch -fallen würde ...“ -</p> - -<p> -Er legte die Gabel, mit der er ein Stück Fleisch von -der Platte hatte nehmen wollen, wieder zurück, -wandte sich langsam um. „Du müßtest mich enterben, -was?“ -</p> - -<p> -„So furchtbar schwer mir das auch fallen würde!“ -</p> - -<p> -„Und du glaubst, daß ich mich ... Glaubst du denn -wirklich, daß ich mich mit so etwas bestechen lasse?“ -</p> - -<p> -Die Tante strich sich über die Augen, legte die Hand -an das Kinn, sah weg. Und Jürgen drehte sich wieder -um zum Tisch. So stehts denn doch noch nicht mit -mir, dachte er. Und, plötzlich im Tiefsten betroffen: -‚Was war das? Was war das? Was?‘ -</p> - -<p> -„Ich sage dir nur, was mein Herz mir eingibt.“ -Die Tante redete weiter. Er hörte nichts mehr. ‚Was -war das? ... Wie also stehts denn mit mir?‘ -</p> - -<p> -So sitzt sie immer, wenn sie einem Plane nachhängt, -dachte er auf der Straße. Er wußte nicht, wann -und wie er die Villa verlassen hatte. ‚Wie ging ich -denn weg? ... Was war das? Wie also stehts mit -mir? ... Streicht sich mit der Hand erst über die -Augen und dann bleiben ihre Fingerspitzen am Kinn -haften. So macht sie es immer. Da sitzt dieses winzige, -gelbgesichtige Persönchen im Lehnsessel und macht -Pläne: über das morgige Mittagessen, oder ob sie ihr -Vermögen, ihr sauer erworbenes, vergrößern kann, -wenn sie dieses oder jenes Wertpapier kauft oder verkauft, -oder über den Tag der nächsten großen Wäsche, -oder über mein zukünftiges Leben. Wenn sie Schlitzaugen -hätte, würde sie ganz so aussehen wie eine alte -Chinesin.‘ -</p> - -<p> -Plötzlich blieb er stehen. ‚Alles das stimmt. Ist -<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> -aber ganz unwichtig; wichtig ist, zu wissen, was eigentlich -mit mir los ist ... Was will ich denn?‘ Die -weiße, linealgerade Landstraße schoß wie ein Pfeil -in den geheimnisvollen Horizont. ‚Das ist Unsinn. -Das Fortlaufen ist Unsinn ... Aber das Gefühl, das -hinter diesem Wunsche steht, ist kein Unsinn. Dieses -Gefühl bin ... ich, ist der Mensch in mir, so wie er -ist ... Wie er offenbar nun einmal ist!‘ -</p> - -<p> -Und dann geschah es, daß Jürgens Körper selbsttätig -auf die Bank in der Anlage zuschritt, sich setzte. -Und nun: Hände weg von allem! Alle Muskeln entspannt! -Alles Denken und jede Selbstbeobachtung -aufgegeben! Den Willen ausgeschaltet! Weg mit dem -Bewußtsein! Der Mensch, er allein! soll sagen, was -er will, dachte Jürgen noch und schloß, bereit, zur -Kenntnis zu nehmen, was auch kommen möge, ganz -entspannten Wesens die Lider. -</p> - -<p> -Anfangs kam nichts. Knapp vor den Augen farbige -Pünktchen im Grau. Er saß in der Mitte seines -Lebens, in dem nichts war. Saß so still, so leblos, -daß ein Vogel anflog, auf der Banklehne zwitschernd -hüpfte, wieder abflog. -</p> - -<p> -Menschen und Gesichtsausdrücke, Menschengruppen, -eine Flußlandschaft: Lebensbilder, die vor langer Zeit -Jürgens Gefühl getroffen hatten und deren Sinn ihm -unerkennbar blieb, tauchten auf, schemenhaft, verblaßt, -und versanken wieder. „Das ist nebensächlich“, -flüsterte er einige Male. -</p> - -<p> -Ferne Stadtgeräusche, kaum hörbar von Hupentönen -durchstoßen: Das Leben der Gegenwart, die -Arbeit, die ihren Gang ging, laut und leise. Bei der -Bank war es still. -</p> - -<p> -Ein schwarzgekleideter Herr dreht die Schulter halb -<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> -rückwärts, grüßt, etwas hochmütig, nach der Seite hin. -Viele Herren und dekolletierte Damen bewegen sich -unter den lichtblitzenden Riesenkronleuchtern im -großen Saale. Alle grüßen den Schwarzgekleideten. -Blicke, achtungsvolle, neidische, prüfende, folgen ihm. -</p> - -<p> -‚Der Schulkamerad, der sich in der Wissenschaft -schon einen Namen gemacht hat ... Mag er!‘ -</p> - -<p> -Sie essen nicht, trinken nicht; sie gehen umher, -blicken dem Schwarzgekleideten nach, sprechen über -ihn und warten. ‚Nein, Musik ist keine da.‘ -</p> - -<p> -Jürgen, in knappsitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte -Kraft in Schultern und Brust, beherrschtes, -natürliches, berechtigtes Selbstbewußtsein in Blick -und Worten, tritt ein, spricht leicht und freundlich -mit seinen Partnern, die schnell wechseln, sich unauffällig -an ihn heranmachen. Keiner hat ein eigenes -Gesicht. Der auf der Anlagenbank sitzende Jürgen -sieht und fühlt nur sich, nur den seines Geistes und -seiner Kraft und Macht bewußten Frackherrn-Jürgen, -der höflich zuhört, knapp und freundlich antwortet. -</p> - -<p> -Der andere Schwarzgekleidete schrumpft zusammen, -drückt sich unbeachtet an der Seite umher. Der Mittelpunkt -ist Jürgen. Denjenigen, die sich an ihn nicht -heranwagen, geht er selbst entgegen, begrüßt sie -liebenswürdig, nicht herablassend, nicht hochmütig. -‚Wer eine Leistung vollbracht hat, wer etwas leistet, -ist nicht hochmütig, hat es ja auch nicht nötig, hochmütig -zu sein.‘ -</p> - -<p> -Alle sprechen von ihm. Aller Blicke sind auf ihn -gerichtet. Jürgen ist so sehr Mittelpunkt, daß er sich -bemüht, weniger Mittelpunkt zu sein, das Interesse -etwas auf den anderen Schwarzgekleideten abzulenken, -wofür er verhaltenes Lächeln der Bewunderung erntet. -<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> -Sein Wille, sein Geist wirken in allen, bestimmen Gedanken, -Gefühle und Mienen aller Anwesenden. -</p> - -<p> -Jürgen lehnte nicht mehr, entspannt, Augen geschlossen, -in der Bankecke; gleichzeitig mit dem -Eintritt des Frackherrn-Jürgen in den Saal hatte er -sich aufgerichtet, war mit seinen Gefühlen in den -Eingetretenen hineingeschlüpft. Seine Schultern und -seine Hände, sein Gesicht hatten alle Bewegungen -und das Mienenspiel des andern mitgemacht. -</p> - -<p> -Er saß, alle Muskeln gespannt, vorgebeugt, starrte -auf den grünen Bretterzaun, in den er das Bild seines -Wunsches hineingesehen hatte. Und als er plötzlich -nur noch den grünen Bretterzaun sah, strich seine -Hand über die Augen und blieb, wie die der Tante, -am Kinn haften. -</p> - -<p> -‚Das also wünsche ich ... wünscht er: der Mensch -in mir.‘ -</p> - -<p> -Langsam lehnte er sich wieder zurück. ‚Aber -welcher Art ist denn seine Leistung? Was hat er ... -was habe ich ... also, ich meine, was möchte ich denn -eigentlich leisten? ... Ist ja ganz gleich, was einer -leistet, wenn er nur überhaupt auf irgendeinem Gebiete, -ganz gleich welchem, etwas leistet und Macht -und Einfluß gewinnt.‘ -</p> - -<p> -Eine Stunde später saß er untätig an seinem Küchentisch. -Der Artikel, den er zu schreiben hatte, langweilte -ihn. ‚Immer wieder der selbe Artikel!‘ Seine Hand -legte den Bleistift hin, wurde zur Stütze für den Kopf. -Der Frackherr-Jürgen tritt in den großen Saal. Das -Bild verschwand sofort wieder. -</p> - -<p> -Denn im Nebenzimmer begann das Klappern der -Maschine. Der Haß gegen das Klappern sickerte in -jeden Herzschlag hinein. Im besonnten Hofe war es -<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> -vollkommen still. Die Proletarierkinder trieben sich -im Walde umher. Von den alten, faulenden Küchenabfällen -stiegen Dämpfe auf. Das Fenster stand offen. -</p> - -<p> -Plötzlich vernahm der reglos Sitzende das feine -Klingeln. Horchte. Blickte. Vernahm es wieder. -Maßlose Wut stieg in ihm auf. Mit äußerster Vorsicht -griff er nach dem Schotterstein, der ihm als Papierbeschwerer -diente, schlich auf den Zehenspitzen unhörbar -zum Fenster, stand, die Hand wurfbereit erhoben. -</p> - -<p> -Da hörte die Maschine auf zu klappern. Katharina -trat ein. „Wollen wir ... Was machst du denn da?“ -</p> - -<p> -„So sei doch still!“ brüllte er ihr ins Gesicht, drehte -sich wieder um und schleuderte voller Wut den Schotterstein -in die Richtung, wo er die Ratte vermutete. -„Das verdammte Vieh! Dieses unerträgliche Geklingel!“ -</p> - -<p> -„Das Klingeln war dir doch immer so angenehm -in den Nächten, wenn du schriebst, und jetzt, auf einmal -...“ -</p> - -<p> -„Ja, jetzt, auf einmal! Siehst du, jetzt, auf einmal!“ -</p> - -<p> -„Ich wollte dich eben fragen, ob wir heute, weil der -Tag so schön ist – einen Spaziergang in den Park, -hatte ich gedacht. Aber wenn du so bist ... So warst -du noch nie zu mir ... Dann tippe ich lieber weiter.“ -Sie schritt zur Verbindungstür. Er, vornüberstürzend, -ihr nach. -</p> - -<p> -Später saßen sie, versöhnt, im öffentlichen Parke, -in dem sie vor elf Jahren das erstemal miteinander -gesprochen hatten, von Duft und Farben, Blumen, -spielenden Kindern, Himmelsbläue und Gouvernanten -umgeben, wie heute. -</p> - -<p> -„Seither ist jene Generation groß geworden und -schon in die Privilegien der damaligen Väter nachgerückt“, -<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> -sagte Katharina. „Und die Last liegt heute -wie damals auf den andern.“ -</p> - -<p> -„Ja, wo sind die Erfolge der Arbeiterschaft! Nichts! -Der Sozialismus schwebt nach wie vor in blauer -Ferne.“ -</p> - -<p> -„Das wollte ich damit nicht sagen“, entgegnete -ruhigen Tones Katharina. -</p> - -<p> -Auf dem Reitwege, nur durch eine brusthohe Buchshecke -von dem Parke getrennt, galoppierte eine Gruppe -Damen und Herren vorüber. Die beiden saßen reglos -und schwiegen. Auf der breiten Fahrstraße rollten -Equipagen, überholt von einzelnen Reitern. -</p> - -<p> -„Es ist am besten, wir kriechen wieder in unser -Loch zurück“, sagte Jürgen, dessen Wesen zweigeteilt -war wie eine Schleudergabel. -</p> - -<p> -Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich -sich selbst. Das lange, postgelbe Automobil des Bankiers -Wagner rollte vorüber. Die zwei Damen, in die -Polster zurückgelehnt, machten eine Spazierfahrt -durch den Duft. Eine dunkle Riesenfaust preßte -Jürgens Herz zusammen, als er Elisabeth erkannte, -die sich umwandte und prüfenden Blickes die beiden -ansah. Sie war eben bei der Tante zu Besuch gewesen. -</p> - -<p> -„Das ist Elisabeth Wagner“, sagte Katharina. „Elisabeth -war im Institut eines der klügsten Mädchen gewesen -... Gestern wurde erzählt, das Bankhaus -Wagner stehe vor dem Zusammenbruch. Ich habe -es von den Genossen in der Hommesschen Papierfabrik -erfahren. Der Betrieb würde im Falle eines Zusammenbruches -geschlossen werden müssen. Elisabeths -Bräutigam hat die Verlobung gelöst. Ein konsequenter -Herr!“ -</p> - -<p> -Schwuppdich, dachte Jürgen. -</p> - -<p> -<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> -„Aber hast du das andere Mädchen gesehen. Sie -ist wunderschön. Eine Jugendfreundin von mir. Der -Garten ihrer Eltern stößt an den Garten meiner Eltern. -Von ihr kann ich dir eine traurige Geschichte erzählen. -Die traurigste Geschichte, die ich kenne!“ -</p> - -<p> -„Nein, nein, nicht umkehren!“ bat Katharinas -schöne Jugendfreundin und legte scheuen Blickes ihre -Hand auf Elisabeths Hand. Aber der Chauffeur hatte -die Schleife schon genommen. Das Auto rollte sehr -langsam auf die beiden zu. -</p> - -<p> -„Kennst du sie denn? Elisabeth hat dir zugenickt.“ -</p> - -<p> -„Wieso denn mir!“ sagte Jürgen. „Nun, und die -traurige Geschichte von der andern?“ -</p> - -<p> -Da wandte auch diese sich um und blickte, wie -zurück in ihre Kindheit, gefühlsschwer Katharina an, -die erzählte: -</p> - -<p> -„Bis zu unserem siebzehnten Jahre waren wir immer -zusammen, jeden Tag viele Stunden. Wir haben einander -das Versprechen gegeben, uns ganz aufzuopfern, -auch nie einem Manne anzugehören. Wir wollten die -Welt erlösen. Um jeden Preis!“ -</p> - -<p> -„Das wollen sehr viele in ihrer Jugend.“ -</p> - -<p> -„Ja, und später lächeln sie darüber ... Wenn sie nur -über die Art, wie sie helfen oder die Welt ändern wollten, -lächeln würden, hätten sie ja ganz recht; aber sie lächeln, -weil sie es überhaupt tun wollten. Sie lächeln nicht -nur über den Inhalt ihres Idealismus; sie lächeln über -den Idealismus ihrer Jugend überhaupt.“ -</p> - -<p> -Und dann sagte Katharina, rätselhaft tief bewegt, -den Satz vor sich hin: „Viele Menschen tragen als -Kinder in den Augen ein Ideal, das erstrebt zu haben -sie später lächeln macht; und doch wiegt vielleicht -allein die Tatsache, daß sie dieses Ideal einmal wenigstens -<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> -erstrebt hatten, schwerer als alle Ziele, die sie -später tatsächlich erreichten.“ -</p> - -<p> -„Wie du das sagst! Es wird einem kalt. Wie du das -sagst!“ -</p> - -<p> -„Dieses Mädchen ... du machst dir keinen Begriff, -welch leidensfähiges, mildes Herz sie hatte. Und -jetzt – wie lebt sie! Sie ist mit dem Oberstaatsanwalt -verlobt.“ -</p> - -<p> -„Ist das die Geschichte? Ist sie das?“ -</p> - -<p> -„Eigentlich ist das schon die ganze Geschichte.“ -Und dann erzählte sie doch: Die Mutter ihrer Jugendfreundin, -eine sehr gebildete, reiche Frau, habe ihre -Tochter ganz bewußt zur Wohltätigkeit erzogen. -Immer habe das Kind den Armen die Gaben reichen -müssen. -</p> - -<p> -„Und da geschah es einmal – und dies ist die Geschichte -–, daß das Kind von seiner Mutter in den -Garten geschickt wurde, einer alten Bittgängerin ein abgetragenes -Kleidungsstück zu bringen. Da bricht das -Kind, wie es unter dem Blicke der Alten steht, vor -Trauer und Scham, daß es geben und die Weißhaarige -von ihm empfangen muß, in Schluchzen aus, läßt das -Geschenk fallen, läuft weinend zurück, kann und -kann nicht beruhigt werden, schluchzt sich in eine -Krankheit hinein ... Von dieser Zeit an hat es sich -nie mehr zu solchen Wohltätigkeitshandlungen -brauchen lassen. Denk an, da war sie sechs Jahre -alt. Ihr Herz wußte schon alles ... Und jetzt? Wie -furchtbar, wie tragisch ist das Leben, daß selbst solch -ein Wesen so erkranken, solch ein Herz so verhärten -konnte.“ -</p> - -<p> -Eine ungeheuere Erregung, die er mühsam zu unterdrücken -versuchte, hielt Jürgen gepackt. Nur um -<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> -etwas zu sagen, fragte er: „Und wenn ihr einander -begegnet, grüßt ihr euch nicht?“ -</p> - -<p> -„Wie sollten wir! Jeder lebt auf einem anderen -Planeten.“ -</p> - -<p> -Lebt auf einem anderen Planeten, flüsterte Jürgen -innerlich. In weniger als einer Sekunde war der Saal -mit dem Frackherrn-Jürgen aufgetaucht und wieder -verschwunden gewesen. -</p> - -<p> -Und plötzlich glaubte Jürgen, seine Schädeldecke -hebe sich ab vor Grauen. Denn er wußte nicht, ob -er selbst oder ob ein anderer in ihm gedacht, gefühlt -und gesagt hatte: ‚Wie entsetzlich! Dann ist er unüberbrückbar -auch von Katharina getrennt! ... Wer -hat das gedacht?‘ fragte er. ‚Das habe nicht ich gedacht.‘ -</p> - -<p> -„Es ist im Grunde die Geschichte aller in ihrer -Jugend idealistisch gewesenen Menschen“, hörte er -Katharina sagen. „Du folgst deinen Wünschen und -Begierden gegen das bessere Wissen deines Herzens, -betrügst dein Bewußtsein, dein Ich, indem du nach -Besitz, Macht, Erfolg, Genuß und Achtung strebst, -dann kann es geschehen, daß du viel erreichst oder -auch zugrunde gehst, in bürgerlicher Schande oder in -bürgerlichen hohen Ehren ertrinkst, oder vielleicht -in der Familienbequemlichkeit und einer – mittleren -Stellung untergehst ...“ -</p> - -<p> -‚Das nun sollte mir nicht passieren.‘ -</p> - -<p> -„... daß du Automobile, betreßte Diener, eine -Villa, verschönt durch edle Kunstwerke und Bücher, -die du nicht nur hast sondern auch verstehst, daß du -Fabriken, Ruhm, Achtung, Frauen, einen Kassenschrank -voll Aktien und Gewalt über Tausende von -Menschen eroberst ...“ -</p> - -<p> -<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> -‚Das will er, der Mensch, der Frackherr in mir.‘ -</p> - -<p> -„... aber in jedem Falle mußt du – und dies ist -die Tragik des Menschen unseres Zeitalters – das -Bewußtsein von der Wirklichkeit, wie sie sein könnte -und wie sie ist, mußt du dein Bewußtsein, die Leidensfähigkeit -und Güte deines Kindheitherzens und -damit dein Ich, deinen Idealismus verlieren, der in -unserem Zeitalter nur in dem hingabebereiten Kampfe -um den Sozialismus seinen Inhalt haben kann.“ -</p> - -<p> -Und das weiß mein Bewußtsein, dachte Jürgen. -Und hatte plötzlich gesagt: „Dagegen kann ich nicht -einmal etwas einwenden.“ -</p> - -<p> -Zuerst schwieg Katharina. Dann wich sie mit dem -Oberkörper seitwärts, sah Jürgen betroffen an: „Weshalb -solltest denn du dagegen etwas einwenden?“ -</p> - -<p> -Zum zweitenmal empfand Jürgen in seinem Herzen -Zorn gegen Katharina und schwieg. -</p> - -<p> -Erst auf dem Heimwege – die freistehende Mietskaserne -kam schon in Sicht: „Die Tante hat gesagt, -es hänge noch ein ganz guter Anzug von mir im -Schrank.“ -</p> - -<p> -„Den solltest du dir holen, wenn sie ihn dir gibt ... -Ich habe damals, als ich wegging von zuhause, fast -nichts mitgenommen. Aber wenn ich die Sachen jetzt -holen wollte, die würden mir nichts geben.“ -</p> - -<p> -„Ach nein, so ist sie nicht. Enterben, vielleicht ja; -aber sonst ...“ -</p> - -<p> -Einige Tage sprachen sie selten miteinander; Jürgen -hatte in Gegenwart Katharinas das Gefühl, auf -Luft zu gehen, und wich ihr aus, sooft er konnte. -</p> - -<p> -Eines Abends, als er diesen Zustand qualvoller -Spannung nicht länger mehr ertragen konnte, sagte -er: „Wer bis zu seinem dreißigsten Jahre noch nichts -<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> -geleistet und erreicht hat, wird auch später nichts -mehr erreichen.“ Er stand am Schreibtisch, Katharina -neben ihm, mit dem Rücken gegen das Fenster. Sie -antwortete nicht. -</p> - -<p> -„So wird man schließlich vierzig. Und was kann -dann noch viel Erfreuliches kommen! Dann ist das -Leben in der Hauptsache vorüber ... Natürlich, -wer ganz bedingungslos glaubt an den Sozialismus ... -Wer einfach glaubt!“ -</p> - -<p> -„Was willst du denn erreichen, Jürgen?“ -</p> - -<p> -„Das ist es ja eben. Ich bin kein Jüngling mehr. -Man wird doch immer älter – und älter ... Eh man -sich versieht, ist das Leben vorbei, nicht wahr?“ -</p> - -<p> -Katharina antwortete nicht mehr. Sie ging langsam -auf die Verbindungstür zu, ging durch, schloß die -Tür. Sie stand in ihrem Zimmer. Sie legte die Hand -aufs Herz. Sie wußte alles. -</p> - -<p> -Jürgen sah, durch die verschlossene Tür durch, -Katharina stehen, so wie sie stand. Preßte die Hand -auf das rasend klopfende Herz. Zuckte auf die Tür -zu. Wollte nachstürzen. -</p> - -<p> -Zuckte zwischen der Verbindungstür und der Ausgangstür -wie ein von Verfolgern eingekreister Flüchtling -im Zickzack hin und her. Und stürzte mit einem -innerlichen, furchtbaren Todesschrei aus dem Hause. -</p> - -<p> -Rannte aus der Stadt hinaus, querfeldein, über -Schollenäcker zum Bahndamm, zwischen den Schienen -weiter, bis vor das schwarze Tunnelloch. -</p> - -<p> -Diesmal blieb er nicht stehen und kehrte er nicht -um. „Fort! Fort! Fort!“ befahl der Herzschlag, -jagte ihn den Schienen nach, hinein in die Finsternis. -</p> - -<p> -Er stolperte. Seine Hände streiften den Boden. Er -empfand darüber Befriedigung. Raste weiter, stieß -<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> -mit dem Kopf gegen die Mauer. Und blieb keuchend -stehen. In undurchdringliche Nacht gestellt, erblickte -er plötzlich seine Genossen, klein und weiß. Katharina -blickt verächtlich ihn an, deutet mit dem Finger -auf ihn. -</p> - -<p> -„Fort! Fort!“ schrie der Herzschlag. Vor sich, -weit in der Ferne, sah Jürgen ein rotes Tunnellämpchen. -Nach zwei Sprüngen war er schon daran vorbei, -stolperte, stürzte. Und blieb hocken, dicht neben dem -Lämpchen, das jetzt weit hinter ihm in der Finsternis -schwebte. -</p> - -<p> -Glotzend hob er den Kopf, sah die schneeweißen, -starren Gesichter seiner Genossen. Duckte den Kopf -zwischen die Schultern, schloß die Augen. Sah die -schneeweiße Gruppe der Genossen. Katharina dreht -sich kalt und gleichgültig weg. -</p> - -<p> -‚Wie sie mich verachtet!‘ -</p> - -<p> -Die Schienen im Tunnel begannen zu lispeln. -</p> - -<p> -Gierig suchte Jürgen nach jemand, der ihn nicht -verachtete. Sitzt sofort bei der Gesellschaft auf dem -besonnten Hügel, neben Adolf und Elisabeth. Die -Tante und der Vater treten hinter dem Busch vor, -blicken ihn achtungsvoll an. -</p> - -<p> -Plötzlich steht Phinchen vor Jürgen im Tunnel, -große Liebe im Gesicht. -</p> - -<p> -‚Phinchen, bin ich ein Verräter? Ja oder nein? -Wer hat recht: Katharina oder ich? Sage mir nur -ruhig die Wahrheit. Ich halte alles aus.‘ -</p> - -<p> -‚Sie haben recht, lieber Herr Jürgen. Sind ein -unendlich guter Mensch. Ich weiß, wie sehr Sie schon -als Kind und Jüngling gekämpft und gelitten haben.‘ -Phinchen kniet nieder. -</p> - -<p> -‚Brauchst nicht zu knien vor mir. Ach nein, vor -<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> -mir braucht kein Mensch zu knien.‘ Und er steht im -großen Saale, beherrschte Kraft in Blick und Miene, -begrüßt seine Bewunderer ohne Herablassung und -Hochmut. -</p> - -<p> -Katharina, schneeweiß, schreitet im Tunnel vorüber, -auf die schneeweiße Gruppe der Genossen zu. Des -Hockenden Kopf sank wieder zwischen die Schultern, -tief auf die Brust. -</p> - -<p> -Das Lispeln der Schienen war vernehmlicher geworden. -Die Luft im Tunnel zitterte leise. Jürgen -schluchzte. Warme Tränen rollten. -</p> - -<p> -Die Schienen sangen lauter und stählern. Ganz -plötzlich bebte der Tunnel so stark, daß Wassertropfen -von der Decke fielen. Einer patschte kalt auf Jürgens -Hand. -</p> - -<p> -Er horchte in sekündlichem Entsetzen auf das rapid -stärker werdende Geräusch, sprang auf. -</p> - -<p> -Da knallte der Donnerschlag in den Tunnel. Der ganze -Berg wankte. Die glänzenden Schienen wurden zu roten -Fühlern eines Riesentieres, die Fühler wurden immer -länger, strahlten sausend auf Jürgen zu. -</p> - -<p> -Er rannte ihnen entgegen, den Ausgang zu gewinnen. -Ein ungeheurer Tumult erfüllte zerstörerisch -den Tunnel, umtoste Jürgen und zwang ihn, stehenzubleiben. -„... Bin ich verloren?“ -</p> - -<p> -Die Lokomotive krachte auf ihn los. -</p> - -<p> -Jürgen fühlte, wie seine Haare weiß wurden, gab -sich auf und starb. -</p> - -<p> -Unabänderlich donnerte der Zug auf seiner vorgeschriebenen -Bahn weiter. Das Geräusch wurde mit -einem Schlage hell. -</p> - -<p> -Noch eine Weile sangen die Schienen. Sandkörnchen -fielen in die betäubte Stille. -</p> - -<p> -<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> -Ein Mensch lag im Tunnel auf dem Gesicht. Für -ihn hatte sich zwischen Leben und Tod ein Drittes -eingeschoben, das nicht Leben war und nicht Tod. -</p> - -<p> -Jürgen war bei vollem Bewußtsein und wußte dabei -nicht, ob er noch existiere. Seine Augen starrten -und erblickten nichts. Der Angstgedanke: ‚Wenn -ich jetzt schreie und höre meinen Schrei nicht, bin -ich tot‘, verhinderte ihn, zu schreien. -</p> - -<p> -In dieses zeit-, raum- und vorstellungslose Nichts -hinein erklang, da Jürgen als einziges erdhaftes Ding -plötzlich das rote Tunnellämpchen erblickte, sein -tierisch wilder Schrei nach dem Leben. -</p> - -<p> -Von den Flammen des Lebens emporgerissen, drehte -er sich, den Ausgang zu gewinnen, einigemal im -Kreise und begann schreiend zu rennen, in gieriger -Sehnsucht nach dem wilden Nußbaum, der beim -Tunneleingang stand. -</p> - -<p> -Galoppierte in rasendem Tempo die Dunkelheit -hinter sich und hinein in eine fremde Gegend: Er war -auf der anderen Seite des Tunnels herausgekommen. -In der Höhe stand still die zerfallende Burgruine, -Erker vornübergeneigt, als müsse er jeden Augenblick -stürzen. -</p> - -<p> -Jürgen blickte in das schwarze Tunnelloch zurück, -klopfte dabei automatisch den Kohlenstaub von seinem -Anzug, strich sich über die Haare. ‚Sie werden weiß -geworden sein ... Daran wird Katharina erkennen, -wie ich gekämpft und gelitten habe. Möge sie nur -sehen, wie sehr!‘ -</p> - -<p> -Blickte noch einmal hinein in den Tunnel. „Entronnen!“ -sagte er. „Entronnen!“ Und wandte sich -um. Da war die Welt, fern und nah. Sonne, Blau, -Grün und Fluß. -</p> - -<p> -<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> -Der Herr solle nur über das Großdorf machen. Von -dort aus führe der Weg direkt in die Stadt, sagte die -verhutzelte Häuslerin und schob den ächzenden Schubkarren -weiter, auf dem eine hohe Ladung Fallholz lag. -</p> - -<p> -Jürgen wußte den Weg; er hatte nur gefragt, um -eine Menschenstimme zu hören. ‚Nur wer dem Tode -entronnen ist, der, nur der weiß, was leben heißt ... -O, Anfang! O, Leben! O, Grashalm! O, Glück des -Atmens!‘ -</p> - -<p> -So schritt er aus. ‚Komme, was will – ich lebe!‘ -Als der hohe Backsteinwürfel in Sicht kam, dachte er: -Was sie sagen wird, daß ich mit dem Leben davongekommen -bin? -</p> - -<p> -„Wunderst dich, wie ich aussehe, was? Der Anzug, -das Loch im Knie!“ Und er erzählte. -</p> - -<p> -Sie aber hatte die schwerste Stunde ihres Daseins -erlitten und durchlitten und hatte aufgegeben und -hinweggehen lassen, was nicht zu halten war. -</p> - -<p> -„Kommt der Zug auf mich zugerast“, wiederholte -er. „Es ist total finster. Zermalmt er mich?“ Gierig -suchte er Liebe und Schreck in ihrem Gesicht. -</p> - -<p> -Sie war in dieser Stunde innerlich so grau und alt -geworden, daß sie geglaubt hatte, für den Geliebten -nicht einmal mehr Verachtung empfinden zu können. -Und nun schlug sie, verletzend gleichgültigen Gesichtes, -doch verachtungsvoll zurück: „Wenn man sich eng -gegen die Mauer preßt, was kann da passieren!“ Auch -dies noch ist ja überflüssig. Weshalb sagte ich es. -Weshalb rede ich noch, dachte sie. Und fühlte ihr -wimmerndes Herz. -</p> - -<p> -„Verstehst du denn nicht ...“ -</p> - -<p> -„Ich verstehe dich schon, ich verstehe dich.“ Entschlossen, -auf sich zu nehmen, was unabänderlich war, -<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> -sah sie ihn an, und ihr Blick fragte: ‚Was soll also -jetzt geschehen? Was suchst du noch hier?‘ -</p> - -<p> -„Wie ich nur zugerichtet bin!“ Er zeigte auf das -Loch in der Hose. Und da sie schwieg und weiter -fragte: -</p> - -<p> -„Jetzt wird es Zeit, daß ich mir den andern Anzug -hole ... Wir könnten uns später in der Stadt treffen, -dann in die Redaktion gehen und zusammen nachhause.“ -</p> - -<p> -Und als er fort war, dachte sie doch darüber nach, -ob es keine Möglichkeit gebe, ihn zu halten, ihn zum -Ausharren zu bewegen. ‚Dadurch vielleicht, daß ich -mit rücksichtsloser Klarheit ausspreche, was ist?‘ -</p> - -<p> -Sie setzte sich an ihren Arbeitstisch, blickte blicklos -in das Zimmer, in dem, mächtig wie nie vorher, unvertreibbar -die Vereinsamung stand. ‚Aber er ist sich -ja klar; er kann ja nicht genommen werden wie ein -unklarer Mensch mit phantastisch idealistischen Vorstellungen -und Zielen, dessen Idealismus zersplittert, -sobald er mit der harten Wirklichkeit zusammenstößt. -Jürgen kennt ja die Wirklichkeit, denn er hatte -den Inhalt seines Idealismus in dem Kampfe um den -Sozialismus gefunden.‘ -</p> - -<p> -„Das Bad ist fertig. Die Wäsche habe ich auf den -Stuhl gelegt. Die Schuhe stehen darunter“, sagte, -glückstrahlend, Phinchen zu Jürgen. „Unterdessen -bügle ich den Anzug auf. Er ist noch sehr schön.“ -</p> - -<p> -‚Immer wieder sagte er: Man wird alt ... Und -etwas erreichen will er. Etwas werden. Einfluß gewinnen -und Macht. Er will geachtet sein ... von -denen, deren Achtung entwürdigend ist für den, der -sie genießt ... Genießt. Er will genießen, leben ... -Dies sind auch bei allen anderen die Motive des Abfalls, -<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> -des Verrates an der Idee, ob die Verräter nun -klar oder unklar, Sozialisten oder Phantasten waren. -‚Jeder für sich‘ wird, uneingestanden, ihre Weltanschauung.‘ -</p> - -<p> -Auch als Jürgen, gebadet, in frischer Wäsche und -in dem gutsitzenden, schwarzen Anzug, die Treppe -herunter auf das Wohnzimmer zuschritt, saß Katharina -noch am Tische, reglos. ‚Auch das alles weiß -Jürgen selbst. Deshalb muß und kann nur er selbst -entscheiden ... Er hat entschieden.‘ -</p> - -<p> -„Ja, ich erwarte Besuch. Elisabeth Wagner und -ihre Freundin. Wenn ich gewußt hätte, daß du -kommst, würde ich abgesagt haben.“ -</p> - -<p> -Er stand vor dem gedeckten Kaffeetisch. Ich kann -ja gehen ... Die Freundin wird wohl das schöne -Mädchen sein, das in seiner Jugend ... dachte er -und fragte. -</p> - -<p> -„Ja, sie ist sehr schön und mit dem Herrn Oberstaatsanwalt -verlobt ... Auch dein Schulfreund, Karl -Lenz ... Ist er älter als du?“ -</p> - -<p> -„Zwei Jahre. Er war nämlich so blöd, daß er im -Gymnasium zweimal sitzenbleiben mußte. Aber was -ist mit ihm?“ -</p> - -<p> -„Schon Staatsanwalt geworden! Vor vierzehn Tagen. -Denk an, so jung!“ -</p> - -<p> -‚Das sollte ja auch ich werden. Oder Amtsrichter! -Dem bin ich entronnen.‘ -</p> - -<p> -„Deshalb glaubte ich, Karl Lenz müsse ein besonders -fähiger Schüler gewesen sein.“ -</p> - -<p> -„Das nicht; aber Angehöriger der vornehmsten -Verbindung.“ Jetzt verschwinde ich, dachte er, als -die Wohnungsglocke läutete. Und fragte: „Geht es -dir besser?“ Warf einen Blick in den Spiegel, der -<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> -einen knapp, sorgfältig und schwarzgekleideten Herrn -zeigte. „Die Wäsche, die von mir noch da ist, könntest -du mir schon spendieren“, sagte er, schalkhaft lächelnd. -</p> - -<p> -‚Das Geld hätten wir schon aufgetrieben. Wenn -ihm unser Leben zu ärmlich, zu leer war, wir hätten -etwas besser wohnen, manchmal ausgehen, mehr Bücher -kaufen, im ganzen etwas besser leben können. Der -Ingenieur tut es ja auch. Gewiß ein guter Genosse! -Eine Grenze nach unten, eine Grenze nach oben – -in der Mitte genug Spielraum, nicht so erlebnisarm -zu sein. Verkehr mit einigen sympathischen, klugen -Menschen. Auch eine kleine Reise hin und wieder. -Innere Erfrischung. Jeder braucht sie. All das würden -keine unüberwindlichen Schwierigkeiten gewesen sein ... -Aber das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht. Er hat -den Kampf aufgegeben. Er paßt sich dem Leben -an ... Aber mir, mir, warum hat er mir das angetan. -Warum hast du mir das angetan.‘ -</p> - -<p> -Gesicht neigte sich langsam auf die verschränkten -Arme. Der ganze Körper verzuckte im Weinen. Sie -wimmerte immer den selben Ton. Ließ sich versinken, -ganz und gar preisgegeben dem Schmerze. -</p> - -<p> -Nach einer Weile tappte der Schnauz zu ihr, berührte -sie mit der Pfote. Und da sie reglos blieb, legte -er sich in die Zimmermitte, Kopf auf den vorgestreckten -Pfoten. Drehte hin und wieder, ohne den Kopf -zu heben, die Augen zu ihr hin. -</p> - -<p> -„Plötzlich kommt der Zug angerast ... angerast. -Zermalmt er mich? Wohin springe ich? Es war -total finster.“ -</p> - -<p> -„Allmächtiger!“ rief die Tante. Und Elisabeth: -„Ich wäre vor Schreck gestorben.“ Dabei lächelte -sie und horchte gespannt; ihre grauen Augen schienen -<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> -zu sehen, wie das Eisenungetüm den Menschenkörper -zermalmte. Unter der zarten Haut ihres Halses tickte -der Herzschlag. -</p> - -<p> -Jürgen unterdrückte die Genugtuung und sagte -leichthin, auch er habe geglaubt, seine Haare seien -weiß geworden. -</p> - -<p> -„Und das erzählt er so, als ob er selbst gar nicht -daran beteiligt gewesen wäre“, sagte Elisabeth, mit -anerkennendem Wechselblick zwischen Jürgen und -der Tante, die sich aufrichtete, einen geradeliegenden -Kaffeelöffel geradelegte und glatt heraus sagte: „An -allem ist nur dieses Mädchen schuld.“ -</p> - -<p> -„Aber Tante, sprich nicht von Dingen, die du nicht -verstehst.“ -</p> - -<p> -„Und wenn du überfahren worden wärest!?“ -</p> - -<p> -„Nun, nun, ich brauchte mich ja nur eng gegen die -Mauer zu pressen, was konnte da viel passieren ... -Natürlich“ – und er sah heiter lächelnd Elisabeth -an – „denkt man in so einem Augenblick nicht an das -Nächstliegende.“ -</p> - -<p> -„Das eine weiß ich: dein ganzes Unglück ist dieses -Mädchen.“ -</p> - -<p> -Geschmacklos ist sie nicht, dachte Jürgen, da Elisabeth -sich sofort auf Katharinas Seite stellte durch -ein Lächeln des Einverständnisses mit ihm. „Das -sollten Sie nicht sagen; Katharina ist doch immerhin -ein ungewöhnlicher Mensch, den man nicht mit dem -gewöhnlichen Maße messen darf.“ -</p> - -<p> -„Davon versteht die Tante nichts“, sagte Jürgen -in dem selben Tonfall, wie damals auf dem Hügel -Elisabeth zu Jürgen gesagt hatte, von Literatur verstehe -Adolf nichts. -</p> - -<p> -Warme Sympathie und Achtung für Katharina erfüllte -<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> -ihn und wohltuender Stolz auf sie, die zusammengesunken -und versunken in Schmerz und Vereinsamung -am Tische saß und weinte und nur und immer wieder -das eine dachte: Warum, warum hat er mir das angetan. -</p> - -<p> -Die Tante wurde mutig: „Daran kannst du sehen, -wohin dich diese Beziehung noch bringen würde ... -hätte bringen können. Einfach in den Tod! ... Ein -zu verrücktes, ein ... unordentliches Mädchen, finden -Sie nicht auch?“ -</p> - -<p> -„Sie sollten nicht so streng sein gegen Katharina, -die doch wirklich nicht so beurteilt werden kann wie -irgendein dummes bürgerliches Mädchen.“ -</p> - -<p> -Jürgen zeigte die Miene eines Menschen, der es -sich erlauben kann, Dummheiten anzuhören, ohne -zu widersprechen. Übrigens, auch Elisabeth scheint -keine bürgerliche Gans zu sein, dachte er. -</p> - -<p> -„Nichts als Unruhe, ewige Unruhe kommt dabei ... -würde dabei ... wäre dabei herausgekommen.“ -</p> - -<p> -„Die ist zäh“, sagte Jürgen, kräftig lachend, als die -Tante aus dem Zimmer war, sich umzuziehen für den -Kirchgang. „Die gibt den Kampf nicht so leicht -auf. Jetzt glaubt sie, schon gesiegt zu haben in dieser -Sache, in der sie nie siegen kann. Niemals!“ -</p> - -<p> -Mit einem Blicke nahm Elisabeth den Kampf offen -auf. So daß Jürgen nach langem Blick- und Wortgeplänkel -schließlich fragen konnte: „Und Adolf?“ -</p> - -<p> -„Er ist mir zu dumm. Einfach zu dumm!“ sagte -sie, strahlend vor ehrlicher Überzeugung. Und ob -Jürgen sie begleiten wolle, sie müsse Einkäufe machen. -</p> - -<p> -Auch Katharina ging, in der Hand das in Papier -eingewickelte belegte Brot, das sie abends in der -Redaktion essen wollte, durch die Geschäftsstraße. -<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> -Der Schreck schlug durch ihren ganzen Körper durch. -So stand sie, gedeckt von der kauf- und schaulustigen -Menschenmenge, die, ein geschecktes, langes, vielhundertfüßiges -Tier, langsam an den Auslagen entlang -kroch, und sah, wie Elisabeth Jürgen an der -Schulter faßte, ihn vor ein Spielwarenschaufenster -führte. -</p> - -<p> -An der Art des Nebeneinanderstehens erkannte -Katharina, daß sie schon eine Gegnerin bekommen -hatte, berührte mit der Zungenspitze nachdenklich -ihre Lippen und ging weiter. -</p> - -<p> -Immerzu sah sie die zwei vor dem Schaufenster -stehen, sah Elisabeths zartgegliederte, weiße Hand -auf Jürgens schwarzem Rücken liegen und dachte -sich den deutenden Zeigefinger dazu. ‚Was sie ihm -wohl gezeigt haben mag? Eine Puppe? Ein Schaukelpferd?‘ -</p> - -<p> -Die ganze Straße hinunter interessierte Katharina -sich dafür, auf was wohl Elisabeth Jürgen aufmerksam -gemacht habe, stellte sich die Gegenstände eines -Spielwarenschaufensters vor. Erst als sie mit dem -innern Blick plötzlich des Geliebten Gesicht sah, -stellte sie sich der Hauptsache. Der schneidende -Schmerz zwang sie, Hand auf dem Herzen, stehenzubleiben. -‚Und jetzt? Was ist jetzt? Soll ich ... -soll ich kämpfen um ihn?‘ -</p> - -<p> -Aber das Bewußtsein, daß Jürgen ja nicht ihr, -sondern sich selbst und seiner Hingabe entlaufen sei, -und daß sie, was sie durch den Kampf um ihn gewönne, -nur auf Kosten ihrer Hingabe gewinnen könne, stieß -Katharina hinein in die graue Hoffnungslosigkeit. -</p> - -<p> -Dennoch stand sie zur verabredeten Zeit an der -Straßenecke, gepeinigt von dem Bewußtsein, daß sie, -<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> -in ihrem persönlichen Leben nun so ganz und gar verarmt, -noch die Gebende sein müsse. Denn der Fraueninstinkt -sagte ihr, daß Jürgen nur deshalb für Elisabeth -interessant und begehrenswert sei, weil er mit der als -merkwürdig und unnahbar geltenden Katharina befreundet -war. ‚Wenn sie seine Frau wird, hat er das -mir zu verdanken. Wie entsetzlich!‘ Katharina fror -bei diesem Gedanken. -</p> - -<p> -Sorgfältig gekleidet, durch Bad, reine Wäsche und -durch das Beisammensein mit Elisabeth erfrischt, -schritt er, beherrschte Kraft in den Gliedern, lebensfroh -dem verabredeten Orte zu, sah Katharina stehen, -sah sekündlich den unüberschreitbaren Abgrund, den -seine momentanen Gefühle zwischen ihm und Katharina -aufrissen, blieb stehen, stand an dem Rande -des Abgrundes, der nur gleichzeitig mit diesen neuen -Gefühlen verschwinden konnte, die schon nicht mehr -verschwinden konnten, tappte über den Rand des -Abgrundes hinaus, stand und schritt auf Luft. Wildes, -besinnungsloses Aufsiezustürzen kam in seinen Gang -und falsche Wiedersehensfreude und gleichzeitig Scham -in sein Gesicht. -</p> - -<p> -Sie aber stand, ein Mensch, grau und wissend und -bewußt, und nahm auf sich ihr Schicksal. So blickte -sie ihn an. -</p> - -<p> -„Wie die leben, die Bürger! Die, ah, die wissen -schon, was sie wollen ... Aber was alles sie zusammenredet, -die Tante, du machst dir keinen Begriff ... -Für die ist alles höchst einfach.“ -</p> - -<p> -„Deine Tante will, daß es dir gut gehe; sie will, -daß du Elisabeth Wagner heiratest.“ Sie horchte auf -sein falsch-herzhaftes Lachen und fühlte: Wie weit, -wie weit ist er schon weg. -</p> - -<p> -<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> -„Wahrhaftig, du sagst es. Genau das will sie ... So -ein Unsinn! ... Hab mich aber ganz gut mit ihr unterhalten. -Sie ist nicht dumm, weißt du, und eigentlich gar -nicht bürgerlich ... Ein liebenswürdiges Geschöpf.“ -</p> - -<p> -„Ja, Jürgen, sie ist ein kluges Mädchen, ein liebenswertes -Mädchen.“ -</p> - -<p> -„Kennst du sie denn so gut, weil du sagst, sie sei -ein liebenswertes Mädchen?“ -</p> - -<p> -„Weshalb denn kein liebenswertes Mädchen, Jürgen, -weshalb nicht liebenswert“, sagte Katharina in -schwerem Leid und dachte: Wie wiegen die Worte so -schwer ... fallen wie Blei. -</p> - -<p> -„Sie hat sogar deine Partei ergriffen, hat dich verteidigt.“ -</p> - -<p> -‚Wie ist es möglich, daß er mich so beleidigt.‘ -Die Häuser neigten sich; die Straße drehte sich um -Katharina herum. Sie mußte sich festhalten an Jürgen, -nicht zu versinken in dem schwarzen Nebel vor -ihren Augen. -</p> - -<p> -„Du arbeitest zuviel; solltest dich schonen, etwas -mehr schonen.“ -</p> - -<p> -Da riß ihr Blick, in dem nicht Zorn und nicht einmal -mehr Verachtung war, alle Masken und jede Selbstbelügung -weg und traf ihn so, daß er plötzlich vor der -Tatsache stand. -</p> - -<p> -Seine Stimme war rauh: „Entscheide du!“ ‚Laß mich -leben oder knalle mich nieder; aber entscheide du!‘ schrie, -völlig preisgegeben, sein Wesen. Die Augen glotzten. -</p> - -<p> -Sie schwieg, bewegte den Kopf nicht. Nichts rührte -sich an ihr und in ihr. Ihr Blick blieb blicklos. -</p> - -<p> -Und Jürgen wußte, daß auf der Welt nur er allein -entscheiden konnte, gestand zum erstenmal sich ein, -daß er sich schon entschieden hatte. „Geh, Katharina, -<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> -geh, geh du nachhause jetzt, Katharina.“ Seine -Stimme ertrank in innerlichem Weinen. „Schlafe gut.“ -</p> - -<p> -„Schlafe du auch gut.“ -</p> - -<p> -Das war der Abschied. -</p> - -<p> -Ihr Leben öffnete sich bis in die frühen Kindheitstage. -Sie sah die lange Kette des Leides und der -Hingabe. Sah, was ihr noch verstattet und beschieden -sein konnte. Sie nahm ihr Leben an die Brust. -</p> - -<p> -„Du auch, schlafe du auch gut“, flüsterte Jürgen -immerzu und mußte dem Zwange folgen, immer in die -Mitte der Steinplatten zu treten, mit denen der Gehweg -belegt war. Um nicht auf eine Ritze zu treten, -mußte er drei ganz kleine Schritte machen. „Schlafe -du auch gut.“ Und einen Sprung, da eine große -Platte kam. „Du auch gut.“ -</p> - -<p> -Überquerte halb die Straße, lief zwischen den -Schienen weiter. Die Straßenbahn kam auf ihn zugesaust. -„Entscheide dich! Entscheide dich!“ schrie -er, gepackt von dem Zwange, die Schienen erst verlassen -zu dürfen, nachdem er bis zehn gezählt hatte. -„... zwei ... fünf ... acht, neun, zehn ...“ -</p> - -<p> -„Noch bis fünfzehn!“ schrie er. Zählte: „... zwölf, -dreizehn, vierzehn ...“ -</p> - -<p> -Und erwachte zwei Tage später im Schlafzimmer -der Tante, Kopf und Beine in dicken Verbänden. -Elisabeth saß bei ihm. -</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="chapter" id="VI"> -VI -</h2> - -</div> - -<p class="first"> -Duftlose Blumen standen im Krankenzimmer. -Phinchen trug ihr Glück auf den Zehenspitzen, auch -wenn sie im Keller oder im Dachboden war. ‚Die -<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> -Pflege muß besser sein, als im besten Sanatorium‘, -stand auf unsichtbaren Tafeln. In der Villa wurde -nur noch geflüstert. Wenn die Tante einen Auftrag -zu erteilen hatte, schlich sie, balancierend, auf Phinchens -rund sich öffnenden Mund zu. Jürgen war -unumschränkter Herr und zugleich das Kind im Hause, -wohlbehütet Tag und Nacht. -</p> - -<p> -Im Garten schaffte der Frühling. Wenn Jürgen auf -dem Sonnenbalkon im Liegestuhl ruhte, an warmen -Tagen stundenlang wachträumend vor sich hindöste, -sah er, wie das Sein, das Leben, die Sträucher in sich -leise zuckten, wie ein Blättchen sich aufrollte, der -Sonne entgegen. -</p> - -<p> -Halb fühlte und halb dachte er: Mein Leben steigt -noch einmal von Grund auf an. Eine zweite Kindheit! -Mein Leben rollt sich auf, so sanft, so mild. -</p> - -<p> -Im Halbschlafe ging er über Brücken, immer wieder -von neuem und immer weiter über Brücken. ‚In -dieser Gegend gibts nur Brücken. Nichts als Brücken!‘ -</p> - -<p> -Keine Schärfe war in dem Geschwächten. Kein -Wunsch berührte ihn. Alle Kämpfe, alle Leiden lagen -weit zurück. Katharina lebte ganz verblaßt in blauer -Ferne. -</p> - -<p> -Seine weichen, beglückenden Seelenstimmungen, die -Wohlgefühle der Gesundung und seine unbestrittene -Macht über die Tante, die den Zurückgekehrten wie -einen tausend Gefahren entronnenen, schwerverwundeten -Krieger betreute, erhielten ihren Grundgehalt -von dem Gefühle: ‚Ich habe diese Ruhe mir verdient!‘ -Alles fügte sich widerstandslos ineinander. -</p> - -<p> -„Ich verabschiede mich von Katharina“, konnte -Jürgen ohne Erinnerungsschwierigkeit erzählen, als -er, frei von den Verbänden, heiler Haut und Elisabeth -<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> -am Arme, dem weißgedeckten Kaffeetisch unter dem -Nußbaum zuschritt, „verabschiede mich wie immer: -Gute Nacht, Katharina, schlafen Sie gut. Wie man -eben so sagt, nicht wahr. Schlafen Sie auch gut, antwortet -sie mir. Und ich gehe die Straße hinunter, -beschäftigt mit einem Gedanken, allerdings mit einem -jener entscheidenden Gedanken, – ich nenne sie Mittelpunktgedanken -– die uns das ganze Leben plötzlich -von einer völlig neuen Seite sehen und verstehen -lassen.“ -</p> - -<p> -Auch an dem Unglücksfall ist dieses entsetzliche -Mädchen mit ihren verrückten Ideen schuld, hatte -die Tante, als Jürgen ins Haus gebracht worden war, -zu Phinchen gesagt. Jetzt ließen Angst und Scheu -vor dem Zurückgekehrten nicht einmal die Erinnerung -daran, daß sie dies gesagt hatte, in ihr aufkommen. -</p> - -<p> -Bereit, den Satz nicht zu Ende zu sprechen, sagte -sie vorsichtig: „So tiefsinnige Gespräche sind vielleicht -nichts für einen Rekonvaleszenten.“ -</p> - -<p> -„Die Tante hat ein Kind bekommen. Das päppelt -sie“, spottete Jürgen, der in Gegenwart Elisabeths -nicht als Kind behandelt und nicht bemitleidet sein -wollte. -</p> - -<p> -„Du hast viel gelitten, Jürgen.“ -</p> - -<p> -Sein Blick, in dem Zorn sich schon ankündigte, ließ -die Tante sofort verstummen. Sie häkelte schweigend -weiter an dem Sesselschoner und häkelte weiter an -ihrem Plane. Ihr Bankier hatte sie lachend beruhigt -über den Stand des Bankhauses Wagner; dieses Gerücht -sei nur ein Börsenmanöver der Konkurrenz gewesen. -</p> - -<p> -Zwar ist die Familie Wagner sehr jung, der Vater -des Bankiers noch Häusermakler gewesen, dachte die -<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> -Tante. ‚Die Geschichte der Familie Kolbenreiher -dagegen kann bis in die Anfänge des fünfzehnten Jahrhunderts -zurückverfolgt werden. Aber mit der Zeit -werden auch junge Familien alt.‘ Dabei horchte sie -auf die Stimme Jürgens, der selbst das Gefühl hatte, -selten so mühelos geistvoll gesprochen zu haben. -</p> - -<p> -Von den Zehenspitzen bis zur Schädeldecke voller -Ruhe, blickte sie Jürgen und Elisabeth nach, der kein -Mensch ansehen konnte, daß noch ihr Großvater ein -kleiner, schmieriger Häusermakler gewesen war. -</p> - -<p> -„Und jetzt zeigen Sie mir Ihr Knabenzimmer.“ -</p> - -<p> -„Das liegt aber sehr versteckt, oben, unter dem Dach. -Dort vermutet uns niemand.“ -</p> - -<p> -Sie gab ihm seinen Erobererblick zurück. -</p> - -<p> -„Ich selbst habe es seit vier Jahren nicht mehr betreten“, -sagte Jürgen und betrachtete die ovalen -Photographien der Familie Kolbenreiher, die, zu -einem großen Oval geordnet, über dem schmalen -Kanapee hingen. -</p> - -<p> -Vom Fenster aus sahen sie den Nußbaum und den -Kaffeetisch, wo die Tante, ein winziger, schwarzer -Punkt, häkelnd saß. -</p> - -<p> -Wortlos blickte er Elisabeth an, schritt zur Tür, -schloß ab. -</p> - -<p> -Sie trug ein blaßblaues Seidenkleid, stand mit dem -Rücken gegen das Fenster, die Hände auf das Sims -gestützt. Der Herzschlag tickte unter der zarten, -weißen Haut am Halse. Ihr Haar war blond, heller -an den Stellen, die Luft und Sonne ausgesetzt blieben, -und in den Tiefen gelblichgrün, gleich unreifem Getreide. -</p> - -<p> -Einen kaum bemerkbaren rosa Schimmer im ganzen -Gesicht und den blendend klaren Blick fest auf Jürgen -gerichtet, sagte sie, selbstbewußt die Schulter -<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> -leise zuckend, ihm wortlos, daß es nur geschah, weil -auch sie es wolle. -</p> - -<p> -Und als sie wieder am Fenster stand, Hände aufgestützt, -genau wie vorher, und fragte: „Liebst du -Katharina noch?“ dachte er: Daß sie das nicht vorher -gefragt hat, ist großartig von ihr. „Unsinn! Katharina -lebt sozusagen auf einem anderen Planeten ... -Jetzt müssen wir aber hinuntergehen, sonst merkt die -Tante, was los ist.“ -</p> - -<p> -„Und wenn auch!“ sagte mit aufrichtiger Geringschätzung -dieser Möglichkeit Elisabeth: ein Wesen, -das, ohne viel eigenes Bemühen lebensklug geworden, -ein glatt funktionierendes Gehirn fertig mitbekommen -zu haben schien, Fragen an das Leben, Zweifel, Gefühls- -und Gewissenskonflikte nie gekannt hatte und, -jenseits aller Selbstbelügung, sich und anderen offen -eingestand, daß sie für nichts anderes Interesse habe -als für sich selbst, ihr Leben und ihre Genüsse. -</p> - -<p> -„Du bist großartig. Wer und was immer sich uns -beiden in den Weg stellt, wir werden siegen.“ Sie gingen -in gleicher Höhe auf der selben Fläche einander entgegen -und standen, Körper an Körper, Mund auf Mund -gepreßt, -</p> - -<p> -<a id="br1"></a>während Katharina, zusammengerollt wie ein krankes -Tier, in den Kleidern auf dem Bette lag. Der Fensterladen -war geschlossen, das Zimmer nachtfinster. Nur -ein schneidend dünner Sonnenstrahl lag auf dem Fußboden -und auf dem Strahle der Schnauz. Ihr Gefühls-Ich, -auseinandergerissen, offen, zuckte bei der leisesten -Berührung, bei jedem Gedanken an Jürgen: wenn sie -irgendeinen Gegenstand sah, der ihm gehörte, den -Bleistift, den Schotterstein, ein paar unbrauchbare -Schuhe, die wie immer in der Ecke standen. -</p> - -<p> -<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> -Als gäbe der Instinkt ihr ein, daß sie nur dann -nicht Schaden nehmen würde an ihrer Seele, wenn sie -dem schweren Leid ganz rückhaltlos sich preisgebe, ließ -sie niemand zu sich, keinen Trost; sie betäubte sich -und ihren Schmerz nicht mit Leben, nicht mit Arbeit. -Lag Tag und Nacht auf dem Bett, hineingewühlt -in das Leid, kämpfend um die Genesung, um ihr -Leben. -</p> - -<p> -Jürgen war der erste, war der einzige Mensch gewesen, -dem sie rückhaltlos vertraut und mit dem zusammen -sie der Einsamkeit den Raum verstellt hatte. -</p> - -<p> -Nach drei so durchkämpften Wochen strich Katharina, -an dem Tage, da sie sich schwanger fühlte, zum -ersten Male wieder über den Kopf des bettelnden -Kameraden, der wegen der wochenlangen schlechten -Behandlung sofort vorwurfsvoll zu bellen begann und, -da Katharina ihn schon wieder nicht mehr beachtete, -sich niederlegte, Schnauze auf den Vorderpfoten, in -vergrollendem Vorwurfe. -</p> - -<p> -Noch ein paar Wochen – der Fensterladen war -wieder offen, sie hatte wieder begonnen, zu arbeiten – -hoffte Katharina, Jürgen werde, nachdem er erkannt -habe, daß die Siege, die in dem anderen Lager errungen -werden konnten, entwürdigend und wertlos seien, -zurückkehren zu der Pflicht, die sein Bewußtsein ihm -zum Schicksal mache. -</p> - -<p> -Mit den Monaten und den Tagen immer gleichen -treuen Leidens und immer gleicher treuer Arbeit -entstand in ihr der neue Anfang. Schon konnte es -geschehen, daß Katharina ein Lächeln tiefempfundener -Freude in den Augen trug, wenn sie in eine Arbeiterversammlung -kam und die Sympathie ihrer grüßenden -Genossen fühlte. -</p> - -<p> -<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> -Schon als er noch bettlägerig gewesen war, hatte -Jürgen, einig mit der Tante, daß dies das zunächst -Allerwichtigste sei, sich auf das Doktorexamen vorbereitet. -</p> - -<p> -Weihnachten war die kirchliche Trauung. Jürgen -hatte der flehenden Tante endlich mit den Worten: -„In des Teufels Namen!“ nachgegeben. Und Elisabeth -hatte sich ihre Einwilligung zu einer kirchlichen Trauung -von ihrem Vater abkaufen lassen durch ein Brillantgehänge. -</p> - -<p> -Lorbeerbäume bildeten eine Gasse vom Hochzeitswagen -bis zum Altar, vor dem die Brautleute knieten, -in großem Halbkreise umgeben von den Verwandten -und Bekannten beider Familien. -</p> - -<p> -„Verdammte Komödie!“ flüsterte heiter der Kniende, -und Elisabeth drückte zum Einverständnis Jürgens Arm -und senkte das Haupt, das Lächeln zu verbergen. Das -sah aus, als horche sie ergriffen den Worten des -Geistlichen. -</p> - -<p> -Während der Trauung sang ein Gemischter Chor mit -Orgelbegleitung: „Himmel erhöre, erhöre das Flehen: -Liebe laß walten im Heime der Gatten.“ -</p> - -<p> -Fast alle Damen und Herren, die damals auf dem -Hügel Rotwein und Brathuhn genossen hatten, auch -zwei Universitätsprofessoren, der junge Wissenschaftler, -ein Chefredakteur und einige Künstler, mit denen -Elisabeth Verkehr pflegte, saßen an der Festtafel, -die, in Hufeisenform, die ganze Breite des Wagnerschen -Gesellschaftssaales einnahm und mit zwölf, -aus Treibhausveilchen nachgebildeten, riesigen Hufnägeln -geschmückt war. Diese Idee stammte von -Jürgens Schwiegermutter. -</p> - -<p> -Die Neuvermählten saßen, mit dem Blick in das -<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> -Halbrund hinein, genau in der Mitte des Hufeisens, -so daß ihre Beine den mittleren Haken bildeten, mit -dem das Pferd Funken aus dem Pflaster zu schlagen -vermag. -</p> - -<p> -Wurde am seitlichen Haken von Presse, Wissenschaft -und Kunst ein Witz gemacht in bezug auf die -Neuvermählten, dann langte er, zwinkernd weitergegeben, -sehr schnell beim rechten Seitenhaken an, -wo er in das Gespräch über das mögliche Fallen oder -Steigen eines Börsenpapieres ein Loch riß, das sich -nach zwei Sekunden wieder schloß. -</p> - -<p> -„In bezug auf das Bankfach bleibt meine Weltanschauung: -Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert“, -wiederholte Jürgens Schwiegervater, der ohne erhobenen -Zeigefinger nicht sprechen konnte. -</p> - -<p> -Das Streichquartett spielte auf Wunsch von Jürgens -Schwiegermutter zum zweitenmal die Träumerei -von Schumann. Die servierenden Diener hatten weiße -Handschuhe an. Das Hufeisen dampfte. Nur der -reichste Mann, ein Hütten- und Walzwerkbesitzer, aß -beinahe nichts; er war leberkrank, dottergelb, trank -Brunnen und hatte noch kein Wort gesprochen. Seine -knapp vor dem Sprunge in das volle Leben stehende, -sehr begehrte schöne Tochter legte ihm die sorgfältig -ausgewählten winzigen Bissen vor. -</p> - -<p> -Den beiden gegenüber saß der unförmig dicke -Papierfabrikant Hommes. Der sah beständig aus, als -müsse er jeden Augenblick niesen, und hörte dabei -aufmerksam einem Gummifabrikanten zu, welcher -bewies, daß und warum infolge der schon nicht mehr -schönen Preissteigerung des Rohmaterials ein glattes -Geschäft überhaupt nicht mehr möglich sei. Man -müsse sich winden, nichts als winden. -</p> - -<p> -<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> -Herr Hommes griff langsam nach dem Westenknopf -des Gummifabrikanten, als wolle er sich anklammern, -um beim Niesen nicht vom Stuhle zu fallen, und sagte: -„Wer etwas wirklich Großes erreichen will, der muß -borniert sein.“ -</p> - -<p> -An der Börsianerecke stieg das Wort ‚Montanaktien‘ -und konnte, wie die auf dem Springbrünnchen tanzende, -silberne Kugel, nicht mehr fallen, bis der reiche -Leberkranke den Wasserstrahl abdrehte: „Mit den -Flitzautomobilaktien könnte in nächster Zeit eine -schnittige Veränderung eintreten.“ -</p> - -<p> -„Schnittig“, murmelte Jürgen. Um ihn herum ging -etwas vor, das das Leben zu sein schien. „Das Ganze -ist unerträglich ekelhaft. Wir machen das nicht länger -mit“, flüsterte er. „Ich mache das nicht bis zum -Schluß mit.“ -</p> - -<p> -Der Ausspruch des reichen Leberkranken wurde an -der Börsianerecke auf Hintergründe und Fallen untersucht. -„Wer andern eine Grube gräbt“, vernahm Jürgen. -„Natürlich, erst wägen, dann wagen, das ist -klar.“ -</p> - -<p> -„No, was sag ich!“ rief der Schwiegervater. „Eine -Hand wäscht die andere. So stehts eben auch mit -diesem Papier.“ -</p> - -<p> -Schweinezucht, das wolle er Jürgen gestehen, sei -das einzige, aber auch das einzige, mit dem noch verdient -werden könne, versicherte ein Landwirt, der -wegen seines jugendlichen Aussehens Mühe hatte, -respektabel zu erscheinen. Es ginge ja auch alles so -weit ganz gut. Nicht umsonst habe er die Landwirtschaftshochschule -durchgemacht. Er bringe System -in die Sache. „Aber, sehen Sie, es fehlt einem doch -etwas. Ich weiß selbst nicht recht, was. Man ist unbefriedigt. -<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> -Die Seele, wissen Sie, die Seele, möchte ich -sagen, kommt zu kurz.“ -</p> - -<p> -Der Gummifabrikant versuchte vergebens, den Leberkranken -über die Flitzautomobilaktien auszuholen. -Auch an der Börsianerecke wurde noch gedeutet und -geforscht und behauptet, doppelt genäht halte besser. -</p> - -<p> -„No, was sag ich!“ -</p> - -<p> -„Das Volk will keine Freiheit; das Volk will Brot. -Fressen und Saufen will das Volk, glauben Sie mir“, -sagte Herr Hommes, hinein in Jürgens wutbleiches -Gesicht. -</p> - -<p> -Der gab keine Antwort. ‚Dieser Fettwanst, dessen -Leben in Fressen, Saufen und Huren besteht, könnte, -auch wenn er seine Meinung revidieren müßte, ja -doch keinerlei Konsequenzen ziehen.‘ -</p> - -<p> -Herr Hommes hielt sich an der Tischplatte fest, -warf, geöffneten Mundes, den Kopf in den Nacken, -stieß ihn nach vorn, nieste aber nicht, sondern sagte: -„Sie, ah, Sie werden sehr bald meiner Ansicht sein.“ -</p> - -<p> -Jürgen umklammerte das Handgelenk Elisabeths, -den Wutausbruch zu unterdrücken, während ihr -ganzer Körper vor unterdrücktem Lachen zuckte. -Und dann, hilfsbereit: „Wenn du willst, verschwinden -wir jetzt unauffällig.“ -</p> - -<p> -Da erhob sich Herr Wagner. Er begann seine Rede -mit einer Verbeugung zu dem Platze hin, wo die -Tante, die plötzlich wieder krank geworden und schon -lang nachhause gefahren war, anfangs gesessen hatte. -</p> - -<p> -Er sei sich der hohen Ehre wohl bewußt, die darin -liege, daß seine Tochter dem letzten Sproß der alteingesessenen -Patrizierfamilie Kolbenreiher angetraut -worden sei, sozusagen eingeheiratet habe in die Familie -Kolbenreiher, die schon einmal im fünfzehnten -<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> -Jahrhundert der Stadt einen Bürgermeister geschenkt -habe. Seine Familie hingegen sei noch jung, aber zukunftsreich. -Wie ein junges, gutes Papier! -</p> - -<p> -„Jung und alt verbindet sich miteinander.“ Dabei -käme das Richtige heraus, was unser Vaterland nötig -habe. „Solidität, in Verbindung mit jungfrischem -Wagemut ... Die Fusion ist vollzogen.“ Der Erfolg -werde nicht ausbleiben. -</p> - -<p> -„Und die Ehe? ... Es ist mit der Ehe wie mit der -Spekulation an der Börse. Licht und Schatten! Sonne -und Wolken! Die Aktien steigen und fallen. Das ist -nun einmal so. Es kommt eben darauf an“, rief mit -starker Stimme Herr Wagner, der schon etwas zu viel -getrunken hatte, „in treuer Liebe auszuharren, auch -wenn einmal eine Baisse den Ehehimmel bewölkt ... -Es kommt auch wieder eine Hausse.“ Ja, es sei sogar -besonders wichtig, gerade aus der Baisse Gewinn und -Lehren zu ziehen. -</p> - -<p> -Er hatte sich so in den Vergleich verfilzt, daß auch -das Schlußhoch auf die Neuvermählten zur Hälfte -der Börsenspekulation galt. Alle standen. -</p> - -<p> -Jürgens Gesicht war leinenweiß. Lieber ein gebrochenes -Rückgrat, als ein gebogenes, dachte er, -entschlossen, nicht zu antworten auf die Rede seines -Schwiegervaters. Und da er sich als erster setzte, -Elisabeth mit hartem Griffe neben sich zog, setzten -sich auch die andern. Die Diener reichten schwarzen -Kaffee, Likör und lange Zigarren. -</p> - -<p> -Plötzlich gab Jürgen, ohne zu wissen wem, vielen -Menschen die Hand. „Leben Sie wohl.“ Sein Körper -bewegte sich automatisch von einem zum andern, -endlich auch auf Elisabeth zu. Er reichte ihr die Hand: -„Leben Sie wohl.“ -</p> - -<p> -<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> -Alle brachen in Gelächter aus. Auch Elisabeth war -verblüfft über ihren Mann, der in der Eile und Verwirrung -es fertig brachte, seiner Frau vor der Hochzeitsreise -Lebewohl zu sagen. -</p> - -<p> -Noch einen Augenblick blieben die beiden unter dem -Türrahmen stehen. Da näherte sich Jürgens Ohr ein -rundes Gesicht mit rundgestutztem Bart, goldbebrillten, -zwinkernden Augen und gespitztem Munde, der -flüsterte: „Viel Vergnügen!“ Mit den Armen balancierend, -schlich der Rundkopf auf den Fußspitzen -zum Hufeisen zurück. -</p> - -<p> -Sie reisten zuerst nach dem Süden, wo es im Winter -Frühling ist. -</p> - -<p> -Einige Tage später wurde Katharina von einem -Knaben entbunden. -</p> - -<p> -Nach zehn in Paris und Rom verbrachten Wochen -kamen die Neuvermählten in die südliche Hafenstadt, -die mit ihren Orangenbuden, Bazaren und Säulenkolonnaden, -durchschwirrt von Matrosen, Chinesen, -Negern, vornehmen Fremden, müden Auswanderern -und dem Geschrei in zwanzig verschiedenen Sprachen, -mit dem Salz- und Teergeruch, Sirenengebrüll und -dem Mastgewirr der Ozeanriesen gelb in der Sonne lag, -wie ein dem unendlichen Meere entstiegener, wahr gewordener -Traum eines Knaben, der Eltern, Lehrern, -allen Qualen der Jugend, allen Fesseln und Berufen entfliehen -möchte, hinaus in die unbändige Herrlichkeit. -</p> - -<p> -Sie fuhren in der Droschke, überdacht von einem -rot- und weißgestreiften Riesensonnenschirm, hotelwärts, -vorüber an einer langen, immer neu genährten -Reihe Arbeiter und Arbeiterinnen, die aus der Tabakfabrik -kamen. Blusen und Umschlagtücher waren -farbig, die Gesichter schlaff und fahl. -</p> - -<p> -<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> -Jürgen sah weg. Und konnte dennoch nicht verhindern, -daß er, als sie schon im Zimmer waren, plötzlich -dachte: Da besitzt irgendein Herr Hommes eine -Fabrik. -</p> - -<p> -„In sechsundfünfzig Stunden könnten wir in Afrika -sein.“ Jürgen bekam keine Antwort. Elisabeth war -auf der Ottomane eingeschlafen. -</p> - -<p> -‚Durch dieses Wesen gehen Welt und Dasein in -immer gleich unendlich breitem Strome durch, von -ihr genossen in jeglicher Sekunde, ohne Vor- und -Rückblick, ohne Rücksicht und Bedenken.‘ -</p> - -<p> -Elisabeth atmete tief und ruhig und war schön und -jung und gesund. Die Sonne, gebrochen durch die -herabgelassene Jalousie, zeichnete ein leuchtendes, -gestreiftes Fell auf das Morgenkleid der Schlafenden. -Es war warm. Fernher brüllte die Sirene. Die Mimosen -dufteten. -</p> - -<p> -‚Wie sie atmet! ... Gut, fahren wir nach Afrika! -Nach New York! Nach Indien! Telegramme um Geld! -Einstweilen überhaupt nicht zurückkehren! Komme, -was kommt! Elisabeth würde zu allem Ja sagen, ohne -Besinnen. Ein herrliches, wunderbares, einfach organisiertes -Tier, das lebt, einfach lebt. Bedenkenlos, -glatt und kühl wie ein Fisch. Durch und durch kühl!‘ -„... Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe -erwacht“, summte Jürgen. ‚Nur in der Nacht wird -sie heiß. Da kennt sie keine Grenzen ... Sie ist ein -vorgeschobener Posten der Lebenskraft.‘ -</p> - -<p> -„Es haben zwei ne ganze Nacht zusammen in -einem Bett verbracht – was ham se wohl gemacht?“ -</p> - -<p> -Da sah Jürgen einen Herrn in der Vorhalle eines -großen Pariser Hotels stehen. Der Herr stürzt auf -Elisabeth zu, sitzt mit ihr, beständig schwebend in -<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a> -einer Wolke von Lebenslust, im Theater, in Restaurants, -Boulevard-Cafés, Kabaretts. Tritt in Elisabeths -Schlafzimmer. -</p> - -<p> -Abneigung erfaßt plötzlich den im Sessel lehnenden -Jürgen gegen den Jürgen, der durch Paris und Rom -schwirrt, sich um nichts kümmert, als nur um sich -und seine Genüsse, im Schlafanzug in das Schlafzimmer -Elisabeths tritt, heiter in der Hafenstadt -ankommt. -</p> - -<p> -„Er betäubt sich ... Widerlich! ... Wo kommt der -hin, was wird aus dem, wenn er so weiter macht ... -Das bin nicht ich. Das ist ein ganz anderer“, flüsterte -der im Sessel Sitzende. „Sonderbar. Sonderbar.“ -</p> - -<p> -Bewußt wechselte Jürgen die Blickrichtung, sah -durchs Fenster auf das glitzernde Meer hinaus, um -den andern nicht mehr zu sehen. ‚Auch er ein vorgeschobener -Posten! Das ist die Natur, das Tier, -die Lebenskraft, die den treibt, die ... mich treibt, -sie, die um der Fortpflanzung, der Arterhaltung willen, -die Geschlechter zueinander treibt und, ihr Ziel zu -erreichen, bereit ist, uns Menschen zu ausnahmslos -jeder Schufterei zu veranlassen.‘ -</p> - -<p> -Elisabeth bewegte sich: ihre Hand fand im Schlafe -durch das Morgenkleid durch zu der sich entblößenden -Brust. -</p> - -<p> -‚Und sie hat Erfolg, die Lebenskraft. Denn sie zahlt -als letzten Preis dieses einzigartige Gefühl. Zahlt es -Tieren und Menschen, Frauen und Männern, Katzen -und Katern, Elisabeth und mir. Mögen die andern, -die vielen, verrecken, sie kümmert sich um nichts. -Der Mensch ist noch nicht da. Sie kann nicht warten, -bis der Mensch da ist. Das ist die ganze Erklärung. -Eine naturwissenschaftlich einwandfreie Erklärung!‘ -</p> - -<p> -<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a> -Die Hotelglocke rief zum Mittagessen. Auf den -Zehenspitzen schlich er über den Teppich, berührte -sanft Elisabeths Schulter. Sie erwachte ohne jeden -Schreck, schlug die Augen auf, so einfach, so klar. -‚Sie hat gar keine Untiefen in sich. Sie ist so, -wie sie ist. Im Schlafen, wie im Erwachen und im -Wachen.‘ -</p> - -<p> -Aber das ist noch viel sonderbarer. Wie seltsam! -Das ist unheimlich, dachte der an der Tafel sitzende -Jürgen, weil er jetzt auch den an der Tafel sitzenden, -sich unterhaltenden, lachenden Jürgen beobachtete, -scharf und genau beobachtete. -</p> - -<p> -‚Wir sind also zwei. Ich sehe mir zu. Mir selbst! ... -Aber das bin ja gar nicht ich. Ich sehe ja ... ihm zu. -Bin ich, der zusieht, ich? Oder ist er ich?‘ -</p> - -<p> -„Gut, machen wir!“ Elisabeth hatte gewünscht, -am Abend auf die Höhe zu steigen und zuzusehen, -wie die Sonne ins Meer sinkt. -</p> - -<p> -‚Auf die Dauer natürlich halte ich das nicht aus. -Wir müssen uns vereinigen, eins werden. Wenn wir -uns nicht einigen können, dann muß einer weichen: -der andere oder ich.‘ -</p> - -<p> -‚Du standest schon am Anfang deines Ich.‘ -</p> - -<p> -Wer hat das gedacht? dachte erschauernd Jürgen -und goß dabei Wein ins Glas. „Dir auch?“ ‚Das habe -eben nicht ich gedacht. Hat das der andere gedacht? -Oder ein Dritter?‘ -</p> - -<p> -Er fror im Rückenmark. Gierig leerte er pausenlos -hintereinander zwei Glas Wein. -</p> - -<p> -‚Ich befinde mich offenbar in einem Übergangsstadium. -In einem Entwicklungsstadium. Ich entwickle -mich. Das soll in meinem Alter noch vorkommen. -Ich muß trachten, in ein erträgliches Verhältnis -<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a> -zu mir zu kommen. Denn ich muß ja leben -mit mir.‘ Auch die Stirn hatte sich gerötet. -</p> - -<p> -Nach Sonnenuntergang saßen sie auf der Terrasse -des Hafenrestaurants. Zwei Männer schleppten einen -wassertriefenden Bastkorb voll Austern zwischen den -Tischen durch in die Küche. Straßenhändler boten -den Gästen Kämme, Stickereien, Elfenbeinschnitzereien -an. Der Himmel, die Luft, das Meer, das Leben des -Hafens und der Straße fluteten durch das vornehme -Restaurant durch. Alle Grenzen waren verwischt. -Musik spielte. An der Hausmauer gegenüber wechselten -die kinematographischen Bilder, genossen von der -dicken Menschenmenge. -</p> - -<p> -Sie aßen Austern. Die kosteten nicht viel mehr als -Brot. Tranken eine Flasche Champagner dazu. Ein -kleines, dickes Mädchen, achtjährig, Kastagnetten -in den Händchen, schmale Papierschleifen – blau, rot, -grün – im Haar und auf dem Röckchen, das die nackten, -dicken Schenkelchen freiließ, trat an den Tisch und -begann zu tanzen, sang ein Bordellied dazu, hob das -Röckchen hinten hob das Röckchen vorne, spreizte im -Tanztakt die Beinchen auseinander, mit obszöner -Gebärde. -</p> - -<p> -Ein nach dieser Seite vorgeschobener Posten der -Lebenskraft, dachte Jürgen. ‚Ihr sind alle Mittel -recht, wenn sie nur zum Ziele führen.‘ Er fühlte in -den Gelenken eine Lähmung, die nicht unangenehm war. -Elisabeth strich zärtlich über den Kopf der Kleinen. -</p> - -<p> -Eine Stunde später saß sie, den Rücken Jürgen zugekehrt, -schon entkleidet vor ihren Kämmen und -Bürsten. Das offene Haar leuchtete gelb. Durch den -Spiegel nickte sie Jürgen zu, gab ihrer Schulter einen -Kuß, der ihm galt. -</p> - -<p> -<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a> -‚Ich habe eine schöne Frau.‘ Er streckte sich. -‚In das Leben soll man Grübeleien über Entwicklung -und Dasein nicht hineintragen. Das Leben entwickelt -sich ganz von selbst.‘ -</p> - -<p> -Der Hafen schlief. Das Meer sang gleichtönig, ruhevoll -und groß. Die Mimosen dufteten stärker in die -warme Nacht. Wie in allen Nächten sang auch in -dieser Nacht in der Ferne ein Mädchen. -</p> - -<p> -Eine Fabrikstraße, nebelgrau und doch trostlos -deutlich. Gestalten, einzeln, in Gruppen, in endlosen -Reihen, schritten im Morgengrauen in unabänderlich -vorbestimmter Richtung auf das riesenhafte, graue -Fabriktor zu. Immer neue Millionen marschierten -heran, grau, gespenstisch-lautlos, und verschwanden -im Fabriktor der Welt. -</p> - -<p> -‚Und du standest schon am Anfang deines Ich.‘ -</p> - -<p> -Elisabeth wandte sich um nach Jürgen, der schwer -atmete. Seine Gesichtshaut zuckte und war gespannt, -als habe sie, wie eine Ballonhülle, einen ungeheuren -Atmosphärendruck auszuhalten. Ein Mensch schlief. -</p> - -<p> -Elisabeth berührte den Stöhnenden. Wie ein vom -Tode Erweckter richtete er sich auf. Eine ewige Sekunde -lang war letzte Bereitschaft in seinem Antlitz. -</p> - -<p> -„Dein Gesicht sah gar nicht aus wie ein Gesicht. -Sah aus wie ein Gefängnis, wie eine Faust.“ Sie -schlüpfte zu ihm unter die Decke. „Was träumtest -du?“ -</p> - -<p> -„Weiß nicht. Weiß nicht.“ Er wußte es nicht. -„Wie du duftest!“ Er riß, aus der Tiefe seines Wesens -zurückgekehrt, wild das Leben an sich. -</p> - -<p> -Erst viele Monate nach der Rückkehr – in seinen -Tagen tat sich schon die leere, tote Einsamkeit auf, die -weder durch Genüsse, noch durch Arbeit zu überwinden -<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a> -war – wurde Jürgen in einer großen Gesellschaft -an Katharina erinnert. Adolf Sinsheimer zog -ihn in eine Nische. „Warst du wieder einmal da? ... -Nun, in dem orientalischen Salon! Ich sage dir, da sind -jetzt vier Mädchen! Die sind mit 99½ Salben gerieben. -Die eine sieht übrigens Katharina Lenz verblüffend -ähnlich. Also verblüffend! ... Sie hat ein -Kind bekommen.“ -</p> - -<p> -„Wer hat ein Kind bekommen?“ -</p> - -<p> -„Katharina. Einen Sohn! Die Familie tut, als ob -sie das gar nichts anginge. Frau Geheimrat Lenz -soll vor Gram gestorben sein ... Wann gehen wir -in den Salon?“ -</p> - -<p> -Eine endlos lange Sekunde hatte Jürgen das Empfinden, -in seinem Kopfe kreise mit vertausendfachter -Schnelligkeit Schläfen-sprengend ein kalter Blitz. Das -ganze neue Leben lag in Scherben. Jürgen stieg heraus -aus den Trümmern, die Freitreppe hinunter, schritt, -gestoßen von etwas, das in gleichem Schritt und Tritt -hinter ihm her ging, durch die Stadt. -</p> - -<p> -Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser -kleiner. Unbebaute Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. -Das kleine Fenster hing nah der Erde rot -leuchtend in der Finsternis. -</p> - -<p> -Die Nacht war warm, das Fenster geöffnet. Er -hörte Stimmen, mehrere Männerstimmen, eine Antwort -Katharinas, sah, wie sie, in der Hand einen weißen -Teller, vom Gaskocher zum Waschkorb ging, in dem -der Sohn lag. -</p> - -<p> -Jürgen glaubte den Agitator zu erkennen, der, die -Hand vorgestreckt, etwas zu dem Metallarbeiter sagte. -Vernahm Katharinas Lachen. Das klang so geheimnisvoll -mild in die Sommernacht. -</p> - -<p> -<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a> -Die Schreibmaschine begann zu klappern. Der -Agitator diktierte. -</p> - -<p> -‚Das ist eine Welt für sich ... Welch ungeheuere -innere Veränderung in mir wäre nötig, einzutreten ... -Die Haustür ist nur angelehnt.‘ -</p> - -<p> -Drei Arbeiter traten aus der Tür. Jürgen war verschwunden. -</p> - -<p> -Erst nach Tagen gelang es ihm, sich zu beruhigen -mit dem Gedanken, daß es Katharina vielleicht besser -gehe als ihm. ‚Sie hat nicht diese Scherereien wie -ich. Muß sich nicht mit diesem Gesindel herumbalgen. -Sie hat ihre Genossen. Sie lebt ihrer Idee.‘ In dieser -Zeit faßte er den Plan, ein großes Werk zu schreiben, -betitelt: ‚Volkswirtschaft und Einzelseele‘. -</p> - -<p> -Jürgen hatte den ganzen Vormittag in dem gut -durchwärmten Direktionsbureau gearbeitet. Als er -hinaustrat in den schneidend kalten, schneidend hellen -Wintertag, tränten seine Augen, so daß er einen -Laternenpfahl und den Oberkörper und den Kopf -eines Spaziergängers doppelt und dreifach sah. -</p> - -<p> -In dieser Sekunde hatte Jürgen das erstemal den -Gedanken, daß nicht nur er selbst sondern jeder -Mensch aus mehreren, innerlich tatsächlich vorhandenen -Menschen bestehe, die, wie der mit tränenden -Augen gesehene verdreifachte Spaziergänger, -hintereinander und ineinander geschalt, in den Menschen -steckten, dachten, wahrnahmen, fühlten und -gegeneinander kämpften. -</p> - -<p> -Während er der Trambahnhaltestelle zuschritt, sah -er auf die zwanzig Monate seines neuen Lebens und -seiner neuen Tätigkeit zurück. War von Jürgen, dem -Teilhaber des Bankhauses Wagner und Kolbenreiher, -in Erfüllung seiner Pflicht und Aufgabe, die Interessen -<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a> -des Hauses und der Kunden zu schützen, die -Weisung erteilt worden, an der Börse Papiere zu kaufen -oder zu verkaufen, dann hatte ein anderer Jürgen -klaren Bewußtseins gesagt: Es bleibt eine in alle -Ewigkeit unverrückbare Tatsache, daß dieser Gewinn -ein Teil des Mehrwertes ist, abgepreßt dem Proletariat, -zugunsten des Rentiers Hummel und des -Bankhauses Wagner und Kolbenreiher. -</p> - -<p> -‚Also auch zu meinen Gunsten. Ich also lebe von -dem Mehrwert, bereichere mich an dem Mehrwert, -den andere hervorbringen. Und ich bin mir dessen -voll bewußt.‘ -</p> - -<p> -‚Nicht du bist dir dessen bewußt, sondern ich.‘ -</p> - -<p> -‚Wer ich? Wer ist sich dessen bewußt?‘ -</p> - -<p> -‚Ich! Ich bin schon nicht mehr du.‘ -</p> - -<p> -Es hatte sich anfangs sehr oft ereignet, daß der bewußte -Jürgen ganz über den Teilhaber-Jürgen vorgetreten -war, ihn hinter sich gedrückt, die Schreibfeder -auf das Tintenfaß zurückgelegt und glatt herausgesagt -hatte: „Aber das ist ja Raub, lieber Schwiegervater. -Ich mache das nicht mit, Herr Hummel.“ -</p> - -<p> -‚Und jetzt machte der leberkranke Hütten- und -Walzwerkbesitzer das Geschäft.‘ Auf diesen Worten -schiebt der Teilhaber sich wieder in den Vordergrund, -stemmt die Faust auf den Schreibtisch, gibt seine -Direktiven und denkt: Das Leben ist Kampf. Wer -die Waffen fallen läßt, über den geht es hinweg. So -ist das Leben. Und dem Proletariat, das sowieso -der Leidtragende ist, kann es gleichgültig sein, wer -den Gewinn hat. -</p> - -<p> -‚Aber dir kann es nicht gleichgültig sein.‘ -</p> - -<p> -‚Es ist sogar immer noch besser, ich habe den Vorteil -als der Leberkranke, der nicht einmal weiß, was -<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a> -er tut, keine Ahnung davon hat, daß er sich bereichert -an dem Schweiße und an dem Blute der Arbeitenden.‘ -</p> - -<p> -‚Was der Hüttenbesitzer tut, ist kein Freibrief für -dich. Außerdem wäre es auf jeden Fall für dich, für -dein Selbst, für dein Menschentum immer noch besser, -der andere, der gar nicht weiß, daß er ein Schuft ist, -zöge den Gewinn, als du, der du auf diese Weise rettungslos -erst zum bewußten Schuft und schließlich -auch zu einem ahnungslosen, selbstgerechten Schuft -werden, endlich nur noch Teilhaber, nichts anderes -mehr als ein Teilhaber sein würdest.‘ -</p> - -<p> -Das soll mir nicht passieren. Aber es könnte allerdings -passieren, dachte Jürgen. Und ich müßte auch -dies auf mich nehmen. Das Leben ist hart. -</p> - -<p> -Und plötzlich vernahm er deutlich den Satz: „Die -Massen, eingespannt in das graue Joch, müssen noch -die Lerche hassen, die emporsteigt ins Blau ... Und -dich kümmert es nicht. Das ist es, verstehst du, daß -es dich nicht kümmert.“ -</p> - -<p> -„Hinter dem steckt etwas“, wurde in bezug auf -Jürgen gesagt, wenn er, in knappsitzendem Frack, -beherrschte Kraft in Schultern und Gliedern, beherrschten -Geist in Wort und Blick, in großer Gesellschaft -war, aller Augen auf sich ziehend, genau so, wie er -sich damals in den grünen Bretterzaun hineingesehen -hatte. -</p> - -<p> -Nachdem er im Parteiblatt gelesen hatte, daß nur -durch freiwillige Gaben die Zeitung noch gehalten -werden könne, spendete er eine große Summe und -bekam einen Dankbrief von der Bezirksleitung. -</p> - -<p> -Den Dankbrief in der Hand, wendet er sich um zu -seinem Bewußtsein, das keine Antwort gab. Es war -in dieser Zeit schon etwas getrübt gewesen. -</p> - -<p> -<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a> -‚Ich werde der Arbeiterbewegung auf andere -Weise als früher nützen. Zweifellos kann ich, mit -meinem Einfluß und meinen Verbindungen, der Bewegung -weitaus mehr nützen, als es der Student -konnte, der nichts hatte, nichts war und nichts bedeutete.‘ -Und er legte den Dankbrief in die Schublade. -</p> - -<p> -Der Schwiegervater war eingetreten. Erhobenen -Zeigefingers. „Sowohl der Rentier Hummel als auch -wir haben einen großen Verlust erlitten. Dabei lag -dieses Geschäft doch vollkommen klar. Und wir -hatten unsere Informationen früher als die andern.“ -</p> - -<p> -„Mir war dieses Geschäft zu unsauber.“ -</p> - -<p> -„Die Bank besteht seit fünfunddreißig Jahren. Von -Unsauberkeit keine Spur!“ -</p> - -<p> -Der Teilhaber lehnte sich zurück in den Sessel und -ließ ganz bewußt das Bewußtsein vortreten. Das -war schon trüb wie eine Wasserfläche, auf der ölige -Flüssigkeit irisiert, rückt über den Teilhaber vor und -spricht von Recht, Moral und Gerechtigkeit. „Das -Geschäft war mir zu unmoralisch. Viele kleine Leute -würden durch unsere Schuld ihr Geld verloren haben. -Ich stehe auf dem Boden der Gerechtigkeit.“ -</p> - -<p> -Erst nach einigen Sekunden konnte der staunende -Herr Wagner den Zeigefinger heben: „Der gute Ruf -unseres Hauses wurzelt in der Gerechtigkeit. Aber -sichere Geschäfte einfach nicht zu machen, geht nicht -an. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Du kennst -meine Weltanschauung. Wir haben eine beträchtliche -Summe und obendrein Herrn Hummel, der seit zwanzig -Jahren mit uns arbeitet, als Kunden verloren, weil -du diese scheinbar entwerteten Papiere nicht gekauft -hast. Die ‚Leber‘ natürlich hat sie sofort und samt und -sonders aufgekauft. Der lacht.“ -</p> - -<p> -<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a> -„Das allerdings stimmt“, sagte der Teilhaber, „daß -die kleinen Leute nun trotzdem um ihr Geld gekommen -sind.“ -</p> - -<p> -„No, was sag ich!“ -</p> - -<p> -Es war aber auch schon vorgekommen, daß Herr -Wagner erhobenen Zeigefingers zu seiner Frau hatte -sagen können: „Der Schwiegersohn hat eine Nase, eine -Nase ... Wir Alten können uns zur Ruhe setzen. Kein -Mensch hätte aus der Presse und aus den Reden im -Reichstag herauszulesen vermocht, daß an ein Gesetz -über neue Schutzzölle auch nur gedacht werde. Hast -du etwas von einem Gesetz gelesen, von Schutzzoll? -Nicht die leiseste Andeutung. Aber er, der Junge, -dieser Junge, mit seiner Vergangenheit und seinem Interesse -für Politik, seinen Beziehungen zur Arbeiterbewegung, -die unsereins überhaupt nicht beachtet, hat -zugegriffen zu einem Zeitpunkt, als die geriebensten -Füchse sich noch in Baisse festlegten ... No, was -sag ich.“ -</p> - -<p> -Am ersten Mai des vergangenen Jahres war Jürgen -im Auto in den Demonstrationszug hineingeraten und -steckengeblieben, beschossen von Blicken noch gefesselten -Hohnes und Hasses. -</p> - -<p> -‚In der Straßenbahn kann ich mich ebenso mit -meinen Gedanken beschäftigen. Brauche nicht im -Wagen zu fahren.‘ -</p> - -<p> -Das schon weit nach rückwärts gedrückte Bewußtsein -fand die Sekunde Zeit, zu sagen: Das ist es ja -nicht. Das ist es ja nicht. -</p> - -<p> -Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, -dachte er, stieg aus, ging die zweihundert Schritte -bis zur Villa. Und teilte der Tante, während er die -eingelaufene Post durchsah, nebenbei mit, daß in -<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a> -den zwei Jahren, seitdem er ihr Bankier sei, ihr gesamtes -Vermögen sich schon fast verdoppelt habe. -</p> - -<p> -‚Da irrt er sich. Das gesamte nicht.‘ Sie hatte ihm -nur die schwer zu verheimlichenden Papiere anvertraut -und den größeren Teil ihrer Aktien bei ihrem alten -Bankier gelassen. „Du hast dein Erbe verdoppelt“, -sagte die gelb, zerfallen und schweratmend im Lehnsessel -Versunkene. -</p> - -<p> -Und er erlebte wieder, wie immer, wenn die Tante -das Wort ‚erben‘ aussprach, in Gedanken diese merkwürdige -Viertelstunde in dem roten Plüschsalon der -Konditorei, sah deutlich die drei erregt durcheinander -sprechenden Damen, den kleinen Hut der Jungen, -der nur aus Veilchen bestanden hatte. -</p> - -<p> -„Glaubt, sie sterbe, beichtet nach heftigem Widerstreben -endlich doch dem Geistlichen, daß sie als -zwanzigjähriges Mädchen einen einzigen Fehltritt ...“ -</p> - -<p> -„Wer kann das heute noch kontrollieren, ob es der -einzige war.“ -</p> - -<p> -„... begangen und heimlich einen Sohn geboren -hat. Fragt auch ihren Rechtsanwalt, ob das Kind -Erbanspruch habe.“ -</p> - -<p> -„Wie das Geheimnis dann unter die Leute gekommen -ist ...“ -</p> - -<p> -„Die Pflegerin im Nebenzimmer soll die Beichte mitangehört -haben.“ -</p> - -<p> -„... weiß man nicht genau. Die Menschen können -ja kein Geheimnis für sich behalten.“ -</p> - -<p> -„Sonst würde man diese Geschichte vielleicht überhaupt -nie erfahren haben, wenn die Pflegerin ...“ -</p> - -<p> -„Ganz genau kenne ich die Einzelheiten auch heute -noch nicht“, hatte die Junge gesagt. -</p> - -<p> -„Denken Sie an, siebzig Jahre ist sie jetzt. Und nie -<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a> -hat ein Mensch auch nur den leisesten Verdacht gehabt, -müssen Sie wissen. Das Kind wird ins Ausland -in heimliche Pflege gegeben, müssen Sie wissen ...“ -</p> - -<p> -„Eines Tages entläuft das Kind, geht durch.“ -</p> - -<p> -„Wahrscheinlich, weil es schlecht behandelt wurde, -Sie verstehen.“ -</p> - -<p> -„Die Pflegemutter stirbt.“ -</p> - -<p> -„Auf diese Weise hat man ... Ist verschollen -... nie etwas ... Kein Lebenszeichen mehr! ... von -dem Fehltritt erfahren ... Als ob sie Jungfrau wäre! ... -Ja, was sagen Sie dazu ... Wo mag das arme Kind -jetzt sein.“ -</p> - -<p> -Ein fünfzigjähriger Mann torkelt betrunken, verdreckt, -heruntergekommen auf einer amerikanischen -Landstraße, wirft die Arme, schimpft auf die Welt. -Wird erstochen. Erleidet als Matrose Schiffbruch, ertrinkt. -Krepiert im Berliner Obdachlosenheim. Schuftet -nach dem Taylorsystem in Chicago. Ist Gelegenheitsarbeiter -im Newyorker Hafen. Magistratsschreiber -in einer kleinen deutschen Stadt. Während diesen -drei Damen das Kind gegenwärtig ist wie ein Schweißausbruch, -hatte Jürgen heiter gedacht. -</p> - -<p> -„Das arme Kind muß doch ... Diese Schande für -die bisher so hochgeachtete ... gefunden werden ... alteingesessene -Familie Kolbenreiher.“ -</p> - -<p> -Und war, getroffen von diesem unverhofften Stoß, -beinahe vom Stuhl gefallen. -</p> - -<p> -Nie in ihrem ganzen Dasein hatte die Tante, die nach -der Beichte völlig unerwarteterweise wieder gesund -geworden war, etwas so tief und schmerzlich bereut wie -diese Beichte. Nicht einmal das Jugenderlebnis selbst. -Nie in seinem Leben war Jürgen vor einem Menschen -gestanden, der so bis in die tiefsten Tiefen erschüttert, -<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a> -so fassungslos gelacht hätte wie Elisabeth. Und nie -in seinem Leben hätte Jürgen es für möglich gehalten, -dieses Gefühl der Rührung und Sympathie für die -Tante empfinden zu können. -</p> - -<p> -Auch sie wollte leben. Und wurde nur ein einziges -Mal vom Leben gestreift, dachte er auch jetzt, wie er -die Tante ansah, die einer uralten, zähen, endlich zerfallenden -Eichbaumwurzel glich. ‚Wie hat sie mich -gepeinigt! Wie ganz und gar ist das Geschöpf, ist der -Mensch, der sich damals von dem Geliebten umfangen -ließ, versunken und ertrunken. Welch Dasein!‘ -</p> - -<p> -Seit dem Schlage, den sie selbst der Familienehre -zugefügt hatte, war die Kraft der Tante gebrochen gewesen. -Ihre zwölf Fragezeichen waren weiß geworden. -„Bald erbst du alles“, sagte sie, flackernden Blickes, -richtete den gelben Totenschädel auf. -</p> - -<p> -Und Jürgen dachte: Wenn nicht das Kind eines -Tages doch noch erscheint und sagt: Da bin ich. Der -Erbe bin ich. -</p> - -<p> -Er stieg in den Lift, der eingebaut, fuhr in den -zweiten Stock hinauf, der aufgesetzt worden war, und -dachte dabei an sein Kind. -</p> - -<p> -Immer, wenn er an den Sohn der Tante erinnert -wurde – und dies geschah häufig, denn Elisabeth brach -auch jetzt noch oft in Lachen unvermittelt aus –, -dachte er an den Sohn Katharinas, der Geld zu schicken -er nicht wagte. -</p> - -<p> -‚Zu dem Sohn der Tante, der wahrscheinlich gar -nicht mehr lebt, und, lebte er noch, nicht die leiseste -Ahnung hätte, wessen Sohn er ist, eine Verbindung -herzustellen, wäre leichter als zu meinem Sohne, der -eine Gehstunde von hier entfernt im Waschkorb liegt ... -Oder kann er schon laufen? ... Sie lebt ja tatsächlich -<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a> -auf einem anderen Planeten.‘ „Merkwürdiges Mädchen“, -murmelte Jürgen und trat, da er Elisabeths -helle Stimme vernahm, in den Salon, dessen Tapete -farbig schmetterte. -</p> - -<p> -Zwischen ornamental geschwungenen, riesigen -Schwertlilien und Wasserrosen – blau, rot, violett – -und giftgrünem Schilf auf Goldgrund, der den See darstellte, -versuchte alle Quadratmeter der selbe Faun die -selbe Nymphe zu fangen und konnte sie nie erwischen. -Dreiunddreißig Nymphen hatte Jürgen gezählt. -</p> - -<p> -Der Salon erinnerte ihn an den der Frau Knopffabrikant -Sinsheimer, wo ihn die Furcht vor der Leiche des -Vaters angesprungen hatte. Denn außer den reichgeschnitzten -schwarzen, unverrückbar schweren Eichenholzmöbeln -– zum Platzen dicke schwarzgebeizte -Putten schleppten, himmlisch lachend, ohne jede -Anstrengung riesige Füllhörner von links nach rechts, -oben um die Prachtstücke herum, und die in der Mitte -obenauf sitzenden Putten spielten dazu die Flöte – -standen und lagen auch hier viele singende, musizierende, -miauende, tanzende Hochzeitsgeschenke und -Gebrauchsgegenstände, die nicht benutzbar waren, -darunter ein Riesenkäfig, in dem ein ausgestopfter -Papagei saß, der alles hatte, was er zum Leben -brauchte: Wassernapf, Futternapf, gefüllt mit Wicken -aus Holz, und – beladen mit nagelneuen Birnen, -Trauben, Äpfeln und Pfirsichen aus farbigem Tuch – -die zwei silbernen Tafelaufsätze in Eiffelturmform, von -Frau Sinsheimer als Hochzeitsgeschenk geschickt, genau -so gut erhalten, wie sie sich bei ihrem eigenen -Hochzeitstag eingestellt hatten. Zwei große künstliche -Palmen, auf Ständern mit gelben Storchenbeinen, -verdunkelten das Fenster. -</p> - -<p> -<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a> -„Ich wiederhole: Einem geschenkten Gaul schaut -man nicht ins Maul“, erklärte gekränkt Frau Wagner, -die, während die Neuvermählten auf der Hochzeitsreise -gewesen und die Tante, wegen der unaufhaltsamen -Verbreitung des Klatsches sterbenskrank geworden, -im Bett gelegen war, ganz allein das Einrichten -der Wohnung besorgt hatte. -</p> - -<p> -„In dieser Wohnung gibt es vielerlei Tiere und eine -große Anzahl Fabelwesen, aber keinen Gaul“, versicherte -launisch Elisabeth und sah umher: Vom nie -benutzten Kohlenkasten, schwarz lackiert, auf dem -die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt -war, bis zu dem zwei Meter hohen seidenen Wandschirm, -auf dem ein gestickter, lebensgroßer Storch -das Wickelkissen mit den drei Säuglingsköpfen aus -dem Teiche zog, schwang der Elefant den Rüssel -feierlich-langsam hin und her. Das Ziffernblatt in -seiner Stirn stellte Afrika dar. Diese Uhr hatte Frau -Wagner, nachdem sie bei Frau Sinsheimer zu Besuch -gewesen war, telegraphisch in der Fabrik bestellt. -</p> - -<p> -Arm in Arm verließ das Ehepaar den Salon. Und -das Bewußtsein, das hinter Jürgen herschritt, in -gleichem Schritt und Tritt, sah Katharina, die, in -der Hand einen weißen Teller voll Brei, vom Gaskocher -zum Waschkorb ging, in dem der Sohn lag. -</p> - -<p> -Katharina befand sich in weiter Ferne, aber überaus -deutlich sichtbar; nicht so verblaßt wie damals, -als Jürgen gesundend im Liegestuhl gelegen hatte. -„Das wechselt.“ -</p> - -<p> -„Was wechselt?“ fragte Elisabeth. -</p> - -<p> -„Die Stimmungen wechseln. Einmal ist man ernst, -dann wieder heiter. Ein andermal, ich möchte sagen: -in gespaltener Stimmung.“ -</p> - -<p> -<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a> -„Das Leben würde ja auch zu langweilig sein, wäre -dies anders.“ -</p> - -<p> -Frau Wagner durchblätterte noch das in gepreßtes -Schweinsleder gebundene und mit einem winzigen -goldenen Hängeschlößchen versehene Album, das die -repräsentablen Ahnen der Familie Wagner enthielt. -Herren ließen den Schnurrbart, Bräute das Hochzeitskleid -bewundern. Die Photographieaugen blickten. -Wünsche waren erfüllt. Männer standen aufrecht -im Leben, die Faust auf der Kante des zerbrechlich -zarten Tischchens. Damen, die Frisuren schulterwärts -geneigt, Augen halb geschlossen, zeigten, daß sie ohne -Ideale nicht leben konnten. Kinder standen noch im -Kampf mit der Natürlichkeit. -</p> - -<p> -Frau Wagner schloß das Album: Das zerhackte -Gesicht eines degenüberquerten Studenten in Wichs -kam auf das Gesicht einer alten Frau im Totenbett -zu liegen. ‚So viel Geld und so viel Mühe, und jetzt -sind sie nicht zufrieden mit der Einrichtung.‘ Frau -Wagner sah umher, den Kopf aufgestützt. -</p> - -<p> -Eine halbe Stunde später, als Jürgen vorbeiging, -sah er Frau Wagner noch immer sitzen im Salon, -den Kopf gestützt wie vorher, reglos und traurig. -Der kostbare Reiherhut hatte sich etwas verschoben. -</p> - -<p> -‚Das würde ein zu schwerer Schlag für sie sein. -Wir werden uns eben an die tausend Zentner schwere -Einrichtung und an die Menagerie gewöhnen müssen; -haben uns ja schon daran gewöhnt. Das ist ja auch -unwichtig. Das Leben stellt andere Aufgaben.‘ -</p> - -<p> -Ganz andere Aufgaben! dachte er. Und fand sie -nicht. Fand nichts, das wert gewesen wäre, sich dafür -einzusetzen. Auch heute hatte die tote Einsamkeit, -die um und in ihm stand und das ganze Haus -<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a> -durchdrang, ihn eine Stunde früher als nötig fortgetrieben. -</p> - -<p> -Die Tante war ins Bett gebracht worden. Sinnend -blickte sie in die Richtung der Mutter Gottes; die -gelben, dünnknochigen Finger hielten die geöffnete -Schatulle, in der sie das Verzeichnis ihrer Wertpapiere -aufhob. -</p> - -<p> -Jürgen liebte es, in die Schreinerwerkstatt neben -der Haltestelle einzutreten und, plaudernd mit dem -alten Meister, den Gesellen bei der Arbeit zuzusehen, -bis der Trambahnwagen kam. Eine Schreinerwerkstätte, -die Hobelspäne, der Holz- und Leimgeruch -waren für Jürgen der riechbare und sichtbare Ausdruck -eines einfachen, lebenswarmen Daseins, wie -er es, seitdem er Teilhaber war, für sich gewünscht -hätte. -</p> - -<p> -„Ihre Mutter war noch gar nicht auf der Welt und -von Ihnen selbst, mein Gott, keine Spur, damals, als -mein Vater die Möbel für Ihre Großeltern gemacht -hat. Ich war seinerzeit Lehrjunge, und Ihre Tante -war so ein huschiges Springerchen von zehn Jahren.“ -</p> - -<p> -„Wie war denn meine Tante als Kind?“ fragte -Jürgen, plötzlich wieder von Sympathie ergriffen. -</p> - -<p> -„Da, sehen Sie ihn an: der Sägbock war ihr Reitpferd. -Auf dem selbigen Sägbock ist sie geritten jeden -Tag. Und so manches Mal war sie einfach verschwunden. -Nicht zu finden! Da haben wir sie gar oft aus -den Hobelspänen rausgezogen. Hat sich hineinvergraben, -ganz und gar zugedeckt und ist dann plötzlich -wie ein kleiner Teufel rausgefahren. Wollt nie nachhaus. -Hat gestrampft und geheult ... Wild war sie. -Ein Wildes Kind! Schwer zu erziehen.“ -</p> - -<p> -„Was Sie sagen!“ -</p> - -<p> -<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a> -„Das Leben hat nachher das seine getan ... Da -kommt Ihr Wagen.“ -</p> - -<p> -Jürgen zeigte die Abonnementkarte dem Schaffner, -der lächelnd abwinkte: „Gilt schon! Wir kennen ja -einander.“ -</p> - -<p> -‚Nie hätte ich das gedacht. Ich hätte das überhaupt -nicht für möglich gehalten.‘ -</p> - -<p> -„Mir wenigstens brauchen Sie die Abonnementskarte -nicht mehr zu zeigen. Jetzt fahren Sie seit zwei -Jahren täglich viermal.“ -</p> - -<p> -‚Wenn ein wildes, unbändiges, eigenwilliges Kind -so werden kann, wie die Tante geworden ist, vom -Leben so ruiniert werden konnte, da kann man von -Verantwortung des einzelnen ja überhaupt nicht mehr -reden. Die Verhältnisse sind schuld. Sicher auch bei -Katharinas schöner Jugendfreundin mit dem leidensfähigen, -milden Herzen, daß sie so lala eine Gesellschaftsdame -und die Frau des Oberstaatsanwaltes wurde ... -Oder doch nicht die Verhältnisse? ... Wer könnte -entscheiden, ob ein Mensch die Kraft gehabt hätte, -weiter zu kämpfen und zu leiden, oder ob stärker als -seine Kraft die Verhältnisse und die in ihm lebenden -Begierden waren? Es gehört heutzutage schon sehr -viel Kraft dazu, sich selbst im Leben vorwärts zu -bringen. Wieviel mehr erst, die Sache der Allgemeinheit -auf sich zu nehmen und vorwärts zu bringen! ... -Man setze erst sich selbst durch und stelle dann sich -und seinen Einfluß und seine Macht in den Dienst der -Allgemeinheit.‘ -</p> - -<p> -‚Und was wird unterdessen, während du dich durchsetzt, -so lala mit dir, mit dem Bankier Kolbenreiher, -geschehen?‘ fragte mit schon kaum mehr vernehmbarer -Stimme das weit zurückgedrückte Bewußtsein. Und -<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a> -stieß plötzlich eine grauenvolle Drohung aus, die aber, -von Jürgen nur dunkel vernommen und empfunden, -nicht gleich vordrang bis an den Bezirk des neuen -Bewußtseins, das in diesen Jahren immer häufiger -Sieger geblieben war. -</p> - -<p> -Noch einmal entwand sich die Drohung der tiefsten -Tiefe seines Wesens, stieg empor als Hinweis auf eine -unentrinnbare Todesgefahr, und Jürgen wurde sekundenlang -innerlich gelähmt, so ganz und gar wie in -der vergangenen Nacht, da eine fremde Macht im -Albtraum ihn gelähmt und unwiderstehlich gezwungen -hatte, den Sarg zuzunageln, in dem, noch lebend, er -selber gelegen war. -</p> - -<p> -„Wie lange fahren Sie schon auf dieser Strecke?“ -</p> - -<p> -Und während der Schaffner sinnend „Zehn, nein, -schon elf Jahre!“ sagte, wiederholte in verzweifeltem -Ansturme das zurückgedrückte Bewußtsein zum dritten -Male seine grauenvolle Drohung. Jürgen fröstelte -im Rückenmark, wie damals in der Hafenstadt. -</p> - -<p> -„Bastgeflecht ist sehr praktisch, hält lange, was?“ -</p> - -<p> -„Ja, das gibt aus.“ Auch der Schaffner prüfte mit -seiner starken Hand anerkennend das Bastgeflecht -der Sitzlehne und schritt dabei hinaus auf die hintere -Plattform, legte den Zeigefinger an die Mütze, und -das junge Bureaumädchen schob ihre Abonnementkarte -wieder in das Handtäschchen, sah ernsten -Blickes ihr Leben an. Die Alleebäume flogen nach -rückwärts. -</p> - -<p> -Das sind nur die Nerven, dachte Jürgen, mit bezug -auf die Drohung ... Zwei Jahre! Muß endlich auf -ein paar Wochen ausspannen. Mich erfrischen. Eine -Reise! Das habe ich mir verdient ... Diese warmen -wunderbaren Herbsttage! Das wird schön sein. -</p> - -<p> -<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a> -Als die Allee endete, die Straßen enger, der Wagenverkehr -und der Lärm stärker, die Luft schlechter -geworden waren, setzte das Bureaumädchen sich in -den Wagen, dankte mit ernstem Nicken für den Gruß -ihres Chefs und begann in einem Buche zu lesen. Sie -war die Tochter eines in der Papierfabrik des Herrn -Hommes beschäftigten Hilfsarbeiters und seit ihrem -sechzehnten Jahre in der Buchhaltung des Bankhauses -Wagner und Kolbenreiher angestellt. -</p> - -<p> -Am Vormittag hatte er persönlich die Jahresabrechnung -über das Vermögen der Tante in der -Buchhaltung geholt und dabei das Mädchen zum -erstenmal gesehen. ‚Jetzt sitzt sie genau so in sich -verschlossen da und liest, wie die fünfzehnjährige -Katharina im öffentlichen Parke gesessen hatte. -Der selbe stillbewußte, ernste Blick, wie Katharina -ihn heute noch hat. Nur jünger ist sie. Selbstverständlich -viel jünger! Äußerlich überhaupt ganz anders. -Die Gestalt ist etwas voller. Aber dieser Blick! ... -Neue Jugend wächst heran und nimmt den Kampf -auf‘, hatte er plötzlich gedacht. -</p> - -<p> -‚Hübsch ist sie. Sehr hübsch! ... Nur eine Geldfrage -... Allerdings ein ernstes Geschöpf ... Gerade -deshalb ungewöhnlich anziehend ... Ihrem Chef -würde sie nicht widerstehen können.‘ Er entkleidete -sie. -</p> - -<p> -Eine zwei Zentner schwere, weißhaarige Frau mit -gewaltigem Busen stieg ein, setzte sich Jürgen gegenüber. -</p> - -<p> -‚Der Hilfsarbeiter hat nichts als diese Tochter, die -ihrem Chef gegenüber wehrlos ist.‘ -</p> - -<p> -‚Dafür – für die Verhältnisse – bin nicht ich verantwortlich -... Das Leben brennt, ist wild und schön -<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a> -und da, gelebt zu werden.‘ Und er überlegte, wo und -wie er seine hübsche junge Angestellte verführen -könne. „Weshalb lachen Sie?“ fragte er freundlich -die dicke Frau. -</p> - -<p> -„Das ist jetzt einunddreißig Jahre her“, sagte die -Alte und streckte lächelnd beide Hände vor. „Herr -Kolbenreiher, ich war die erste, die Sie in den Händen -gehabt hat. So groß waren Sie.“ -</p> - -<p> -Alle Fahrgäste lächelten über die alte Hebamme. -Das Mädchen wandte ein Blatt um, sah auf und Jürgen -an, lächelte auch. -</p> - -<p> -„Was tat ich denn? Wie war ich?“ ‚Es geht doch -nicht. Das könnte einen öffentlichen Skandal geben. -Und auch die Autorität ginge flöten.‘ -</p> - -<p> -„Gebrüllt haben Sie. Gebrüllt, sag ich Ihnen, nicht -anders, als ob Sie am Kreuz hingen. Sie wollten nicht. -O, Sie wollten absolut nicht.“ -</p> - -<p> -Auch der Schaffner grinste. „Endstation! ... Genossin, -heut abend ist Bezirksversammlung. Erinnere -auch deinen Vater“, sagte er zu dem Bureaumädchen. -</p> - -<p> -„Es ist aber doch ganz gut gegangen. Sind ein -schöner, großer Herr geworden. Ein prachtvoller -Herr!“ -</p> - -<p> -Leider muß ich auf meine Stellung Rücksicht nehmen. -Ich bin der Chef. Die Autorität muß gewahrt -bleiben, dachte er, während er hinter dem Mädchen -auf die Bank zuschritt. Der livrierte Portier riß die -Tür auf. -</p> - -<p> -„Niemand kann alle seine Wünsche und Begierden -erfüllen. Außerdem ist die Sache die“, sagte, blätternd -im Telephonbuch, Jürgen und bat um die Nummer -Adolf Sinsheimers, „daß ich das selbe ungefährlicher -<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a> -haben kann und sogar ganz bedeutend reizvoller, falls -dieses Mädchen in dem orientalischen Salon tatsächlich -Katharina ähnlich sieht.“ -</p> - -<p> -Heute abend könne er nicht zum Essen nachhause -kommen, teilte er telephonisch Elisabeth mit, die -daraufhin ihrem gegenwärtigen Geliebten, einem Maler, -sofort telephonisch mitteilte, daß sie heute abend wieder -auf eine Stunde zu ihm ins Atelier kommen werde. -</p> - -<p> -Wie damals vor der Animierkneipe, standen die vier -Schulkameraden schon wartend vor dem Portal, das -auf den Nacken zweier marmorierter Gipsherkulesse -ruhte. Adolf hob den Spazierstock wie eine Kerze. -„Ich habe uns schon angemeldet ... Noch die selbe -Wirtin, eine alte Hure! Du erinnerst dich, Jürgen, -wir sind damals vom Korsorestaurant aus hingegangen. -Aber andere Damen! In jedem Zimmer zwei Waschschüsseln! -Dabei doch dezente Aufmachung! Schon -wie in Berlin!“ -</p> - -<p> -Jürgen erkannte das von Säulen getragene, mit Gipsmarmorplatten -ausgeschlagene Stiegenhaus wieder. -Eine flackernde Kerze, eine hohe Frisur, zwei schwarze -Riesenaugen und ein violetter Schlafrock kamen -lautlos die Treppe herunter. Die geschminkte Wirtin -legte sofort den Zeigefinger an den Mund, stieg voran. -</p> - -<p> -„Hols der Teufel, diese Leisetreterei! Warum -knipsen wir denn die Nachtbeleuchtung nicht an!“ rief -in dem Poltertone seines alten Batteriechefs, der ihm -Vorbild war, der Artillerieoffizier. -</p> - -<p> -Die Wirtin legte den Zeigefinger an den Mund. Der -Referendar versteckte seine Brieftasche in der Geheimtasche -des Westenfutters und lächelte. -</p> - -<p> -„Weil eben ein Menschengesicht zu lächeln vermag“, -sagte Jürgen vor sich hin und gedachte mit Erinnerungszärtlichkeit -<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a> -des Jürgen, der damals, um über seine -knabenhafte Unsicherheit wegzutäuschen, die Mädchen -wie ein erfahrener Lebemann begrüßt hatte. Heute -trat er so gelassen in den orientalischen Salon, wie er -als Chef in das Direktionsbureau der Bank trat. -</p> - -<p> -Alles spielte sich nahe den Teppichen ab. Niedrige -Tischchen. Die Mädchen saßen und lagen auf Ottomanen -und auf Polstern am Boden. -</p> - -<p> -„Na, ihr Racker! Brust heraus!“ rief der Artillerieoffizier -in dem Tone seines Batteriechefs und schnallte -gewichtig den Säbel ab, mit den Gebärden eines -Mannes, der nur mit Pferden und Rekruten zu tun -haben will. -</p> - -<p> -„Sagen Sie mal, wie gehts denn! Sind ja ne richtiggehende -Schönheit.“ Adolf hatte sich, seitdem er -Alleininhaber des Knopfexporthauses war, angewöhnt, -schnoddrig wie ein Berliner zu sprechen und sich ganz -so zu benehmen wie seine Vorbilder: die Berliner -Großexporteure, mit denen er in Geschäftsverbindung -stand. -</p> - -<p> -Das auf der Ottomane liegende Mädchen streckte -ihm die Patschhand hin. Auch sie – schwarzhaarig -und bernsteingelb – sah orientalisch aus, kokettierte -lässig mit ihrer weichen Hüfte, die sich aus dem orangefeurigen, -geschlitzten Schlafrock langsam herauswölbte. -</p> - -<p> -„Sind ne süße Krabbe!“ -</p> - -<p> -Jürgen schüttelte den Kopf: ‚Nicht Adolf Sinsheimer, -sondern der Berliner Exporteur spricht.‘ -</p> - -<p> -Der Artillerieoffizier stand, batteriecheffest, auf -gespreizten Beinen, nahm die Mütze ab und wischte -sich ächzend die Stirn, die ganz schweißfrei war und -zweigeteilt: unten tiefbraun, wie das Gesicht, oben -knabenweiß. -</p> - -<p> -<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a> -Sieht aus wie ein alter Kinderschänder, dachte Jürgen, -als der livrierte Diener – stilles, glattes Fuchsgesicht -– den Champagner brachte. Der Diener hatte -zusammen mit der Wirtin die Pension gegründet und -finanziert und bezog die Hälfte des Reingewinnes. -</p> - -<p> -Sie saßen in der gepolsterten Ecke. „Ich komme -dir“, sagte, Schultern zurückgezogen, Kopf vorgestreckt, -das Sektglas unter der Achselhöhle, der Referendar -zu Adolf, dessen Orientalin, Hüfte hochgewölbt, -zusammengerollt in der Ecke lag und mit den -mächtigen, weichen Schenkeln lockte. -</p> - -<p> -„Ein Dutzend Flaschen Rotspon wäre mir lieber -als dieses Weibergesüff.“ Der Batteriechef trank ex, -hieb das zarte Glas auf die Tischplatte, hob mit -rauhbeinig-väterlicher Gebärde die erst siebzehnjährige -Blondine auf seinen Schoß und drückte das -Köpfchen an seine breite Brust. -</p> - -<p> -Der Referendar wählte die Älteste und Schönste, -ein vierundzwanzigjähriges kühles Wesen, das ein -Bankkonto besaß und erst vor zehn Minuten zu einem -Mann, der gerne noch eine Stunde geblieben wäre, -gesagt hatte: „Ich muß tüchtig sein.“ Beide saßen -zurückgelehnt, Arm in Arm. -</p> - -<p> -Der Referendar sprach von Staatsanwalt Karl -Lenz. „... Und nächste Woche hat er einen Mordprozeß. -Wenn es ihm gelingt, ein Todesurteil zu erzielen, -ist seine Karriere gesichert. Dann gehts aufwärts.“ -Er zuckte nach vorne, Sektglas unter der -Achselhöhle: „Ich komme dir.“ -</p> - -<p> -‚Solch ein Staatsschafskopf zu werden wie der, -hat auch mir geblüht.‘ Jürgen mußte lächeln über -das Gebaren seiner Schulkameraden. ‚Nicht der -Referendar A., sondern der Referendar überhaupt, -<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a> -nicht der Knopfexporteur S., sondern der Exporteur -und der Artillerieoffizier überhaupt sitzen hier und -haben Gefühle‘, dachte er. ‚Und später werden nicht -einmal Referendar, Exporteur und der rauhe Artillerieoffizier -überhaupt die Mädchen umarmen, sondern -sie allein, die Lebenskraft, sie ganz allein wird die -Umarmende sein.‘ -</p> - -<p> -Die Flügeltür tat sich auf. Und Jürgen, der sich -soigniert und dabei freimütig benommen hatte wie -einer, der das Leben kennt und ihm seinen Lauf läßt, -wich zurück. -</p> - -<p> -Herein schritt Katharina, reichte spitzig die Hand -und setzte sich neben Jürgen. -</p> - -<p> -Verblüfft betrachtete er den gebogenen Nacken, -den kleinen, festen Mund. Fürchtete sofort, daß er, -wenn sie zu sprechen begänne, diese vollkommene -Illusion verlieren würde. -</p> - -<p> -„Hab ich zu viel versprochen?!“ rief Adolf Sinsheimer, -dessen Hand auf der gewölbten Hüfte der -Bernsteingelben lag. „Na, was hab ich gesagt!“ -</p> - -<p> -Gedankenschnell, plötzlich, ganz plötzlich verwandelte -sich seine Furcht in die atembeklemmende -Furcht, sie könnte auch im Ton der Stimme Katharina -sein. Dann müßte ich diese Schweine niederschlagen, -dachte er erbebend, stellte sich in seinem -Gefühle schützend vor Katharina. Und gleichzeitig -brach in die Gefühlsleere und tote Einsamkeit der -letzten Jahre die Sehnsucht ein mit solcher Gewalt, -daß sein ganzer Körper sekundenlang von Lähmung -befallen war. -</p> - -<p> -Die Augen waren nicht mehr in dem orientalischen -Salon; sahen Katharinas Mädchengestalt. -</p> - -<p> -Sie steht unter dem Gasarm. Sie bewegt sich. -<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a> -Wendet ihm voll das Gesicht zu. Ihre Lippen bewegen -sich. Auch Jürgens bebende Lippen bewegten sich. -Es war, als hätte er in dieser Sekunde wieder das Unfaßbare -des Daseins geschaut. -</p> - -<p> -Die Bernsteingelbe schnellte empor, wiederholte -lachend und so laut, daß alle es hörten, was Adolf -Sinsheimer von ihr verlangt habe für seine Sammlung. -</p> - -<p> -Nicht der bewußte Gedanke, daß er dann Teilhaberschaft, -Stellung und Macht, alles, was er seither -erreicht hatte, aufgeben müsse, führte Jürgens Hand; -die Hand griff ganz selbsttätig zum Champagnerglas. -Er leerte und füllte, leerte und glotzte, leerte. -</p> - -<p> -Auch die andern tranken viel und schnell. Hände -griffen. Mädchen schrien. Wehrten sich und gaben -sich. -</p> - -<p> -Jürgen, total betrunken, empfand nichts mehr. -Füllte. Leerte. Glotzte die Doppelgängerin an, deren -Mund beständig in kaum bemerkbarer Ironie verzogen -blieb. Sie trug die Haare kurz. -</p> - -<p> -Plötzlich schoß ein spitzes Etwas in ihm empor. -Die beiden Wesen verdichteten sich in eines. Schwankend -stand er auf. -</p> - -<p> -Die Paare verschwanden in die nur durch dünne -Kunststeinwände voneinander getrennten Zimmer der -Mädchen. -</p> - -<p> -„Katharina, Wunderbare!“ lallte, plötzlich tränennaß, -der Betrunkene und griff nach der Doppelgängerin, -in deren Gesicht die Ironie unverhohlenem -Widerwillen gewichen war. -</p> - -<p> -Gleichgültigen Blickes ließ sie das Hemd fallen. -</p> - -<p> -„Deine Augen, ach, deine Augen!“ -</p> - -<p> -Körper stürzte sich auf Körper. Vergewaltigtes Gefühl -brach durch und brüllte: „Katharina!“ -</p> - -<p> -<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a> -Der Artillerieoffizier im Zimmer nebenan polterte -auch jetzt: „Na, du kleiner Racker!“ Als ob nicht -er und nicht sein Batteriechef, der ihm Vorbild war, -sondern der schon seit Hunderten von Jahren verweste -Urbatteriechef bei der siebzehnjährigen Blondine -liege. -</p> - -<p> -Das Fuchsgesicht trat in den verlassenen orientalischen -Salon, horchte unbewegten Antlitzes auf -die Geräusche in den vier Zimmern, öffnete das -Fenster und betrachtete die in weiter Ferne im Sternenhimmel -hängenden großen, leuchtenden Glasquadrate -der Malerateliers, die alle im selben Stadtviertel -waren. -</p> - -<p> -Hinter einem dieser leuchtenden Quadrate lag, -blond und schon entkleidet, Elisabeth auf dem breiten -Renaissancebett ihres Geliebten, eines kleinen, geschmeidigen -Südländers, blauschwarz behaart. -</p> - -<p> -Als das Fuchsgesicht die Mokkatassen in den Salon -trug, stand der Referendar im Zimmer schon vor -dem Spiegel und zog sich ihn wieder, genau in der -Mitte, von der Stirn bis zum Nacken. Das Mädchen -betrachtete ihre polierten Nägel, interesselos und eiskalt -den Referendar. Und er, durch den Spiegel, -interesselos und eiskalt sie. -</p> - -<p> -Eine halbe Stunde später schloß das Fuchsgesicht, -Zeigefinger am Munde, leise die Haustür auf und ließ -die Schulkameraden hinaus. Adolf griff an seine -Krawatte, die tadellos gebunden war. Ohne eine -Flasche Rotspon intus zu haben, lege er sich nicht -in die Falle, sagte der Artillerieoffizier. Und Jürgen, -wieder nüchtern, in soignierter Haltung, verbarg ein -Lächeln über das Gehaben des Artilleristen. -</p> - -<p> -Elisabeth lag im weißseidenen Schlafrock lesend auf -<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a> -der Ottomane, reichte ihm frei und liebenswürdig die -Hand, offenen Blickes. Wo er denn herkomme. Sie -war so einfach und frisch wie die große Birne, die, von -Phinchen am Nachmittag im Garten gepflückt, in Reichweite -auf dem Tische lag. Das spitzige Messer lag -daneben. -</p> - -<p> -Diese reine Atmosphäre in meinem Hause, dachte -Jürgen. -</p> - -<p> -„Ich war auch weg heute abend. Eine Stunde bei -den Eltern“, sagte Elisabeth frei und ungezwungen, -so ganz erfüllt von sich und ihrem Selbstrecht auf Genuß, -daß auch diese Lüge wie die reine Wahrheit ihr -von den Lippen ging. Prüfte dabei mit den Fingern -ihre Brustspitzen, die noch rosig waren. Und fragte -wieder: „Weshalb bekomme ich kein Kind?“ Sie -wünschte, viele Kinder zu bekommen. „Und jetzt -habe ich gebadet.“ -</p> - -<p> -„Gut unterhalten? Wie wars bei den Eltern?“, -‚Das übrigens soll mir nicht wieder passieren, daß -ich zusammen mit solchen an Fäden gezogenen Hampelmännern -so wohin gehe ... Alle Menschen werden -an Fäden gezogen. Wer oder was ist es, das im -Mittelpunkt des Lebens hockt und die Fäden zieht?‘ -„Nun?“ -</p> - -<p> -„Immer das selbe! Der Vater sprach von Geld und -von der Börse, von Geld, von der Börse ... Weißt -du, es ist keine Luft mehr dort in der großen Wohnung. -Er kann nichts greifen. Alle Gegenstände weichen -zurück. Er langweilt sich fürchterlich, seitdem -er sich vom Geschäft zurückgezogen hat. Sein Leben -hat keinen Inhalt mehr.“ -</p> - -<p> -„Wie wir das letztemal zusammen dort waren, äußerte -er doch, er möchte ein kleines Gut kaufen und es selbst -<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a> -bewirtschaften. ‚Natur, Natur, Gras, Rüben‘, sagte er. -Weshalb tut er das nicht?“ -</p> - -<p> -„Papa würde auf dem Lande in acht Tagen vor -Langeweile schwermütig werden. Und auch so wird -er schwermütig. Für Bücher, Kunst, Musik, was -unsereinem oft über leere Stunden hinweghilft, interessiert -er sich nicht; davon trennt ihn sein ganzes -Leben, das er auf der Börse zugebracht hat. Für -Frauen ist er zu alt. Bleiben noch die Mahlzeiten. -Aber er darf nur das wenigste essen. Bleibt die Langeweile. -Ich sage dir, bald wird er wieder ins Geschäft -kommen. Er hälts nicht aus.“ -</p> - -<p> -„Altgewordene amerikanische Kapitalisten, die sich -in dieser Lage befinden, verstehen es, sich einen -Lebensinhalt zu verschaffen: Sie werden moralisch. -Was sie jedoch nicht hindert, ihr Vermögen auch -weiterhin sehr geschickt und ertragreich zu verwalten!“ -sagte ironisch lächelnd Jürgen. -</p> - -<p> -Mit einem elastischen Ruck setzte Elisabeth sich -aufrecht. „Vor ein paar Jahren war ich mit den -Eltern in einem Sanatorium. Da war ein großer -Arbeitshof. Die alten Herren Exporteure, Bankiers -und Geheimräte, in Badekostüm, scheußlich fett oder -abschreckend mager und behaart, solche Hängebäuche! -mußten Holz sägen, Sand in Schubkarren -schaufeln. Sie karrten ihn über den Hof in die andere -Ecke, leerten ihn aus, schaufelten den selben Sand -wieder ein, schafften ihn zurück. Aus, ein, hin, her! -Immer den selben Sand! ... Schrecklich! Bei dieser -Arbeit würde ich verrückt werden.“ -</p> - -<p> -„In China wurden Schwerverbrecher damit bestraft, -daß sie derartige sinnlose Arbeiten verrichten mußten ... -Viele, scheinbar ganz normal gewesene Bürger werden -<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a> -ja auch verrückt. Schwermütig und so! Wissen nichts -mit sich anzufangen, treiben sich in Sanatorien und -Nervenheilanstalten herum oder kehren, wie du sagst, -ins Geschäft zurück und treten weiter die Geldmühle, -bis sie an Arterienverkalkung sterben. Diese alten Verdiener! -... Das soll uns nicht passieren, wie?“ -</p> - -<p> -Er ließ sich vor der Ottomane auf ein Knie nieder. -„Glaubst du“, fragte er, Blick in ihrem Blicke, -langsam und lächelnd, „daß ich jetzt noch baden -kann?“ -</p> - -<p> -Im Schlafzimmer hing über dem Doppelbett eine -rote Ampel, auf der ein gläserner Amor kniete. Den -Bogen hielt er noch in den Händchen. Den Glaspfeil -– Richtung Liebespaar –, der bei brennender roter -Ampel blauleuchtend geworden war, hatte Jürgen -schon vor Jahren, gleich nach der Rückkehr von der -Hochzeitsreise, in der ersten Nacht abgebrochen. Es -gäbe Grenzen. -</p> - -<p> -Elisabeth lag schon im Bett, Hände unterm Kopf, -als Jürgen aus dem Bade kam. Lächelnd so im Spiel -des Lebens drehte sie die helleuchtende Nachttischlampe -ab, lächelnd er die andere. Die Ampel glühte -rot auf. -</p> - -<p> -Was ist ein Jahr, wenn jeder Tag dem andern gleicht -und das Leben ohne Härten ist ... Ein Tag nur! -Ein unbewußter Atemzug! dachte Jürgen nach einem -Jahre, das, ausgefüllt mit Arbeit im Bureau, mit -Theaterbesuchen, Bilderkäufen, Mahlzeiten, roter Ampel, -Bureau, im Fluge vergangen war. Die Zeit stand, -so schnell verging sie. Das Vermögen wuchs. Jürgens -Ansehen stieg. -</p> - -<p> -„Du sitzt im Lehnstuhl oder liegst im Bett, und über -Nacht bist du um soundso viel reicher geworden“, -<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a> -sagte Jürgen scherzend zur Tante, die antwortete: -„Du erbst alles.“ -</p> - -<p> -Herr Wagner erschien wieder jeden Tag pünktlich -im Bureau. Grund zum Klagen gab ihm sein Teilhaber -schon lange nicht mehr. „Unser Schwieger ist -ein braver, tüchtiger Mensch. Die Interessen des -Hauses und der Kunden gehen ihm über alles“, konnte -er oft zu seiner Frau sagen, die immer wieder erwähnte: -„Aber, daß sie mit der Wohnungseinrichtung -nicht zufrieden sind, das ist ... also das versteh ich -nicht. Nun, wenn er nur wenigstens im Geschäft tüchtig -ist.“ -</p> - -<p> -Und dies hatte sich wie von selbst gemacht. Allmählich -und unversehens war das Leben zum Gleis -geworden, auf dem Jürgen durch die Jahre rollte. -</p> - -<p> -Er war bekannt als großzügiger Philantrop und -Mäcen, hatte mit unfehlbarem Stilverstande schon -eine ganze Anzahl Antiquitäten und Bilder gesammelt -und sie einstweilen in einem unbewohnten Raum der -Villa verwahrt, denn er wollte das alte Palais, das -auf dem stillen, größten Platze der Stadt stand, erwerben -und nach seinem Geschmacke einrichten. -</p> - -<p> -„Einer sammelt, sein leeres Dasein auszufüllen, -Pfennige, die älter sind, als er selbst, oder kostbare -Werke alter oder hervorragende neuer Kunst, oder -macht Bastelarbeiten, die im Laufe von Jahren ein -faustgroßes Schweizerhäuschen mit Alm, Sennerinnen, -Kühen und fensterlnden Burschen werden“, sagte er -zu einem befreundeten Fabrikanten, der eine Riesenvilla -voll alter, gotischer Holzplastiken besaß. -</p> - -<p> -„Ja, mein Lieber, etwas muß der Mensch doch -haben. Außerdem: ich kaufe billig“, rief der Fabrikant. -„Dann machts Freude. Wer nicht aufs Geld -<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a> -sieht, der natürlich bekommt heutzutage eine tadellose -Sammlung, ganz gleich welcher Art, auch fix -und fertig ins Haus geliefert.“ -</p> - -<p> -„Einer macht Buddhas Wort ‚Geh an der Welt -vorüber, es ist nichts‘, zu seiner Weltanschauung, und -bleibt in seiner Prachtwohnung mit Bad, Warmwasser, -Dampfheizung und allem Komfort. Ein anderer gibt, -vielleicht gar um das Stimmchen zu beruhigen, -Summen für Wohltätigkeitszwecke oder unterstützt -begabte junge Künstler. Ich tue beides und sammle -obendrein“, schloß er in Selbstironie. -</p> - -<p> -Und wenige Monate später sagte er zu dem -selben Fabrikanten: „Die Lebensauffassung des Bürgers -ist folgende: Jeder tue seine Pflicht. Dadurch arbeitet -jeder für jeden. Das greift ineinander. So entstehen -Reichtum und Kultur des Landes, numerierte Häuser, -in denen die Menschen leben, Küchen, Geschirr, -Schränke voll Wäsche, asphaltierte Straßen, Schulen, -Ruhe und Ordnung. Weil jeder seine Pflicht tut. Und -Obdachlosenheime, Polizei, Gerichtshöfe und Zuchthäuser -sind da für diejenigen, die ihre Pflicht nicht -tun ... Schön. Mag sein, daß er recht hat. Unsereiner -aber unterscheidet sich von denen, die geradezu -platzen vor Selbstgerechtigkeit. Denn Wissen und -Geist und Besitz verpflichten zu mehr.“ -</p> - -<p> -Und er legte die Hand auf die Krokodilledermappe, -in der die Notizen zu seinem geplanten Werke ‚Volkswirtschaft -und Einzelseele‘ lagen. Nach dem Essen -las er die Abendzeitung. -</p> - -<p> -Seine Tage rückten auch weiterhin, gesichert und -getragen von Gewohnheit und Achtung, ohne schmerzliche -Ereignisse durch ihn durch und hinter ihn, wie -eine verkehrsreiche Straße vorbeirollt und zurückbleibt. -</p> - -<p> -<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a> -Nur noch in den Träumen stand manchmal das vergewaltigte -Ich auf, schrie seine grauenvolle Drohung, -die nicht mehr bis in das neue Bewußtsein vordringen -konnte. Die Entfernung war schon zu groß, und -zwischen dem drohenden Ich und dem inneren Ohre -Jürgens stand das Erleben vieler Jahre, das, zusammen -mit der Millionenfältigkeit des unausgesetzten Strebens -nach Erfolg, Genuß und Achtung, das neue Bewußtsein -gebildet hatte. Ein fugenloser Schutzwall. -</p> - -<p> -Das Ich drohte. Der Träumende stöhnte. Sah die -graue Straße, auf der die Millionen dem Fabriktore -der Welt zuschritten, grau und gespenstisch-lautlos. -Sah den Gaskocher, neben dem Katharina steht, -kaum bemerkbare Ironie im Blick. Und fleht sie an: -„Laß deine Haare wieder wachsen. Was ist dir denn -geschehen, sag, mir, was ist dir geschehen.“ -</p> - -<p> -Elisabeth blickte kopfschüttelnd das wildverzerrte -Gesicht an, hinter dem das vergewaltigte Ich erfolglos -um sein Dasein rang und Tränen durch die geschlossenen -Lider schickte, weckte den Stöhnenden, -der nicht mehr wußte, was er geträumt hatte. -</p> - -<p> -Erleichtert aufatmend, lächelte er das Leben an, das -neben ihm lag. Im Garten schrien die Vögel. Auch die -tausend Tapetenvögelchen des sonnigen Schlafzimmers -zwitscherten. -</p> - -<p> -„Was bist du für ein Mensch, du lächelst mit Tränen -in den Augen.“ -</p> - -<p> -Und Jürgen, wie er ihren duftenden Kopf sanft zu -sich zog: „So ist das Leben: zum Lachen und zum -Weinen in einem.“ Der Druck war ganz gewichen. -</p> - -<p> -Nach dem Frühstück und dem Bade ging er in -den Garten, sog genießend die warme, aromatische -Luft ein, betrachtete über den Zaun weg des Nachbars -<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a> -frisch gegossene Salatbeete, die funkelnd unter -der Sonne lagen, blieb vor jedem Rosenstämmchen -stehen, freute sich über die kopfgroßen, farbigen -Glaskugeln, die, von der Sonne getroffen, sein Gesicht -daumengroß widerspiegelten, und bekam Lust, an -der Wasserleitung weiterzuarbeiten, die anzulegen er -vor einiger Zeit begonnen hatte, um seinen Garten -mit einer Wasserkunst zu schmücken. Der Arzt hatte -Jürgen körperliche Arbeit anempfohlen. -</p> - -<p> -Das Graben und Schaufeln tat ihm wohl. Die zwölf -auf Stangen steckenden Glaskugeln bildeten einen -Kreis, in dessen Mitte die Wasserkunst steigen sollte. -Die Brunnenfigur, ein lebensgroßer Jüngling in Bronze, -erworben von einem jungen, unterstützungsbedürftigen -Bildhauer, kniete schon, Kopf geneigt, Hände im -Rücken, als wäre er gefesselt, unter dem Schneeballenbusch. -</p> - -<p> -Im Garten nebenan sang der Nachbar die Nationalhymne. -Elisabeth, in leichtem Sommerkleide, sah -vom Liegestuhl aus ihrem gesunden, starken Manne zu. -Phinchen servierte Butterbrote auf dem Tisch unter -dem Nußbaum, unter dem die Tante häkelnd gesessen -hatte. Sie lag im Bett und konnte nicht sterben. -</p> - -<p> -Hemdärmel bis zu den Schultern aufgekrempelt, -die Zigarre im Munde, betrachtete Jürgen zufrieden -seine Arbeit. „Nächstes Jahr werden auch wir ein -Stück Nutzgarten anlegen: Gemüse- und Salatbeete, -etwas Beerenobst. Körperliche Arbeit erhält gesund. -Man muß vorbeugen, weißt du.“ -</p> - -<p> -Vögel huschten von Busch zu Busch. Die Amsel -schnappte einen Wurm aus der frisch aufgeworfenen -Erde, überquerte, nah dem Boden, den ganzen Garten -und verschwand unter dem Schneeballenbusch. -</p> - -<p> -<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a> -Das Zwölfuhrläuten zahlreicher Kirchenglocken vereinigte -sich über der Stadt, strahlte auseinander, hinaus -zu den Gärten. Jürgen legte – wie im Bureau den -Federhalter – pünktlich den Spaten aus der Hand. -Nach dem Mittagessen schlief er. Die Zeitung war -seiner Hand entfallen. -</p> - -<p> -Saß dann am Schreibtisch vor der geöffneten Krokodilledermappe. -Rechts stand eine Miniatur-Schillerbüste, -geschmückt mit einem winzigen Lorbeerkranz, -links der Tintenwischer – ein farbiges Tuchhähnchen -mit Glasaugen – und in der Mitte das Tintenfaß: ein -sich hochaufbäumender Bronzehirsch, auf dessen Geweih -sieben Federhalter lagen. „Nun aber an die Arbeit!“ -rief er und rieb die Hände. -</p> - -<p> -In der Ferne ertönte eine Kindertrompete. Vorsichtig -nahm er den eheringgroßen Lorbeerkranz vom -Haupte Schillers herunter, betrachtete ihn genau, -schob ihn auf seinen Finger, streckte sich, daß der -Körper knackte und der Mund ein eigroßes Loch -wurde, ergriff wieder den Federhalter und sah hinaus, -wo der Sonntagnachmittag stand, der, zerteilt in -Billionen Teilchen, durch das Fenster und durch alle -Ritzen und Wände hereindrang. -</p> - -<p> -„Sogar die Sonne scheint anders als an Werktagen, -und alle Geräusche haben einen anderen Klang. Einen -ekelhaften Klang! Unerträglich! Man ist wehrlos ... -Da stehe ich also sozusagen auf der Höhe des Lebens, -habe keine Sorgen, keine Schmerzen, und weiß nichts -anzufangen mit dieser Höhe ... Sogar die Spatzen -zwitschern Sonntags anders als in der Woche“, sagte, -dunklen Druck in der Brust, Jürgen und öffnete ein -Buch, legte es wieder weg, ergriff den Federhalter. -Plötzlich glaubte er, deutlich gesehen zu haben, daß -<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a> -das Tintenfaß höhnisch gelächelt hatte. „Unsinn!“ -rief er zornig sich selbst zu. -</p> - -<p> -Der Wunsch nach dem Montag, nach der gewohnten -Bureauarbeit und dem gewohnten Aufenthalt in der -Börse huschte durch ihn durch. Jürgen hätte nicht -sagen können, weshalb und wann er an das Fenster -getreten war. Die Fichtengruppe im Garten stand -reglos. Ein hängender Ast störte die Symmetrie. -‚Auch morgen wird dieser Ast genau so wegstehen -und übermorgen auch und auch noch in zehn Jahren. -Dieser stupide Sonntag bringt einen um jeden Gedanken. -Ah! und diese mörderische Zimmereinrichtung!‘ -</p> - -<p> -Der Himmel war gleichmäßig blau und sah aus, als -ob er nie mehr nachtdunkel werden würde. In fernen -Geräuschen schwammen die Töne der Kindertrompete. -Im Garten sang der Nachbar. Jürgen hob die linke -Schulter, hob die rechte Schulter, das linke Bein, das -rechte. Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten -Tanz. Die Glaskugeln standen reglos. -</p> - -<p> -Der hin- und herschwingende Elefantenrüssel im -Salon zog weiße Fäden und blieb schief hängen. Jürgen -sah deutlich den schiefhängenden Perpendikel. -Gähnend und die Hände über dem Kopfe erhoben, -wie ein Gefangener, der unter entsichertem Revolver -abgeführt wird, ging er in den Salon, sah blöd auf den -funktionierenden Perpendikel. -</p> - -<p> -Die Sonntagsgeräusche drangen auch durch das -offene Fenster in das Wohnzimmer, wo Elisabeth sich -langweilte. „Nun, also was? Zu den Alten? Oder -im Park spazierengehen? ... Daß du aber auch -diese unverständliche Abneigung gegen das Autofahren -hast!“ -</p> - -<p> -<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a> -„Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, -Herzchen“, sagte er gähnend. „Übrigens, wenn du -willst, können wir auch fahren. Laß euer Auto -kommen ... Auch langweilig!“ -</p> - -<p> -„Die rosa Studie und mein Porträt hängen schon -seit Donnerstag. Außerdem noch zwanzig seiner -besten Arbeiten.“ Und sie sprach von den großen -Fortschritten, die ihr Geliebter gemacht habe. „Gehen -wir in die Ausstellung!“ -</p> - -<p> -„Warum nicht gleich zum Zahnarzt!“ -</p> - -<p> -„Oder sonst jemand besuchen?“ -</p> - -<p> -Der Schlund der grauen Leere verschlang alle Vorschläge. -</p> - -<p> -„Wen denn besuchen! Die sitzen sicher auch alle -zuhause und wissen nicht, was sie mit sich anfangen -sollen. Ein Glück, daß nicht alle Tage Sonntag ist ... -Gehen wir in den Zirkus! Da tritt heute zum erstenmal -eine Akrobatin auf, die, Kopf voran, weißt du, -aus sechsundzwanzig Meter Höhe herunterspringt in -ein Bassin, das nur vier Meter lang und hundertfünfzig -Zentimeter breit ist. Denk an: dieses winzige Loch in -der Manege und dabei diese riesige Höhe! Unbegreiflich! -Das sollte gar nicht erlaubt werden. Das -Bassin ist mit scharfkantigem Winkeleisen eingefaßt. -Wenn das Mädchen nur um fünf Zentimeter fehl springt, -schlägt es sich Schulter und Arm vom Körper weg. -Aber aufregend wird die Sache sein. Jedenfalls besser, -als hier zu sitzen.“ -</p> - -<p> -Die Zauntür drückte die beiden hinaus. Jürgen -sah zurück in den gepflegten Garten, betrachtete das -glänzende Messingschild, auf dem nur ‚Kolbenreiher‘ -stand, und zog den Hut vor der Tante, die, starr blickend, -wie ein altes Bild im Fensterrahmen schwebte. -</p> - -<p> -<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a> -Nachdem die Akrobatin von dem zehn Meter und -von dem fünfzehn Meter hohen Standplatze aus gesprungen -und wieder am Seil emporgezogen worden -war zu dem sechsundzwanzig Meter hohen Standplatz -dicht unter der Zirkuskuppel, von der aus gesehen -die Manege einem am Boden liegenden Kinderreifen -und das Bassin einem schwarzen Bleistiftstrich -glichen, erklärte Jürgen ausführlich, jetzt liege die -Gefahr sogar noch weniger darin, das schmale Bassin -zu verfehlen, als vielmehr darin, daß das Mädchen -sich durch die gewaltige Wucht des Sturzes den Kopf -auf dem Grunde des Bassins zerschellen müsse, wenn -sie nicht, im Wasser angelangt, im entscheidenden -Bruchteil der Sekunde blitzschnell die Drehung zurück -zur Wasseroberfläche ausführe. -</p> - -<p> -Die Musik schwieg. Das Publikum verstummte. -Die Akrobatin blickte hinunter auf den Bleistiftstrich, -in den hinein sie sich stürzen mußte, breitete -die Arme aus. Frauen sahen weg. Auch Elisabeth -sah weg. -</p> - -<p> -„Langweilig ist das nicht. Du siehst, sogar ein -Sonntagnachmittag kann ausgefüllt werden“, sagte -Jürgen, -</p> - -<p> -<a id="br2"></a>während die Tante mit einer ihr ganz fremden Bangigkeit -die Bibel aufschlug und Sätze las, die, vor -grauen Zeiten ersonnen, oft von ihr gelesen, gehört, -ausgesprochen und gesungen, ihr auch jetzt nichts sagten. -Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, litt unter -der Angstbeklemmung, daß dann alle sie betrachten -würden und sie vielleicht ein ganz anderes Gesicht -haben werde als sie habe. -</p> - -<p> -Und während der Mädchenkörper in der Luft eine -weiche Drehung machte und, Kopf voran, Hände wie -<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a> -betend zusammengelegt, gleich einem bleiernen Fische -an der obersten Galerie und an der erhöht sitzenden -Musikkapelle vorbei senkrecht in die Tiefe stürzte, -dem schwarzen Strich und dem rapid größer werdenden -Sägmehlkreis in verzehnfachter Schnelligkeit entgegen, -blickte die Tante noch einmal auf das breit vor ihr -liegende Land hinaus, das in der Ferne schon von der -rötlichen Dämmerung genommen wurde, und schaukelte -plötzlich in sich zusammen. -</p> - -<p> -„Die hocken immer zuhause, die Alten. Sicher -würden auch sie sich hier unterhalten und zerstreuen“, -sagte Jürgen in den Beifallssturm hinein, während die -Tante, unveränderten Gesichtes, bewußtlos auf dem -Boden lag. -</p> - -<p> -Der Arzt wurde geholt, machte einen Aderlaß. Die -Tante erholte sich. Um zehn Uhr lagen alle drei im -Bett. Elisabeth stand noch einmal auf, ein frisches -Nachthemd anzuziehen. Und als sie aus dem alten -herausgestiegen und in das frische noch nicht hineingeschlüpft -war, ließ Jürgen, an die Gewohnheit gespannt -wie ein Pferd an die Droschke, die rote Ampel -aufleuchten. -</p> - -<p> -Am andern Tage, einige Stunden vor ihrem Ableben, -bekam die Tante noch Besuch. Auf dem Tablett -lagen schon siebenundzwanzig Orangen. Atembenommen, -schon schwarz beschattet vom Tode, hatte die -Tante hocherfreut für die Früchte gedankt. -</p> - -<p> -Auf fünf Uhr war der Geistliche mit den Ministranten -bestellt, die letzte Ölung zu erteilen. Die Sterbende -überwand ihre tödliche Schwäche und richtete sich -noch einmal auf im Bett. „Vielleicht spreche ich jetzt -das letztemal mit dir, Jürgen.“ -</p> - -<p> -„Du stirbst nicht, Tante, Unsinn!“ -</p> - -<p> -<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a> -„... letztemal mit dir. Ich habe immer meine -Pflicht getan. An dir, Jürgen, und überhaupt. Vor allem -an dir! Du bist ein geachteter Mann geworden. Das -hast du zum Teil auch mir zu verdanken. Weißt du -noch, wie das kam? ... Ein sehr geachteter Mann!“ -</p> - -<p> -Alles Blut verließ Jürgens Gesicht. Sie bemerkte -seine Blässe und Verwirrung nicht, schilderte, mühsam -stammelnd, wo er hingekommen wäre, wenn er das, -was er Opferbereitschaft und Hingabe genannt habe, -weiter verfolgt hätte. „So aber kann ich ruhig sterben.“ -</p> - -<p> -Jürgen hörte nichts mehr. Sie zog seinen Kopf -neben sich auf das Kissen, nahm ihm das Wort ab, -daß er auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen -werde. „Merke dir: was man einem Sterbenden in -die Hand verspricht, muß man halten.“ -</p> - -<p> -Jürgen wußte nicht, was er versprochen hatte. Vergangenheit -und Gegenwart stürzten ineinander. Er -hörte auch nicht, daß die Tante von ihren bisher verheimlichten -Aktien sprach. -</p> - -<p> -„Diese Wertpapiere darfst du nur dann verkaufen, -wenn mein Bankier dazu rät. Vor allem: Lasse die -Hypotheken auf den großen Häusern stehen! Und lasse -nicht so viel herrichten! Reparaturen und Handwerker -kosten Geld.“ -</p> - -<p> -„Da muß ich ja Hypothekenzinsen bezahlen“, sagte -Jürgens Mund vom Kissen weg. -</p> - -<p> -Ihre Hand blieb auf seinem Kopfe. „Aber die Grundbesitzsteuer -ist viel höher als die Zinsen, die man für -Hypotheken bezahlen muß. Deshalb belastet man ein -Haus so hoch wie möglich mit Hypotheken“, erklärte -sie, unterbrochen von Atemnot, „legt das Geld in -Wertpapieren an und bezahlt mit den Zinsen die -Hypothekenzinsen. Dafür hat man keine Grundbesitzsteuer -<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a> -zu zahlen, weil einem die Häuser gar nicht gehören.“ -</p> - -<p> -„Unsere Häuser gehören mir nicht?“ -</p> - -<p> -„Nur scheinbar nicht! Man besitzt sie nur scheinbar -nicht.“ Sie konnte vor Schwäche nicht mehr -sprechen. -</p> - -<p> -Die Flurglocke hatte geläutet. Weihrauchduft drang -ins Zimmer. Jürgen wollte die Tante beruhigen, war -aber so verwirrt, daß er sagte: „Also mit den Zinsen -von den Wertpapieren bezahle ich die Grundbesitzsteuer.“ -</p> - -<p> -„Nein, die Hypothekenzinsen!“ -</p> - -<p> -„Aber es gibt doch viel bessere Kapitalsanlagen. -Weshalb soll ich denn ...“ -</p> - -<p> -„Laß dirs von meinem Rechtsanwalt erklären.“ -</p> - -<p> -„... soll ich denn unbedingt Hypotheken aufnehmen, -wenn ich Geld und Wertpapiere besitze, die viel -besser ...“ -</p> - -<p> -„Rechtsanwalt“, flüsterte die Tante. -</p> - -<p> -Der Geistliche und die Ministranten traten ein. Das -Weihrauchfaß überquerte dreimal das Bett. „Vor der -Pforte der Hölle bewahre ihre Seele. Dominus vobiscum. -Et cum spiritu tuo.“ -</p> - -<p> -Die ganze Villa roch noch nach Weihrauch, als -Jürgen, im Gehrock und schwarz behandschuht, von -der Beerdigung zurückkam. Das weiße Taschentuch -in der einen, den Zylinder in der rechten Hand, so -am Rande gefaßt, daß er einen Gummiball hätte auffangen -können, stand er im Sterbezimmer. -</p> - -<p> -Auch eine Woche später, nachdem ihm vom Rechtsanwalt -schon eröffnet worden war, daß die Tante das -dreifache an erwartetem Barvermögen hinterlassen -hatte, stand noch ein schwacher Weihrauchduft in -<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a> -den Zimmern und erinnerte Jürgen an des Vaters -Todestag, an die Seelennot, Unsicherheit, an die -Kämpfe der Jugend, auf die er, stehend nun auf dem -festen, breiten, gefahrlosen Boden der Gegenwart, -lächelnd zurückblickte. -</p> - -<p> -Da unten taumelt ein empfindsamer Jüngling umher, -getroffen von einem Worte, in Verzweiflung und Leid -versetzt durch einen Blick. In ununterbrochene -Qualen gestellt durch das Leben, wie es ist. Durch -eine jugendliche Sehnsucht nach unerfüllbaren Idealen -und nach der Wahrheit, die es nicht gibt, streift den -Jüngling sogar öfters der Tod ... Hier sitzt der Mann -im Sessel. In Sicherheit. Unverwundbar. Und nicht -eine Sekunde der Gegenwart wird ihm, wie früher, -vergällt und gestohlen von der Sehnsucht nach dem -Unerreichbaren. -</p> - -<p> -‚Und sogar aus dem Sozialismus, aus dieser grauen -Sackgasse, in der ich vier Jahre steckte, habe ich -wieder herausgefunden ... Jetzt wenn der Vater mich -sehen könnte, er würde nicht mehr sagen: Na, du -schmähliches Etwas!‘ -</p> - -<p> -An dem großen Gesellschaftsabend des Herrn Papierfabrikanten -Hommes, der ersten Festlichkeit, die -Jürgen nach dem ereignislos vergangenen Trauerjahr -besuchte, ließ ein früherer Mitschüler, der als naturalisierter -Engländer zwanzig Jahre ununterbrochen in -den englischen Kolonien gelebt und eine große Baumwollexportfirma -gegründet hatte, sich dem Bankier -Jürgen Kolbenreiher vorstellen, der auch auf diesem -Feste für viele der Mittelpunkt war. -</p> - -<p> -„Wie erging es Ihrem Herrn Bruder? Ich habe -nämlich zusammen mit Ihrem Herrn Bruder das -hiesige Gymnasium besucht ... Verzeihung, ich weiß -<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a> -ja nichts. Bin ja ohne jeden Kontakt gewesen“, -setzte der Engländer sofort hinzu, als er Jürgens betroffen -fragenden Blick bemerkte, und entschuldigte -sich, da er durch seine Frage offenbar eine schmerzliche -Erinnerung wachgerufen habe. -</p> - -<p> -Jürgen hob die Schulter. Seine Augen suchten. -„Ich habe keinen Bruder.“ -</p> - -<p> -Aber solch einen Streich könne sein Gedächtnis ihm -doch nicht spielen; er sei ja jahrelang mit einem Mitschüler -Kolbenreiher in dem selben Klassenzimmer -gesessen. „Ich sehe ihn heute noch leibhaftig vor mir. -Ein schwärmerischer Jüngling, höchst eigenartig! Ein -liebenswerter, ein sehr gefährdeter Mensch, dachte -ich noch oft in späteren Jahren ... Er war also nicht -Ihr Bruder? Offenbar eine Namensgleichheit!“ -</p> - -<p> -Die glänzenden Toiletten, der Kronleuchter, Streichquartett, -Champagnertischchen schwankten. Jürgens -Gesicht fiel ein, war grau geworden. „Habe ich mich -denn so verändert, so furchtbar verändert, daß Sie in -mir ... in mir jenen gar nicht mehr zu erkennen vermögen?“ -</p> - -<p> -„Also Sie selbst!“ rief, freudig erstaunt, der Engländer. -„Das hätte ich, das allerdings hätte ich nie -vermutet. Ich gratuliere, gratuliere wirklich von -Herzen ... Wie man sich irren kann! Ich habe nämlich -gedacht – in den Kolonien ist unsereiner ja recht -einsam und denkt viel an die Jugendzeit zurück – -habe oft gedacht, dieser Mensch wird entweder ein -ganz abseitiges Leben führen, vielleicht auch irgendeine -große Tat vollbringen, wenn die Situation das -zuläßt – im Krieg und so – oder er wird zugrunde -gehen. Und nun – wie ich mich freue! ... Übrigens -nur ein Beweis mehr dafür, wie sehr die Menschen, -<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a> -alle Menschen, sich mit den Jahren verändern, sich -innerlich sozusagen festigen!“ -</p> - -<p> -An diesem Abend betrank Jürgen sich so, daß er -in das Fremdenzimmer des Herrn Hommes gebracht -werden und Elisabeth allein nachhause fahren mußte. -Nach einer mehrwöchigen Reise, ziellos in Europa -umher, saß er wieder im Direktionsbureau. Im Nebenraum -unterhielten sich zwei Bankbeamte. -</p> - -<p> -Vor einem Jahre sei er an den Alimenten noch unverhofft -vorbeigekommen. Das Kind sei gestorben. Aber -kürzlich sei sein Mädchen wieder Mutter geworden. -</p> - -<p> -Auch Elisabeth war schwanger. Jürgen freute sich -auf das Kind, stellte sich vor, wie es aussehen, ob es -ihm oder ihr gleichen werde. Blauäugig? Oder braun? -dachte er. Und horchte auf die Worte des Beamten, -der seinem Kollegen genau vorrechnete, wie wenig -ihm von seinem Gehalte bleiben werde, nach Abzug -der Alimente. „Das halte ich nicht aus.“ -</p> - -<p> -Gewandt schlüpfte der Beamte in sein elegantes -Mäntelchen. „Heute feiere ich Abschied von der -Jugend. Ich heirate. Sie hat nichts, ich habe nichts. -Sechs versilberte Kaffeelöffel sind der Grundstein -unseres Glückes.“ -</p> - -<p> -Er steckte ein Veilchensträußchen ins Knopfloch. -„Extra für heute gekauft. Leichtsinnig, was? ... -Vor diesem Glück habe ich jetzt schon Angst. Du -schläfst Nacht für Nacht neben und mit deiner Frau. -Immer mit der selben! Du siehst sie halb angezogen, -unfrisiert, im Schlafrock – wenn sie einen hat –, -ißt mit ihr, sprichst mit ihr. Und nicht nur von Veilchen -und Tanz, mein Lieber! Das Prickelnde ist bald -dahin. In jeder Ehe! Man gewöhnt sich. Dann liebt -man eben außerhalb herum, wie? ... Aber kann -<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a> -denn ich mir das leisten, bei meinem Gehalt? Du mußt -Blumen kaufen, die Zeche bezahlen. Am Ende bestellt -sie sich auch noch etwas zu essen. Das kostet -dann ein Heidengeld ... Unserem Chef natürlich, -dem jungen Chef mit der gespickten Brieftasche und -dem Scheckbuch, dem kann die Gewohnheit nichts -anhaben. Der kann sich jede kaufen. Unsereiner aber -muß, wenn er heiratet, glatt Abschied nehmen von -der Jugend.“ -</p> - -<p> -Mir also, meint er, kann die Gewohnheit nichts anhaben, -dachte Jürgen noch in der Straßenbahn, suchte -zuhause Elisabeth in allen Räumen und fand sie -endlich im Schlafzimmer, wo sie erblaßt auf dem Bettrand -saß. Ihr Leib stand stark vor. -</p> - -<p> -Tagelang schrie Elisabeth in Schmerzen, schrie die -lange Nacht durch, in den trüben Morgen hinein, bis -der Arzt sie von einer toten Frühgeburt entbunden -hatte. -</p> - -<p> -Die blutigen Messer und Geburtszangen lagen noch -auf dem Tisch. Der schweißtriefende. Arzt wollte ein -letztes Mittel anwenden, die Entbundene zu retten, -da stieß sie ihn weg von ihrem zerrissenen Leib. Ein -neuer Blutstrom schoß ins Bett. Der Arzt breitete -ein Tuch über die verwüstete Tote und ließ die Arme -sinken, ging hinaus in den herbstlichen Garten zu -Jürgen. Der Himmel hing voll Regen. Der Garten -war naß, die Luft kalt. -</p> - -<p> -Einige Tage später – Elisabeth war schon begraben, -Jürgen umwickelte Rosenstämmchen mit Stroh – -sagte er leise vor sich hin: „Das Geld ist mir doch -sicher ganz gleichgültig. Wie kam ich nur auf diesen -abscheulichen Gedanken?“ -</p> - -<p> -Der Gedanke war, flüchtiger als ein Vogel, der den -<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a> -Blick schneidet, gleichzeitig mit anderen Gedanken -aufgetaucht und wieder verschwunden. ‚Da das Kind -tot ist, fällt die Mitgift mir zu.‘ -</p> - -<p> -‚Ein böser Gedanke. Enthält aber eine juristisch -einwandfreie Tatsache ... Kein Mensch hat die -Macht, das Entstehen eines Gedankens zu erzwingen -oder zu verhindern.‘ Er sah empor zur beschädigten -Dachrinne, von der dicke Tropfen schnell hintereinander -herunterfielen, immer auf die selbe Stelle, -wie damals im Rattenhof. Hing die Bastfäden über -einen Ast und rief Phinchen zu, sie müsse den Spengler -holen. „Die Dachrinne ist leck. Siehst du, dort oben.“ -</p> - -<p> -Jahrelang trug Jürgen sich mit dem Gedanken, -wieder zu heiraten. Auch der Schwiegervater redete -ihm zu, nannte sogar einige Töchter vornehmer Familien. -Er solle endlich das Palais kaufen, hübsch -einrichten. Repräsentieren. -</p> - -<p> -„Ich finde aber“, sagte Jürgen lachend zu Phinchen, -„faktisch nicht die Zeit, eine Frau zu lieben.“ Kundenkreis -und Finanzaktionen des Bankhauses Wagner -und Kolbenreiher vermehrten und vergrößerten sich -in immer schneller werdendem Tempo. -</p> - -<p> -Jürgen verkehrte in Familien, wo nur von Geld -gesprochen wurde. Und in Familien, die so reich -geworden waren, daß es schon wieder für unvornehm -galt, von Geld zu sprechen, anstatt von Humanität -und Wohltätigkeit, Kunst, Mystik, Kultur und Goethe. -Hohe Räume, stilvoll, von erlesenstem Geschmacke. -Wertvolle Gemälde, märchenhafte Bedienung. Junge -Künstler, die unterstützt wurden. Geistvolle Gespräche. -Und Beklemmung für die Gäste, die noch -nicht so reich waren. -</p> - -<p> -Zu diesen gehörte der Berliner Bankier Leo Seidel -<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a> -nicht; seine Worte wurden an dem Herrenabend, den -Jürgen zu Ehren seines für wenige Tage in die Heimatstadt -zurückgekehrten früheren Mitschülers gab, von -den Börsianern ebenso vorsichtig gewogen und auf -Fallen untersucht, wie die des reichen, leberkranken -Hütten- und Walzwerkbesitzers auf Jürgens Hochzeit -gewendet und gewogen worden waren. -</p> - -<p> -Der noch nicht vierzigjährige Seidel, tadellos unauffällig -gekleidet, sah viel älter aus, und als könne er -von nun an nicht mehr älter werden. Es schien, als -sei das winzige sommersprossige Dreieck mit dem erreichten -Ziele von nun an stationär. -</p> - -<p> -Seidel, im Ziele sitzend, sichtlich uninteressiert an -den Meinungen dieser von ihm weit überholten Fabrikanten -und Bankleute, die einzuholen vor zwanzig -Jahren sein größter Ehrgeiz gewesen war, zeigte nicht, -daß diese Stunden für ihn nur ein Opfer an Zeit bedeuteten, -und sprach dennoch nicht einen Satz mehr, -als die Höflichkeit gebot. -</p> - -<p> -Er entsann sich, daß er vor zehn Jahren, erst auf -dem Wege zum Ziel, erfüllt von altem Hasse gegen -diese vornehmen Bürgerfamilien, noch Befriedigung -gefunden hatte in der Vorstellung, daß er, der gedemütigte -Briefträgerssohn, sich eine dieser Töchter -seiner Heimatstadt zur Frau wählen werde. -</p> - -<p> -Mit dem Erreichen des Zieles war dieser Haß vergangen -und Interesselosigkeit entstanden. Außerdem -hatte er, wie Jürgen, längst die Erfahrung gemacht, -daß jede verheiratete Frau dieser Kreise zu gewinnen -war, wenn auch nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt. -</p> - -<p> -In Pensionen ging auch Jürgen, obwohl er seit Jahren -verwitwet war, nicht mehr. „Diese Mädchen sind -entweder arme Tierchen, nur auf Geld aus, also erotisch -<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a> -an uns völlig uninteressiert, folglich langweilig; oder -sentimentale Unschuldslämmer, verglichen mit unseren -Damen der Gesellschaft, die voller Nervenraffinements -und zu allem imstande sind“, hatte er -auf Adolf Sinsheimers wiederholte Bitte, wieder einmal -mit in den orientalischen Salon zu gehen, geantwortet. -</p> - -<p> -Nach dem Mahle standen Jürgen und Seidel, in -der Hand die Mokkatassen, abseits, zwischen sich die -hohe Standuhr, deren Ticken das Gespräch für die -noch an der langen Tafel sitzenden Börsianer unverständlich -machte, und Seidel nannte kurz den Grund -seines Hierseins. Er sei gezwungen, den schon eingeleiteten -Zusammenschluß einiger großer Bankinstitute -zu paralysieren: seinerseits einen großen Finanzkonzern -zu organisieren. -</p> - -<p> -Jürgen hatte einige Male genickt. „Ich selbst erwäge -schon seit geraumer Zeit diesen Plan, habe auch -schon vorgearbeitet. Ein nicht unbeträchtlicher Teil -der betreffenden Werte ist schon in meinen Händen.“ -Er sah seine Gäste an, sah Leo Seidel an. „Man wird -reicher und reicher ... Wozu?“ -</p> - -<p> -„Man muß die Urprodukte, die Erdschätze, in die -Hand bekommen. Die Kohle! Wer sie hat, kontrolliert -schließlich die ganze Produktion.“ -</p> - -<p> -„Sag mal“, begann nach einer Pause Jürgen entschlossenen -Tones, zuckend mit der Schulter, als -habe er sich selbst versichert, daß es ihm gleich sei, -was Seidel über ihn wegen des folgenden denken -werde, „weshalb eigentlich ist es nun dein Ziel, die -Urprodukte, die Kontrolle über die ganze Wirtschaft -in die Hand zu bekommen, oder, mit andern Worten, -der mächtigste Mann des Landes zu werden? Welche -<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a> -Idee – hinaus über den Wunsch, persönliche Begierden -jeglicher Art stillen zu können, was zu tun du -ja schon längst imstande bist – verfolgest du dabei?“ -</p> - -<p> -Seidel blickte nachdenklich vor sich hin. -</p> - -<p> -„Macht um der Macht selbst willen? Oder die Erkenntnis, -daß geschluckt wird, wer nicht selbst -schluckt? Oder um deiner Kinder willen, wenn du -welche hast? Das alles hat doch mit einer positiven -Idee nichts zu tun.“ -</p> - -<p> -„Aber auch zur Erlangung der Kontrolle über -Kohle, Brennstoffe, Erze wäre der geplante Zusammenschluß -eine wesentliche Voraussetzung.“ -</p> - -<p> -„Und das Sichabfinden damit, daß infolge der -Konkurrenzjagd von Zeit zu Zeit ein Krieg und der -Tod einiger Hunderttausend oder Millionen eben -naturnotwendig, die Schattenseite sei, der aber die -moderne Zivilisation als Plus gegenüberstehe, ist doch -ebenfalls keine tragfähige Grundlage für eine Idee, -für eine Lebensordnung, mit der auf die Dauer der -Mensch sich abfinden könnte, sondern, scheint mir, -nicht mehr als eine peinliche Mischung von Fatalismus -und Zynismus.“ -</p> - -<p> -Seidel, der gar nicht mehr zugehört hatte, zeigte -ein flüchtiges Höflichkeitslächeln und schrieb etwas -in sein Notizbuch. -</p> - -<p> -„Willst du mir nicht antworten? Oder weißt du -keine Antwort auf meine Frage?“ -</p> - -<p> -Rückwärts an der langen Tafel war es plötzlich -still geworden. „Ein Straßenmädchen ging mit einem -Juden ...“ -</p> - -<p> -„Das Nähtischchen deiner Mutter steht noch in -meinem Bodenraum. Erinnerst du dich? Das sind -jetzt zwanzig Jahre her.“ -</p> - -<p> -<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a> -„Ich erwarte dich also morgen im Hotel oder bringe -dir die Unterlagen in die Bank.“ -</p> - -<p> -Das Lachen des Herrn Hommes platzte wie das -dunkle Brüllen einer Autohupe in die Stille. „Kenn -ihn schon! Aber erzählen Sie nur weiter.“ -</p> - -<p> -„Auch einen großen Teil der Produktion chemischer -Artikel würden wir kontrollieren, falls die Fusion zustande -käme.“ Seidel nannte die Fabrik, Gesamtzahl und -Kursstand der Aktien, von denen die in Frage stehenden -Banken nach der Fusion die Mehrheit haben würden. -</p> - -<p> -Jürgen blickte nach rückwärts auf die acht grauweißen -Hinterköpfe, denen gegenüber acht weinrote -Gesichter im Zigarrenqualm hingen. „Ja, wir könnten -für viele chemische Artikel, Farben und vor allem für -die wichtigsten Arzneimittel die Preise bestimmen ... -Gewiß keine Kleinigkeit!“ -</p> - -<p> -Herr Wagner ergriff den Arm des Herrn Hommes, -deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück -auf Seidel: „Er hat verdient.“ -</p> - -<p> -„Ich weiß eine andere Fassung: Der selbe Jude -kommt in ein Bordell ...“ -</p> - -<p> -„Kenn ich!“ rief Herr Hommes und brüllte los. -</p> - -<p> -Seidel erwähnte die Krankheit, von der die Arbeiter -dieser chemischen Fabrik befallen wurden. Es sei -sehr schwer, Leute zu bekommen. Nur durch hohe -Gefahrprämien seien sie an die Siedkessel heranzubringen. -Diese Geschichte habe sogar schon auf den -Kurs gedrückt. -</p> - -<p> -„Ich hörte davon. Die Leute werden gelb. Es ist -aber keine Gelbsucht. Auch alle Schleimhäute entzünden -sich. Schwere Augenkrankheiten! Die Arbeiterinnen -bekommen keine Kinder mehr, werden -vollkommen steril.“ -</p> - -<p> -<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a> -„Und eines Tages war die Pleite da“, schloß der -Fabrikant, der die Villa voll gotischer Holzplastiken -besaß. „Eben eine zu gewagte Spekulation!“ -</p> - -<p> -„No, was sag ich!“ -</p> - -<p> -„Es sind ja Erfindungen gemacht worden“, sagte -Seidel und schrieb und las dabei weiter in seinem Notizbuch. -„Die Fabrikleitung hat diese Erfindungen -auch erworben. Aber die Konstruktion und Erhaltung -dieser Schutzapparatur würde riesige Summen -verschlingen. Auch wertvolle Nebenprodukte und -Abgase würden durch die Einschaltung dieser Schutzapparate -verlorengehen.“ -</p> - -<p> -„Nein, nein, uns fehlt nichts“, antwortete Herr -Wagner beruhigend auf Jürgens Frage. Und zu Herrn -Hommes: „Womit? Das mußt du dir von ihm selber -verraten lassen. Ich sag nur: er hat verdient.“ -</p> - -<p> -„Daß die Leute diese unheimliche Krankheit bekommen, -weil Schutzapparate nicht in Betrieb gesetzt -werden, ist ein bißchen drückend für denjenigen, der -die Aktien besitzt und die Dividenden bezieht.“ -</p> - -<p> -Seidel zeigte sein flüchtiges Lächeln. „Möchtest du -zusammen mit mir wieder einen Bund der Empörer -gründen? ... Noch eine Sekunde!“ bat er und zog -Jürgen wieder neben die Standuhr. „Weshalb ich -außerdem hierhergekommen bin. Kannst mir vielleicht -einen Rat geben. Ich möchte – es leben ja -auch noch viele Leute hier, die meine Eltern gekannt -haben; aber auch sonst! – ich möchte eine Stiftung -machen. Säuglingsheim, Krankenhaus oder ein Kunstmuseum. -Meiner Heimatstadt, weißt du!“ -</p> - -<p> -Jürgen griff sofort mit beiden Händen rückwärts -nach dem Rauchtischchen; dennoch fiel er, beinschwach -geworden vor eruptivem Lachen, in den -<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a> -Sessel. Er hielt die Hand hoch, Zeigefinger und -Daumen zusammengepreßt, als ob er ein Ungeziefer -gefangen hätte. „Ein Krankenhaus für ... für die -Heimatstadt!“ -</p> - -<p> -Hände an die Seitenlehnen angeklammert, Oberkörper -zurückgeworfen, starrte er, durchschüttert von -Lachen, atembenommen Leo Seidel an, dessen Gesicht -so weiß geworden war, daß die alten Sommersprossen -stärker hervortraten, wie damals, da er -Jürgen das Nähtischchen seiner Mutter zum Aufbewahren -übergeben und gesagt hatte: „Zweifellos -wird die ganze Bande auf den Jahrmarkt kommen, -um mich als Schiffschaukeladjunkt zu sehen.“ -</p> - -<p> -„Und obendrein ist das auch die Antwort. Das -ganze Systemchen ist steril geworden. Wie die Arbeiterinnen, -die nicht mehr gebären können ... Für -die Heimatstadt!“ Des Lachenden zuckende Schulter -stieß an die Standuhr, die metallisch tönte. -</p> - -<p> -An der Tafel erklang vielstimmiges, speckiges Gemecker. -Sechzehn rote Gesichter drehten sich den -beiden zu. Sechzehn Paar Augen fragten. Und Herr -Hommes rief: „Wir wollen ihn auch hören.“ -</p> - -<p> -„Gut, du stiftest ein Säuglingsheim für die Kinder, -die von den Arbeiterinnen nicht geboren werden -können, ich ein Krankenhaus für diejenigen, die gestorben -sind, weil sie die teueren Arzneimittel nicht -bezahlen konnten, und zusammen stiften wir ein -Kunstmuseum, von wegen der Kultur.“ -</p> - -<p> -Seine linke Gesichtshälfte lachte noch. Er hakte ein, -zog ihn zur Tafel. Dort legte er die Hand auf Seidels -Schulter. „Soeben sagte mir Herr Leo Seidel, der -bekanntlich ein Kind unserer Stadt ist, daß er seiner -Heimatgemeinde ein mit allen hygienischen Errungenschaften -<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a> -eingerichtetes Säuglingsheim in beliebiger -Größe stiften wird ... Aus ... aus Anhänglichkeit.“ -</p> - -<p> -Er leerte sein Glas. Füllte und leerte. Begann wieder -zu lachen. Trank. ‚Dieser harte, mächtige Mann – ein -kleines Schuftchen, ein winziges Ungeziefer, das in -seiner Heimatstadt noch ganz besonders geachtet -werden will ... als Wohltäter!‘ -</p> - -<p> -Herr Hommes bedeckte Mund und Nase mit der -Hand, warf den Kopf in den Nacken und dann tief -zur Tischplatte, als müsse er niesen, nieste nicht; er -sagte zu Herrn Wagner: „Da muß er aber groß verdient -haben.“ -</p> - -<p> -„No, was sag ich!“ -</p> - -<p> -‚Entzündete Augen, entzündete Schleimhäute, Eierstöcke, -Knochen, Lungen, entzündete Maschinengewehre -und Schwergeschütze, entzündete Seelen, eiternde -Seelen – und ein Krankenhaus für alle, finanziert mit -Kapital, das entstanden ist durch das Systemchen, -welches diese planetare Entzündung verursachte. Das -ist die Antwort. Hoppla, das ist sie ... Und die Fusion -wird zustande kommen. Und die Kontrolle über die -wichtigsten Arzneimittel. Und ich werde noch mächtiger -werden. Und das ist nicht zu ändern. Es gibt -keinen Ausweg. Mir kann nichts passieren – denn ich -bin schwerlich zu entlausen, denkt mit Recht die Laus.‘ -</p> - -<p> -Er saß abseits rittlings auf dem Stuhle und glotzte -vergnügt. Stellte das geleerte Glas auf den Fußboden. -‚Eiternde Seelen‘, begann er wieder, diesmal von -rückwärts, und zählte an den Fingern her, wie der -Metallarbeiter mit der verstümmelten Hand. Sah -plötzlich eine Riesenebene, auf der Millionen Menschen -reglos blickten. Die Gesichter derer, die am -allerweitesten, die kilometerweit zurückstanden, waren -<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a> -größer als die der Nächststehenden. Alle Gesichter -waren gelb. -</p> - -<p> -„Gelb! Gelb! Gelb! ... Bin ich denn in China? ... -Wollte ja Dolmetscher in China werden.“ -</p> - -<p> -Er stürzte vom Stuhle. In seinem Hinterkopfe -klopfte dunkel ein Hammer aus Gummi. -</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="chapter" id="VII"> -VII -</h2> - -</div> - -<p class="first"> -Phinchen mußte sich strecken, um mit der Bürste -den Rockkragen erreichen zu können. Wie jeden -Morgen trat Jürgen, als probiere er eine neue Hose an, -einigemal am Platze, sich richtig in den Anzug -hineinzudrücken, nahm den Spazierstock aus Phinchens -Hand und verließ pünktlich die Villa. Der -Schaffner, im Laufe der vierzehn Jahre auf dieser Strecke -ergraut, half dem schwer gewordenen täglichen Fahrgast -in den Wagen. -</p> - -<p> -Unwillkürlich rückte Jürgen etwas ab von einem -dürftig gekleideten Manne, dem die Nase fehlte. Außer -diesem Arbeiter saß im Wagen ein kleines Mädchen, -das, die Augen angstvoll vergrößert, seine Hausaufgabe -im Katechismus repetierte und immer wieder begann: -„Aber Jesus sprach: Lasset die Kindlein zu mir -kommen ...“ -</p> - -<p> -Der Schaffner kassierte. Der Nasenlose hatte kein -Geld. -</p> - -<p> -„Aber Jesus sprach ...“ -</p> - -<p> -„Dann müssen Sie aussteigen.“ -</p> - -<p> -Der Nasenlose, entschlossen, sitzen zu bleiben, geriet -in Erregung. Er sei monatelang arbeitslos gewesen. -Wenn er nicht mitfahren dürfe, komme er zu -<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a> -spät und erhalte die Aushilfsstelle nicht. Alle Qualen -seines Lebens sammelten und verwandelten sich in -Widerstand und Zorn gegen den Schaffner. -</p> - -<p> -Auch der war wütend geworden, gab das Haltesignal. -„Wie kann einer einsteigen, wenn er das Fahrgeld -nicht hat! So etwas gibts nicht.“ Der Wagen -hielt. „Wenn ich Sie ohne Schein mitfahren lasse, -verliere ja ich meine Stelle.“ -</p> - -<p> -„Wenn einer arbeiten will!“ schrie verzweifelt der -Mann und schimpfte los auf die reichen Nichtstuer, -die nicht nötig hätten, zu arbeiten. -</p> - -<p> -„Auf! Sie müssen aussteigen.“ Er mußte den sich -Wehrenden am Arme packen und aus dem Wagen -hinausdrücken. -</p> - -<p> -„Aber Jesus sprach ...“ lernte das Mädchen in so -großer Angst, die Hausaufgabe in der Schule nicht -hersagen zu können, daß es von der ganzen Szene -nichts bemerkte. -</p> - -<p> -Auch Jürgen, der die Kursberichte gelesen und dabei, -tief beunruhigt, an den Traum der letzten Nacht -gedacht hatte, wußte nicht, weshalb des Schaffners -Lippen und die Hand, die die Zange hielt, bebten. -Automatisch zog er die Abonnementskarte, in die seine -Jugendphotographie eingeklebt war. ‚Welch ein -fürchterlicher, fürchterlicher Traum!‘ -</p> - -<p> -Der Schaffner war noch zornig. „Sie sollten auch -einmal ein neues Bild einkleben. Das sind ja gar nicht -mehr Sie.“ Er hielt die Photographie prüfend von sich -weg. „Das ist ja ein ganz anderer, könnte man glauben.“ -</p> - -<p> -Jürgen blickte auf die Augen des Jünglingsbildes, -die aus ungeheurer Ferne groß und ernst zurückblickten. -Das Gesicht des Nasenlosen tauchte neben dem -Fenster mit Sprungregelmäßigkeit auf und nieder. -</p> - -<p> -<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a> -‚Träume seien nun einmal nichts als Schäume, sagt -der Hausarzt ... Ist aber auch dieser entsetzliche -Traum nur flaumleichter Abfall des Lebens und ohne -tiefere Bedeutung?‘ Selbst jetzt noch, während der -Fahrt durch den sonnigen Tag, stockte Jürgens Herz: -</p> - -<p> -Er steht, befrackt, weiß behandschuht und im Halbkreise -umgeben von den zwölf schwarzgekleideten -Zeugen, in der Mitte des festlich erleuchteten Gesellschaftssaales -vor dem Hinrichtungsblock, tritt zurück, -hebt das Beil - und läßt es hineinsausen in den Nacken. -Der Kopf geht nicht herunter. Und jetzt erst sieht -er, daß er selbst, als Student, am Blocke kniet und -von sich selbst hingerichtet werden muß, im Namen -des Lebens, wie es ist. Gezwungen von den Blicken -der zwölf stummen Zeugen, muß Jürgen noch einige -Male in die furchtbare Nackenwunde hineinschlagen, -bis der Kopf Jürgens, des Studenten, herunterfällt. -Die Streichmusik endet. -</p> - -<p> -Tirolerinnen, die schiefe Münder haben, reichen -lebendes Fruchteis. Um nicht essen zu müssen von -diesem schauerlichen, lebenden Eise, wühlt Jürgen -sich durch die empört nachblickenden Damen und -Herren durch, flüchtet die Treppe hinunter und stürzt -in fliegender Eile durch die menschenleeren Mondstraßen -heimwärts, durch den schimmernden Garten. -</p> - -<p> -Da kniet, an Stelle der Brunnenfigur, der Rumpf -in der Mitte des Bassins, Hände im Rücken gefesselt, -symmetrisch umstanden von den zwölf auf Stangen -steckenden, farbigen, kopfgroßen Glaskugeln, die jetzt -die zwölf Hinrichtungszeugen sind, und aus dem Halsstumpfe -steigt das Blut als Springbrünnchen empor. -Die Symmetrie wird gestört durch Jürgens Jünglingskopf, -der anstelle der gelben Glaskugel auf der -<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a> -Stange steckt und die grauenvolle Drohung ausspricht. -</p> - -<p> -„In Vollmondnächten sollten Sie nicht bei unverhängten -Fenstern schlafen. Auch abends keine -schweren Speisen essen. Die verursachen gleichfalls -Albträume“, hatte der Hausarzt gesagt. -</p> - -<p> -Das Schulmädchen stieg aus, schlug auf der Straße -den Katechismus wieder auf und lernte weiter. Jürgen -saß allein im Wagen. Er überlegte, welche Weisungen -er heute dem Prokuristen zu geben habe für die Börse. -Plötzlich fletschte er, Mundwinkel in die Wangen -zurückgezogen, die zusammengebissenen Zähne, drehte -den Kopf seitwärts und bewegte die Lippen, als verhandle -er mit einem hinter ihm Stehenden, der Befehle -erteile, die Jürgen nicht befolgen könne. -</p> - -<p> -Erst als er hinaus auf die rückwärtige Plattform -trat und mit dem Schaffner eine Unterhaltung begann, -entspannte sich sein Gesicht wieder. -</p> - -<p> -Angefangen hatten diese Zustände vor einem Jahre. -Er geht spazieren und muß plötzlich stehenbleiben, -hat Atembeschwerden, ist nicht imstande, an einem -Ecksteine oder an einem Baume oder an einem Laternenpfahle, -der sich durch nichts von anderen Laternenpfählen -unterscheidet, vorüberzugehen. Kopf seitwärts -gedreht, Zähne gefletscht, kämpft er gegen das -Unsichtbare, das unausführbare Befehle erteilt. -</p> - -<p> -Schnell tritt er in den nächsten Laden, setzt sich, -studiert die Gesichter der Kunden, unterhält sich mit -der Verkäuferin und bittet sie, ihm sechs besonders -hartborstige Zahnbürsten in die Villa zu schicken. -In dem unbewohnten Raume der Villa, wo auch die -Antiquitäten und Gemälde für das Palais aufbewahrt -waren, hatte sich im Laufe des letzten Jahres auf -<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a> -diese Weise ein großes Lager verschiedenster Artikel -angesammelt. -</p> - -<p> -Gleich vielen Menschen, kann auch Jürgen es nicht -ertragen, daß auf der Straße jemand hinter ihm geht. -Auch am hellen Tage muß er stehenbleiben, interessiert -eine Fassade betrachten oder schnell in einen -Laden eintreten. -</p> - -<p> -Außerhalb der Stadt, wo keine Leute sind, spazierenzugehen, -wagte Jürgen schon lange nicht mehr. -Jemand geht hinter ihm her. Jürgen dreht sich um -und wieder um und ganz um sich selbst. Immer steht -in seinem Rücken der Andere. Und da Jürgen nicht -in einen Laden flüchten kann, wirft er sich zu Boden. -</p> - -<p> -Einmal hatte er sich durch Adolf Sinsheimer retten -können vor dem Verfolger. Er steht, Zähne gefletscht, -in menschenleerer Landschaft unter den unausführbaren -Befehlen des Unsichtbaren. Da erblickt er den -Jugendfreund, der, in der Hand ein Notizbuch voll -Rechnungen, an einem Baume lehnt und gedankenversunken -die ferne Hügelkette betrachtet, als dichte -oder zeichne er. Damals war das Unternehmen des -Knopffabrikanten dem Konkurse nahe gewesen. -</p> - -<p> -Jürgen macht einige Fluchtsprünge auf den Jugendfreund -zu und bittet flehend den Erschreckenden: -„Verkaufe mir deinen Bleistift.“ -</p> - -<p> -„Weshalb verkaufen? ... Hier, nimm ihn!“ Und -er will ihm den goldenen Patentbleistift in die Hand -drücken. -</p> - -<p> -„Unmöglich! Das ist ganz unmöglich!“ Jürgen -zwingt den Schulfreund, die Banknote zu nehmen, -und steckt, befreit aufatmend, den Bleistift ein. -</p> - -<p> -Die Straßenbahn hielt. Der Wagenführer drehte -die Kurbel heraus. „Endstation“, sagte der Schaffner -<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a> -zweimal zu Jürgen, der verzerrten Gesichtes über die -Schulter zurücksprach und nicht aussteigen konnte. -</p> - -<p> -Junge Beamte eilten durch die Gänge, grüßten den -Chef. Er ahmte die Stimme des Hausarztes nach: -„Abends nur ein paar weichgekochte Eier essen. -Wachsweich! Auch schadet es nicht, wenn Sie täglich -dreimal etwas Brom nehmen.“ -</p> - -<p> -Das Bromsalzglas stand auf dem Schreibtisch. Sooft -Jürgen die Feder in die Tinte stach, sah er das -Salzglas, das herauszuwachsen schien aus dem Nacken -des verheirateten Beamten, der, reglos wie ein Eingeschlafener -auf das Pult gebeugt, vor seinem Chef -saß, schon Vater dreier Kinder war, Sorgenfalten im -grauen Gesicht hatte und keine Veilchen mehr im -Knopfloch trug. -</p> - -<p> -Auf das Bankgebäude wurde ohne Betriebsunterbrechung -ein Stockwerk aufgesetzt. Während des Vergrößerungsumbaues -mußte Jürgen mit drei Angestellten -zusammen in einem Raume arbeiten. Ringsum, fern und -nah, auf dem Dache und in allen Stockwerken wurde gehämmert, -geschrien, gekratzt, gesägt, gehobelt. -</p> - -<p> -In dem Bureau selbst stand katastrophenferne Ruhe. -</p> - -<p> -Jürgen tauchte die Feder ein. Und wie er schreiben -will, steht auf dem Pulte anstelle des Tintenfasses -ein winziges, lebendiges Herrchen, das sich höflich -verbeugt und lächelnd auf das Bromsalzglas deutet, -mit einem feingegliederten Zeigefingerchen. -</p> - -<p> -Jürgen kann nicht atmen, fletscht die Zähne, -taucht die Feder noch einmal ein. Sticht sie auf den -Kopf des Herrchens, das zum Tintenfaß zusammenschrumpft. -Und wie Jürgen schreiben will, steht es -wieder lebendig da, höflich vorgebeugt. Das Zeigefingerchen -deutet, das Mündchen lächelt und sagt: -</p> - -<p> -<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a> -„Mit Bromsalz kann eine Menschenseele nicht zum -Schweigen gebracht werden. Ich versichere Ihnen, -so wahr es ist, daß sehr viel mehr als neunundneunzig -Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele -reden, durch ihre Seele in gar keiner Weise mehr gestört -werden, weil sie sie schon längst eingetauscht -haben gegen Dinge, die ihren Marktwert haben ...“ -</p> - -<p> -Das ist wahr, dachte Jürgen. Das ist wahr. -</p> - -<p> -„... so wahr ist es, daß bei gewissen Individuen die -Seele spielend leicht durch den allerstärksten Schutzwall -durchschlüpfen und ihr vorbestimmtes Recht -verlangen kann.“ -</p> - -<p> -Das Herrchen legte das Händchen an den Mund, -als habe es ein tiefes Geheimnis zu offenbaren: „Die -Seele will fließen. Und fließt unter Umständen bei -gewissen Individuen selbst auf die Gefahr hin, überzufließen -und alles in Verwirrung zu bringen. Denken -Sie nur an die vielen, vielen Irrenhäuser, die es gibt -auf dieser Erde. Voll! Überfüllt! Wer bezahlen -kann, kommt in die erste Klasse und kann seine Seele -preisentsprechend behandeln lassen ... Nun, das ist -ja Nebensache, der Preis nämlich, wenn er auch in -unserem Zeitalter bei allem die Hauptsache ist. Aber -verzeihen Sie die Abschweifung.“ -</p> - -<p> -Jürgen strich sich über die Augen, blickte zum -Fenster hinaus. „Was heißt Abschweifung! Das ist -eine Halluzination. Nein, es ist nur eine Sinnestäuschung. -Und das nicht einmal, ich habe nur, -wie der Arzt sagte, zu viel gegessen. Oder ich bin -übermüdet. Es sind nur die Nerven. Dieser Umbau -macht einen ja ganz verrückt.“ -</p> - -<p> -Er schielte auf das Tintenfaß. Das stand leblos, -schwarz, breit und niedrig an seinem Platze. Dennoch -<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a> -ertönte eine Stimme: „Wenn die Seele überfließt und -spricht, nennen das die Ärzte eine Halluzination.“ -</p> - -<p> -„Ich werde mich aber jetzt doch einmal von einem -Nervenarzt untersuchen lassen!“ -</p> - -<p> -„Das hilft Ihnen nicht“, behauptete, schülterchenzuckend, -das Herrchen. Es saß auf dem Löschblattbügel, -ein Beinchen übergeschlagen, und sah nicht -aus, als ob es bald weggehen würde. -</p> - -<p> -Der verheiratete Beamte wechselte die Schutzärmel, -damit sie sich im Laufe der Jahre gleichmäßig abnützen -sollten. Er war aus Erfahrung klug geworden. -Ihm konnte es nicht mehr passieren, jahrelang einen -schwarzen und einen grünen Schutzärmel tragen zu -müssen, wie einmal in seiner Jugend, da er es unterlassen -hatte, den schneller sich abnutzenden rechten -Schutzärmel Öfters mit dem linken zu wechseln. -</p> - -<p> -Die beiden noch farbig schillernden, eleganten -jungen Beamten, die vor Jürgen an einem Doppelpulte -saßen, machten einander mit den Beinen aufmerksam -auf die Pedanterie ihres älteren Kollegen. -</p> - -<p> -Jürgen übergab seine Weisungen für die Börse -dem Prokuristen, einem runden Manne, dessen Lippen -immer aussahen, als habe er eben eine fette Speise -gegessen. -</p> - -<p> -„Sagte es denn eben wirklich: Sie standen schon am -Anfang Ihres Ich. Oder sagte ich selbst das?“ -Jürgen konnte nicht ermitteln, ob er selbst sprach. -</p> - -<p> -„Ich, natürlich, ich bins, der spricht! Niemand -anderer als ich sagte: Sie standen schon am Anfang -Ihres Ich.“ -</p> - -<p> -„Dieses Wort ist doch von mir. Ich selbst habe -diesen Gedanken in genau der selben Formulierung -vor Jahren einmal ausgesprochen.“ -</p> - -<p> -<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a> -„Wie meinen?“ fragte der Prokurist. -</p> - -<p> -Drei schreibgekrümmte Rücken und zwei starr -blickende Augen, die einmal des Verheirateten Nacken, -das Salzglas, dann wieder das Tintenfaß doppelt -sahen. „In meinem Hinterkopf geht etwas vor sich; -nicht in der Stirn.“ -</p> - -<p> -„Ich bins, der vor sich geht.“ -</p> - -<p> -„Und was wird mit mir geschehen?“ -</p> - -<p> -„Sie sind nicht mehr vorhanden.“ -</p> - -<p> -Die Stirn knallte auf die Schreibtischplatte. Die -Bureauwände neigten sich lautlos auf ihn zu. Er sah -die ineinander verschwimmenden Gegenstände vervielfacht -und hatte das mit Übelkeit verbundene Empfinden, -alles Blut vergehe in seinem Körper. -</p> - -<p> -Der Prokurist sprang herbei, das Wasserglas in -der dicken Hand, richtete den Haltlosen auf. -</p> - -<p> -„Kaufen Sie! Kaufen Sie!“ -</p> - -<p> -„Selbstverständlich! Wird geschehen! Seien Sie -ohne Sorge ... Hier, ein Schluck Wasser.“ -</p> - -<p> -„Nein, irgend etwas! Für mich! Kaufen Sie ... -Vielleicht Orangen. Was Sie wollen!“ -</p> - -<p> -Der Prokurist eilte zur Tür. Jürgens Lippen waren -weiß. In seinem Hinterkopfe klopfte dunkel der -Hammer aus Gummi. „Möglichst schnell“, schrie -er, Zähne gebleckt, dem Prokuristen nach. -</p> - -<p> -„Das hilft Ihnen nicht mehr.“ -</p> - -<p> -„Die Stimme klingt, als spräche jemand mit mir -aus weiter, weiter Ferne und doch aus nächster Nähe. -Sie klingt wie ein telephonisches Ferngespräch. Mir -ist, als spräche ich mit einem Wesen, das ich in Qualen -liebte ... Bitte“, sagte Jürgen, bebend in Angst vor -der Erfüllung seiner Bitte und so laut, daß die Beamten -aufblickten, „legen Sie jede Verkleidung ab.“ -</p> - -<p> -<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a> -Da sah er nichts Gegenständliches mehr, keine -Augen; er sah einen Blick, nicht von Augen entsandt. -Nur den Blick selbst, der unversehens zu dem ernsten -Blicke des Jünglingsbildes in der Abonnementskarte -wurde und, vergehend, weit zurückwich. -</p> - -<p> -Heiß durchzogen und atembenommen starrte er -dem vergehenden, ergreifend ernsten Blicke nach, -beobachtete, Zähne gefletscht und Kopf seitwärts gedreht, -wie der Blick sich in das Herrchen verwandelte, -das sich so schnell erhob, daß der Löschblattbügel -schaukelte. -</p> - -<p> -„Das war mein erster offizieller Besuch.“ Es -blickte auf die Bureauuhr. „Fünf Minuten vor -zwölf.“ (Der Verheiratete nahm schon die Schutzärmel -ab). „Existenzen Ihresgleichen gibt es in dieser Sekunde -auf der Erde ...“ Das Herrchen nannte eine -Zahl, die riesengroß und winzig klein in einem war -und wie ein anklagendes Wort klang, gesprochen in -der Nachtstille. -</p> - -<p> -„Sie sind in allen Schichten und Lagern zu finden. -Ich besuche sie alle. Jeden zu seiner Zeit. Es sind -Universitätsprofessoren darunter, die als Studenten -noch die Bereitschaft zur Hingabe in den Augen -trugen. Industrielle, die als Jünglinge Gedichte gemacht -haben. Hohe Geistliche, die in das falsche -Christentum reisten. Dichter, die um des Erfolges -und des Ruhmes willen von dem Protest und der -Gesinnung weg in den Erfolg und Ruhm und immer -tiefer in das Publikum hineinreisten. Männer, die sich -der Wissenschaft hingegeben hatten und aus ihr -später ein Geschäft machten, ein Namensschild mit -Titel, angeschlagen an der Haustür. Und Existenzen -Ihresgleichen, die Sozialisten waren und Bürger -<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a> -wurden. Verruchte Existenzen! Denn sie konnten, -kraft naturverliehener Kraft, sich durch das heucheleidurchwirkte, -blutnasse, dicke, dichte Dickicht dieses -Jahrhunderts durchschlagen zu dem Bewußtsein, daß -die im Zeichen befreiter Arbeit stehende menschliche -Gemeinschaft, in der die Seele ihr Ich durch den -Körper gewinnen und im Gleichgewicht in sich selber -ruhen kann, erkämpft werden muß, sollen die lebenden -und kommenden Generationen bewahrt bleiben -vor Krieg und Hungerbarbarei, dem Wahnsinn, vor -dem großen Tode!“ -</p> - -<p> -‚Ich muß mir das Ganze notieren, so kann ich es -nicht behalten‘. „... Unmöglich! Unmöglich!“ rief er, -ohne den Blick vom Stenogrammblock zu erheben, -die Linke abwehrend ausgestreckt, dem Prokuristen -zu, der einen Stoß Papiere in den Händen hielt, erstaunt -sich die Lippen leckte und, auf den Zehenspitzen rückwärtsgehend, -wieder verschwand. -</p> - -<p> -„Jeden zu seiner Zeit. Einmal bin ich ein Herbsttag, -ein welkes Blatt, das vom Baume fällt und bei -einem ruhmverkalkten Dichter plötzlich die Frage -auslöst: Habe ich alles verraten, was in der Jugend -mir teuer war? Die Frage, die zugleich die Antwort -und der Beweis ist. Manchmal schreite ich in ein -Buch hinein, werde zu einem Satze, der in dem Lesenden -blitzhaft die Gewissensfrage auslöst. Manchmal -bin ich ein Traum. (Wie bei Ihnen zum Beispiel. Auch -kann ich der Umbau eines Bankgebäudes sein).“ -</p> - -<p> -Oder ein Engländer, der fragt: Wie geht es Ihrem -Herrn Bruder? dachte Jürgen und stenographierte -auch diese Erinnerung. -</p> - -<p> -„Ich bin ein zwanzigjähriges Mädchen, das im -Kampfe gegen die Umwelt steht und durch ihre Verachtung -<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a> -in dem Abtrünnigen die Sekunde aufreißt, -in der er den tragischen Rückblick tun muß. Manchmal -werde ich durch einen Ton in grauer, leerer Stunde -zur Gewissensfrage. Durch den Ton einer Kindertrompete! -Ich bin ein regnerischer Tag, verhindere -einen Ausflug in den Genuß und werde so zum Tage -des Versinkens in den Ekel vor sich selbst. Oft bin -ich ein Sonntagnachmittag. Ich werde als Bild an -der Wand zur Gewissensfrage und als Spaziergang in -menschenleerer Landschaft, wo es keine Läden gibt. -Ich steige als Weinrausch in das Herz eines Satten, -und er sinkt in die Selbsterkenntnis hinein. Es kann -einer seinen Teppich ansehen und plötzlich aus dem -Muster, das ich bin, die Gewissensfrage herauslesen, -grauenvoll deutlich. Manchem wird der Rückblick -zum Konflikt, der ihn ins Irrenhaus bringt.“ -</p> - -<p> -Das Herrchen deutete: „Das ist Ihr Fall.“ -</p> - -<p> -Jürgen schauerte im Rückenmark. -</p> - -<p> -„Andere glauben, sich in Selbstgerechtigkeit hineinretten -zu können. Viele ertrinken völlig in ihr und -erleiden die Strafe erst in spätem Alter, wenn sie eines -Tages, veranlaßt durch mich, die Nichtigkeit ihres -Lebens einsehen müssen und, entsetzt über ihr verdrecktes, -mit Achtung, Gemeinheit, Lüge, Erfolg, -Ruhm und Selbstgerechtigkeit poliertes Dasein, an -einer Kugel, an einem Stricke oder an Ekel vor sich -selbst sterben. Auch die feinste Selbstbelügung -schützt den Verräter nicht. Keiner kann in Selbstgerechtigkeit -sein Leben beschließen. Dies vermögen -nur diejenigen, die schon als wehrlose Kinder ganz -entselbstet, enticht, entseelt werden konnten, sich -der Umwelt anpaßten und dafür das Leben, wie es ist, -eintauschten, im Gegensatz zu Ihnen, der Sie die Kraft -<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a> -hatten, sich das Kostbarste und Leidvollste auf Erden -zu erkämpfen: das Bewußtsein.“ -</p> - -<p> -„Wer vermöchte zu entscheiden, ob stärker als die -Verhältnisse und größer als meine Begierden die Kraft -in mir war, weiter zu kämpfen! Was ist der Beweis -meines Verrates?“ -</p> - -<p> -„Wer fragen muß: Bin ich ein Verräter, der ist es; -Ihrem Schwiegervater fällt dies gar nicht ein. Die -Frage enthält schon die Antwort und den Beweis des -Verrates.“ -</p> - -<p> -Diese Worte trafen ihn mit solcher Beweiskraft, -daß er minutenlang die Fähigkeit, zu denken, vollkommen -verlor. Auch das Klopfen im Hinterkopfe -hatte geendet. -</p> - -<p> -Die Bureauuhr schlug zwölf. Die drei Beamtenoberkörper -richteten sich auf. Drei Federhalter wurden -weggelegt. -</p> - -<p> -Auch Jürgen legte den Federhalter weg, richtete -sich auf. Vor seinen Augen schwebten rundum und -durcheinander blitzweiße, goldumränderte Sternchen, -als ob er mit dem Kopfe nach unten aufgehängt gewesen -wäre. Eine Fliege glitt auf weißem Papier -schnell vom Tintenfaß zum Löschblattbügel. -</p> - -<p> -„Wieviel Beine hat eigentlich eine Fliege? Vier -oder sechs? ... Da wurde ich zweiundvierzig Jahre alt -und weiß nicht, wieviel Beine eine Fliege hat. Was -bin ich doch für ein Dummkopf! Sitze da und grüble -seit Stunden über diesen Unsinn nach. Kann mir doch -vollkommen gleichgültig sein“, sagte er und horchte -befreit auf den stärker gewordenen Straßenlärm, den -die dem Suppenteller Zueilenden verursachten. Die -Glocken der Trambahnen läuteten stärker. -</p> - -<p> -„Es muß ja nicht gleich morgen sein, aber bei Gelegenheit -<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a> -sollten Sie sich einmal neu photographieren -lassen. Sie sind zu verändert“, sagte freundlich der -Schaffner und gab die Abonnementkarte zurück. -„Das hier ist ein junger Mensch, während Sie doch -schon in die besten Mannesjahre kommen.“ -</p> - -<p> -Der grauhaarige Bürger, der neben Jürgen saß, -schob den zusammengerollten Fahrschein unter den -Ehering. -</p> - -<p> -Ja, die liegen Gott sei Dank noch vor mir ... Kann -mich ja photographieren lassen, bei Gelegenheit, -dachte er, stieg aus. Und ging, im selben Tempo wie -jeden Tag, die zweihundert Schritte bis zur Villa. -Summend durch den Garten, auf die farbigen Glaskugeln -zu. -</p> - -<p> -Den Bruchteil einer Sekunde stutzte er vor den -Glaskugeln. Es war ein grauer Tag. Die Glaskugeln -standen öd in ihren eigenen Farben. Im Garten regte -sich nichts. -</p> - -<p> -Der Mantel hing sich von selbst an den Haken. -Die bereitstehenden Hausschuhe schlüpften über -Jürgens Füße. Gewohnheitsmäßig zupfte er das Tischtuch -zurecht. Die Schüsseln entleerten sich. -</p> - -<p> -Das Kanapee gab mit den vertrauten Tönen dem -Körper nach. Die Augen lasen die Mittagszeitung. -</p> - -<p> -Bis sechs Uhr im Bureau. Dann im Garten. Wachsweiche -Eier zum Abendessen. Von neun bis zehn Uhr -die Abendzeitung. Auf den Rat des Arztes hin punkt -zehn Uhr ins Bett. Am langen Sonntagnachmittag -die gewohnte Billardpartie mit dem befreundeten -Fabrikanten, der die Sammlung gotischer Plastiken -besaß. Montag ins Bureau. -</p> - -<p> -So verging noch eine kurze Zeit, bis eines Tages -die Abendzeitung ausblieb. -</p> - -<p> -<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a> -Punkt neun erklang das Stöhnen des Kanapees, -zusammen mit Jürgens wohligem A-Seufzer. Seine -Hand griff automatisch nach der Abendzeitung, die -seit Jahren immer an der selben Stelle auf dem Tische -bereit gelegen war, und griff in die Leere. -</p> - -<p> -Die Zeit bekam ein Loch, das sich durch das Rufen -nach Phinchen vorerst noch einmal schloß. „Wo ist -das Abendblatt?“ -</p> - -<p> -„Die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen.“ -</p> - -<p> -„So, die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen. -Das Blatt wurde nicht eingeworfen, wie? Du hast -nichts gehört?“ -</p> - -<p> -„Nein, es wurde nicht eingeworfen. Die Zeitungsfrau -ist wahrscheinlich am Hause vorübergegangen.“ -</p> - -<p> -„Du meinst also, die Zeitungsfrau sei vorübergegangen.“ -</p> - -<p> -„Sie hat zweifellos vergessen, die Zeitung einzuwerfen. -Ging am Hause vorüber.“ Als er das Wort -‚vorüber‘ aussprach, schlug er sich, das Gähnen zu -verdecken, einige Male leicht auf den Mund, so daß -das Wort in mehrere Laute getrennt wurde. Dieses -Geräusch erinnerte ihn an das Geräusch, das der leerlaufende -Motor verursacht, wenn die Trambahn -hält. (Der Schaffner gibt ihm die Abonnementkarte -zurück.) -</p> - -<p> -‚Gut, kann ja ein neues Bild machen lassen, bei -Gelegenheit ... Den Fahrschein zusammengerollt -unter den Ehering zu schieben, ist übrigens ganz -praktisch. Man hat ihn gleich, wenn der Kontrolleur -kommt.‘ Seine Hand griff nach dem Abendblatt. -„... Ah so!“ -</p> - -<p> -Er versuchte, das Loch, das die Zeit bekommen -hatte, auszufüllen, indem er das linke Bein über das -<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a> -rechte schlug und heiter zu summen begann. Sobald -er still lag, war das Loch wieder da. Groß, schwarz, -endlos. -</p> - -<p> -Der grüne Hügel, wo vor vierzehn Jahren die -Fabrikantensöhne und -töchter Huhn und Rotwein -genossen hatten, schob sich in das Loch, verschwand -wieder. Er dachte: Was jetzt, zwischen neun und -zehn Uhr, in der Welt alles vor sich geht ... Gewiß -sehr viel. -</p> - -<p> -Warf das rechte über das linke, legte den Kopf auf -die harte Sofalehne, dann auf das weiche Kissen. -Betrachtete die Tapetenblumen. (‚Einer sieht seinen -Teppich an, und das Muster, das ich bin ...‘) Er warf -sich herum. Das Kanapee ächzte. Er begann zu pfeifen. -</p> - -<p> -Plötzlich wurde er, bei dem Gedanken, hier zu -liegen und eine Stunde zu pfeifen, von solchem Grauen -gepackt, daß er, mit noch pfiffgespitztem Munde, -versteinert die Decke anstarrte. -</p> - -<p> -„Sie hätte nur die Zeitung einwerfen brauchen, -dann könnte ich mich zerstreuen. Zerstreuen ... -Früher konnte ich in Gesellschaft gehen oder ins -Varieté, in den Zirkus, ins Theater, in die Oper. -Andere gehen in ihr Stammlokal, in die Gesangvereinsprobe, -zum Kegeln, spielen Karten ... Das ist eine -Zerstreuerei! Ganz Europa zerstreut sich.“ Er pfiff -wieder. -</p> - -<p> -„Aber die andern, die schon als wehrlose Kinder – -Sie wissen schon: die leben, wenn sie kegeln.“ -</p> - -<p> -Da öffnete sich der pfiffgespitzte Mund; Jürgen -glaubte zu fühlen und zu sehen, wie hinter seiner -Stirn die schwarzen Buchstaben zu der Frage entstanden: -„Wer hat das gesagt?“ -</p> - -<p> -Er schnellte in Sitzstellung empor und brüllte ins -<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a> -totenstille Zimmer hinein: „Wer hat das gesagt? -Wer?“ -</p> - -<p> -Die Amsel verließ, heftig flatternd, auf einem scharfen -Pfiff den Mauerefeu beim Fenster. „Wer? Die -Amsel? Wer hat das gesagt?“ -</p> - -<p> -Von den an der Decke kreisenden Fliegen fiel eine -auf die Tischplatte. Und Jürgen, Oberkörper lauernd -vorgebeugt, Hand fangbereit gekrümmt, flüsterte: -„Muß doch einmal ...“ Die Gefangene drückte gegen -das Faustinnere. -</p> - -<p> -Schneller als eine Fliege vorbeizuckt, wich das -Interesse, zu erfahren, wieviel Beine sie hat, der Frage, -was ihn noch retten könne. -</p> - -<p> -„Für Sie gibt es keine Rettung mehr. Sie werden -wahnsinnig werden.“ -</p> - -<p> -Langsam ließ er sich auf das Kanapee zurücksinken. -„Wahnsinnig? Weshalb?“ Fuhr sofort wieder in -Sitzstellung auf. „Was? Wer hat gesagt, ich würde -wahnsinnig werden? Wer? Das habe nicht ich gesagt. -Wer hat das gesagt? Wer! Wer!“ Plötzlich -brüllte er wild: „Die Abendzeitung! Ich will die -Abendzeitung. Alle haben ihre Abendzeitung. Die -Abendzeitung! Die Abendzeitung!“ Wut entstellte -sein Gesicht. -</p> - -<p> -„Auch die Zeitung würde Ihnen nichts mehr nützen.“ -</p> - -<p> -Pünktlich auf die Minute trat, wie jeden Abend, -Phinchen ein und zog die Wanduhr auf: Die zwei -Bleigewichte berührten den Rand des Ziffernblattes. -</p> - -<p> -„Dann ist es jetzt genau halb zehn“, sagte Jürgen, -als Phinchen wieder draußen war. „Ich brauche gar -nicht hinzusehen. Genau halb zehn ... Und morgen -abend um halb zehn ist die Uhr abgelaufen und die -Gewichte hängen unten. Dann ist ein Tag vorbei. -<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a> -Die Uhr wird aufgezogen. Und übermorgen um halb -zehn hängen die Gewichte wieder unten. Dann ist -wieder ein Tag vorbei. Sie wird aufgezogen ... Aufgezogen -...“ -</p> - -<p> -„Und dann ist das Leben vorbei.“ -</p> - -<p> -„Ja, dann ist das Leben vorbei ... Und doch fahre -ich morgen ins Bureau und übermorgen. Und dann -kommt der Sonntag. Und dann der Montag. Der -Samstag. Ich arbeite, mache Pläne. Fusion. Werde -reicher und reicher. Die Jahre vergehen ...“ -</p> - -<p> -Und dann kam die Frage nach dem Sinn und nach -dem Ziele, die Frage nach der Idee, nach dem Zwecke, -für den zu arbeiten und zu kämpfen sein Lebensinhalt sei. -</p> - -<p> -Sein Inneres und die Umwelt – alles war grau und -leer. Er wartete. Lange. -</p> - -<p> -„Aber ich bin ein geachteter Mann.“ -</p> - -<p> -„Einmal sagten Sie, dies sei die größte menschliche -Katastrophe.“ -</p> - -<p> -„Kann sein! Kinderei! Lassen wir das einstweilen. -Jetzt will ich erst einmal Bilanz machen. Dann werde -ich überlegen, was zu tun ist. Ich will methodisch -vorgehen. Reich, sehr reich und geachtet, gebildeter -und wissender, kultivierter als die meisten und imstande, -mir jeden Genuß, den das Leben bietet, zu -verschaffen.“ -</p> - -<p> -„Sie haben also alles schon erreicht, was den andern -von Jugend an als Ziel vorschwebt und zum Sarg wird -für diejenigen, die das Ziel erreicht haben. Was also -ist der Zweck? Was Ihr Ziel?“ -</p> - -<p> -„Auch bin ich nicht schmutzig, nicht geizig. Im -Gegenteil; ein Zehntel der Summe, die ich für Wohltätigkeitszwecke -gegeben habe, würde genügen, daß -ein halbes Dutzend Männer mit Frauen und Kindern -<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a> -ein vollkommen sorgenloses Leben in eigenem Hause -führen und selbst in kleinerem Ausmaße wohltätig -sein könnten.“ -</p> - -<p> -„Das stimmt. Zum Teil wahrscheinlich auch daher -die große Achtung, die Sie genießen und vor sich selbst -haben.“ -</p> - -<p> -„Auch möglich! Aber das ist, wie gesagt, jetzt -Nebensache, die Achtung.“ -</p> - -<p> -„Nee, die ist mit die Hauptsache.“ -</p> - -<p> -Jürgen machte eine ärgerliche Abwehrbewegung mit -der Hand. „Nun, wenn Sie wollen, ich pfeife auf die -Achtung. Ich könnte, wenn ich auf der selben Linie -weiterschreiten würde, noch mächtiger, einflußreicher -und in noch weiteren Kreisen geachtet werden.“ -</p> - -<p> -„Das können nur die Bewußtseinslosen, deren Weltanschauung -in den drei Worten besteht: Jeder für -sich; Sie aber können das nicht. Denn Ihr Bewußtsein -sagt Ihnen, daß Sie nicht das geringste zur Verwirklichung -des unverrückbaren Menschheitszieles beizutragen -vermöchten, auch wenn Sie, weiterschreitend -auf dem Jeder-für-sich-Wege, der mächtigste Mann -des Landes werden würden.“ -</p> - -<p> -„Ich will ja auch gar nicht fortschreiten auf diesem -ziellosen Wege.“ -</p> - -<p> -„Nicht Sie wollen nicht, sondern ich will nicht. -Ich! Ich lasse nicht zu, daß Sie in dem bisherigen -Trott weitermachen. Sie selbst können gar nicht -mehr wollen oder nicht wollen. Sie sind nur noch eine -Willensmaske.“ -</p> - -<p> -Jürgen preßte beide Fäuste an den Kopf. „Seit -einiger Zeit führe ich fortwährend Selbstgespräche. -Nun, und wenn auch! Viele Menschen führen Selbstgespräche.“ -</p> - -<p> -<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a> -„Sie aber führen Gespräche mit Ihrem Selbst.“ -</p> - -<p> -Jürgen sah auf. „Wie dem auch sei, Tatsache ist, -daß ich ohne Ziel, ohne Idee, ohne Zweck nicht weiterleben -kann. Das halte ich nicht aus. Ich halte diesen -Zustand einfach nicht mehr aus.“ -</p> - -<p> -„Dies ist es, was Sie von dem Vollbürger unterscheidet. -Der hält diesen Zustand sehr gut aus. Denn -sein Ziel ist: Haben, haben, haben und immer noch -mehr haben. Und er bleibt in der Regel gesund dabei. -Fragt sich nur, ob diese seine Gesundheit nicht die -Krankheit ist, an der die Menschheit zugrunde geht.“ -</p> - -<p> -„Daß an dieser Gesundheit die Menschheit zugrunde -geht, scheint mir gar keine Frage mehr zu sein. Ich -habe da“, flüsterte Jürgen, „zweifellos einen richtigen -Gedanken ausgesprochen ... Wie steht es aber damit, -daß trotz dieser tödlichen Gesundheit es offenbar -keinen Menschen gibt, der ohne Ideal zu leben vermöchte. -Ausnahmslos jeder, den ich kenne, und sei -er der übelste, habgierigste, härteste Schuft, hat sein -Ideal, und wenn es auch nur Selbstbelügung ist. -Mittel zur Beruhigung des Gewissens.“ -</p> - -<p> -Zuerst blickte Jürgen mit zugekniffenen Augen mißtrauisch -seitwärts, wie einer, der sich vergewissern -will, ob er nicht beobachtet wird. Langsam richtete -er sich auf. Die Hand wurde auf der Tischplatte zur -Faust. Auf der Stirn entstand die Energiefalte. So -saß er, reglos, alle Muskeln gespannt, plötzlich ganz -erfüllt von dem Entschlusse, mit der Niederschrift -seines seit langem geplanten Lebenswerkes ‚Volkswirtschaft -und Einzelseele‘ zu beginnen. „Das ist -meine Rettung.“ Freude rötete sein Gesicht. -</p> - -<p> -Und wie er den Kopf hob, sah er auf der gegenüberstehenden -Wand ein winziges, höhnisches Lächeln. -</p> - -<p> -<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a> -Senkte sofort den Kopf. Durch dieses Werk werde ich zu -meinem kleinen Teile dem Fortschritt und der Erkenntnis -der Menschheit dienen können, dachte er, schielte zur -Wand, wo wie ein Bild das höhnische Lächeln hing. -</p> - -<p> -„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Ihr -tönendes, tiefes Gefasel über Moral, Gerechtigkeit, -Humanität, Ideal und Seele in bezug auf die Volkswirtschaft -nicht zulassen, sondern während der Niederschrift -mit einer Hartnäckigkeit ohnegleichen immer -wieder darauf hinweisen werde, daß es sich um die Moral -und die Gerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Nutznießer -des bestehenden Produktions- und Verteilungssystemes -handelt, welches den entscheidenden mörderischen -Einfluß hat auf das Wesen und das Sein, das -Kranksein und das Nichtsein auch der Einzelseele.“ -</p> - -<p> -Jürgens hervortretende Augen starrten rettungsuchend -umher. Schlaff geworden, sank er in die -Kanapeecke. „Keine Möglichkeit der Hingabe? Ich -sehne mich so sehr danach.“ -</p> - -<p> -„Diese Sehnsucht entspringt schon dem Konflikt, -der Sie ins Irrenhaus bringen wird.“ -</p> - -<p> -„Ich will, ich will zurück zu mir ... Ich fühle, ich -fühle ...“ -</p> - -<p> -„Sie ... denken Gefühle. Sie können weder vor- -noch rückwärts.“ -</p> - -<p> -„Eine tote Mitte? Das halte ich nicht aus. Ich -werde wahnsinnig.“ -</p> - -<p> -„Wahnsinnig! Sie sind gestellt.“ -</p> - -<p> -„Eingekreist?“ -</p> - -<p> -„Eingekreist! Das, was Sie während der letzten vierzehn -Jahre waren, können Sie nicht länger mehr sein; so, -wie Sie als Kämpfender waren, nicht mehr werden. Sie -sind nicht mehr vorhanden. Sie sind nicht mehr Sie.“ -</p> - -<p> -<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a> -„Das hat auch der Trambahnschaffner gesagt.“ -</p> - -<p> -„Aus dem heraus habe ich gesprochen.“ -</p> - -<p> -„Sind Sie auch die Abendzeitung, die nicht gekommen -ist?“ -</p> - -<p> -„Ich bin das Nichtgekommensein der Abendzeitung -und habe auch aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen. -Der sogenannte normale Bürgersmann -hört aus des Schaffners Worten ‚Das sind ja gar -nicht mehr Sie‘ nur heraus, daß sein Bart länger oder -grauer geworden ist.“ -</p> - -<p> -„Wenn Sie ich sind und aus dem Trambahnschaffner -herausgesprochen haben, dann habe ja ich selbst aus -dem Trambahnschaffner herausgesprochen und zugleich -als Fahrgast seine Worte vernommen. Seine? -Ihre? Oder meine? Ich weiß nicht. Bin ganz verwirrt.“ -</p> - -<p> -„Sie haben Ihre eigenen Worte vernommen, die -der Trambahnschaffner, aus dem ich sprach, gesprochen -hat.“ -</p> - -<p> -Angsterregung riß Jürgen vom Kanapee auf. „Wer -denkt das alles? Ich Will wissen, wer da denkt.“ -</p> - -<p> -„Ihr Bewußtsein.“ -</p> - -<p> -„Wer spricht die ganze Zeit mit mir? Ich höre -Stimmen.“ -</p> - -<p> -„Wahnsinnige hören Stimmen.“ -</p> - -<p> -„Und ich bin nicht wahnsinnig. Bin nicht wahnsinnig! -Ich bin der Bankier Jürgen Kolbenreiher. Und -ich brauche nur nicht mehr in das Bureau zu gehen, -brauche nur da wieder anzuknüpfen, wo ich vor -vierzehn Jahren abgebrochen habe, dann werde ich -wieder ein Ziel haben, werde hingebungsvoll kämpfen, -und alles wird gut sein.“ -</p> - -<p> -„Auch dieser Wunsch entspringt dem Konflikt, -der Sie ins Irrenhaus bringen wird.“ -</p> - -<p> -<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a> -„Suchet, so werdet Ihr finden, heißt es in der -Schrift.“ Jürgen lauschte, das Gesicht seitwärts gedreht. -Im Nachbargarten ertönte eine Lachsalve. -</p> - -<p> -„Ich muß Schluß machen, Schluß! und sofort neu -anfangen. Auf der Stelle! Vor allem: ich gehe nicht -mehr in die Bank. Schluß!“ -</p> - -<p> -Er war aufgesprungen, lauschte nach innen, was -der Strom der Gefühle ihm zuerst bringen werde: -</p> - -<p> -Schreibmaschinen klapperten. Der Mahagoniaufzug -stieg lautlos empor. Angestellte eilten durch die -Gänge des Bankgebäudes. Der Prokurist verbeugte -sich, reichte Jürgen die wichtigen Telegramme. -</p> - -<p> -Angewidert von dem eigentümlichen Geruch des -Bankgebäudes, schob er das ganze Geschäft von sich -weg, wartete auf den Strom der Gefühle. Die Frau -des befreundeten Fabrikanten, eine junge, schöne Blondine, -die zu Jürgen in die Villa gekommen und von -ihm verführt worden war, tritt ein, nimmt, wie damals, -den Schleier ab. Das sah, wie damals, aus, als ob sie -sich entkleidete. Jürgen schüttelte abwehrend den -Kopf. -</p> - -<p> -Das Billardbrett tauchte grün auf. Jürgen hatte -nur noch einen schwierigen Stoß zu machen. Der gelang -ihm. Er hatte die Partie gewonnen. Der Freund -mußte bezahlen. -</p> - -<p> -Jürgen lächelte zu Boden. „Das war eine interessante -Partie“, flüsterte er erfreut und machte -seinem Freunde noch eine Serie schwierigster Stöße -vor. -</p> - -<p> -Die Billardbälle wurden immer größer, kopfgroß, -wurden zu den farbigen Glaskugeln. Erst als er im -roten Ball seinen abgeschlagenen Studentenkopf erkannte, -der lächelte, so daß nicht ein Billardball, -<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a> -sondern ein gefährliches Lächeln kopfgroß über das -grüne Tuch hopste, ließ er das Queue sinken. -</p> - -<p> -In tiefster Bestürzung flehte er um ein Gefühl aus der -Vergangenheit. Er empfand nichts, ließ sich, gebrochen -und ergeben, in den Sessel sinken. ‚Ich gehe eben morgen -wieder ins Bureau und übermorgen und in zwanzig -Jahren auch noch.‘ „Unmöglich!“ rief er. „Unmöglich!“ -</p> - -<p> -Da stieg die Wut hoch in ihm. Um die innere Leere -zu füllen, stieß er starke Worte aus: „Blutig ans -Kreuz geschlagen! Proletarier aller Länder ...! Sturm! -Untergang!“ Er empfand nichts dabei. Brüllte wahllos: -„Kinderbewahranstalt! Apfelknecht! Reifeisen!“ -</p> - -<p> -„Was, Apfelknecht? Nun, weshalb nicht auch -Apfelknecht! Jetzt erst recht: Apfelknecht! Apfelknecht! -Apfelknecht!“ -</p> - -<p> -Entstellt vor Wut, raste er durch alle Zimmer durch -in den Salon. Zwischen dem schwarzlackierten, nie benutzten -Kohlenkasten, auf den die heilige Familie -auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, und dem -gestickten Wandschirmstorch, der das Wickelkissen -mit den drei Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog, -schwang der Perpendikel hin und her. -</p> - -<p> -Vor übergroßer Wut ganz ruhig geworden, schritt -er zur Uhr und riß mit einem Ruck den Perpendikel -heraus, schleuderte ihn durchs Fenster in das Springbrunnenbassin. -Die Amsel zuckte aus dem Garten -hinaus. „Das wäre das“, frohlockte er, hob die meterhohe -Vase über den Kopf empor und schmetterte sie -zu Boden. Die Nippsachen flogen an die Wand. Die -Fenster klirrten. Er demolierte die ganze Einrichtung. -Rückte den schweren Eichenholzschrank von der -Wand, betrachtete die Zerstörung. „Nun, nun“, sagte -er ratlos und schob den Schrank wieder zurück. -</p> - -<p> -<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a> -Schluchzen stieß ihn. Da fühlte er sich innerlich -berührt und ließ sich führen, hinauf in das Zimmerchen, -das er als Kind und Jüngling bewohnt hatte. -In der Hand den silbernen Leuchter, den nach bestandenem -Abiturientenexamen die Tante ihm mit -den Worten geschenkt hatte: ‚Wenn ich tot bin, -bekommst du alles‘, betrat er scheu die Kammer, -in der seit vielen Jahren kein Mensch mehr gewesen -war. -</p> - -<p> -Über dem versessenen Lederkanapee hingen noch, -oval gerahmt und symmetrisch zu einem großen Oval -geordnet, die vergilbten Photographien der Familie -Kolbenreiher. Und auf dem Bücherbrett standen verstaubt -die Reisebeschreibungen in bilderreichen Umschlägen. -Die Luft war stockig wie in einer Totenkammer. -</p> - -<p> -Der große, schwer gewordene Mann blickte, tief -erschüttert von dem Besuche bei seiner Jugend, -atembenommen die verblaßten Wände an und seinen -riesenhaften Schatten. Und begann, traumwandlerisch, -sich wie ein Jüngling zu benehmen, räumte, -durchbebt von innerlichem Weinen, die Bücher heraus, -ordnete sie wieder hinein und schlich, den Zeigefinger -am gespitzten Munde, mit der ‚Schreckensvollen -Reise ins Erdinnere‘ zum Kanapee. Ein irr-schlaues -Lächeln im Gesicht, erhob er sich noch einmal, zog -mit seinem Taschenmesser einen Riß um die Kerze -herum, zwei Zentimeter unter dem Docht, und begann -zu lesen. -</p> - -<p> -„Nein, nein, ach, nein, das hilft Ihnen nicht.“ -</p> - -<p> -Jürgen blickte auf. Die Stimme hatte so traurig und -mitleidig geklungen. „Das hilft mir nicht“, flüsterte -er weinend. „Das hilft mir nicht.“ -</p> - -<p> -<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a> -Vor ihm lag, weit hingebreitet, ein fremdes Stück -Land, entzweigespalten durch einen gewaltigen Abgrund. -Rechts war eine blanke Asphaltfläche. In -deren Mitte stand ein gelbes Streichholzschächtelchen. -Alle Schulkameraden, Geschäftsfreunde und Bekannten -Jürgens schritten auf das gelbe Schächtelchen zu, in -dem eine Banknote lag. Auf dem Schächtelchen stand -das Wort ‚Achtung‘. Von allen Seiten kamen sie herbei -und verbeugten sich vor dem Streichholzschächtelchen, -stießen einander weg, verbeugten sich. -</p> - -<p> -Auf der andern Seite des Abgrundes: eine milde -Wiese. Darauf weidet ruhig ein altes Pferd. Weiter -rückwärts ist die Wiese wild, und da, wo sie mit dem -Himmel zusammengeht, sind Jugend, Begeisterung, -Ziele, feurig beleuchtete Gesichter: Jünglinge, die -unter Hingabe ihres Lebens sich bemühen, das Pferd, -das die Liebe ist, über den gewaltigen Abgrund weg -zu den Bürgern zu schaffen. -</p> - -<p> -„Die bemerken es ja gar nicht. Und aus diesem -unheimlichen Grunde ist es den Jünglingen ganz unmöglich, -das Pferd über den Abgrund herüberzuschaffen“, -sagte Jürgen. -</p> - -<p> -Da wurde seine Hand gezwungen, ein Streichholzschächtelchen -zu entleeren und eine Banknote hineinzulegen. -Er stellte das Schächtelchen auf den Fußboden, -verbeugte sich. Die Fäuste zur Brust hochgehoben, -sprang er in gleichmäßigem Trabe um das Schächtelchen -herum. Die Villa zitterte. Jürgen keuchte und schwitzte, -verbeugte sich, rannte weiter im Kreise. -</p> - -<p> -Die Uhr schlug zehn. Die Macht der Gewohnheit -beendete sofort den Tanz. „Schlafen“, sagte er, verzerrten -Gesichtes gähnend und keuchend in einem. Griff -nach dem Leuchter. -</p> - -<p> -<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a> -Stand bei der Tür, als ob er eben eingetreten wäre. -Sein Kopf war frei. „Ich muß die Kammer einmal -gründlich durchlüften lassen“, sagte er und ging in -das Schlafzimmer. -</p> - -<p> -Punkt acht Uhr betrat er am andern Morgen das -Bureau. -</p> - -<p> -Erst nachdem er einen halben Kanzleibogen vollgeschrieben -hatte, hörte er mitten im Worte auf. -„Ich wollte ja nicht mehr ins Bureau gehen ... Aber -ist denn das möglich? Halte ich das aus? Oder halte -ich das nicht aus?“ -</p> - -<p> -„Weder – noch!“ -</p> - -<p> -Da wurden die drei Beamten von einem Knall in -die Höhe gerissen: Jürgen hatte das Tintenfaß durch -das zerbrechende Fenster hinunter in den Lichthof -geschleudert. Ein Tintentropfen rollte langsam an -der Stirn herunter, am tobsüchtig glotzenden Auge -vorbei, über die dicke Backe. -</p> - -<p> -„Wenn Sie solche Sachen machen, zieht man Ihnen -ja die Zwangsjacke an. Nun sind Sie selbst aber -schon eine Zwangsjacke von Ihrem Selbst. Sie würden -also über die Zwangsjacke eine Zwangsjacke angezogen -bekommen. Bedenken Sie, welch entsetzliche -Hilflosigkeit.“ Die Stimme hatte vorwurfsvoll und -dabei sehr milde geklungen. -</p> - -<p> -„Jawohl, da ist es schon besser, ich gehe wieder“, -sagte Jürgen und griff nach seinem Hute. Die zwei -jungen Beamten machten unabgewandten Blickes mit -den Beinen einander aufmerksam. -</p> - -<p> -Von einer fremden, hinter seinem Rücken stehenden -Macht wurde Jürgen durch die Straßen geschoben -zum Nervenarzt. -</p> - -<p> -Bein übergeschlagen, beide Ellbogen so auf die -<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a> -Sessellehnen gestützt, daß die gefalteten Hände und -das Kinn vor der Brust zusammentrafen, hörte der -schweigende Neurologe dem Patienten zu. Und -Jürgen empfand Dankbarkeit diesem Manne gegenüber, -der offenbar alles schon zu wissen schien und -sich dennoch alles erzählen ließ. -</p> - -<p> -„Na“, unterbrach der Professor und schnellte, ein -abschließendes, vertrauenerweckendes Lächeln im Gesicht, -vor, griff nach Jürgens Puls. Der Sprungdeckel -des goldenen Chronometers gab mit einem beruhigenden -Knacken das Ziffernblatt frei. Die Arztaugen -blickten zur Decke. -</p> - -<p> -Das Herrchen saß schwarz auf dem Tintenfaß aus -schwarzem Marmor und schüttelte verneinend und -mitleidig das Köpfchen. -</p> - -<p> -„Und jetzt die Zunge!“ Jürgen streckte die Zunge -heraus. -</p> - -<p> -„Sie sind vollblütig und haben leider trotzdem, ich -sage es Ihnen auf den Kopf zu, täglich Suppe gegessen, -Fleisch, auch Eier! Stimmt das?“ -</p> - -<p> -„Wachsweiche Eier zu essen, hat mein Hausarzt -mir geraten.“ -</p> - -<p> -Das überhörte der Professor. „So viel über Ihren -körperlichen Zustand. Und was Ihren seelischen Zustand -betrifft, über den, wie Sie sich ausdrückten, -Sie keine Kontrolle mehr zu haben glauben, so ist -dazu zu sagen, daß es, streng naturwissenschaftlich -gesprochen, einen seelischen Zustand in Ihrem Sinne -gar nicht gibt, aus dem einfachen Grunde, weil es, -streng naturwissenschaftlich gesprochen, verstehen -Sie, eine Seele, in dem Sinne, wie Sie sie auffassen, -nicht gibt.“ -</p> - -<p> -Er blickte Jürgen ermunternd an, als wolle er sagen: -<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a> -Sehen Sie, so einfach ist diese Sache, wenn man sie -wissenschaftlich betrachtet. -</p> - -<p> -„Es gibt nur Körper, Herr Kolbenreiher, Körper, -angefangen bei dem mit Vernunft und Bewußtsein -bedachten, höchst entwickelten Tier, nämlich dem -Menschen, zurück über den Affen, das Pferd, den -Esel, den Hund, den Wurm, die Schnake, die Laus -(wenn Sie gestatten), die Pflanze und den leblosen -Dingen, die, ebenso wie die Pflanzen, die Tiere und -wir, aus Atomen bestehen. Das ist, von der Naturwissenschaft -aufgebaut und bis in die letzten Winkel -durchleuchtet, der für uns glasklar gewordene Kosmos, -in dem die mittelalterliche Hypothese ‚Seele‘, wie Sie -sie auffassen, keinen Raum mehr hat.“ -</p> - -<p> -Jürgen warf schnell einen Blick Richtung Tintenfaß, -das schwarz und glänzend auf seinem Platze -stand. -</p> - -<p> -„Sie, Herr Kolbenreiher, sind ein intelligenter -Patient; anderen gegenüber würde ich mich zu solchen -Erklärungen nicht herbeilassen. Repetieren wir: Es -gibt also erstens vernunftlose Atomverdichtungen und -zweitens vernunftbegabte Atomverdichtungen, von -denen die höchstentwickelte Verdichtung der Mensch -ist. Wir haben es demnach nicht mit der Zweiteilung -‚Seele und Körper‘ zu tun, wie Ihr Herrchen behauptet -...“ -</p> - -<p> -„In dieser Form habe ich das nie behauptet“, sagte -das Herrchen. -</p> - -<p> -„... sondern mit der Einheit ‚Körper‘, der von -Vernunft bewegt wird, und zwar von der Zentralstation -aus, dem Gehirn. Sie, Herr Kolbenreiher, -sind eine vernunftbegabte Atomverdichtung, merken -Sie sich das, und eine Einheit. Das heißt, Ihre Vernunft, -<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a> -Ihr Bewußtsein, Ihr Ich kann nicht, wie Sie -mir da erzählen, für sich allein sprechen, auf der -Straße spazierengehen, einen Separatspaziergang -machen oder Sie besuchen und, sagen wir: ein Bankkonto -besitzen; sondern Sie besitzen infolge Ihrer Vernunft -ein Bankkonto.“ -</p> - -<p> -„Aber ich habe die Kontrolle über mein Bewußtsein -verloren.“ -</p> - -<p> -Der Arzt erhob sich. „Das werden wir schon wieder -deichseln. Sie sind Bankier. Sie machen sich nützlich. -Dienen durch Ihre Leistung der Allgemeinheit. Das -sollte Ihr Selbstbewußtsein stärken. Sind allerdings -vollblütig. Also vorerst: keine Fleischsuppen, keine -Eierspeisen. Vor dem Schlafengehen kalte Waschungen -und, wie Ihr Hausarzt sagt, etwas Brom ... Ordnung. -Arbeit. Hin und wieder etwas Zerstreuung, eine -hübsche Frau. Sie verstehen. Das ist das Leben. -Freuen Sie sich, daß es diese dunkle Kalamität ‚Seele‘ -in Ihrem Sinne nicht gibt.“ -</p> - -<p> -Auch das Frackherrchen erhob sich. -</p> - -<p> -„Dort, sehen Sie, dort steht es.“ Zurückweichend -deutete Jürgen auf das Tintenfaß. -</p> - -<p> -Der Professor nahm es in die Hand. „Was ist das?“ -</p> - -<p> -„Ach, nichts von Bedeutung. Das bin nur ich. -Eine Kleinigkeit! Nur zwei Buchstaben: I–ch. Nicht -der Rede wert“, sagte, bescheiden lächelnd, das -Herrchen. -</p> - -<p> -Und der Arzt: „Nun, was ist das?“ -</p> - -<p> -„Das ist ein Tintenfaß.“ -</p> - -<p> -„Na, sehen Sie, jetzt müssen Sie selbst lachen.“ -</p> - -<p> -Jürgen trug die Lachfratze durch die Straßen. -</p> - -<p> -„Glauben Sie mir, Ihnen kann auch der nicht helfen.“ -</p> - -<p> -Dennoch ging Jürgen unverzüglich zu einem Psychiater, -<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a> -erzählte ihm alles, auch alles, was der Professor -gesagt hatte. „Aber diese ganze Auffassung ...“ -</p> - -<p> -„Sie haben Recht. Verglichen mit der modernen -Seelenforschung, ist die Auffassung des Herrn Kollegen -etwas primitiv ... Ja, Herr Kolbenreiher, die Behandlung -dürfte wahrscheinlich Jahre in Anspruch -nehmen. Wir müssen Ihre ganze Kindheit durchforschen. -Erst, nachdem die schweren, von Ihnen -total vergessenen Kindheitserlebnisse ...“ -</p> - -<p> -Das Frackherrchen winkte ab: „Ach, hören Sie auf, -Herr Doktor.“ -</p> - -<p> -„Wie meinen?“ -</p> - -<p> -„Ich habe nichts gesagt.“ -</p> - -<p> -„... welche zweifellos die Ursache Ihrer Krankheit -sind, Ihnen vollkommen bewußt geworden sein -werden und Sie sie mit der Kritikfähigkeit des Verstandes -eines Zweiundvierzigjährigen ...“ -</p> - -<p> -„Aber Doktor! Ein Mensch, der, um nur das eine -zu nennen, im Traume dem Vater ins Gesicht gelacht -hat, ein Mensch also, der die fremden Mächte in seiner -Seele besiegen, sich das Bewußtsein erkämpfen und -an den Anfang seines Ich gelangen konnte, kann nicht -mehr die in Kindheit und Jugend empfangenen Wunden -verantwortlich machen.“ -</p> - -<p> -„Ja“, sagte fein lächelnd der Psychiater, „sagen -Sie das nicht.“ -</p> - -<p> -„Was?“ fragte Jürgen. -</p> - -<p> -„Was Sie eben sagten.“ -</p> - -<p> -„Ich habe nichts gesagt.“ -</p> - -<p> -Das Frackherrchen lächelte. -</p> - -<p> -Auch Jürgen lächelte verschmitzt. „Also, in bezug -auf die Kindheitserlebnisse wenigstens sind wir einer -Meinung.“ -</p> - -<p> -<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a> -„Dann ists ja gut. Kommen Sie morgen zu mir.“ -</p> - -<p> -„Nein. Denn mir können auch Sie nicht helfen.“ -</p> - -<p> -„Das sollten Sie, wie gesagt, nicht so ohne weiteres -sagen.“ -</p> - -<p> -„Was?“ -</p> - -<p> -„Daß auch ich ... Denn diese Kindheitser...“ -</p> - -<p> -„Steckenpferd!“ -</p> - -<p> -Der Psychiater hob die Augenbrauen und notierte -das Wort ‚Steckenpferd‘. „...erlebnisse, vor allem -natürlich die sexuellen ...“ -</p> - -<p> -„Gehn wir!“ sagte brüderlichen Tones das Frackherrchen -aus Jürgens Munde. „Guten Tag, Herr -Doktor.“ -</p> - -<p> -Aus dem Gymnasium, in dem auch er neun Jahre -gesessen hatte, platzten mit Geschrei die Jünglinge. -Fragende, junge Augen. Feurige Gesichter. Biegsame, -junge Körper, Bücher unterm Arm, dem Leben -schräg entgegengestreckt. -</p> - -<p> -„Deshalb muß ich jetzt gleich zum Photographen -gehen.“ Weshalb das Erblicken der Gymnasiasten ihn -veranlaßte, zum Photographen zu gehen, hätte Jürgen -nicht sagen können. Plötzlich sah er eine tiefe Verbeugung -und folgte der einladenden Photographenhand. -</p> - -<p> -Während er vor der Linse saß, betrachtete er die -lebensgroßen Brustbilder, deren tote Augen auf ihn -zurückblickten. „Ob man diese Jugendphotographie -wohl auch vergrößern kann?“ -</p> - -<p> -Der Photograph prüfte das verblichene Jugendbildnis, -das Jürgen darstellte, wie er im Garten am Nußbaum -lehnte, unter dem die Tante gehäkelt hatte. -„Aber mit Vergnügen! Geht großartig!“ -</p> - -<p> -„Nicht nur Brustbild? Ganz in Lebensgröße? Auch -mit den Beinen?“ -</p> - -<p> -<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a> -„Das allerdings hat bis jetzt noch niemand gewünscht. -Aber es ist zu machen ... O, das kommt -vielfach vor, daß die Herrschaften sich vergrößern -lassen. Gerade die Jugendphotographien immer will -man vergrößert haben. Erst vor einigen Wochen kam -Herr Geheimrat Lenz – sehr berühmter Mann, -wie Sie wissen – und bestellte eine Vergrößerung -nach seinem Jugendbildnis. Zwanzig Jahre! Nicht -mehr zu erkennen! Kein Mensch würde glauben, daß -Herr Geheimrat Lenz einmal so ausgesehen hat. Und -dies ist der Sohn: Herr Oberstaatsanwalt Karl Lenz. -Er ist, gemessen am griechischen Schönheitsideal, zu -dick geworden ... Zu sehen, wie man früher war, -macht Spaß, nicht? ... Nur etwas verblaßt, verwischt, -sozusagen vergangen sehen die Vergrößerungen -von Jugendbildern aus. Aber sie haben gewissermaßen -etwas Traumschönes. Traumschön! Das ist -das richtige Wort ... Etwas höher den Kopf ...“ -</p> - -<p> -Vor dem Schlafengehen nahm Jürgen Brom, wusch sich -kalt ab, schlief fest, träumte schwer, wußte am Morgen -nicht mehr, was er geträumt hatte, erschien pünktlich im -Bureau. Die Beamten beobachteten ihn unausgesetzt. -</p> - -<p> -Auf dem Rückwege zur Haltestelle blieb Jürgen -stehen, berührte mit seinem Spazierstockgriff die Brust -des Partners, der nicht da war, und erklärte: „Die -Sache verhält sich anders. Hören Sie gut zu“, ging -weiter, nach der Seite hin sprechend. Seine Hände -gestikulierten. Er blieb stehen. Lachte. „Das war -ein Witz.“ „Aber ein recht guter Witz“, sagte der -Partner. „Nun, es geht“, gab Jürgen zu, schritt aus. -„Sehen Sie, da sprach ich letzthin mit Katharina ...“ -</p> - -<p> -„Was sagte ich eben?“ fragte er entsetzt sich selbst -und zog den Kopf ein, schwieg. -</p> - -<p> -<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a> -Und schon nach zehn Schritten begann er ein neues -Gespräch. Der Partner konnte ein fremder Mensch -sein, den Jürgen kurz vorher in der Bank gesprochen, -ein Kind, das ihm nachgesehen hatte, die schon längst -verweste Tante. Jürgen, der Student, war anfangs -nur sekundenlang der Partner des zweiundvierzigjährigen -Jürgen. Denn Jürgen versah den Studenten -sofort mit einem Vollbart, setzte ihm eine Brille auf, -zog ihm einen Pelzmantel an, so daß er an einen -fremden Herrn seine Worte richten konnte. Aber -späterhin wehrte sich der Jüngling erfolgreich gegen -die Verkleidung, ließ Mantel, Brille und Bart fallen, -wurde gedankenschnell zum Studenten und erklärte -mit ruhiger Stimme dem Zweiundvierzigjährigen: -„Sie sind ein ganz niederträchtiges, verräterisches -Nichts.“ -</p> - -<p> -„Warum bin ich ein Nichts? Erlauben Sie mir!“ -</p> - -<p> -Der Student, der die abgeschnittene Hose trug, auf -die das Hinterteil aufgenäht war in Breechesschwung, -wies genau nach, weshalb Jürgen ein Nichts sei, hielt -eine feurige Rede, geriet in Begeisterung. Jürgen -hörte verzückt zu und versuchte, selbst in dieser Tonart -weiterzusprechen: von Hingabe, Kampf und -Zielen. -</p> - -<p> -„Halt, das sage ich. Ich sage das. Sie haben nicht -das Recht, so zu sprechen. Sie haben dieses Recht -verwirkt.“ -</p> - -<p> -Da ließ Jürgen dem Studenten sofort wieder einen -Vollbart wachsen. Aber als er ins Wohnzimmer trat, -erblickte er den Studenten, der lebensgroß an der -Wand lehnte. Etwas verschwommen, fern, vergangen. -Und ungeheuer gegenwärtig. -</p> - -<p> -„Das ist ja großartig“, rief Jürgen frisch, stellte -<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a> -den Spazierstock in die Ecke und sich selbst vor das -Bild. „Du gefällst mir ... Je, je, weshalb denn gar -so ernst! Schlechte Geschäfte?“ -</p> - -<p> -Die Photographie antwortete nicht. -</p> - -<p> -„Nein, nein, entschuldige. Ein Scherz! Soll nicht -mehr vorkommen.“ Er schritt zur Tür, wollte Phinchen -rufen und ihr das Bild zeigen. -</p> - -<p> -„Sind nicht vorhanden.“ -</p> - -<p> -„Wer ist nicht vorhanden?“ Jürgen war herumgeschnellt; -ganz deutlich hatte er die drei Worte gehört, -die laut und tonlos gesprochen worden waren. -Er starrte hinaus in den Garten. Da war niemand. -Auf den Zehenspitzen schlich er zum Bilde zurück, -wiederholte gedankenverloren: „Wer? Wer ist nicht -vorhanden?“ Ging zur Tür, Phinchen zu rufen. -</p> - -<p> -„Sie sind nicht vorhanden.“ -</p> - -<p> -Er ließ die Türklinke los und trat, beide Hände in -den Hüften, wieder knapp vor das Bild hin. „Nein, -Sie, mein Lieber, Sie sind nicht vorhanden. Sie sind -ganz gewöhnliches Bromsilberpapier. Verstanden!“ -</p> - -<p> -„Ich bin da. Ich bin.“ Die Photographie deutete -mit dem Zeigefinger auf Jürgens Brust: „Sie dagegen -nicht. Was von Ihnen da ist, bin ich. Aber ich habe -mit Ihnen nichts mehr gemein. Also sind Sie gar -nicht mehr vorhanden.“ -</p> - -<p> -Da packte Jürgen die schmal gerahmte Photographie -und stellte sie mit der Bildseite gegen die -Wand. „Und was sind Sie jetzt, he? Nichts als -Pappe! Ganz gemeine graue Pappe!“ Er trat zurück. -</p> - -<p> -Und sah, von unermeßlichem Entsetzen geschüttelt, -zu, wie das Bild auf der Papprückwand erschien, und -hörte die bekannten Worte: „Ich versichere Ihnen, -so wahr es ist, daß sehr viel mehr als neunundneunzig -<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a> -Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele -schmusen, in gar keiner Weise mehr von ihrer Seele -gestört werden, so wahr ist es, daß bei gewissen -Individuen in gewissen Momenten die Seele spielend -leicht durch den Schutzwall durchschlüpfen und ihr -vorbestimmtes Recht verlangen kann.“ Die Photographielippen -hatten sichtbar die Worte geformt. -</p> - -<p> -„Du Lump bist nichts als Pappe“, brüllte Jürgen, -stürzte hinaus, zerrte Phinchen vor das Bild. „Dreh -es um! ... Wer ist das?“ -</p> - -<p> -„Das ist der gnädige Herr, wie er jung war.“ Phinchen -bekam vor Rührung nasse Augen. -</p> - -<p> -„Also ich bin das, nicht wahr, ich?“ -</p> - -<p> -„Wie Sie jung waren.“ -</p> - -<p> -„Das heißt doch aber: ich bin es. Ich!“ -</p> - -<p> -„Ja, wie Sie früher waren.“ -</p> - -<p> -„Jetzt sage mir: wen hast du lieber, den da oder mich?“ -</p> - -<p> -„Sie natürlich, gnädiger Herr! Das ist ja nur eine -Photographie.“ -</p> - -<p> -„Das ist ein Irrtum. Ich bin er. Und er ist ein -Nichts.“ -</p> - -<p> -Jürgen führte Phinchen schnell in die Küche. „Sag -mir, Phinchen, hast du ihn sprechen hören, den da -drinnen? ... Nein, schweige! Ich will nichts wissen.“ -</p> - -<p> -Schnelle Schritte stellten ihn wieder vor das Bild -hin. „Hör mal, du bist nichts als eine Photographie -und kostest mich soundso viel. Mit Rahmen ... Hier ist -die Rechnung.“ -</p> - -<p> -„Sie irren sich. Ich bin alles, was Sie verraten -haben, und koste Ihnen den Verstand.“ -</p> - -<p> -„Das wollen wir sehen.“ Er stieg sofort ins Bad, -duschte sich minutenlang kalt ab, schluckte Brom -und legte sich ins Bett. -</p> - -<p> -<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a> -Die Photographie stand im dunklen Wohnzimmer. -Lebensgroß. Jürgen saß aufrecht im Bett und glotzte -durch sechs Wände durch auf die Photographie. -</p> - -<p> -„Sie hat Augen. Sie blickt ... Kann man einen -Blick photographieren? Ob wohl mein Blick von damals -auch mitphotographiert, ganz genau, wie er -war, mitphotographiert worden ist? ... Und das, -was hinter dem Blicke ist? Was hinter einem Jünglingsblicke -ist?: Sehnsucht, Bereitschaft zur Hingabe, -die großen Gefühle – die Seele? Wurde damals auch -meine Seele mitphotographiert?“ -</p> - -<p> -Jürgen sah deutlich den Jünglingsblick, der als -große Frage an das Leben in den Augen stand. -</p> - -<p> -Ohne die photographierte Frage an das Leben aus -den Augen zu lassen, legte er den Kopf langsam und -sanft auf das Kissen, schlief ein. Und im Schlafe war -nichts auf der Welt, als seine Augen und die zwei -photographierten Augen. Die Blicke der zwei Augenpaare -trafen sich stundenlang, bis dieses lautlose -Sichtreffen der Blicke Jürgen aus dem Schlafe hob. -</p> - -<p> -Die brennende Kerze in der Hand, schlich er ins -Wohnzimmer, vor das Bild hin. „Und wenn ich nun“, -sagte er und nahm das Bild aus dem Rahmen, „mich -in den Rahmen stelle?“ -</p> - -<p> -Das Nachthemd reichte bis zu den behaarten Waden. -Eine Weile blieb er vollkommen reglos im Rahmen -stehen und starrte wild auf den gegenüberstehenden -Jüngling. -</p> - -<p> -Dessen ernster, vergangenheitsferner Blick zwang -Jürgen, wieder aus dem Rahmen herauszutreten. -Überwältigt von der Unerbittlichkeit des Jünglingsblickes, -brach er vor dem Bilde in die Knie. „In dir -lebt das ewig unverrückbare Ziel.“ -</p> - -<p> -<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a> -Die Kerze in der einen, die Photographie in der -andern Hand, stieg er hinauf in das Zimmerchen, das -er als Jüngling bewohnt hatte, lehnte das Bild an -die Wand. Und als er den Türdrücker gefaßt hatte -und fortgehen wollte, stieg aus den seit Jahren verschütteten -Gefühlen ein Strom von Hilfsbereitschaft -auf. „Kannst nicht immer stehen. Kannst nicht dein -Lebenlang stehen.“ -</p> - -<p> -Er knickte das lebensgroße Bild in der Rumpfmitte -ab, nach vorne, daß es einen rechten Winkel bildete, -dann bei den Knien nach rückwärts und setzte die -Photographie auf das Kanapee. -</p> - -<p> -Tränennaß und fassungslos schluchzend kam er im -Schlafzimmer an. Und hatte, wie er stöhnend und -wimmernd in das Kopfkissen hineinklagte, das von -Hoffnungslosigkeit durchbebte Gefühl, lebenslänglich -getrennt zu sein von sich, von seiner Jugend, die im -modrigen Studentenzimmer auf dem Kanapee saß. -</p> - -<p> -Andern Tages wollte er auf der Straße schon den -Hut ziehen vor Herrn Fabrikbesitzer Hommes, der -grußlos vorüberschritt. Jürgen blieb stehen, Hand -auf dem tobenden Herzen. „Sieht er – sieht man -mich nicht? Bin ich unsichtbar? ... Ich bin doch -aus Fleisch und Knochen, habe Augen, Stirn, Hände.“ -Er umfaßte sein Handgelenk, wollte sich überzeugen, -preßte das Gelenk. -</p> - -<p> -Da öffnete sich sein Mund in grenzenlosem Entsetzen: -die umfassende Hand war zur Faust geworden: -kein Handgelenk war in ihr. Noch einmal umfaßte -er das Handgelenk. Wieder wurde die Hand zur -Faust. -</p> - -<p> -„Nicht mehr vorhanden?“ fragte er, hob die Augenbrauen. -„Überhaupt nicht mehr?“ Er pfiff bedeutsam. -<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a> -„Jürgen Kolbenreiher ist also überhaupt nicht -mehr da. Ist einfach weg? Ist Luft? Und das nicht -einmal? Ein glattes Nichts?“ -</p> - -<p> -Hastig öffnete er das Taschenmesser, stach die -Spitze hinein in seinen Schenkel, wollte vor Freude -über den Schmerz schon einen Triumphschrei ausstoßen. -Und fühlte nichts. -</p> - -<p> -Er bohrte tiefer, drehte die Messerspitze in der -Wunde herum, fühlte nichts. -</p> - -<p> -Da marschierte sein in das Grauen hineingeduckter -Körper nachhause und legte sich auf das Kanapee. -</p> - -<p> -„Was ist, wenn ich jetzt aufstehe, hinausgehe in -die Küche und Phinchen sieht mich nicht?“ -</p> - -<p> -Plötzlich stand, von Phinchen hereingeführt, der -Bankdiener im Zimmer. Der Herr Prokurist lasse -fragen, ob Herr Kolbenreiher auch heute nicht ins -Bureau komme. -</p> - -<p> -„Wo? Wo ist er? Sehen Sie ihn denn, da Sie ihn -fragen? Wissen Sie denn, wo Herr Kolbenreiher sich -momentan aufhält?“ -</p> - -<p> -Und da der Diener den Mund aufsperrte: „Ich bin -nicht vorhanden, nicht anwesend, ich bin nicht da, -kann also auch nicht in die Bank kommen.“ -</p> - -<p> -„Ich werde also ausrichten, Herr Kolbenreiher -seien verreist.“ -</p> - -<p> -„Ah!“ rief Jürgen, als der Diener fort war. „Vielleicht -bin ich nur verreist. Einfach verreist! Nach -Italien! Paris! So wirds sein.“ -</p> - -<p> -Jürgens Gesicht wurde flach; die Augen sprangen -vor. Er stürzte in die Küche. „Hilf mir, Phinchen, -rate mir, wie erfahre ich, wo er ist. Die Welt ist -groß. Was soll ich tun, ihn zu finden ... Rufe schnell -den Diener zurück.“ -</p> - -<p> -<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a> -Und als das entsetzte Mädchen den Diener wieder -in das Zimmer führte: „Besorgen Sie mir einen Reisepaß. -Aber auf den Namen Jürgen Kolbenreiher!“ -Er zwinkerte schlau. „Wenn Sie sich geschickt anstellen, -merkts vielleicht niemand, daß nicht ich selbst -es bin.“ -</p> - -<p> -„Das ist gar nicht schwer“, sagte der Diener und -ging. Phinchen weinte. -</p> - -<p> -„Im Gegenteil! Sehr schwer! Man kann es ertragen, -sein Vermögen zu verlieren, aber sich selbst -zu verlieren erträgt kein Mensch.“ -</p> - -<p> -„Das ertragen die andern großartig; aber, zum Beispiel, -das Vermögen zu verlieren, ertragen sie nicht. -Und aus diesem einfachen und unheimlichen Grunde -ertragen sie es so leicht, sich selbst zu verlieren. Die -sind nicht vorhanden und haben davon nicht die -leiseste Ahnung.“ -</p> - -<p> -Ganz langsam legte Jürgen beide Handflächen an -die Schläfen, noch einmal zu kontrollieren, ob sein -Kopf da sei. Die Handflächen trafen zusammen. -Kein Kopf war dazwischen. Jürgen stieß einen kurzen -Schrei aus. Und lag leichenstill bis in die Nacht hinein. -Der Reisepaß war schon gebracht worden. -</p> - -<p> -Die Stadt schlief. In Haus und Garten rührte sich -nichts. Der volle Mond hing am Himmel. Jürgen -schlich ins Arbeitszimmer, einige Minuten später durch -den Garten, heftete einen Kanzleibogen an den -Türpfosten, an den er die Tafel ‚Hier wird Armen -gegeben‘ angebracht hatte, und las: -</p> - -<p> -„Wer den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers anzugeben -vermag, erhält jede gewünschte Summe. -Hier werden Begeisterung, unverbrauchte Wahrheit, -Bewußtsein und Hingabe gekauft.“ -</p> - -<p> -<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a> -Befriedigt stieg er die Treppe hinauf und packte -seinen Reisekoffer, wusch sich, kleidete sich um. -</p> - -<p> -Noch einmal schlich er in das dunkle Schlafzimmer, -vor den mannshohen Ankleidespiegel. Die Hand am -Schalter, wartete er erst einige Sekunden, bevor er das -Licht andrehte. -</p> - -<p> -Lebensgroß erschien das Spiegelbild. Jürgen schrie -vor Freude, hob dabei den linken Arm. -</p> - -<p> -Das Spiegelbild hob den Arm nicht. -</p> - -<p> -Jetzt erst bemerkte er, daß im Spiegel der Jürgen -stand, der, in knapp sitzendem Gesellschaftsanzug, -beherrschte Kraft in Schultern, Brust und Blick, die -Blicke aller im Saale Anwesenden auf sich zog: der -Jürgen, den er, sitzend auf der Anlagenbank, als zu -erstrebendes Ziel in den grünen Bretterzaun hineingesehen -hatte. -</p> - -<p> -Jürgen hob die Augenbrauen, pfiff, tanzte, schnitt -Grimassen, ballte die Fäuste. Das Frackherrspiegelbild -rührte sich nicht. Das Entsetzen war ungeheuer. -</p> - -<p> -Er drehte das Licht aus, verbrachte atemlos einige -Sekunden, drehte an, stierte in den Spiegel. -</p> - -<p> -Im Spiegel war nichts. Jürgens Finger drückte den -Knopf. -</p> - -<p> -Phinchen, die weinend vor der Schlafzimmertür gekniet -hatte, trat sofort ein, wurde vor den Spiegel gezerrt. -Ob sie ihn sehe? -</p> - -<p> -Händeringend beteuerte sie, daß er neben ihr im -Spiegel stehe. Sein wütendes Fragen und ihr jammervolles -Deuten dauerten so lange, bis Jürgen, durchblitzt -von einem letzten Rettungsgedanken, langsam -sagte: „Wenn ich mich jetzt mit dir zusammen ins -Bett lege, dann muß ich doch fühlen, daß ich bin. -Denn dies, es ist das starke Gefühl.“ -</p> - -<p> -<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a> -Phinchen ließ die Arme sinken, war bereit. -</p> - -<p> -„Aber mit wem denn? Ich bin ja nicht. Hab ja -keine Arme zum Umarmen ... Weißt du, Phinchen, -die Hauptsache ist, daß ich wieder ein Fetzchen Gefühl -bekomme. Gefühl! Dann suche ich ihn. Dann -finde ich ihn auch. Geh, Phinchen, geh!“ -</p> - -<p> -Bis zum Morgen lag er mit offenen Augen im dunklen -Schlafzimmer. -</p> - -<p> -Der Kolonialwarenhändler von nebenan und der -Antiquitätenhändler, der in der Hauptstraße des -Villenviertels eine Filiale hatte, sahen Jürgens Zettel -zuerst. Arbeiter und Weiber, Kinder, auf dem Wege -in die Schule, Milch- und Semmelausträger sammelten -sich an. Der Antiquitätenhändler machte einen Witz -über die neue Konkurrenz. Das Gelächter drang bis -zu Jürgen hinauf. -</p> - -<p> -Der stritt sich mit einem Fremden herum, der seine -Gefühle nicht verkaufen, sondern sie nur gegen andere -Gefühle eintauschen wollte. -</p> - -<p> -„Aber ich besitze ja keine ... Hören Sie“, er faßte -den Fremden bei der Schulter, „ich gebe Ihnen mein -gesamtes Vermögen gegen etwas Gefühl, gegen ein -Bruchstückchen Begeisterung, gegen den leisesten -Hinweis auf ein Ziel. Nur ein bißchen Bewußtsein! -Ich bitte Sie.“ -</p> - -<p> -„Geht nicht! Gefühl hin – Gefühl her! Hingabe -gegen Hingabe!“ -</p> - -<p> -Jürgen warf die Hände vor: „Meine Villa, die drei -Mietskasernen, meinen ganzen Aktienbesitz, meine -Stellung und Macht, mein Geachtetsein, alles will ich -Ihnen geben und will dafür nur mich.“ -</p> - -<p> -Vor dem Hause ertönte stürmisches Gelächter. -Das klang wie fernes Möwengeschrei. Der Antiquitätenhändler -<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a> -witzelte: „Ankauf gut erhaltener Ideale. -Stil Louis XVI.“ -</p> - -<p> -Auch der Nachbar war hinzugetreten, las den Zettel. -„Da ist etwas nicht in Ordnung“, sagte er und klinkte -die Gartentür auf. -</p> - -<p> -Jürgen horchte auf das vielfüßige Getrappel, nahm -seinen Koffer, stürzte die Vordertreppe hinunter und -davon. -</p> - -<p> -Im Auto fuhr er – Oberkörper vorgebeugt, als -gelte es, ein Rennen zu gewinnen – zum Bahnhof. -„Was kostet die Fahrkarte nach Paris?“ -</p> - -<p> -Der Schalterbeamte nannte die Summe, griff in das -Billettregal. -</p> - -<p> -„Und nach Rom? ... Nach Odessa?“ -</p> - -<p> -„Wohin also?“ -</p> - -<p> -„Zu mir! ... Verzeihung – es könnte ja sein –, -wissen Sie vielleicht zufällig, ob Jürgen Kolbenreiher -momentan in Berlin oder in Wien ist?“ -</p> - -<p> -„Wie meinen?“ -</p> - -<p> -„In London oder Madrid?“ -</p> - -<p> -„Was? Wer? Was wollen Sie?“ -</p> - -<p> -„Um Himmels willen – in New York?“ -</p> - -<p> -Der Schalterbeamte starrte wütend. -</p> - -<p> -Und Jürgen sagte: „Sie wundern sich? Tun Sie -das nicht! Auch Sie können nicht wissen, wo und -was Sie sind, in Rom oder in Chikago, Matrose in der -südlichen Hafenstadt oder Schreiber in einer Beamtenstube -Norddeutschlands, die Sie nie betreten -haben. Oder sitzen Sie in hunderttausend Schalterkästen -gleichzeitig? Keine Ahnung haben Sie. Kommen -Sie mit! Denn hier in diesem Schalterkasten -werden Sie sich nie finden. Oder glauben Sie gar, -Sie seien Sie? ... Bruder, verwandt mit mir durch -<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a> -dein Schicksal, steige heraus aus deinem Kasten. -Denn hier kannst du dich bis an das Ende deines -Lebens niemals finden. Suche dich ... Suchet, so -werdet Ihr finden ... Aber dir, ich weiß es, dir -Armen ist nicht einmal das Suchen verstattet.“ -</p> - -<p> -Eilige Reisende drängten Jürgen vom Schalter weg. -Die Abfahrt eines Zuges wurde ausgerufen. Jürgen -sprang in ein Abteil dritter Klasse. -</p> - -<p> -Zu der alten, verhärmten Arbeiterfrau, die ihm -gegenübersaß, sagte er noch, er suche, was jeder -Mensch auf dieser Erde lebenslang suche. Und schlief -ein. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als streite er -heftig mit jemand. -</p> - -<p> -Die Frau glaubte, Jürgen friere, betrachtete erst -eine Weile mitleidig und unschlüssig das zerklüftete -Gesicht. Dann wagte sie es doch, ihre Wolldecke vorsichtig -über seine Knie zu breiten. -</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="chapter" id="VIII"> -VIII -</h2> - -</div> - -<p class="first"> -Wochenlang wußte niemand, wo er war. Phinchen, -von neugierigen Nachbarn befragt über das scheue -Verhalten Jürgens in der letzten Zeit, verweigerte -jede Auskunft. Und Herr Wagner, bestrebt, unliebsame -Gerüchte, die das Ansehen der Bank schädigen -könnten, nicht aufkommen zu lassen, sprach von einer -wichtigen Geschäftsreise so vorsichtig und wortkarg, -als würde schon ein einziges schlechtgewähltes Wort -Riesenverluste für die Bank bedeuten. -</p> - -<p> -Endlich erzählte ein Kunde, er habe Jürgen in Rom -gesehen – nannte Tag und Stunde – und zwei Tage -später noch einmal in der Halle des selben Hotels, leider -<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a> -nur sehr flüchtig, da Jürgen, offenbar in besonders -dringenden Geschäften, in größter Eile auf das wartende -Auto zugeschritten sei. -</p> - -<p> -Herr Wagner machte ein wissendes Gesicht. Und -schwieg auch dann noch, leise zwinkernd, als ein -Pariser Geschäftsfreund ruhig lächelnd behauptete, -das sei nicht gut möglich, denn an dem dazwischenliegenden -Tage habe er selbst in Paris im Direktionsbureau -sich mit Jürgen unterhalten und persönlich -ihm eine große Summe gegen einen Scheck des Hauses -Wagner und Kolbenreiher ausbezahlt. „Das war -am ...“ -</p> - -<p> -„Stimmt!“ unterbrach Herr Wagner. „Beides -stimmt. Es gibt Fälle, meine Herren, wo die Geschäftskonstellation -unsereinen zwingt, schneller als -eine Schwalbe zu sein.“ -</p> - -<p> -Der Zeigefinger sank. Was aber, wenn jetzt noch -einer kommt und behauptet, er habe ihn um die selbe -Zeit in London gesehen? dachte Herr Wagner, -</p> - -<p> -<a id="br3"></a>während Jürgen, in der Droschke ungeduldig vorgebeugt, -überdacht von einem rot- und weißgestreiften -Riesensonnenschirm, vom Bahnhof der südlichen Hafenstadt -in das Hotel fuhr, in dem er vor vierzehn Jahren -als Neuvermählter mit Elisabeth gewohnt hatte. -</p> - -<p> -Ein Servierkellner verscheuchte mit der Serviette -Fliegen von den blumengeschmückten, weißgedeckten -Tischchen. Gegenüber schliefen zwei braungebrannte -Männer auf den breiten Steinstufen im Schatten des -Palastes. -</p> - -<p> -„Sagen Sie mir, aber aufrichtig: ist Herr Jürgen -Kolbenreiher im Hause?“ -</p> - -<p> -Zurückweichend drehte der Kellner sich um sich -selbst und schlug dabei mit der Serviette heftig in -<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a> -die Luft nach einer großen Bremse. „Ich werde -sofort nachsehen.“ -</p> - -<p> -Der dicke, befrackte Oberkellner blieb, den Zahnstocher -noch im Munde, im kühlen Hausflur stehen, -zeigte Jürgen, der draußen im Sonnenbrande stand, -fragend und verneinend beide Handflächen und -deutete plötzlich und schwungvoll mit beiden Händen -einladend flurwärts. -</p> - -<p> -„Nicht dagewesen? ... Ist das Zimmer Nummero 7, -mit Aussicht auf den Hafen, frei? ... Dieses Zimmer -nämlich hätte er genommen“, sagte er beim Hinaufgehen. -Und erkannte sofort den geblumten Überzug -der Ottomane wieder. -</p> - -<p> -Setzte sich in den Sessel. Plötzlich sah er, wie damals, -Jürgen mit Elisabeth in der Halle eines Pariser -Hotels stehen. ‚Das bin ja gar nicht ich. Das ist ein -ganz anderer. Nicht der, den ich suche ... Wenn -ich wenigstens nur den finden würde, der hier in -diesem Zimmer gesessen hatte. Denn auch der wußte, -daß der in Paris herumlebende Schuft nicht Jürgen -war. Aber wo, wo ist er, der dies wußte? Wo?‘ -</p> - -<p> -„Hier ist er also nicht? In diesem Zimmer wohnt -er nicht?“ -</p> - -<p> -„Dieses Zimmer ist frei, Herr.“ -</p> - -<p> -„Aber es war doch nicht immer frei! Sagen Sie -mir – aber denken Sie scharf nach –: ist Herr Jürgen -Kolbenreiher nicht doch hier gewesen in der letzten -Zeit? Dieser selbe Herr Kolbenreiher nämlich, der -vor vierzehn Jahren einige Tage in diesem Zimmer -gewohnt hat mit seiner Frau! Mit einem Fisch! Sie -erinnern sich! Unveränderlich in ihrem Wesen. Kühl! -Kühl! Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die -Liebe erwacht ... Er bezahlte damals – ich erinnere -<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a> -mich genau –, da er anderes Geld nicht hatte, -Ihnen persönlich die Rechnung in Mark.“ -</p> - -<p> -„Eine blonde Dame? Mark! Ah, Mark! ... Der -Herr ist damals gleich abgereist und seither nicht -mehr hier gewesen.“ -</p> - -<p> -„Abgereist?“ Jürgen fuhr sofort zum Bahnhof und -reiste ab. Mit dem ersten Zuge, der ausgerufen wurde. -Endstation Berlin. -</p> - -<p> -Wurde achtzehn Stunden später von den hastig und -zielbewußt Auseinanderstrebenden mitgerissen durch -die Berliner Bahnhofshalle und hinausgestellt auf den -Platz, zwischen brüllende Zeitungsverkäufer, schnelle -Radler, brüllende Autos, hetzende Fußgänger, und -verharrte reglos: eine Achse, um die herum das Leben -der flachen Stadt sauste. -</p> - -<p> -Auf dem Potsdamer Platz, dem Mittelstück verkehrreichster -Straßen, stand der Schutzmann, das -Blasinstrument am Munde, die Hand dirigierend erhoben. -</p> - -<p> -„Die Richtung! Bitte! Ich bitte. Die Richtung! -Welche Richtung führt zu mir?“ fragte er den Schutzmann. -</p> - -<p> -Der antwortete: „Nicht stehen bleiben! Vorwärts!“ -</p> - -<p> -„Im Gegenteil! Das Ganze Halt! Ich sage Ihnen, -auf diese Weise nähern die Menschen sich, auch wenn -sie ihr ganzes Leben lang so weiter rasen, nicht um -einen Millimeter dem Ziele, während vielleicht ich, -ah, glauben Sie mir ...“ -</p> - -<p> -Der Schutzmann hielt, als schwöre er zu Jürgens -Worten, die Hand erhoben, senkte sie: Zeitbesessene -Menschengruppen, Straßenbahnen, überfüllte, dunkelbrüllende -Riesenautobusse, springende Häuser, nahmen -das Rennen wieder auf, die Leipziger Straße hinauf, -<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a> -schwemmten Jürgen mit, der, ein Lächeln unbegreiflicher -Zuversicht im Antlitz, mitten auf dem -Fahrdamm schritt. -</p> - -<p> -Autos, von rückwärts und von vorne kommend, -sausten auf ihn zu und, sekündlich ausweichend, in -unvermindertem Tempo vorbei, knapp, daß nicht -handbreit Zwischenraum geblieben war. Chauffeure -glotzten wütend, schimpften, waren weg. Passanten -staunten. -</p> - -<p> -Das Lächeln der Zuversicht verschwand. „Unverwundbar? -Luft? Nicht vorhanden? Autos fahren -durch mich durch!“ Beide Handflächen schnellten -zu den Schläfen, fanden keinen Kopf. Das graue Entsetzen -stieß ihn weiter. -</p> - -<p> -Menschen, einer flüchtenden, schwarzen Tierherde -gleich, rannten, von der Straße weg, eine Treppe hinunter, -rissen Jürgen mit, hinab in das mit Reklamebildern -austapezierte Erdmaul, hinein in die verhalten -bebende Maschine. -</p> - -<p> -Eingeklemmt zwischen Passagiere, die, vorausblickend, -in Gedanken schon bei ihrer Zielstation angelangt -waren, sauste Jürgen unter der Stadt durch, -flüsterte, die Hand am Munde, in ein Menschenohr: -„Alles rennt und hetzt, hin und her, kreuz und quer, -Tag und Jahr. Komisch und bedeutsam! Denn – -denn die Banken schießen auf. Neue Stockwerke -werden aufgesetzt, Kutscherkneipen umgebaut zu -Wechselstuben. Dies, ich sage Ihnen, dies ist das -Zeichen.“ Er hob, wie vorhin der Schutzmann, die -Hand, warnend, als wolle er aufmerksam machen -auf eine heranrollende ungeheure Katastrophe. -</p> - -<p> -Die Bahn sauste empor, über eine gespreizte Eisenbrücke. -Jürgen wurde auf den Asphalt gestellt, -<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a> -blickte umher. Trambahnen, Hoch- und Stadtbahnzüge -kreuzten einander, spien Menschenmassen aus, -nahmen andere auf. -</p> - -<p> -Zum beschäftigten Hotelportier sagte er in falscher -Gleichgültigkeit, er sei und heiße Jürgen Kolbenreiher. -„Hier, mein Paß! Überzeugen Sie sich!“ -„Gilt schon!“ Füllte den Meldezettel aus. -</p> - -<p> -Und hüpfte in seinem Zimmer vor Vergnügen, den -Portier getäuscht zu haben. „Was die andern können, -kann auch ich. Auch ich kann ein Vorhandensein -vortäuschen, das keines ist. Muß mich nur auch selbstbewußt -benehmen, darf niemand merken lassen, daß -ich nicht bin. Denn jemandem, der nicht ist, gibt -niemand Auskunft. Und ich werde viele nach mir -fragen, werde lange nach mir suchen müssen, eh ich -mich finde.“ -</p> - -<p> -Er horchte auf das Brausen der Stadt. Das klang -wie das Bellen von Millionen vor Hunger irrsinnig -gewordener Hunde. -</p> - -<p> -Plötzlich sah er deutlich, wie Jürgen langsam durch -eine Straße ging, vorbei an einem Hutgeschäft, und -im Gewühle verschwand. Konnte nicht ermitteln, ob -er diese Straße und dieses Hutgeschäft in Paris, -Berlin oder Rom gesehen hatte. -</p> - -<p> -„Es gibt so viele, ach, so viele Straßen und so viele -Hutgeschäfte auf der Welt.“ Mutlos ließ er sich in -den Sessel sinken. -</p> - -<p> -„Was mag er jetzt denken? Was fühlte er in dieser -Sekunde?“ Jürgen zog die Uhr. „Wenn ich ihn gefunden -habe, frage ich ihn, was er in diesem Augenblick, -um dreiviertel sechs, gedacht hat. Ach, wie -wunderbar wäre es, zu wissen, was ich gegenwärtig -denke ... Der Mensch denkt. Welch unbegreifliches -<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a> -Wunder ist das Denken! ... Daß er aber auch gleich -wieder verschwunden ist! Wird schwer zu finden sein. -Ich muß mir ein System ausdenken. Ein Schema. -Ich muß systematisch vorgehen.“ -</p> - -<p> -Mit Bedacht setzte er die Maske der Gleichgültigkeit -und Sicherheit auf, schritt zur Klingel. Und -kramte dann doch, das Gesicht abgewendet, im -Koffer, als er zum Kellner sagte: „Bitte, bringen Sie -mir einen Stadtplan ... Sie können mir auch ein -Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie wollen.“ -</p> - -<p> -„Ausgezeichnet! Das habe ich ausgezeichnet gemacht. -Denn ein Mensch, der ein Schinkenbrot verzehren -kann, ist vorhanden. Das ist klar. ‚Sie können -mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie -wollen.‘ Großartig! Dieses ‚Wenn Sie wollen‘ war -sehr gut.“ -</p> - -<p> -Und als der Kellner den Stadtplan brachte und ein -Brot mit Wurst, da Schinken nicht im Hause sei, tat -Jürgen verdrießlich. „Ich hätte lieber Schinken gegessen. -Nun, es kann auch Wurst sein.“ Der Kellner -wollte gehen. -</p> - -<p> -„Einen Augenblick!“ Er schnitt ein Stück ab, -steckte es vor des Kellners Augen in den Mund. „Wieviel -Einwohner hat Berlin? Ich suche nämlich jemand“, -sagte er und kaute eifrig für des Kellners -Augen. „Deshalb habe ich mir den Stadtplan bringen -lassen. Die Wurst ist übrigens sehr gut. Sehr gut! ... -Und morgen bringen Sie mir zum Frühstück warme -Milch und eine Semmel. Nur etwas warme Milch! -Ich habe nämlich einen schwachen Magen.“ -</p> - -<p> -„Sehr gut gemacht! Bewundernswert! Nur etwas -warme Milch. Ich habe nämlich einen schwachen -Magen.“ Er hüpfte. „Es wird. Es wird.“ -</p> - -<p> -<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a> -Eifrig studierte er den Stadtplan, zog Blaustiftstriche -von Schmargendorf nach Wilmersdorf, über Charlottenburg -weg nach Rixdorf, bohrte auf das e von Steglitz ein -i und kicherte: „Stieglitz“. Trillerte wie ein Stieglitz. -Trillerte noch, als er schon im Bett lag. Und trillerte -sich lustig und hoffnungsvoll in den Schlaf hinein. -</p> - -<p> -Erwachte morgens mit dem Rufe: „Hahaha, einen -schwachen Magen! O, hätte ich nur einen schwachen -Magen, ein Magengeschwür, qualvoll und lebensgefährlich. -Wäre doch immerhin ein Magen.“ -</p> - -<p> -Trank hastig die warme Milch und stellte, die -staunenden Augen vergrößert, die leere Tasse auf den -Tisch. „Aber ich trank ja eben Milch. Ich! Ich -trank. Ein Mensch trank Milch. Also muß dieser -Mensch doch einen Magen haben und muß ein Mensch, -muß vorhanden sein.“ -</p> - -<p> -Da lächelte er ein schlaues, anerkennendes Lächeln, -als habe er einen besonders fein angelegten Betrug -durchschaut. „Ist es mir also tatsächlich gelungen, -sogar mir selbst vorzutäuschen, ich hätte einen Magen. -Wunderbar! Kein Mensch wird merken, daß ich nicht -vorhanden bin.“ -</p> - -<p> -Langsam und vorsichtig, um nichts zu verschütten, -trug er die leere Tasse zum Kübel, leerte die nicht -vorhandene Milch aus, hörte das Plätschern. Und riß -sich zusammen. „Jetzt aber los!“ -</p> - -<p> -Es war erst sieben Uhr. Die starke Luft stand noch -unverbraucht in den Straßen. Jürgen hatte große -Eile, sprang in Stadtbahnzüge, die schon angefahren -waren, wurde von der Untergrundbahn im Westen -abgesetzt, von der Straßenbahn quer durch die ganze -Stadt nach Berlin N getragen, auf dem Dache eines -Autobusses nach Wilmersdorf zurück. -</p> - -<p> -<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a> -Sein Schema benutzte er nicht. Denn immer, wenn -er planvoll vorgehen wollte, fürchtete er, Jürgen -werde zu der Zeit, da er ihn in Berlin O suche, in -Berlin W sein. Er fragte viele Vorübereilende, ob sie -wüßten, wo Jürgen Kolbenreiher sich momentan aufhalte. -</p> - -<p> -„Der Vortragskünstler? Ah, das Weinrestaurant -mit der Bar?“ -</p> - -<p> -„Nein, ein sehr entfernt Bekannter von mir.“ -</p> - -<p> -„Und ich soll wissen, wo der ist?! Sind Sie wahnsinnig!“ -</p> - -<p> -„Ja.“ -</p> - -<p> -„Frechheit!“ Der Wütende sauste weiter. -</p> - -<p> -Nach vielen verständnislosen Rückfragen des dicken -Dienstmannes, der auf seinem Bänkchen saß, sagte -Jürgen: „Vielleicht ist er in Odessa.“ -</p> - -<p> -„Na, denn fahren Sie man nach Odessa.“ -</p> - -<p> -„Können vielleicht Sie mir sagen ...“ -</p> - -<p> -„Keine Zeit!“ -</p> - -<p> -„Er hat ... keine ... Zeit.“ Traurig blickte er den -Händen nach, die den Weg hinter sich schaufelten. -</p> - -<p> -Wurde von den Hetzenden da- und dorthin gewiesen, -angeschrien, stehengelassen, von Bummlern -ausgelacht. Durchstreifte Restaurants, Kaffeehäuser, -Kirchen, Warenhäuser, Kutscherkneipen, wurde in -das Reichstagsgebäude nicht hineingelassen und aus -einem Automatenrestaurant herausgeworfen, weil er, -anstatt in den Schlitz, die Metallmarke dem verblüfften -Kellner in den Mund geschoben hatte. -</p> - -<p> -Als er nach langer Fahrt vor dem Meldeamt ankam, -war es schon geschlossen. Als erster stand er um -zwei Uhr wieder vor dem Schalterfenster, bekam -einen Zettel zum Ausfüllen. Sog den Staub- und -<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a> -Papiergeruch ein. Riecht wie in unserer Buchhaltung, -dachte er. Und reichte, bebend vor Erwartung, den -Zettel dem Beamten. -</p> - -<p> -Der unterhielt sich mit seinem Kollegen, schimpfte -über die schlechte Beleuchtung, stand plötzlich reglos -und sah aus, als denke er. -</p> - -<p> -‚Alle Menschen denken in jeder Sekunde ihres -ganzen Lebens irgend etwas. Nur ich ...‘ „Was -denken Sie momentan?“ -</p> - -<p> -„Nichts“, bekannte mechanisch der Beamte. Dann -erst staunte er und begann zu suchen. -</p> - -<p> -„Ist er hier gemeldet?“ fragte Jürgen gierig. „Kolbenreiher -mit H!“ -</p> - -<p> -Der Beamte gab keine Antwort; er unterhielt sich -weiter mit seinem Kollegen über die Tatsache, daß -ein Teppichgeschäft in Berlin N den Mitgliedern der -Beamtenorganisation zehn Prozent Rabatt gewähre, -fragte, ob er diesen Rabatt wohl auch bekäme, wenn -er nur zwei ganz einfache Bettvorleger kaufe. „Wenn -nicht, würde ich lieber Strohmatten nehmen. Kosten -kaum die Hälfte.“ -</p> - -<p> -„Und halten auch vierzehn Tage!“ -</p> - -<p> -„Haben Sie den Personalakt gefunden?“ Jürgen -streckte den Oberkörper durch das Schalterquadrat. -</p> - -<p> -„Man darf eben nicht mit den Schuhen darauftreten -... Nun, wenn man früh aufsteht ...“ -</p> - -<p> -„Ist er hier gemeldet?“ -</p> - -<p> -„... hat man ja in Berlin keine Schuhe an ... -Nein, ein Jürgen Kolbenreiher ist bei uns nicht gemeldet.“ -Das Schalterfenster klatschte knapp vor -Jürgens Stirn herunter. -</p> - -<p> -‚Vielleicht lebt er einfach unangemeldet. Ich natürlich -weiß am allerwenigsten, ob er dazu fähig ist.‘ -</p> - -<p> -<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a> -Vollkommen gefühl- und empfindungslos geworden, -stand er in der verkehrreichen Straße, gleich einem -zu Eis erstarrten Gegenstand, der in der lebendigen, -sengenden Sonne steht und nicht schmilzt. -</p> - -<p> -In allen Menschengesichtern, die an ihm vorbei auf -Körpern straßauf, straßab getragen wurden, stand, -ob sie sprachen oder schwiegen, lachten oder dachten, -die selbe eisesstarre Einsamkeit. -</p> - -<p> -So unabänderlich einsam, wie die Fliege, die, mit -dem dicken Kopf voran, im Zickzack durch die Luft -zuckt, dachte Jürgen und beugte sich, durchschüttert -plötzlich von wunderbarem Wehgefühl, hinab zu zwei -kleinen Kindern, die im Erdrund eines Baumes hockten -und, in den Augen noch das volle Leben, hingegeben -mit Steinchen spielten. -</p> - -<p> -‚Und in zehn Jahren wird die große, lebendige, -schmerzliche Sehnsucht kommen, in weiteren zehn -Jahren auch für sie die unlebendige graue Einsamkeit, -da auch sie gleich allen dann die Sehnsucht nicht -mehr haben werden.‘ -</p> - -<p> -Ihn trieb die Sehnsucht, wiedererstanden in ihm -durch das Erblicken der zwei noch im Fluß des Lebens -spielverbundenen Kinder, weiter straßauf, straßab. -</p> - -<p> -„Ja, der wohnt dort in dem gelben Haus.“ -</p> - -<p> -Das Herz blieb stehen. Klopfte noch immer nicht -wieder. Begann in rasendem Tempo zu hämmern. -Die Schläfen, graukalt geworden, stiegen über den -Kopf empor. Todesangst packte und erfüllte ihn bei -der Vorstellung, ihm, den er verraten und verkauft -hatte, in die Augen zu blicken. -</p> - -<p> -Der am ganzen Körper Zitternde wußte, daß er -auf der Stelle tot zusammenbrechen werde, angesichts -des Andern; dennoch trug letzte Bereitschaft, die -<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a> -Glieder lösend selig ihn durchströmte, Jürgen auf das -gelbe Haus zu, bis vor das Porzellanschild. -</p> - -<p> -Er sank, sank, sank. Stand endlich, Beine und -Füße aus Blei, auf dem Asphalt und las wieder und -wieder den nur ähnlich klingenden Namen. -</p> - -<p> -Alles Leben, das ganze Gewicht seines Körpers -schien in den Beinen zu sein, so schwer waren sie geworden, -als er sich weiterschleppte, toten Blickes. -</p> - -<p> -Die Detektei erreichte Jürgen noch knapp vor -Bureauschluß. Mit dem ersten Blick schätzte der Inhaber -den gut gekleideten Kunden auf die Vermögensverhältnisse -hin ein, bemerkte schon nach zehn Sekunden, -daß der vor ihm stand, den er suchen sollte, -ließ sich eine Anzahlung geben. Am Morgen hatte -Jürgen zu seiner Verwunderung gegen einen Scheck, -unterschrieben mit dem Namen Jürgen Kolbenreiher, -anstandslos eine große Summe ausbezahlt bekommen. -„Haben Sie Hoffnung?“ -</p> - -<p> -„Aber gewiß doch! Von der Hoffnung lebt man -heutzutage ... Wie wärs mit einer Extraprämie, -Herr ... Pardon, wie ist Ihr Name?“ -</p> - -<p> -Und da Jürgen den Kopf schüttelte: „Ich habe -keinen.“ -</p> - -<p> -„Den wollen Sie nicht sagen, verstehe schon. Das -kommt bei uns öfters vor ... Mit einer besonderen -Prämie, die Sie demjenigen meiner Leute auszubezahlen -hätten, der den Aufenthaltsort dieses Schuftes -nachweist.“ -</p> - -<p> -„Er ist kein Schuft. Im Gegenteil: wir sind Schufte!“ -</p> - -<p> -„Erlauben Sie! Gewöhnlich sind meine Auftraggeber -sehr achtbare Leute, die irgendeinen Schuft -suchen lassen.“ -</p> - -<p> -„Glauben Sie mir, es ist genau umgekehrt.“ -</p> - -<p> -<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a> -„Wie also sieht dieser Herr Jürgen Kolbenreiher -denn nun eigentlich aus, im großen ganzen? ... Sie -wohnen doch im Hotel, nicht wahr?“ -</p> - -<p> -„Ich habe im Hotel einen falschen Namen angegeben. -Den Namen desjenigen, den ich suche. Sie verstehen?“ -</p> - -<p> -„Verstehe schon!“ -</p> - -<p> -„Ich bin nämlich ... Ach nein, ich bin nicht. Das heißt, -ich wollte sagen: ich bin inkognito hier, ganz und gar inkognito -... Wie Jürgen Kolbenreiher jetzt aussieht, das -weiß kein Mensch auf der Welt. Denn es ist ganz unmöglich, -zu wissen, wie ich aussehen würde, wenn ich so geworden -wäre, wie ich bin. Das ist ja das Hoffnungslose.“ -</p> - -<p> -„Nichts ist hoffnungslos. Ich habe schon schwerere -Fälle mit gutem Erfolge zu Ende geführt. Beruhigen -Sie sich. Nur Ruhe! Ich selbst werde den Fall bearbeiten. -Und was die Extraprämie anlangt, so ist -sie fällig, nachdem Sie selbst zugegeben haben werden, -daß dieser von Ihnen gesuchte Jürgen Kolbenreiher -gefunden ist. Welche Summe also ...?“ -</p> - -<p> -„Jede Summe! Meine Villa, drei Mietkasernen, ein -Riesenvermögen in Wertpapieren. Nehmen Sie alles, -was ich habe, und geben Sie mir dafür Ihn!“ -</p> - -<p> -Hinausbegleitet, verließ Jürgen das Bureau, nicht -weniger Hoffnung im Herzen als der Detektiv, der, -tief in Grübelei versunken, einen Bratensaucetropfen -von seinem seidenen Rockaufschlag abkratzte, an die -Villa, die Mietkasernen, an das Riesenvermögen dachte -und keine Lust mehr hatte, des Dienstmädchens Alimentationsfall -zu bearbeiten. -</p> - -<p> -Jürgen stand schon vor einer Plakatsäule, an der -ein roter Zettel klebte, mit der Aufschrift: ‚Es geschieht -alles, was du willst, nur kehre zurück.‘ Im -Auto fuhr er in das Plakatinstitut. -</p> - -<p> -<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a> -„Mit jedem Tausend mehr, das Sie drucken lassen, -steigt die Wahrscheinlichkeit, daß Sie diesen Herrn -Kolbenreiher finden.“ Der Unternehmer ließ die -Augenbrauen fallen. „Das ist doch klar, nich?“ -</p> - -<p> -„Fünftausend? ... Zwanzigtausend?“ -</p> - -<p> -„Sind besser als zehntausend! Jetzt die genaue -Beschreibung.“ -</p> - -<p> -„Die gibts nicht.“ Er zog die Jugendphotographie -aus der Tasche. „Hier ist das Bild dieses Menschen. -Mein Jugendbild! Aber jetzt kann Jürgen Kolbenreiher -unmöglich so aussehen. Und auch nicht so.“ -Er deutete auf sein Gesicht. -</p> - -<p> -„Sagten Sie vorhin nicht, Sie selbst seien Jürgen -Kolbenreiher?“ -</p> - -<p> -„War ich! Bin ich wieder, wenn ich ihn gefunden -habe.“ -</p> - -<p> -„Hören Sie mal, einem Schwachsinnigen nehme ich -kein Geld ab. Nee, ich bin doch keen Schnapphahn. -Hab ich nich nötig ... Greifen Sie sich an den Kopf -und sagen Sie sich: Da hab ich mich.“ -</p> - -<p> -„Wenn das so einfach wäre! Wenn ich einen Kopf -hätte!“ -</p> - -<p> -„Na, denn rin in die Gummizelle!“ -</p> - -<p> -Die Konkurrenz machte das Geschäft. Und schon -am folgenden Tage war an allen Plakatsäulen zu lesen, -welche Summe demjenigen ausbezahlt werde, der den -Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers angeben könne. -Auf den knallroten Zetteln klebte Jürgens Photographie, -die eigens zu diesem Zwecke aufgenommen -worden war. Ein gewisser Anhaltspunkt sei die -Photographie ja doch, hatte der Plakatmann gesagt. -</p> - -<p> -Den ganzen Tag durchquerte Jürgen suchend die -Stadt. Niemand erkannte ihn. Der Detektiv machte -<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a> -den Versuch, das Geld zu verdienen. Einen Irrenarzt -brachte er gleich mit ins Hotel. -</p> - -<p> -Jürgen zeigte den beiden seine Jugendphotographie. -„Nehmen Sie an, dieser Mensch wäre auf dem Wege, -den zu gehen er als seine Pflicht erkannt hatte, weitergeschritten, -vierzehn Jahre älter geworden: wie würde -er dann jetzt aussehen? Sicher nicht so wie ich ... -Schaffen Sie mir den richtigen Mann bei, dann bezahle -ich.“ -</p> - -<p> -„Ich habe den richtigen Mann für Sie mitgebracht. -Der wird Ihnen fix klarmachen, daß Sie selbst der -Gesuchte sind“, sagte resolut der Detektiv. „Nicht -wahr, Herr Doktor?“ -</p> - -<p> -Der grinste. „So einfach wird das nicht sein.“ -</p> - -<p> -Der Detektiv wurde energisch: „Sie müssen sich -untersuchen lassen.“ Und der Doktor zog die Uhr. -„Also, erst mal Ihren Puls, bitte.“ -</p> - -<p> -„Was Puls! Meinen Puls? Sind Sie nicht bei -Sinnen! Puls? Wenn ich einen Puls hätte!“ -</p> - -<p> -„Nur los!“ rief der Detektiv, ging zu auf Jürgen, -der zurückwich, die Bronzefigur vom Schreibtisch -nahm. -</p> - -<p> -Als der Psychiater eine halbe Stunde später mit -zwei Wärtern und einem Schutzmann zurückkam, -war Jürgen schon in ein anderes Hotel übergesiedelt. -</p> - -<p> -Auf das Protokoll des Arztes hin wurde eine Anzahl -Schutzleute ausgeschickt auf einen Streifzug durch -die Hotels, Pensionen, Absteigquartiere, den Irren -zu suchen, während dieser hoffnungsfroh die Stadt -durchquerte, sich selbst zu suchen. -</p> - -<p> -„Kennen Sie einen Herrn Jürgen Kolbenreiher? -Möglicherweise trägt er – ich, selbstverständlich, -weiß das nicht – einen Schnurrbart.“ -</p> - -<p> -<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a> -Der Angeredete fragte zurück: „Verzeihung, sind -Sie Schutzmann? In meinem Hotel waren nämlich -heute Schutzleute, die einen entsprungenen Irren -namens Kolbenreiher suchten. Viele Schutzleute -durchsuchen ganz Berlin nach diesem Verrückten.“ -</p> - -<p> -„Viele? ... Wunderbar! Sie werden mich sicher finden.“ -</p> - -<p> -Getragen von Zuversicht, schritt er federnd und -pfeifend auf das kleine Hotel zu, in dem er die letzte -Nacht geschlafen hatte. Die Vorüberhetzenden, die -Schutzleute, Chauffeure, alle blickenden Menschenaugen, -alle Menschen auf der Erde suchten ihn. -</p> - -<p> -Da sah er wieder diese von einer unsichtbaren Last -erdrückte Frau, der er schon am Morgen und noch -einmal gegen Abend des selben Tages beinahe an der -selben Stelle begegnet war, und die anzusprechen und -nach sich zu fragen er nicht gewagt hatte, wegen der -erstarrten Hoffnungslosigkeit in ihrem Antlitz. -</p> - -<p> -Die Frau, deren Lebensgefährte vor zwei Tagen -gestorben war, trug, in Blick und Gang schon wie -körperlos geworden, seit zwei Tagen die Last der -hoffnungslosen Vereinsamung ziellos im Kreise immer -um den selben Häuserblock herum. -</p> - -<p> -Das bange Gefühl, diese Frau sei in ihrem armen -Herzen so ertötet, daß sie nicht mehr geben und nicht -mehr empfangen könne, verhinderte ihn auch jetzt -wieder daran, einmal bei der Hoffnungslosigkeit anzufragen, -nachdem alle von Hoffnungen und Zielen -noch Erfüllten ihm nicht hatten helfen können. -</p> - -<p> -Nur den Bruchteil einer Sekunde sah sie Jürgens -bangen Blick auf sich gerichtet. Ein stöhnendes -Schluchzen brach aus. Drei Töne. Dann trug sie, -wieder starren Gesichtes, weiter langsam durch die -Straße ihre hoffnungslose Vereinsamung. -</p> - -<p> -<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a> -Vor dem Hotel sprach der Portier mit einem Schutzmann. -Zurückweichend blieb Jürgen stehen, bewegte -den Zeigefinger vor der Brust verneinend hin und -her, pfiff, die Brauen hochgezogen, einen Ton und -kehrte um. -</p> - -<p> -„Die suchen ja mich, den Falschen, den Scheinjürgen, -den Scheckfälscher, den, der im Hotel den -Namen Kolbenreiher auf den Meldezettel schrieb. Sie -suchen das Nichts, das sich anmaßte, zu sein.“ -</p> - -<p> -Die Angst, festgenommen und eingesperrt zu werden -und sich dann nicht mehr suchen zu können, -jagte ihn fort. In ein anderes Hotel zu gehen wagte -er nicht. Er wagte nicht mehr, sich sehen zu lassen. -Ganz plötzlich sah er keine Möglichkeit mehr, sich -zu finden. -</p> - -<p> -„Eingekreist! ... Im Freien schlafen! Eingekreist!“ -</p> - -<p> -Ein letzter Rest von Hoffnung, Hilfe zu finden bei -der Hoffnungslosen, trieb ihn ihr nach, die Straße -hinunter, die in den Tiergarten mündete. Sein Gesicht -war in Abwehr verzerrt. Die Zähne bleckten. -</p> - -<p> -Sein Körper fiel auf die erste Bank, die am Spreekanal -stand. Die Vereinsamte neben ihm hatte sich -nicht gerührt. Sie ängstigte sich nicht. Sie blickte -blicklosstarr auf das Leben, das weiter ging, hinweg -über ihr Leben: Zwei Stadtbahnzüge, leuchtende -Lineale, schoben sich aneinander vorbei, durch -die Nacht. -</p> - -<p> -Sah das Sterbezimmer, wo der, mit dem zusammen -sie in Kampf und Leid des Lebens ein Leben gelebt -hatte, noch auf dem Bette lag, weiß zugedeckt, bis -zum Kinn. -</p> - -<p> -Am Tone schon des ersten Wortes, das sie sprach, -fühlte Jürgen, daß neben ihm das Schicksal saß. -</p> - -<p> -<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a> -Zu Füßen der beiden regte sich leise das Leben: -streifte das Wasser die Mauer. -</p> - -<p> -Sie hob die kraftlose Hand. Sie sagte, verzuckenden, -tränenrauhen, warnenden Tones, als warne sie -jeden einzelnen dieser Erde: „Kein hartes Wort -kann mehr zurückgenommen werden.“ -</p> - -<p> -Erschlossen plötzlich und schmerzlich berührt von -der erhabenen Größe dieses schicksalhaften Leids der -Hoffnungslosigkeit, berührte er die Schulter der Vereinsamten. -</p> - -<p> -Sofort brach sie in stöhnendes Weinen aus. „So -früh gestorben, weil er für diese Zeit zu gütig war. -Zu gütig war.“ Stand schwer auf. „Zu viel, zu viel -ist mir geschehen.“ Und ging. Das Dunkel nahm sie. -</p> - -<p> -Vor dem reglos Sitzenden, der schmerzlich bewegt -den verklingenden Schritten lauschte, ankerte neben -der kleinen Eisenbrücke im Kanal ein Frachtschiff, -auf dessen äußerster Spitze unter dem roten Signallicht -ein junger Hund stand, der aufmerksam blickte. -Und wie damals, da er, kommend aus Katharinas -Zimmer, zusammen mit den neun Bezirksführern -stadtwärts marschiert war, wehte auch jetzt kühler -Teergeruch, und durch die Baumkronen schimmerten -die Lichter der Stadt. -</p> - -<p> -Entbunden durch seine tiefempfundene Hilfsbereitschaft, -die ihm verstattet hatte, das eigene Leid zurückzustellen, -und verstärkt noch durch das erinnerungsträchtige -Landschaftsbild, war in Jürgen plötzlich -Sehnsucht nach Katharina und zugleich mit dieser -brennenden Sehnsucht das Gefühl, körperlich vorhanden -zu sein, mit solch blitzhafter Schnelligkeit entstanden, -als ob es ihm nie entschwunden gewesen -wäre. -</p> - -<p> -<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a> -So gewaltig war die Freude, daß ihm nicht Kraft -blieb, den Freudeschrei auszustoßen. Weichheit tat -sich milde in ihm auf. Tränen drangen durch die -Lider. Machtvoll zog die Hoffnung in ihn ein. -</p> - -<p> -„Schnauzl“, flüsterte er zärtlich und lockte mit -Daumen und Zeigefinger. -</p> - -<p> -Der Hund erhob sich, wedelte mit dem Schwanzstumpf, -lief, zutraulich wimmernd, auf dem Bordrand -hin und her, stand, blickte, bellte verlangend einen -Ton. Stille ringsum. -</p> - -<p> -„Ein Hund und am Himmel die Sterne. Das ist -zu viel und zu wenig für den Menschen. Zu wenig -und zu viel. Der Mensch leidet ... Er erkenne im -Leide und kämpfe!“ sagte Jürgen. Das war wie ein -Gelübde. -</p> - -<p> -Ohne Eile, ohne Weile schritt er stadtwärts, zum -Bahnhofe. Und fuhr mit dem nächsten Zuge zurück -in die Heimatstadt. Seine Haare waren ergraut, Gesicht -und Körper ganz vom Fleische gefallen. -</p> - -<p> -Einige Tage nach seiner Rückkehr – Herr Wagner -und drei Ärzte waren bei Jürgen gewesen – stand -in der Zeitung, Herr Kolbenreiher, Teilhaber der bekannten -Bankfirma (deren Stammhaus übrigens schon -in den nächsten Tagen in neuer, verschönerter und -bedeutend vergrößerter Gestalt dem Parteienverkehre -übergeben werden würde), habe sich durch seine unermüdliche -und hingebungsvolle Arbeit eine Nervenentzündung -zugezogen, die zwar sehr schmerzhaft, -aber bei der kräftigen Konstitution des Patienten nach -Ansicht der Ärzte allein schon durch Ruhe und den -Aufenthalt in frischer Luft rasch zu beheben sei, so -daß Herr Kolbenreiher seine bewährte Arbeitskraft bald -wieder in den Dienst der Firma werde stellen können. -</p> - -<p> -<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a> -Auch Jürgen las diese Notiz. Ihn interessierte nur -das Wort ‚Konstitution‘. Er fragte Phinchen, ob sie -glaube, daß er ein konstitutioneller Schuft oder ein -Schuft aus freier Entscheidung, also ein für seinen -Verrat verantwortlicher Schuft sei, der die Kraft gehabt -hätte, keiner zu werden. Er stand unter dem -Türrahmen der Küche und blickte gespannt in das -fassungslos zurückfragende Gesicht. „Was meinst du, -Phinchen?“ -</p> - -<p> -Unabgewendeten Blickes ließ Phinchen den Spüllappen -fallen, trocknete, wie immer, wenn Jürgen die -Küche betrat, gewohnheitsmäßig die violetten Hände -an der Schürze ab. Der Jammer um ihren abgezehrten -Herrn gab ihr die Worte, Jürgen sei immer der beste -Mensch von der Welt gewesen; sicher habe er niemals -absichtlich Böses getan. -</p> - -<p> -Da geriet er in Erregung. „Dann wäre ja alles -hoffnungslos. Denn wie könnte ich aus diesem Wuste -menschlicher Niedertracht herausfinden, wenn ich -ohne Schuld, ganz ohne eigenes Zutun hineingeraten -wäre ... Aber du kannst das ja nicht wissen. Sechzehn -– und jetzt bist du vierzig. Hast dein Leben -in dieser Küche verbracht.“ -</p> - -<p> -Wochenlang verließ Jürgen das Haus nicht. Er -kleidete sich gar nicht mehr an, aß und schlief außer -jeder Regel. Manchmal wandte er sich mit einer -Frage an Phinchen, deren Herz die Antwort gab. -</p> - -<p> -Sehnsucht und Grübelei kreisten immer um den -selben Punkt. Auf der Welt war nichts als er und -der Panzerplattenturm, vor dem er grübelnd saß und -stand und lag und kniete, dieses Panzerplattengewölbe -in ihm selbst, zudem er Einlaß suchte und nicht -fand. -</p> - -<p> -<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a> -Zäh, gequält und unverdrossen machte er sich -jeden Tag und jede Nacht von neuem an die Aufgabe. -Jeden Gedanken dachte, jeden Schritt machte -der Wahnsinn mit. Und auf dem Tisch lag der -Revolver. -</p> - -<p> -Schon hatte er die Fähigkeit erworben, sich im -Wachtraum und auch im tiefsten Schlaftraum zu beobachten. -In der Finsternis unterirdischer Gewölbe, -durch die er traumsicher schritt, traf er den Andern, -den er suchte, führte mit ihm traurig geflüsterte -Wechselreden. Im Blick des Andern stand sehnsuchtslose -Bereitschaft. „Geh und miß!“ -</p> - -<p> -„Ja, messen! Ich werde messen. Dies ist das -Mittel.“ Da saß er aufrecht im Bett: blickte die -Schranktür an. „Messen?“ -</p> - -<p> -So ausschließlich lebte er seiner Aufgabe, daß es -ihm trotz Unterbrechung des Traumes auch diesmal -gelang, die Fortsetzung des Traumes zu träumen, in -das Gewölbe, das tief unter dem Leben lag, zurückzugelangen, -vor die Augen des Andern, die sehnsuchtslos -und unerbittlich ihn anblickten. -</p> - -<p> -Jürgen wußte, daß er nicht fragen dürfe, was er -messen solle. Und als er flüsternd dennoch fragte, -verschwand das Gesicht. Logikferne Gebilde zuckten -auf, verzuckten in Finsternis. Lichtbündel verzischten -in Finsternis, aus der sekündlich wieder Licht aufspritzte. -</p> - -<p> -Da schoß eine dicke, schmerzhaft weiße Lichtfontäne -auf, in deren Mitte unirdisch weiß das Wesentliche -lebte, das, im Tiefsten ihn durchschauernd, -plötzlich sein eigen wurde. -</p> - -<p> -Inbrünstig bemühte er sich, das Wissen vom -Wesentlichen aus dem Halbschlafe heraus in das -<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a> -Wachsein herüberzuretten, öffnete mit großer Vorsicht -wiederholt die Lider, nur einen Millimeter: -Immer war das Wesentliche weg und nur die Schranktür -da. -</p> - -<p> -Und als er ganz erwacht aufrecht im Bette saß, -wußte er nicht mehr, wann und wie und durch wen -ihm der Rat zuteil geworden war, noch einmal, wie -in der Jugend, eine Wanderung durch die Menschheit -zu machen, unverstellten Blickes. -</p> - -<p> -„Dann werde ich wieder dorthin gelangen, wo ich -schon war. O, Bewußtsein!“ Sein sehnsuchtsvoller -Freudeschrei riß ihn aus dem Bett. -</p> - -<p> -Bereit, jedes Leid und selbst den Tod zu erleiden, -verließ er das Haus, in der Tasche den entsicherten -Revolver. -</p> - -<p> -Der Sonntagmorgen tat sich vor ihm auf. Glocken -läuteten. Ein roter Sonnenschirm überquerte die -Straße. An Jürgen vorbei marschierte eine Knabenklasse, -in Viererreihen streng geordnet und geführt -vom Lehrer, der kommandierte: „Links! Rechts! -Links! Rechts!“ -</p> - -<p> -„Wenn die Schwerter blitzen und die Kugeln -fliegen ...“ „Links! Rechts!“ -</p> - -<p> -An dem Lehrer sah Jürgen das erstemal dieses Gebilde, -das im Rücken hing, verkümmert, eingeschrumpft, -vertrocknet. „Das ist, mitgeboren, aber -ganz verödet, das Eigene, das in gar keiner Wechselwirkung -mehr zu seinem Träger steht“, flüsterte er -und ließ sich auf den Lehrer zugehen. „Auch Sie -machen sich mitschuldig an einem furchtbaren Verbrechen, -und ich kann Ihnen sagen, weshalb.“ -</p> - -<p> -Erst als er den Lehrer schüttelte und in das empörte -Gesicht sagte: „An einem entsetzlichen Verbrechen! -<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a> -Denn Sie lassen sich als Seelenmörder gebrauchen“, -stutzte der Lehrer, riß sich los, eilte der Klasse nach -und richtete die in Unordnung geratenen Viererreihen -wieder aus mit dem Kommando: „Links! Rechts!“ -</p> - -<p> -Von einem visionären Blitz erleuchtet, sah Jürgen -sämtliche Knabenklassen Europas, die, kommandiert -von den Lehrern, auf einer Riesenebene in linearer -Ordnung kreuz und quer umhermarschierten und unter -Geschützesbrüllen unversehens Infanterieregimenter -wurden. Ununterbrochen stiegen die erstickten Seelen -aus den strenggeschlossenen Schülerquadraten in die -Höhe und verschwanden mit klagendem Gesange. -</p> - -<p> -„Wohin?“ fragte Jürgen. „Wohin sind sie verschwunden?“ -Er stand, noch durchzogen von der -Vision, reglos und entrückt, bis drei alte Herren ihm -in das Blickfeld hineinspazierten. Der eine erzählte -etwas, verteidigte sein ablehnendes Verhalten. „Da -kam es darauf an, ein Charakter zu sein.“ -</p> - -<p> -„Sie aber haben keinen Charakter. Denn was -würde geschehen, wenn Sie Ihr Vermögen, Ihre Stellung, -Ihre Privilegien und die Achtung der geachteten Männer -verlören? Wo bliebe dann Ihr Charakter? Sie, meine -Herren, sind Charaktermasken.“ Und er deutete -auf die eingetrockneten Gebilde, die sich mit den -dreien fortbewegten. -</p> - -<p> -Als habe eine Hand ihn durch die vielen Straßen -hin geführt, stand plötzlich, die düsteren Fensterlöcher -quadratiert mit dicken Eisenstäben, vor ihm -das Gefängnis, ein steingewordener Schrei. -</p> - -<p> -Dunklen Druck in der Brust, blickte Jürgen die -zufriedenen Sonntagsspaziergänger an. „Sie gehen -vorüber, unberührten Gemütes.“ In seiner Brust -stand das ganze wuchtende Gebäude. -</p> - -<p> -<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a> -Und er schritt, stehend vor der Mauer, wieder durch -die Gänge, Gänge, die in seinem Herzen waren, durch -den Saal, in dem die engmaschigen Drahtgitterkäfige -standen, jeder ein menschliches Wesen trennend von -den menschlichen Wesen. -</p> - -<p> -‚Schnauzl!‘ lockt mit Zeigefinger und Daumen die -verwüstete Siebzehnjährige. Katharinas Schnauz wedelt -kläglich mit dem Schwanzstumpf. -</p> - -<p> -Qualvolle Machtlosigkeit, wie damals, preßte Jürgens -Herz zusammen. -</p> - -<p> -Die Zellentür tut sich auf. Vor ihm steht Katharina -im grauen Gefängniskleid, das verschönt ist durch -den ordnungswidrigen Einschlag beim Halse. Der -kleine, feste Mund lächelt froh. -</p> - -<p> -Stürmische Liebe, wie damals, brach in Jürgen los. -Da blickt Katharina gleichgültig und kalt ihn an. -(‚Auch kann ich ein Mädchen sein, das im Kampfe -gegen die Umwelt steht und durch ihr verächtliches -Abweisen ...‘) -</p> - -<p> -Mit beiden Händen griff Jürgen in die Luft und -taumelte gegen die Gefängnismauer, blickte flehend -Katharinas Blick an, der lautlos sprach: ‚Nimm erst -von neuem auf dich alle Qualen!‘ -</p> - -<p> -Zwei paar Arme, an denen Spazierstöcke baumelten, -breiteten sich aus, fielen schenkelwärts. Schultern -zuckten. Jürgen betrachtete die eingeschrumpften -Gebilde. „Auch ganz und gar entselbstet!“ Und -folgte, berührt von dem Interesse des Leidensgenossen -für die Leidensgenossen, den zwei Männern. -</p> - -<p> -„Da bin ich ganz deiner Meinung, Vorstand“, wiederholte -der zweite Vorstand und ließ den ersten Vorstand -vorangehen, hinein in das Gesangvereinslokal, in dem -die Tenor- und Baßtische schon voll besetzt waren. -</p> - -<p> -<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a> -Unbemerkt stand Jürgen hinter dem großen Kachelofen. -Aus dem Gastzimmer klangen, durch die geschlossene -Tür durch, die Klüpfelschläge des Wirtes, -der den Hahn in das Bierfaß schlug. -</p> - -<p> -Er habe die außerordentliche Singprobe einberufen, -weil das hochverehrliche Gründungsmitglied, Herr -Simon Ott, im Sterben liege. „Er liegt in den letzten -Zügen.“ -</p> - -<p> -In diesem Moment wurde Jürgen von einer Möwe -besucht. Lautlos. Sie stand vor ihm, glich einer nordischen -Frau – groß, hellblond – und hatte ein -gefühlsentferntes, vollkommen seelenloses Gesicht. -</p> - -<p> -Jenseits aller Verwunderung sagte Jürgen zu ihr: -„Nur wußte ich bis jetzt nicht, daß Möwen schöne, -kühle Frauen sind.“ -</p> - -<p> -Die Möwe antwortete nicht, blickte auf das weite, -kalte Meer hinaus. Auch Jürgen blickte auf das Meer -hinaus. -</p> - -<p> -„Deshalb müssen wir rechtzeitig das Trauerlied einstudieren, -das am Grabe gesungen werden soll, damit -wir uns nicht wieder blamieren.“ -</p> - -<p> -„Er ist ja noch gar nicht tot!“ -</p> - -<p> -Ein kleiner, dürrer, bebrillter Schuhmachermeister -schoß vom Stuhle empor und forderte etwas mehr -Pietät. Er war der Schriftführer. -</p> - -<p> -„Wenn er doch noch lebt!“ -</p> - -<p> -„Aber es kann nicht mehr lange dauern. Ich bitte -also den Herrn Dirigenten, das Trauerlied vorzunehmen.“ -Der Vorstand breitete die Arme aus: „Oder -sollen wir uns wieder blamieren?“ -</p> - -<p> -Der zweite Vorstand erhob sich, klopfte ans Bierglas: -„Ich bin ganz der Meinung unseres ersten Herrn -Vorstandes ... Wenn ein altes Mitglied, ein Veteran -<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a> -des Männergesanges, stirbt, kann er verlangen, daß -das Lied, das wir an seinem Grabe singen, vorher -ordentlich geprobt wird. Und die Ehre unseres Vereins -steht auch nicht so bombenfest, daß wir uns -wieder blamieren dürften, wie das letztemal.“ -</p> - -<p> -Die Möwenfrau trug in den reglosen Augen einen -Blick, als schaue sie das unabänderliche Schicksal. -</p> - -<p> -Der Brillenschuster verteilte schon die Gesangbücher. -Die zehn Bässe gruppierten sich um das -Klavier herum. „Dort unten ist Friede“, intonierte -der Dirigent. Und die Bässe setzten ein: „Im kühlen -Haus.“ -</p> - -<p> -„Nur die Bässe singen, bitte ich mir aus. Warten -Sie, bis Sie daran kommen.“ Der Brillenschuster -hatte mitgesummt. Er sang den ersten Tenor. -</p> - -<p> -„Es ruhet der Schläfer vom Leben aus.“ -</p> - -<p> -Gabelförmige Schwingen kamen fühlergleich und -steif vorne aus der Körpermitte der Möwenfrau heraus, -verschwanden wieder. Sie bewegte sich wie ein Vogel, -der zum Fluge anhebt, sah mit inhaltslosen, blauen -Augen Jürgen an, der dachte: Will sie fort? -</p> - -<p> -„Und über dem Hügel: sum, sum, sum, sum.“ -</p> - -<p> -„Mehr piano! Nicht: sum, sum, sum, sum; sondern: -sum, sum, sum, sum ... Sie, meine Herren, sind doch -keine Schmeißfliegen; Bienen summen viel zarter.“ -</p> - -<p> -Plötzlich sah Jürgen vierzig zur Decke gerichtete -Augenpaare, vierzig eirund geöffnete Münder und an -den Rücken der Sänger, die jetzt im Halbkreise alle -um das Klavier herumstanden, die vierzig eingetrockneten -Gebilde. -</p> - -<p> -Die Schwingen kamen gabelförmig vorne aus der -Leibesmitte der Möwenfrau heraus; Jürgen setzte sich -darauf und schwebte, den Kopf an die nebelumflorte, -<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a> -schöne Brust der Frau gelehnt, über das kalte, weite -Meer, ruhend in der Überzeugung, daß er zu dem -unbekannten Orte gelangen werde, wo sein Bewußtsein -auf ihn warte. -</p> - -<p> -Die Möwenfrau selbst darf, da sie erstickte Seelen -fortträgt, natürlich keine Seele haben, dachte Jürgen -während des lautlosen Fluges. Und sagte zu ihr: -„Wenn ich nun dem Arzte erklären würde, daß auch -diese Sänger ganz und gar entselbstet sind, und daß -ihre Seelen, von dir und deinen Schwestern hingebracht, -irgendwo im Weltenraume schmerzlich warten, in -ungeheuerer Einsamkeit, würde er mir nicht glauben, -sondern behaupten, mein Zustand habe sich verschlimmert -... Die Psychiater sind doch zu dumm. -Glauben Sie das nicht auch?“ -</p> - -<p> -Die Möwenfrau antwortete nicht, flog weiter, leicht -vorgebeugt. Ihre Augen hatten sich während der -ganzen Zeit nicht bewegt. Ihr Gesichtsausdruck hatte -sich nicht verändert. -</p> - -<p> -Weil sie eben keinen Gesichtsausdruck hat, dachte -Jürgen und drehte das Gesicht nach oben, blickte ihr -in die Augen. -</p> - -<p> -Ringsum war nur noch Wasser und Nebel. -</p> - -<p> -Jürgen wußte nicht und dachte auch nicht darüber -nach, wie er hierhergelangt war. Er saß auf der Bank -in der Anlage, gegenüber dem grünen Bretterzaune, -in den er vor vierzehn Jahren als erstrebenswertes -Ziel den Frackherrnjürgen hineingesehen hatte. -</p> - -<p> -Ein Lächeln tiefinnerster Sicherheit erhellte sein Antlitz, -als er, jeden Willen ausschaltend, alle Muskeln entspannte, -in dem Bestreben, wie damals wieder nur die -Begierden, nur den Menschen in sich sprechen zu lassen, -um zu erfahren, was der Mensch in ihm ersehne. -</p> - -<p> -<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a> -Der Bretterzaun blieb Bretterzaun und leer. „Dieses -nicht! Dieses wenigstens begehrt er nicht mehr“, -flüsterte Jürgen. „Was aber ersehnt es, mein Herz?“ -</p> - -<p> -Er schloß die Augen und lauschte und wartete und -fühlte nichts. Die Lider der inneren Augen blieben -geschlossen. Da saß er, reglos, leid- und freudlos, -leblos. -</p> - -<p> -Leiser Wind bewegte die Baumkronen. Schläfriges -Zwitschern eines Vogels im Sonnenbrand. In der -Ferne brauste die Stadt. -</p> - -<p> -„Das ist die weiße Sekunde“, flüsterte Jürgen in -plötzlicher Erregung. Denn er sah sich schreiten. -Und die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser -kleiner. Unbebaute Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. -Das kleine Fenster hing nah der Erde rotleuchtend -in der Finsternis. -</p> - -<p> -„Die Haustür, sie ist nur angelehnt. O, einzutreten, -heimzufinden, zurück zu mir!“ -</p> - -<p> -Ein Knall riß ihn empor. Zwei Soldaten warfen -die Köpfe nach links und grüßten, Hand an der Mütze, -die starr glotzenden Augen herausgedrückt, den -Offizier. -</p> - -<p> -„Geh mit!“ Er ging mit. Folgte dem Offizier in -den Stadtpark, wo die Militärkapelle spielte und die -geputzte Menschenmenge promenierte in dem sonndurchwirkten -Laubgang alter Bäume. -</p> - -<p> -Jürgen wurde oft und achtungsvoll gegrüßt und -dankte nie. Lange beobachtete er einen Jüngling, der, -im Blick noch die große Frage an das Leben, die -eleganten Kaufleute, Studenten, Offiziere und Beamten -betrachtete, schüchtern und ganz erfüllt von -der Sehnsucht, ebenso elegant, fertig und sicher, Blume -im Knopfloch, hier spazieren zu können. -</p> - -<p> -<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a> -„Spucken Sie auf dieses Ziel“, sagte er lächelnd -und deutete auf die Promenierenden. „Vielleicht -werden Sie dann nicht in der Leere ersterben sondern -in Qualen leben.“ -</p> - -<p> -Vorbei promenierte eine Gruppe Studenten, welche, -Armmuskeln gespannt, Ellbogen weggestreckt, ihre -roten Mützen knapp an der Brust langsam herunter -bis zum Knie und ebenso krampfhaft-feierlich wieder -kopfwärts führten, während die Gegrüßten das selbe -mit ihren grünen Mützen taten, die zerhauenen Biergesichter -starr ins Profil zu den Rotmützen gestellt. -</p> - -<p> -„Kampf und Vernichtung dieser Ordnung, die -solche Söhne hervorbringt! Wehe, sie sind die Söhne -ihrer Väter! Wehe, sie werden zu Staatsanwälten -und zu Richtern werden! Ihrem Kopf und Herz -sind Kultur und Fortschritt der Menschheit anheimgegeben? -Nie! Nie! Niemals! Sie alle werden Jürgens -werden. Bestenfalls!“ Er lachte in Hohn und Ekel -vor sich selbst. -</p> - -<p> -Da schritten, in dem Tempo von Menschen, die -woher kommen und einem Ziele zustreben, Katharina, -der Agitator, der Metallarbeiter mit der verstümmelten -Hand und der Holzarbeiter, dessen verhutzeltes -Gesicht nicht mehr viel größer war als eine Faust, wie -ein Fremdkörper durch die gespreizt promenierende -Menge. -</p> - -<p> -Ein riesengroßes, sammetschwarzes Tuch verhing -den ganzen Himmel. Und als es wieder dämmerhell -wurde und Laubgang, Blumenrondells, Musikkapelle -und Spaziergänger sich drehend ineinander türmten, -wußte Jürgen nicht mehr, wen er gesehen hatte. -</p> - -<p> -Knapp vor ihm begegneten sich wieder die Studenten, -die erst kurz vorher einander gegrüßt hatten, -<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a> -und führten, da vielleicht ein noch nicht gegrüßter -Student zu der einen oder der andern Gruppe gekommen -sein konnte, wieder die Mützen hart an der -Brust herunter, die Gesichter ins Profil gestellt. -</p> - -<p> -Mit einem jähen Satz sprang Jürgen dazwischen, -faßte mit großer Handbewegung die ganze Menge zusammen -in Eine Person und begann zu brüllen, in -maßloser Wut. -</p> - -<p> -Erst viel später – er stand schon, ohne zu wissen, -wie er dorthin gelangt war, vor der Kirche, brausende -Orgeltöne drückten die Kirchgänger aus dem Portal -heraus und um ihn herum – erinnerte er sich der -Einzelheiten des Tumultes, den er verursacht hatte -durch seine Ansprache. -</p> - -<p> -Seine Zähne bleckten in Haß und Abwehr beim -Erblicken der Kirchgänger. „Ein- und das selbe Gesicht, -dort wie hier, weltenweit entfernt von dem Bewußtsein, -das zum Schwanz verkümmert ist.“ -</p> - -<p> -Die Mitglieder sämtlicher Gesangvereine Europas -standen und sangen in seinem Gehirn; die Verwandlung -aller Knabenklassen in geschützdurchdonnerte Infanterieregimenter -vollzog sich schmerzhaft hinter -seiner Stirn; Studenten soffen und fochten und zogen -die Mützen in seinem Hinterkopf; Millionen Bürger -zuckten, begleitet von Militärmusik und Orgelspiel, -ablehnend die Schultern, breiteten bedauernd die -Arme aus, daß Jürgens Schläfen zu platzen drohten. -</p> - -<p> -Er wühlte sich durch die Menge, sprang durch ein -Durchhaus und stand, zuckend in allen Nerven, in -einer menschenleeren, immer sonnelosen, vor Feuchtigkeit -grünen Gasse. -</p> - -<p> -„Nieder!“ zischte er, beide Fäuste an die Schläfen -gepreßt. „Nieder! Nieder mit dem Ganzen!“ -</p> - -<p> -<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a> -In der feuchten Gasse war es still wie in einem Abgrund. -„Aber wie? Durch welche Macht? Durch -welches Mittel?“ -</p> - -<p> -Plötzlich glaubte er, starrend auf den Streifen -irisierenden Schaumes, der aus der feuchten Mauer -quoll, das einzige Mittel werde ihm in der nächsten -Sekunde einfallen. Beide Arme ausgebreitet, Hände -gegen die Mauer gepreßt, stand er wie ein Gekreuzigter, -lauschend und wartend. Der menschengefüllte Stadtpark -tat sich auf. Sofort war das ganze Bild wieder mit -dem sammetschwarzen Tuch verhangen. Erinnerungsqual -versank in Schwindelgefühl, aus dem, so unentrinnbar -wie damals, als er bei der Straßenkreuzung -Abschied genommen hatte von Katharina, der Zwang -emporwuchs, genau gezählte zehnmal durch die feuchte -Gasse zu gehen. Hin, her, hin. -</p> - -<p> -„Achtmal“, zählte er, blickte hinaus, wo die Sonne -schien, ballte die Fäuste, in dem Bemühen, die Gasse -vorher verlassen zu können. Da riß es ihn herum. -Geduckt marschierte er weiter. -</p> - -<p> -In der Kellerwohnung schlug ein Mann seine Frau. -Wildes Geschrei. Das fahle Gesicht des weinenden -Söhnchens erschien am eisenvergitterten Fensterquadrat -knapp über dem Pflaster. -</p> - -<p> -„Und in zwanzig Jahren schlägt das Söhnchen seine -Frau, und deren Söhnchen weint“, flüsterte Jürgen -und durchwanderte zum zehnten Male die schimmelgrüne -Gasse. „Welche Macht könnte das verhindern?“ -</p> - -<p> -„Wissen Sie es? ... Alles hat seine Ursache. Glauben -Sie nicht auch, daß alles seine Ursache hat?“ fragte -er auf dem sonnigen Kirchplatz einen schnurrbärtigen -Rentier, in dessen Mund eine sorgfältig angerauchte, -dicke Meerschaumspitze steckte. -</p> - -<p> -<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a> -„Man muß die Ursachen erkennen, dann findet man -auch das Mittel. Glauben Sie nicht auch?“ Und als -der Rentier den Kopf schüttelte: -</p> - -<p> -„Sie sind ein Raucher, nicht wahr? Nichts als ein -Raucher! Sie kann man mit der Bezeichnung ‚Raucher‘ -benennen. Sie sind harmlos. Tun niemandem etwas.“ -</p> - -<p> -Der Rentier ging weiter. Ein Dampfwölkchen stieg -empor, zerflatterte. Noch ein Dampfwölkchen stieg -empor. -</p> - -<p> -„Oder sind er und die Millionen seinesgleichen vielleicht -doch Raubtierchen? Selbstgerechte, zufriedene, -ihres Raubes sichere Raubtierchen?“ -</p> - -<p> -Ein uraltes Männchen, das auf dem speckigen Rockaufschlag -am speckigen Bändchen einen Kriegsorden -trug, überquerte trippelnd die Straße. Das vertrocknete -Gebilde machte jedes Schrittchen des Alten mit. -</p> - -<p> -„Wie konnten Sie es ertragen, achtzig Jahre nicht -eine Sekunde Sie zu sein, nicht einen Atemzug lang -Ihr eigenes Leben zu leben? ... Nur in der Kindheit, -in der Kindheit! Erinnern Sie sich noch?“ -</p> - -<p> -Das Männchen hob mühsam den schweren Kopf: -„Oj, oj, ein schlimmes Leben!“ und trippelte weiter. -</p> - -<p> -Täglich, vom frühen Morgen, bis in die späte Nacht -hinein, beobachtete und erlitt Jürgen das Leben, suchte -er – begleitet von Wahnsinn und Revolver und immer -bereit zum Schusse in das Herz – Bewußtsein und -Weg. Wurde in seinem Kampfe, der in zweifachem -Sinn ein Kampf um Sein oder Nichtsein war, noch -wochenlang beständig hin und her geschleudert -zwischen Hoffnung und Verzweiflung. -</p> - -<p> -„Wo ist das Herz?“ hatte er einen Arzt gefragt. -</p> - -<p> -„Zwischen der vierten und fünften Rippe, von oben -gezählt.“ -</p> - -<p> -<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a> -Und hatte, zuhause angelangt, an seinem abgezehrten -Brustkorb die Einschußstelle abgetastet, entschlossen, -nicht eine Sekunde länger zu leben, wenn -keine Hoffnung mehr sei. -</p> - -<p> -Beobachtend lauschte er dem Leben und dabei -immer in sich selbst hinein, folgte, ein zum Tode und -zum Leben Entschlossener, jedem Fingerzeig, den die -Umwelt gab, sprach mit Kindern und mit Greisen, -mit Soldaten und mit Pferden. Das Erblicken eines -Hundes, der, von einer Frau fortgezerrt, auf Jürgen -zugestrebt war, veranlaßte ihn, sofort zum Hundehändler -zu gehen. -</p> - -<p> -„Haben Sie einen Schnauz, der alles erträgt, nur -nicht die Trennung von dem, dem seine Sympathie -gehört?“ -</p> - -<p> -Im sonnigen Hofe stand reglos ein junger, schwarzer -Dackel, der, mit allen Vieren gleichzeitig, plötzlich -hochflog, in der Luft herum, und wieder reglos stand, -die verdrehten Augen auf Jürgen gerichtet. -</p> - -<p> -„Einen Schnauz nicht. Aber das Mistvieh können -Sie billig haben, mitsamt der Leine.“ -</p> - -<p> -„Er hat gute Augen. Wird er mit mir gehen?“ -Der reglose Dackel starrte auf eine Fliege, hüpfte auf -sie zu, starrte in den Himmel. -</p> - -<p> -„Der geht mit jedem.“ -</p> - -<p> -Freudig bellend zerrte der Dackel, die Schnauze -am Boden, Jürgen hinter sich her, aus dem Hofe -hinaus. -</p> - -<p> -Von dieser Stunde an unternahm Jürgen täglich -weite Fußtouren. Er beachtete nicht Sonnenbrand, -nicht Regen und hatte keine örtlichen Ziele. Für ihn -gab es Tag und Nacht, ob er wanderte und sann oder -schlief und träumte, nur das eine Ziel. Alles und -<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a> -nichts war ihm Wegweiser. Er existierte zwischen -dem Ziele, das, ein farbloses, winziges Pünktchen in -immer gleicher Entfernung am Horizont: seine große -Hoffnung, und dem Schuß ins Herz, der die Erlösung -von dem Wahnsinn: seine letzte Freiheit war. -</p> - -<p> -Der alte Landarbeiter, krummgebogen von der -Lebensarbeit, rückte die Mütze und deutete: „Ihr -Hund jagt. Wenn ihn der Forstaufseher vor den Lauf -bekommt, schießt er ihn.“ -</p> - -<p> -Aus dem hochstehenden Kleefeld tauchten, wie bei -einem flüchtenden Känguruh, abwechselnd Kopf und -Hinterteil des Dackels empor, der die Kleespitzen -übersprang und bei jedem Satze mit den Vorderpfoten -tief einfiel. Jürgen horchte auf das scharfe, verzweifelte -Bellen. -</p> - -<p> -Und da geschah es, daß Jürgen, dem jede Sekunde -Zeit unschätzbar teuer war, der um keinen Preis, den -dieses Leben zu bieten hatte, eine Sekunde lang das -Suchen nach sich selbst unterbrochen hätte, dieses -große Suchen auf Leben und Tod unterbrach, um -erst den gefährdeten Hund zu suchen. -</p> - -<p> -„Was ist der Mensch und was der Sinn, der ihn -bewegt? Wer vermöchte zu sagen, weshalb im Opfer -der tiefste Sinn des Menschendaseins ruht?“ flüsterte -Jürgen, als er wieder auf dem Wege war, und begann -zu weinen, laut und schrankenlos, in plötzlicher, wunderbarer -Befreiung. -</p> - -<p> -Der Hund dackelte neben dem Schluchzenden her, -hügelan, zum Waldrand. Vor Jürgen lag die Tiefebene, -unübersehbar weit und breit. -</p> - -<p> -Zahllose junge Menschen, Mädchen, gebunden fragenden -Blickes, Gymnasiasten, Studenten aller Nationen, -standen dichtgedrängt, wartend auf das Wort. -<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a> -Immer neue Züge, endlos, traten aus den Wäldern -heraus, tauchten hinter den fernen und fernsten Hügelketten -auf. Millionen füllten die Tiefebene. Auf der -Schulter eines jeden Einzelnen kauerte ein unheimlich -und böse blickendes Tier. Aller Augen waren auf -Jürgen gerichtet. -</p> - -<p> -„Folgt euren Vätern nicht, den alten Verdienern!“ -</p> - -<p> -Da bäumten sich die Tiere, bleckten die Zähne, -sträubten die Rückenhaare, schlugen ihre Krallen in -die Schultern der stöhnenden Jugend, stießen grauenvolle -Töne aus, die Schreck und Machtlosigkeit verursachten -im Blick und im Gesichte der Jugend. -</p> - -<p> -„Stoßt sie herunter von euren Schultern! Reißt -sie heraus aus eurem Gefühle! ... Macht euren guten -Müttern Sorge! Erkennt eure Aufgabe, und dann erfüllet -sie! Tut ihr das nicht, dann geht ihr zugrunde, -so oder so“, begann Jürgen die große Rede an die -Jugend, die zu einer Darstellung seines Lebens wurde -und immer wieder von neuem in der Warnung gipfelte, -nicht so zu tun, wie er getan habe. -</p> - -<p> -Stunden später blickte Jürgen, sitzend am Fensterplatz -des kleinen Cafés und vor sich schon das Glas -voll dampfenden Glühweines, dunkel fragend hinüber -auf das Knopfexporthaus und wußte nicht, wie und -wann und weshalb er hierher gekommen war. -</p> - -<p> -Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt war das -immer wieder geschehen, daß Jürgen bei den Wanderungen -in und außerhalb der Stadt unversehens -sich an Stellen befunden hatte, die durch Erlebnisse -in der Vergangenheit für ihn bedeutsam geworden -waren. -</p> - -<p> -Da steht ein Mensch plötzlich vor einem schwarzen -Tunnelloch, ganz erfüllt von dem Gefühle, vor diesem -<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a> -Tunnelloch schon einmal gestanden zu haben in einem -früheren Dasein. Er sitzt auf einem Kilometerstein, -sinnend und tief im Leben, und Strauch und Baum, der -stille Waldsaum und die schnurgerade Landstraße, die -wie ein weißer Pfeil sich in den fernen Horizont verliert, -sind rätselhaft vertraut dem unruhvollen Herzen. -</p> - -<p> -Die Wand, die Jürgens Blick in das Gewesene verstellte, -rückt lautlos weg, und auf ihn brechen die -Erinnerungen ein, so plötzlich und mit so lebendiger -Gewalt, daß Jürgen in Abwehr schreit und bebt, gepackt -von Angst, erdrückt zu werden von dieser Fülle, -von des Bewußtseins blitzesschneller Wiederkehr. -</p> - -<p> -Um nicht Schaden zu nehmen an der Seele, bemüht -sich der von Glück und Sein Durchblitzte und Durchstürmte, -das wiederkehrende Bewußtsein bewußt nur -stückweise in sich einzulassen, lenkt sich ab, zählt, -entlang dem Waldsaum, genau dreihundert Tannenstämme. -Zählt und zählt, bebt und schluchzt und -zählt, bedrängt von dem anstürmenden, von Stamm -zu Stamm nachdrängenden Bewußtsein, das eine -Sturmflut schmerzhaft lebendiger Erinnerungen mitführt, -die ihm zum großen Rückblick werden, tief -zurück in das Gewesene. -</p> - -<p> -Viele Tage und in Maß und Abwehr durchwachte -Nächte waren vergangen, ehe Jürgen sich bereitet -und stark genug gefühlt hatte, bewußt Erinnerungsorte -aufzusuchen. Wieder sitzt er eine ganze Nacht -in der Verbrecherkneipe und liest von den verwüsteten -Gesichtern das schon Gewußte und das Bewußtsein -des Verrates, den er begangen hat, sich von neuem -in die Seele und weiß, schweren Herzens, wieder: ‚Wer -in diesem Leben nicht tief im Leide und im Kampfe -steht, steht tief in Schuld.‘ -</p> - -<p> -<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a> -Die Straßenkreuzung, wo er Abschied genommen -hatte von Katharina, glüht und brennt. Lange steht -er, zögert er. Und plötzlich überquert er sie doch, -in fliegender Eile, Schauer im Rückenmark. -</p> - -<p> -In dem Maße, wie er das Bewußtsein wiedergewinnt, -bricht auch das Leben in seiner Milliardenfältigkeit, -die zu empfangen und zu begreifen der Mensch ein -Menschenalter zur Verfügung hat, wieder in ihn ein, -stoßweise und mit solcher Wucht, daß er, bebend -wie der Auferstandene, vor Sonne, Blau und Lärm -steht, vor dem kleinen Leben der Straße, den schweren -Pferden, die arbeitstreu das Backsteinfuhrwerk bauwärts -ziehen, vor dem Sperling, der auf dem Pflaster -hüpft und in die Ritzen pickt. -</p> - -<p> -Den Dackel an der Leine, schritt Jürgen aus der -Stadt hinaus, auf der Quaimauer flußentlang, vorüber -an einer Reihe Proletarierfrauen, die, kniend am Ufer, -farbige Wäsche wuschen, an durchnäßten Kindern -vorbei, die Hafenanlagen bauten aus Sand und Dreck. -</p> - -<p> -Die letzten Häuser blieben zurück. Der Fluß glitt -blau und grün entlang der sanften Hügelkette. Am -Ende der Quaimauer stand ein Angler. Jürgen schritt -wie im Traume auf ihn zu. Er wunderte sich nicht. -„Sind Sie Herr Knipp?“ -</p> - -<p> -„Das ist mein Name.“ Hinter Herrn Knipp lag -auf dem Damm ein besonders langer Reserveangelstock -modernster Konstruktion. Auch einen neuen -Rucksack aus braunem Segeltuch mit Lederbesatz -hatte er sich angeschafft und einen Feldstuhl. Der -Angler war erst achtundfünfzig Jahre alt und sah, -wie er so dastand, zufrieden mit sich und der Welt, -ganz unverändert aus, als ob seither kein Tag vergangen -wäre. -</p> - -<p> -<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a> -Wie damals saß Jürgen auf der Quaimauer, Beine -flußwärts gestreckt. Millionen kleiner Mücken standen -in der drückenden Schwüle knapp über der Wasserfläche. -In der Nähe pochte die Stadt. Die Zeit stand -still und glitt zurück. -</p> - -<p> -„Erinnern Sie sich noch des arbeitslosen Schwindsüchtigen, -mit dem ich hier gesessen hatte?“ -</p> - -<p> -Ruhevoll hob Herr Knipp die Angelschnur heraus -und senkte sie in schönem Schwunge wieder in das -glucksende Wasser. „Heute beißen sie gut an, weil -ein Wetter im Anzuge ist ... Der Bursch lebt schon -lange nicht mehr. Der war ein Unzufriedener. Den -hat die Unruhe aufgezehrt, die Unzufriedenheit mit -dem Gang der Welt. Schließlich hat er noch geklaut, -kam ins Gefängnis und ist auch drin gestorben.“ -</p> - -<p> -Ein Mensch, überschlafen, träge, nimmt sich ein -dutzendmal vor, endlich aus dem Bett zu steigen, -und bleibt immer wieder liegen. Unversehens sind -seine Beine außerhalb des Bettes. Wie in diesem -Trägen vielerlei zusammen das plötzliche Aufstehen -bewirkt hat, ohne daß das treibende Vielerlei ihm -ganz bewußt geworden wäre, tauchten auch in Jürgen -die Fahrt mit dem Agitator zur Arbeiterversammlung -im ‚Paradies‘, die fünftausend Arbeitergesichter, das -fahle Gesicht des Schwindsüchtigen, Katharinas Rufe: -‚Die Befreiung!‘ und seine Empfindungen und Gedanken -an jenem Abend nur schemenhaft und unkontrolliert -auf; dennoch verursachte all dies zusammen, -in Verbindung mit des Anglers Worten, in -Jürgen, der sich sofort erhob, plötzlich das feste Gefühl, -er habe sich nun lange genug ausschließlich mit -sich beschäftigt. -</p> - -<p> -Und aus einer ganz andersartigen Unruhe als der, -<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a> -die ihn veranlaßt hatte, den erinnerungsträchtigen -Angelplatz aufzusuchen, löste sich sofort der Gedanke, -Bewußtsein und Erkenntnis dürften nicht um -ihrer selbst willen erstrebt und gepflegt werden. -</p> - -<p> -„Es ist erfüllt. Nun ist es Zeit“, sagte Jürgen, freudigen -und schweren Herzens zugleich, als er zielbewußt -weiter schritt. -</p> - -<p> -Der wolken- und sonnenlose Himmel sah krank -aus. Die Landschaft glich einem schlechten, leblosen -Riesengemälde. Der Dackel zögerte, blieb stehen, -legte sich in die Straßenmitte. Die Vögel waren verschwunden. -Kein Ton. Jürgen betrachtete das meterhohe -Getreidefeld. Die völlige Reglosigkeit der Halme -und Ähren machte auf ihn den Eindruck der Unnatürlichkeit -und Schaurigkeit. Erst als Jürgen schon -weit voraus war, erhob sich der Hund. -</p> - -<p> -Vereinzelte Tropfen fielen schwer in die Wind- und -Luftlosigkeit. Als wäre der Himmel zu spannungslos -und matt, den Sturm zu entfesseln, endete der Regen -wieder. In der Nähe schrie ein Tier angstvoll dreimal. -Und eine Sekunde später durchzuckte der trockene -Blitz das ganze Tal. -</p> - -<p> -Wie auf ein Zeichen mit dem Taktstock bewegten -sich alle Ähren gleichzeitig. Das Tal begann zu singen. -Blitze aus weiter Ferne zogen schwachen Donner -nach. Der Apfelbaum fröstelte. Ein alter Lappen -machte einen Sprung quer über die Straße, blieb einen -Windstoß lang ausgebreitet in halber Höhe gegen das -Getreidefeld gepreßt und fegte, knapp über den -Ähren, davon. -</p> - -<p> -Jürgen hatte die Feldhütte noch nicht erreicht, da -krachte der erste Donnerschlag, begleitet von schräg -herabplatzenden Wassermassen. Der Dackel saß zu -<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a> -Füßen Jürgens und bellte hinaus in den Wolkenbruch. -</p> - -<p> -Als Felder, Wald und Fluß, das ganze Tal, im -Wetter verschwunden gewesen, wie aus dem Nichts -wieder entstanden, ging Jürgen auf eine weiße, unübersteigbar -hohe Mauer zu, schnellen Schrittes, im Antlitz -das Lächeln der Befreiung. -</p> - -<p> -Das schwere Bohlentor öffnete sich, eine Droschke -fuhr heraus. Jürgen lief ein paar Schritte, sprang -durch das Tor, hinein in die Irrenanstalt. Das Tor -schlug zu. „Führen Sie mich zum Arzt.“ -</p> - -<p> -Der stand noch in der Freihalle, kam schon geeilt. -</p> - -<p> -„Sie warten wohl schon lange auf mich?“ -</p> - -<p> -„Aber nein! Das heißt, ich freue mich natürlich -sehr, Sie zu sehen, Herr Kolbenreiher ... Beruhigen -Sie sich! Bleiben Sie hier! Nur Ruhe!“ rief er beschwörend -Jürgen zu, der ruhig lächelnd zurückblickte. -</p> - -<p> -Der patschnasse Dackel kam, die Leine hinter sich -herschleifend, angerast, bellte vorwurfsvoll an dem -geschlossenen Tor hinauf und drückte sich, auf der -Hinterbacke sitzend, Vorderpfoten aufgestellt, gegen -die Mauer, blinzelte unzufrieden in den noch mit -schwarzblauen Wolken verhängten Himmel. Rasch -hintereinander krachten zwei Donnerschläge. -</p> - -<p> -„Was kostet jetzt der Aufenthalt in Ihrem Hause, -mit voller Verpflegung?“ -</p> - -<p> -„Das richtet sich nach der Lage und Einrichtung -des Zimmers. Sozusagen nach der Klasse. Dreierlei -Preise!“ -</p> - -<p> -„Wie bei der Eisenbahn!“ -</p> - -<p> -„Wir berechnen Ihnen den Aufenthalt und selbstverständlich -auch die Behandlung so kulant wie -<a id="page-349" class="pagenum" title="349"></a> -möglich. Sie wollen und werden ja auch wieder gesund -werden.“ Der Arzt nannte die Summen. -</p> - -<p> -„Und lebenslänglich?“ -</p> - -<p> -„Das verbilligt die Sache allerdings noch erheblich.“ -</p> - -<p> -„Dann am besten lebenslänglich, was?“ -</p> - -<p> -„Sehr vernünftig!“ -</p> - -<p> -„Nicht wahr! ... Sind viele Kranke hier?“ -</p> - -<p> -„O, ganz besetzt! Sehr interessante Patienten!“ -</p> - -<p> -„Und alle nicht bei sich?“ -</p> - -<p> -„Dies allerdings dürfte für alle so ziemlich zutreffen, -im großen ganzen ... So kommen Sie doch schon -her!“ rief er dem Oberwärter zu. -</p> - -<p> -„Ich wollte, Herr Doktor, ich wollte diese Mauer, -diese hohe Mauer, mir nur einmal von innen ansehen. -Ich danke schön. Guten Tag, Herr Doktor“, sagte -Jürgen, kehrte um und schritt zum Tore hinaus. -</p> - -<p> -„Entronnen!“ Auf der Brücke zog er den Revolver -und ließ ihn senkrecht hinunterfallen in das Wasser. -„Entronnen!“ In den Schultern fühlte er das Leben -und die Kraft zu neuem Anfang. -</p> - -<p> -Jürgen fuhr mit der Straßenbahn bis zur Endstation, -erreichte Minuten später die Haustür. Sie war nur -angelehnt. -</p> - -<p> -„Ja, was denken Sie! Die ist nie zuhaus“, sagte -Katharinas Wirtin. „Jetzt ist das nicht mehr so wie -früher. Jeden Tag Versammlungen! Und dann noch -in die Redaktion. Jetzt erscheint die Zeitung ja täglich. -Und wenn sie ja einmal da ist, sitzt sie gleich -die halbe Nacht an der Schreibmaschine. Jetzt gibts -viel Arbeit. Ein Buch schreibt sie auch. So dick! -Das soll gedruckt werden.“ -</p> - -<p> -Ein volles Bücherregal nahm die ganze Längswand -ein. Auch ein Teppich verschönte das Zimmer. Auf -<a id="page-350" class="pagenum" title="350"></a> -dem Tische lag ein gedruckter Handzettel: Die Aufforderung -zum Besuche der heutigen Massenversammlung -im ‚Paradies‘. -</p> - -<p> -Gegenüber dem ‚Paradies‘ standen zwei Schutzleute, -unter dem Eingangstor drei Arbeiter, die sich lebhaft -unterhielten, und neben einem Stoße Broschüren ein -vierzehnjähriger Knabe, der sicheren Blickes auf -Jürgen zuschritt: „Der Kampf um den Sozialismus!“ -</p> - -<p> -Jürgen kaufte die Broschüre. „Wer spricht heute -Abend?“ -</p> - -<p> -„Meine Mutter: die Genossin Lenz.“ -</p> - -<p> -‚Halt! Halt! Das ist zu viel, zu viel Glück, zu viel -Glück.‘ Bebend blickte er auf Katharinas Sohn, der -äußerlich ganz und gar so aussah, wie der Gymnasiast -Jürgen, der vor dem Buchladen gestanden und nicht -den Mut gehabt hatte, einzutreten und die Broschüre -zu kaufen. -</p> - -<p> -Mit den drei Arbeitern trat Jürgen in den Saal, -schloß leise die Tür. Fernher klang in die Stille die -Stimme Katharinas. -</p> - -<p class="vspace"> - -</p> - -<div class="ads"> -<p class="adh"> -Werke von Leonhard Frank -</p> - -<p class="adb"> -DIE RÄUBERBANDE -</p> - -<p class="ads"> -Roman 20. Tausend -</p> - -<p class="ade"> -Im Insel-Verlag, Leipzig -</p> - -<p class="adb"> -DIE URSACHE -</p> - -<p class="ads"> -Roman 20. Tausend -</p> - -<p class="ade"> -Im Insel-Verlag, Leipzig -</p> - -<p class="adb"> -DER MENSCH IST GUT -</p> - -<p class="ads"> -Gebunden. 25. Tausend -</p> - -<p class="ade"> -Rascher-Verlag, Zürich -</p> - -<p class="ads"> -Volksausgabe: 80. Tausend -</p> - -<p class="ade"> -Kiepenheuer Verlag, Potsdam -</p> - -</div> - -<div class="frontmatter chapter"> -<p class="cop"> -Copyright by DER MALIK-VERLAG, Berlin 1924<br /> -Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks und<br /> -der Übersetzung, vorbehalten. Druck der Spamerschen<br /> -Buchdruckerei in Leipzig -</p> - -</div> - -<div class="trnote chapter"> -<p class="transnote"> -Anmerkungen zur Transkription -</p> - -<p> -Der Verfasser hat offenbar Absatzumbrüche mitten in Sätzen, meist vor dem Wort <em>während</em>, -absichtlich eingefügt, zum Beispiel auf <a href="#br1">Seite 204</a>, <a href="#br2">Seite 250</a> oder -<a href="#br3">Seite 310</a>. Dies wurde belassen wie in der Druckvorlage. -</p> - -<p> -Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. -</p> - -</div> - - -<div lang='en' xml:lang='en'> -<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DER BÜRGER</span> ***</div> -<div style='text-align:left'> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Updated editions will replace the previous one—the old editions will -be renamed. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. 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Redistribution is subject to the trademark -license, especially commercial redistribution. -</div> - -<div style='margin:0.83em 0; font-size:1.1em; text-align:center'>START: FULL LICENSE<br /> -<span style='font-size:smaller'>THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE<br /> -PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK</span> -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free -distribution of electronic works, by using or distributing this work -(or any other work associated in any way with the phrase “Project -Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full -Project Gutenberg™ License available with this file or online at -www.gutenberg.org/license. -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -1.A. 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Information about the Mission of Project Gutenberg™ -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of -electronic works in formats readable by the widest variety of -computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It -exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations -from people in all walks of life. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Volunteers and financial support to provide volunteers with the -assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s -goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will -remain freely available for generations to come. In 2001, the Project -Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure -and permanent future for Project Gutenberg™ and future -generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see -Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit -501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the -state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal -Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification -number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by -U.S. federal laws and your state’s laws. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, -Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up -to date contact information can be found at the Foundation’s website -and official page at www.gutenberg.org/contact -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread -public support and donations to carry out its mission of -increasing the number of public domain and licensed works that can be -freely distributed in machine-readable form accessible by the widest -array of equipment including outdated equipment. Many small donations -($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt -status with the IRS. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Foundation is committed to complying with the laws regulating -charities and charitable donations in all 50 states of the United -States. Compliance requirements are not uniform and it takes a -considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up -with these requirements. We do not solicit donations in locations -where we have not received written confirmation of compliance. To SEND -DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state -visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -While we cannot and do not solicit contributions from states where we -have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition -against accepting unsolicited donations from donors in such states who -approach us with offers to donate. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -International donations are gratefully accepted, but we cannot make -any statements concerning tax treatment of donations received from -outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Please check the Project Gutenberg web pages for current donation -methods and addresses. 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